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Normalfall Sonntagsgottesdienst?: Gottesdienst und Sonntagskultur im Umbruch
Normalfall Sonntagsgottesdienst?: Gottesdienst und Sonntagskultur im Umbruch
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Ebook418 pages5 hours

Normalfall Sonntagsgottesdienst?: Gottesdienst und Sonntagskultur im Umbruch

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Der Sonntagsgottesdienst gilt traditionell als Mitte und Kennzeichen kirchlichen Lebens, bis heute erscheint er im kirchlichen und öffentlichen Bewusstsein als "Normalfall" des Gottesdienstes. Seit geraumer Zeit aber haben sich das Teilnahmeverhalten und die Gestaltungsformen verändert, die Sonntags- und Wochenendkultur befindet sich im Umbruch. Zugleich hat sich das Feld gottesdienstlichen Lebens weit ausgefächert, Fest-, Kasual- und besondere Gottesdienste sind, auch in der praktisch-theologischen Wahrnehmung der letzten Jahre, in den Vordergrund getreten.
Vor diesem Hintergrund fragen die Autorinnen und Autoren dieses Bandes nach der "Normalität" des Sonntagsgottesdienstes, seinen gegenwärtigen Bedingungen und künftigen Perspektiven.
LanguageDeutsch
Release dateMar 19, 2008
ISBN9783170283268
Normalfall Sonntagsgottesdienst?: Gottesdienst und Sonntagskultur im Umbruch

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    Book preview

    Normalfall Sonntagsgottesdienst? - Kohlhammer Verlag

    Kristian Fechtner / Lutz Friedrichs

    Einleitung

    „Evangelischer Gottesdienst: Sonntag 10.00 Uhr" – so gibt eine fest installierte Tafel am Ortseingang mit der Silhouette eines Kirchengebäudes kund. Traditionell gehört beides zusammen, Sonntag und Gottesdienst. Wer vom Gottesdienst im Allgemeinen spricht, hat zumeist den Sonntagsgottesdienst im Sinn. Dies gilt für jene, die regelmäßig kommen, wie für diejenigen, die sich selten oder nie einfinden. Nun zeichnen sich seit geraumer Zeit in der Wochenendkultur, in die Sonntag und sonntäglicher Gottesdienst eingebettet sind, erhebliche Umbrüche ab. Nicht allein das Muster gottesdienstlicher Teilhabe, sondern auch die Gestaltungsformen des Sonntagmorgengottesdienstes haben sich verändert. Der Kirchgang hat in der Moderne immer stärker seinen Charakter als Sitte verloren, demgegenüber sind Gottesdienste mehr und mehr zu Veranstaltungen geworden, deren Besuch durch einen je besonderen Anlass motiviert ist. Nicht selten tragen die Gottesdienste am Sonntagmorgen einen jeweils eigenen Akzent: im ersten findet eine Taufe statt, der zweite wird durch den Gesangverein musikalisch gestaltet, der dritte wird als Familiengottesdienst gefeiert.

    Das Fragezeichen, das im Buchtitel auftaucht, markiert auf mehreren Ebenen praktisch-theologische Herausforderungen. Es lässt danach fragen, ob es angesichts einer mittlerweile breit ausgefächerten gottesdienstlichen Kultur in den evangelischen Kirchen überhaupt angemessen ist, von einem „Normalfall zu sprechen. Ist der sonntägliche Gottesdienst „normaler als der Heiligabendgottesdienst, und wenn ja für wen? Oder: Ist der Sonntagsgottesdienst, anders als ein Salbungs- oder ein Einschulungsgottesdienst, deshalb „normal, weil er nichts Besonderes zu bieten hat? Was schwingt „normativ mit, wenn von einem Normalfall die Rede ist, ist alles andere dann – geduldete oder erhoffte – Ausnahme? Seit den 1960er Jahren ist der „gottesdienstliche Spielplan" (Peter Cornehl) insgesamt vielfältiger geworden. Zielgruppenorientierte Gottesdienste im Blick auf unterschiedliche Lebenslagen, -formen, -phasen und -stile fächern die liturgische Praxis hierzulande aus. Dem entspricht, dass sich die praktisch-theologische Diskussion in den letzten Jahrzehnten verstärkt mit denjenigen Gottesdiensten beschäftigt hat, die jenseits des Sonntagstaktes liegen. Längst sind Festtagskirchgängerinnen rehabilitiert, werden alternative Gottesdienstformen begutachtet oder ungewöhnliche Gottesdienste zu besonderen Gelegenheiten erkundet. Wird damit der allsonntäglich gefeierte Gottesdienst ebenfalls zu einer besonderen Gestalt unter vielen?

    In der Praxis ist das differenzierte gottesdienstliche Angebot ein Gewinn, es hat neue Zugänge geschaffen und ermöglicht, Gottesdienst in unterschiedlicher Weise zu erleben. Wenn die Zeichen nicht trügen, dann gibt es aber gegenwärtig auch das Bedürfnis, sich zu konzentrieren – die Logik der Vervielfältigung zeitigt nicht selten Ermüdungserscheinungen. Welche Kraft steckt in der Normalität eines Sonntag-für-Sonntag-Gottesdienstes?

    Gelegentlich begegnet die Hoffnung, man könne sich wieder neu auf eine einheitliche Form des (sonntäglichen) Gottesdienstes konzentrieren, der dann noch einmal die Mitte der Gemeinde darstellen soll. Praktisch-theologische Reflexionen sind an dieser Stelle nüchterner. Der Sonntagsgottesdienst lebt als religionskulturelle Praxis von Bedingungen, die er nicht selbst hervorbringt. Dass an ihm lediglich eine kleine Zahl der Evangelischen (regelmäßig) teilnimmt, gründet einerseits in einer Kirchlichkeit, die moderne Lebensverhältnisse charakterisiert, und andererseits in der Art und Weise, wie heute Wochenende gelebt wird. Die Einsicht in die begrenzte Reichweite des Sonntagsgottesdienstes spricht nicht gegen seine sorgsame liturgische und homiletische Gestaltung. Sie legt aber nahe, ihn nicht mit theologischen Zuschreibungen und kirchlichen Anforderungen zu überlasten, die der Wirklichkeit nicht standhalten. Der Sonntagmorgengottesdienst ist nicht der Gottesdienst schlechthin. Deshalb wird künftig durchaus darüber zu diskutieren sein, wie das gottesdienstliche Leben am Sonntag zeitgemäß zu gestalten ist, welche Rhythmen und Zeiten angemessen sind, welche besonderen Angebote an einem Ort sinnvoll sind, welche gottesdienstlichen Angebote sich andernorts überlebt haben. Bei allem wird es darum gehen, die geistliche Qualität des Gottesdienstes zu stärken.

    Die Beiträge in diesem Band wollen wissen, wie es gegenwärtig um den Sonntagsgottesdienst steht. Sie erkunden und markieren das Feld, formulieren Einsichten und Perspektiven, die sich aus der praktisch-theologischen Diskussion und aus Erfahrungen kirchlicher Gottesdienstpraxis ergeben. Die Artikel gehen zurück auf ein fachwissenschaftliches Symposion, das die Gemeinsame Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen der EKD gemeinsam mit dem Seminar für Praktische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz in Verbindung mit der Liturgischen Konferenz im Dezember 2006 ausgerichtet hat. Eine ganze Reihe von Beiträgen ist im Nachgang zu dieser Tagung hinzugekommen. Sie verbindet, dass sie sich jeweils auf bestimmte Aspekte des Themas konzentrieren, um ein eigenes Leitmotiv oder eine These ins Gespräch zu bringen.

    Die I. Rubrik versammelt Beiträge, die den Sonntag unter kulturellen Gesichtpunkten und den Sonntagsgottesdienst auf Grund von kirchensoziologischen Studien in den Blick nehmen. Michael Ebertz eröffnet den Band, indem er deutlich macht, wie unterschiedlich sich „Wochenenddramaturgien" in verschiedenen Milieus gestalten. Sonntagskultur gibt es heute nur im Plural. Susanne Marschall und Fabienne Liptay führen uns ins Kino und zeigen uns dramatische Sonntagsszenen, glückliche und katastrophische, aus Filmen der letzten fünfzig Jahre. Jan Hermelink gibt anhand der jüngsten EKD-Mitgliedschaftsstudie zu erkennen, dass die Teilhabe am Sonntagsgottesdienst und die Erwartungen, die sich an ihn richten, vielschichtiger sind, als gemeinhin angenommen. Vor dem Hintergrund einer wissenssoziologisch angelegten Studie zu gegenwärtigen religiösen und nicht-religiösen Deutungswelten diagnostiziert Martin Engelbrecht eine dogmatische Krise des gegenwärtigen Gottesdienstes. In der Distanz zum gottesdienstlichen Leben spiegelt sich, dass viele Kirchenmitglieder mit Kernaussagen der kirchlichen Lehre nicht mehr übereinstimmen. Einsichten aus einer Schweizer pastoralsoziologischen Studie steuern Bruno Bader, Silke Harms und Ralph Kunz bei. Sie fokussieren ihre Überlegungen auf den Zusammenhang von Gottesdienst und Mission im Zusammenspiel mit anderen wesentlichen Dimensionen gottesdienstlicher Praxis.

    Verschiedene praktisch-theologische Perspektiven eröffnet die II. Rubrik. Michael Meyer-Blanck formuliert sieben Thesen, in denen er entschieden dafür plädiert, den Sonntagsgottesdienst in seiner kirchlichen und kulturellen Bedeutung als Normalfall wahr- und ernstzunehmen, und dementsprechend auch in den Mittelpunkt pastoraler Ausbildung zu rücken. Wilhelm Gräb zeigt, was es bedeutet, wenn die Aufgabe des Sonntagsgottesdienstes konsequent von dem her verstanden wird, was Kasualgottesdienste ausmacht und was sie an Lebensdeutung leisten. Im Impulspapier der EKD „Kirche der Freiheit" kommt der Frage nach der Qualität des Gottesdienstes eine wesentliche Bedeutung innerhalb der gegenwärtigen kirchlichen Reformbemühungen zu. Thies Gundlach konkretisiert Qualitätsbestimmungen homiletischer und liturgischer Praxis. Wie im katholischen Bereich die Situation des Sonntagsgottesdienstes wahrzunehmen ist, skizziert Friedrich Lurz und macht sich für eine theologisch verantwortete Pluriformität der gottesdienstlichen Kultur stark. Uta Pohl-Patalong thematisiert den Sonntagsgottesdienst im Blick auf Gemeinde und diskutiert unterschiedliche Modelle, Gemeindegottesdienste zu profilieren. Thomas Hirsch-Hüffell zeichnet den Sonntagsgottesdienst in das Feld spiritueller Praxis ein, indem er unterschiedliche Dimensionen gottesdienstlicher Erfahrung konturiert.

    Die III. Rubrik widmet sich der Sonntagspredigt. Wilfried Engemann bezieht die homiletische Aufgabe auf gefährdete Freiheit als Signum der Gegenwartsgesellschaft und entwickelt Grundzüge eines homiletischen Programms, das Predigt auf christliche Lebenskunst hin auslegt. Ein Plädoyer dafür, die normale Predigt theologisch wie ästhetisch als Klassiker zu begreifen, hält Albrecht Grözinger. Predigt und Gottesdienst als Kunsthandwerk zu verstehen, mithin die Praxis des Sonntagsgottesdienstes zwischen Kunst und Handwerk anzusiedeln, regt Kristian Fechtner an und formuliert kunsthandwerkliche Maßgaben. Ulrike Wagner-Rau lotet pastoraltheologisch und -psychologisch aus, was es für Pfarrerinnen und Pfarrer bedeutet, regelmäßig eine Sonntagspredigt vorzubereiten und zu halten. Lutz Friedrichs analysiert Predigten in sog. alternativen Gottesdiensten und zeigt, wie sie in die Dramaturgie des liturgischen Geschehens verwoben sind.

    Die Überlegungen der IV. Rubrik gelten den gottesdienstlichen Zeiten und unterschiedlichen sozialen Orten, innerhalb derer Sonntagsgottesdienste angesiedelt sind. Christian Grethlein weitet den Blick – über den fixierten Sonntagmorgen-Termin hinaus – für unterschiedliche liturgische Zeiten und Zeitrhythmen und deren Potenziale für gegenwärtiges gottesdienstliches (Er-)Leben. Vor welchen Herausforderungen gottesdienstliche Praxis heute im sich verändernden ländlichen Raum gestellt ist, skizziert Wolfgang Ratzmann und stellt vor, nach welchen Modellen sich gottesdienstliche Kultur auf dem Dorf weiterentwickelt. Ursula Roth umreißt demgegenüber, nach welchem Muster sich der Sonntagsgottesdienst in Citykirchen und insgesamt im großstädtischen Kontext gestaltet.

    Die V. Rubrik nimmt einzelne Praxisbeispiele und Konzepte der liturgischen und homiletischen Aus- und Fortbildung in den Blick. Georg Schützler schildert das Konzept und die Praxis eines sonntagabendlichen Gottesdienstes in besonderer Gestalt. Der „Nachteulengottesdienst" ist seit einigen Jahren ein bekanntes Beispiel über Ludwigsburg hinaus. Welche Perspektiven sich mit Gottesdiensten verbinden, die von einer kleinen Zahl von Menschen besucht werden, reflektieren Jochen Arnold und Christine Tergau-Harms und stellen ein eigenes liturgisches Projekt vor. Anhand von Praxisbeispielen erläutern Sabine Zorn und Matthias Nagel Aufgaben und Methoden von Gottesdienstberatung. Hanna Kasparick schließlich skizziert Leitmotive liturgischer und homiletischer Ausbildung im Vikariat – verbunden mit Erfahrungen, die Lust machen, „weiterhin vom Gottesdienst etwas zu erwarten, seine Potenziale zu entdecken, im Spiel zu bleiben".

    Ohne Unterstützung hätte sich dieser Band nicht realisieren lassen. Zu danken ist Sonja Beck und Jana Mitreuter im Mainzer Sekretariat für die umsichtige Korrektur der Manuskripte. Die Veröffentlichung durch finanzielle Unterstützung haben die Liturgische Konferenz, die Evangelische Kirche in Kurhessen und Waldeck und die Evangelische Kirche der Pfalz möglich gemacht. Auch ihnen sei herzlich gedankt.

    I.

    Kultur- und kirchensoziologische Aspekte

    Michael N. Ebertz

    Wochenenddramaturgien in sozialen Milieus

    I.

    „In den letzten Jahren hat der Ausflugsverkehr und der Sport an den Samstagabenden, an Sonn- und Feiertagen einen gewaltigen Umfang angenommen. Gesellschaften, Vereine aller Art, Familien und Schulen nehmen daran teil. Extrafahrten auf Eisenbahnen und Schiffen, der täglich sich steigernde Auto- und Flugverkehr erleichtern derartige Erholungs- und Vergnügungsfahrten. Dass dadurch die Heilighaltung der Sonn- und Feiertage äußerst gefährdet wird, ist nicht zu verkennen. Viele Ausflügler und Sportteilnehmer setzen sich, das lehrt die Erfahrung, freventlich über die Erfüllung ihrer Sonntagspflicht hinweg".

    Die Klage darüber, dass eine zunehmende – so wörtlich – „Wochenendbewegung" die Menschen von der Wohnraumnähe in die Ferne und vom Heiligen ins Vergnügen mobilisiert, von den angestammten Räumen der Kirchen weg in die Fremde führt, sie der christlichen Zeitordnung entfremdet und den Kommunikationen der kirchlichen Autoritäten (und damit ihrer sozialen Kontrolle) entzieht, ist gar nicht so jung, wenn man bedenkt, dass wir hier einen 80 Jahre alten Text vor uns haben.¹ Nicht viel älter ist die Einführung des staatlichen Sonn- und Feiertagsschutzes (1891; 1919) und die damit einhergehende Einführung der sechstägigen Normalarbeitswoche. Jene Klage über eine ‚entkirchlichte‘ Sonntags-, weil Wochenenddramaturgie gehört inzwischen zu den Ritualen kirchlicher Verantwortungsträger,² zumal sich die Dezentralisierung des Sonntags bis in unsere Tage hinein fortgesetzt hat:³ Die UNO fasste in den 1970er Jahren den Beschluss, künftig statt des Sonntags den Montag als den ersten Tag der Woche anzusehen;⁴ die Einführung der fünftätigen Normalarbeits- und Schulwoche – am 1. Mai 1956 bereits gefordert („Samstags gehört Vati mir") – relativierte den Sonntag ebenfalls, indem sie ihn zum Bestandteil des sog. ‚Wochenendes‘ machte, bevor er allerdings für immer mehr Menschen – auf der Basis liberalerer Arbeitszeit- (seit 1994/1996) und Ladenschlussgesetze (seit 30. Juni 1996) – wieder zum Arbeitstag wurde.⁵ Inzwischen ist für etwa 36 % der Erwerbstätigen Samstagsarbeit, für 20 % aller Erwerbstätigen Sonntagsarbeit Normalität und für einen höheren Prozentsatz üblich, am Sonntag das zu erledigen, was während der Woche liegen geblieben ist, wozu früher der Samstag diente.⁶ Und für die Mehrheit aller hierzulande lebenden Generationen ist der sonntägliche Gottesdienstbesuch kein Bestandteil ihrer Wochenenddramaturgie.⁷ Wurden noch in jenem Erlass von 1927 das auch heute noch gültige Kirchengebot eingeschärft, „dass alle Katholiken streng verpflichtet sind, an Sonn- und Feiertagen der hl. Messe mit Andacht beizuwohnen, und zugleich Empfehlungen ausgegeben, sich an die neuen Gegebenheiten etwa durch zeitliche Verlagerung der Gottesdienste und durch Werbemaßnahmen strategisch anzupassen, relativieren die heutigen Sonntagsmahner selbst jenes Gebot, indem sie von Sanktion auf Überzeugung umschalten, kommt es ihnen doch „mehr darauf an, dass wir als Christen den Sonntag als einen ‚besonderen Tag‘ [...] neu entdecken.⁸ Faktisch hat die Mehrheit der Kirchenmitglieder ihre Einstellung in puncto Sonntagsgottesdienst schon längst von einer norm- und einer überzeugungsbezogenen Grammatik auf eine „erfahrungs- und erlebnisbezogene ‚Plausibilität‘" umgestellt.⁹ Für immer mehr Menschen gehört er nicht zu ihrer regelmäßigen Wochenenddramaturgie, auch nicht mehr für die sog. Kernmitglieder der evangelischen und der katholischen Kirchen.

    Besser ist es freilich, von ‚Wochenenddramaturgien‘ zu sprechen, geht man von den derzeit in der katholischen Kirche heiß diskutierten Ergebnissen der Sinus-Milieu-Studien aus.¹⁰ Im Folgenden sollen die empirischen Aussagen dieser Milieustudien um weitere Schlussfolgerungen und Vermutungen aus den Milieubeschreibungen in diese Richtung ergänzt werden, wobei wir in dieser stark hypothetischen und zugespitzten Konstruktion weniger ein jeweiliges dramaturgisches Gesamtkunstwerk vor uns haben, als einige Hauptlinien und Mosaiksteine desselben.

    II.

    Der Milieubegriff, wie er von dem Heidelberger Marktforschungsinstitut „Sinus-Sociovision" verstanden wird, umfasst Kontexte und Zusammenhänge bestimmter Bevölkerungsgruppen, die sich durch ähnliche Lebensbedingungen, Lebenserfahrungen, Lebensauffassungen, Lebensweisen, Lebensstile und Lebensführungen und eine verstärkte Binnenkommunikation ausweisen.¹¹ Die spezifische Qualität dieses Milieubegriffs ist durch die Verschränkung von subjektiven und objektiven Daseinsmomenten bestimmt, der Zusammenhang ist aber nicht deterministisch.

    Die Sinus-Milieus werden sowohl nach ihren jeweiligen Wertorientierungen (horizontale Gliederung) als auch nach ihrer Position im sozialen Raum (vertikale Gliederung nach sozialem Status) angeordnet (siehe die graphische Darstellung auf der homepage). Je höher ein Milieu in dieser Milieukarte angesiedelt ist, desto gehobener sind Bildung, Einkommen und Beruf; je weiter rechts das Milieu positioniert ist, desto ‚(post)moderner‘, ichverankerter und experimentierfreudiger ist die Grundorientierung. Für jedes der zehn Milieus verfügt die Sinus-Milieu-Forschung über ein klares Porträt, aus dem sich auch Rückschlüsse auf ‚Module‘ einer Wochenenddramaturgie ziehen lassen.

    1. Das Milieu der Traditionsverwurzelten setzt sich vor allem aus Menschen der Kriegsgeneration zusammen. Als Rentner und Pensionäre, kleine Arbeiter, Angestellte und Beamte zählt man zur mittleren/unteren Mittelschicht und zur Unterschicht, auch hinsichtlich der Bildungsabschlüsse. Auf intellektuelle und ästhetische Experimente hat man seine Lebensreise nicht gebucht. Dazu passt auch das Streben der Traditionsverwurzelten nach Sicherheit und Ordnung, ein rustikaler Lebensstil, das Lesen trivialer Zeitschriften und die Vorliebe für die sog. Volksmusik. Samstags und sonntags zieht man sich gern zurück in die kleinbürgerliche Idylle von Haus, Garten oder Schrebergarten und pflegt seine Hobbys. Man werkelt vielleicht etwas am und im Haus, lädt hin und wieder auch Freunde, Nachbarn oder (ehemalige) Kollegen ein oder lässt sich von ihnen einladen. Vielleicht entfaltet man auch noch gewisse Aktivitäten im Vorstand des Sportvereins, des Schützenvereins oder bei den Kleintierzüchtern, doch ist das Wochenende als Inbegriff des Ruhestands primär der häuslichen Erholung, Entspannung und Gesundheit gewidmet, die der Betriebsamkeit, die auch Ruheständler unter der Woche entfalten, entgegengesetzt werden. Man genießt, was man geschaffen, und ist zufrieden mit dem, was man erreicht hat. Auch das Wochenende hat seine zeitliche Ordnung und bleibt, wie alles, ‚im Rahmen‘. Typische Stationen sind: (früher) Einkauf auf dem Markt, Mittagsschlaf und Bad am Samstagnachmittag, Sonntagskuchenbacken (Frauen), vielleicht Sportschau, während die Frauen das Goldene Blatt, Frau im Spiegel oder die Neue Post lesen; nach dem Abendbrot Fernsehunterhaltung (Volksmusik, Familien-TV), am Sonntag der Kirchgang in die lokale Gemeinde vor Ort im ‚Sonntagsstaat‘ (alternativ: ‚Teilnahme‘ am ZDF-Fernsehgottesdienst), dann Sonntagsbraten, Lektüre der Kirchenpresse, Sonntagsspaziergang oder -ausflug, gemütlich mit dem Fahrrad oder manchmal auch mit dem Auto (Besuch der Kinder und Enkelkinder), vielleicht mit Stopp an der Autobahnkirche. An außergewöhnlichen Wochenenden begibt man sich vielleicht auf das eine oder andere Fest, um eine rustikale Geselligkeit zu erleben, oder auf eine Reise zu prominenten deutschen Wallfahrtsorten. Wenn man verwitwet ist, sehen Samstag und Sonntag schon anders aus.

    Für vergleichsweise viele Traditionsverwurzelte ist der Sonntag der ‚Tag des Herrn‘ und Kirche heimatliche Volkskirche, wo man auch die vertrauten Gebete und Kirchenlieder (auswendig) kennt. In ‚ihrer‘ Kirchengemeinde vor Ort schätzen sie keine theologischen Höhenflüge, sondern die vertrauten Regeln, Rituale, Strukturen und Formen. Was sie weitgehend ablehnen, sind Kirchenmitglieder, die wie Kunden dann und wann eine Dienstleistung abholen, eine rituelle ‚Rosine herauspicken‘, ohne kontinuierlich der heimatlichen Gemeinschaft teilzunehmen.

    2. Die Menschen aus dem Milieu der Konservativen, Repräsentanten des alten Bildungsbürgertums, halten Distanz zu jenem Milieu und seinem aus ihrer Sicht trivialen Lebensstil, obwohl man auch der älteren Generation angehört. Aber man ist orientiert an klassischen Schönheitsidealen, eben nicht am Rustikalen, an klassischer Musik und Oper, nicht an Operette und Blasmusik. Die Konservativen zählen zur Oberschicht und oberen/mittleren Mittelschicht, was sie z.B. damit ausdrücken, dass sie sich auch an anderen hochkulturellen Orten aufhalten. Und natürlich geht man auch anderswo einkaufen und lässt sich an bestimmten Orten der Freizeitgestaltung nicht blicken. Man geriert sich ‚antibarbarisch‘. Das Wochenende gilt primär der familienbezogenen und hochkulturell stilisierten Freizeitgestaltung, der Erholung, der Entspannung und dem emotionalen Ausgleich, auch der Pflege von statushomogenen Freundes- und Bekanntenkreisen. Samstags hat man etwas zu gärtnern, sieht abends die Tagesschau, wenn nicht ein Theater- oder Opernbesuch oder ein klassischen Konzert abonniert ist. Sonntags kann vorgesehen sein, Klavier zu spielen und im Kreis der Familie zu musizieren, eingerahmt von der Zeitungslektüre (Welt am Sonntag, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung), vom Lesen von Zeitschriften (Mein schöner Garten) oder Büchern, vorzugsweise Klassikern, Romanen, durchaus auch der Bibel – Frauen neigen zu Biographien bedeutender Persönlichkeiten. Manche schreiben auch Bücher (z.B. Tagebuch, Memoiren, Leserbriefe), sammeln Briefmarken, Münzen, Uhren und historische Dokumente, treiben Gymnastik im hauseigenen Fitnessraum, pflegen intensiv Freundschaften via Telefon und handgeschriebenen Briefen (mit Füllfederhalter). Auch der Besuch von Museen und Ausstellungen, aber auch ausgedehntes Wandern kann auf dem Programm stehen, um dem hohen Stellenwert der Gesundheit Rechnung zu tragen und die Natur zu erleben.

    In der Wochenenddramaturgie dieses Milieus, die bei gleichzeitiger Distanz zu aktionsorientierten und trivialen Praktiken eindeutig auf hochkulturellen Stil gepolt ist, ist der Besuch der lokalen Kirchengemeinde in der Regel nicht vorgesehen, obwohl man Religion als Sicherheit und Halt des Einzelnen und als Fundament der Gesellschaft schätzt und auf die Kirche als Kraft des Bewahrens und Beharrens, als Hüterin des Abendlandes, schwört. Doch macht man sich nicht gemein und geht zur ‚Vereinskirche‘ vor Ort eher auf freundlichen Abstand. Man nimmt schon hin und wieder an einem Gottesdienst teil, am liebsten an einem solchen mit perfekter Entfaltung der liturgischen Hochform, bepredigt von gebildeten Geistlichen, aber weiß auch, wo man sie findet und wo nicht und wählt entsprechend aus.

    3. Auch das Milieu der sog. Bürgerlichen Mitte wählt in religiösen Angelegenheiten aus, bleibt dabei aber eher vor Ort. Doch die Auswahllogik ist eine andere als bei den ‚Traditionsverwurzelten‘: Der entscheidende Bezugspunkt ist dabei auch und gerade für die Wochenenddramaturgie der Familialismus, der dieses Milieu mit seinem breiten Altersspektrum (Schwerpunkt 30 bis 50 Jahre) in mittlerer Einkommens- und Bildungslage durch und durch beseelt. Dementsprechend gelten diesem Milieu Haus und Garten als Passion. So gestaltet und dekoriert man auch samstags gern die eigene Wohnung, blättert nach dem Frühstück in Wohnzeitschriften, bummelt durch Einrichtungsgeschäfte und arbeitet am eigenen, meist kleinen Ziergarten, der nett aussehen muss (kein Unkraut). Der Tag klingt mit einem Spieleabend aus oder mit gemeinsamem TV-Konsum („Wetten, dass ...; „Verstehen Sie Spaß) und dient letztlich – wie das gesamte Wochenende – einer familialen Integrationsfunktion. Auch der Sonntag gilt ganz der Familie: nach langem Ausschlafen fallen Frühstück und Mittagessen zusammen, bevor die Lektüre von Bild am Sonntag, gemeinsame Spiele, Radtouren, Wandern, der Besuch eines Zoos oder Freizeitparks dran sind oder mal wieder von Oma und Opa, von Geschwistern und anderen Verwandten. Alternativ nutzt man den Sonntag zur Freundschaftspflege: gute Freunde einladen, zusammen essen, grillen im Garten, neue Kochrezepte und Erziehungstipps austauschen, gemeinsame Ausflüge. Manchmal suchen Frauen auch einige Stunden oder das ganze Wochenende mit einer guten Freundin – ohne Mann und Kinder – zu verbringen, und Männer erlauben sich einen Segeltörn mit Kumpels, eine Mountainbike- oder eine Motorradtour.

    Familiengottesdienste sind dieses Milieus liebstes Kind – mit dem Kind in der Mitte der Gemeinde, doch bitte nicht an jedem Sonntag. Dieses Milieu ist (nur) dann zur Gottesdienststelle, wenn es um die Familie geht: Kinder-, Jugend-, Weihnachts-, Gottesdienste im Park mit kindgerechten Gestaltungselementen und Ablenkungsmanövern und anschließendem Grillen und mit Kinderbetreuungsangeboten, damit den Eltern Zeit bleibt, sich über Erziehungsthemen zu unterhalten. Wenn sich Kirche nicht als erweiterter Familienkreis im sozialen Nahraum präsentiert, zieht die Bürgerliche Mitte sonntagmorgens dem liturgischen Engagement das längere Ausschlafen vor, und dies ist an den meisten Sonntagen der Fall.

    4. Die Etablierten sind im vertikalen sozialen Raum über der ‚Bürgerlichen Mitte‘ angesiedelt und in ihrem Lebensstil weit entfernt von den ‚Traditionsverwurzelten‘. Sie zeigen allerdings gewisse Gemeinsamkeiten mit den ‚Konservativen‘, etwa im Bildungsniveau und in den Freizeitinteressen. Ähnlich wie sie versteht man sich als selbstbewusster Teil der ökonomischen, politischen und kulturellen Elite, ist allerdings deutlich jünger, egologischer und weniger kulturpessimistisch eingestellt. Am Samstag gehen die Repräsentanten dieses Milieus, meist verheiratet mit Kindern, zusammen einkaufen, etwa auf den Markt, um Frisches, Hochwertiges und Gesundes zu erstehen. Danach trifft man sich mit Freunden, trinkt einen Kaffee oder Sekt zusammen, um Kontakte und etwas gehobene Kommunikation zu pflegen, die man vielleicht auch werktags in exklusiven Clubs (Lions-, Rotary) sucht. Am Nachmittag steht etwas Gärtnern als Ausgleich zum beruflichen Stress an, abends häufig der Besuch des Theaters, der Oper, klassischer Konzerte auf dem Programm, dazwischen ein breites Spektrum an (auch überlokalen) Zeitungen (Welt am Sonntag; Die Zeit) und Zeitschriften (Wirtschaftspresse) zur Verfügung. Sonntags ist Joggen, Tennis, Golf oder Squash angesagt, nachmittags vielleicht auch Hausmusik und der Besuch einer Thermaloase. An manchen Wochenenden ist, wenn man nicht ohnehin beruflich verreist ist, eine teure (private) Fort- und Weiterbildung verpflichtend, um im Konkurrenzkampf professionell fit und top zu bleiben, ja sich ‚beruflich zu verbessern‘. Für außergewöhnliche Wochenenden wird eine Weinprobe oder Städtereise mit exklusivem Kulturprogramm gebucht und, wer’s sportlicher liebt, bricht zum Tauchen im Mittelmeer auf oder zum Surfen in Südfrankreich.

    Auch in religiöser Hinsicht zieht man eher exklusive Orte (z.B. Klöster) vor, lässt sich jedenfalls sein distinguiertes Milieuniveau nicht durch regelmäßige sonntägliche Gottesdienstkontakte zur kleinbürgerlichen kirchlichen Ortsgemeinde kontaminieren, die man richtigerweise als Treffpunkte der ‚Traditionsverwurzelten‘ und des Getümmels der ‚Bürgerlichen Mitte‘ vermutet. Auch traut man dem kirchlichen Bodenpersonal vor Ort den gewünschten professionellen Perfektionismus bei der Inszenierung des Glaubens nicht zu. Die Kirche wird geschätzt als Fundament der Hochkultur mit kunsthistorischen Schätzen, sie ist allerdings ohne persönliche Relevanz für die eigene Lebensführung. Es ist gut, dass es sie gibt: die Kirche für die anderen, die sie als Trost und Sicherheit nötig haben. Hin und wieder fügen die Etablierten in ihre eigene Wochenenddramaturgie aus freien Stücken einen konzertanten Gottesdienst ein, fragen ein kunst- und bildungsgetriebenes kirchliches Angebot nach, einen theologischen Vortrag, prominent und prägnant präsentiert mit lustvollen Sprachspielen in rhetorischer Brillanz. Aber so etwas Geschliffenes vermuten sie nur selten in der gemeindlichen Angebotspalette.

    5. Die Postmateriellen pflegen zwar einen vergleichsweise bescheideneren Komfort, lehnen aber ebenfalls alles Mittelmäßige des konsumistischen Massengeschmacks ab, allerdings auch den stilistischen Perfektionismus, dem die ‚Etablierten‘ und ‚Konservativen‘ huldigen. Als ‚Nach-68er‘-Milieu mit relativ hoher Bildung in der oberen/mittleren Mittelschicht ist man eher wirtschafts-, gesellschafts- und medienkritisch eingestellt mit hohen Sympathien für alternative Lebensformen mit feministisch-ökologisch-gesellschaftspolitischem Verantwortungsbewusstsein. Dementsprechend ist das Milieu der Postmateriellen auch besonders engagiert in Egalitätsfragen, in Bürger-, Kultur-, Um- und Selbsthilfeinitiativen und hat zum Leitbild die Kirche als Projekt, als soziale Bewegung. Dieses Milieu hat, allen neoliberalen Umtrieben zum Trotz, noch nicht die Hoffnung auf ein alternatives besseres Leben aufgegeben. Häufig gilt der Samstag nach dem Öko-Einkauf von Bioprodukten der Erholung im Garten, der Gartengestaltung, der Beschäftigung mit Pflanzen und der Tierwelt im Biotop, um zu beobachten, wie was wächst. Selbst dem Komposthaufen kann eine intensive Inspektion gewidmet werden. Ein ‚offenes Haus‘ mag zu Überraschungsbesuchen aus dem großen Kreis von Freunden aus der Umweltinitiative oder der Selbsthilfegruppe führen, zur Begegnung mit interessanten fremden Menschen, die ein Bekannter einfach so mitgebracht hat. Wo und wann es immer möglich ist, geht es darum, mit allen Sinnen die Welt wahrzunehmen und unmittelbaren Kontakt mit den Elementen zu suchen. An besonderen Wochenenden und bei schönem Wetter mit Fernblick kann es das Gleitschirmfliegen sein, das Segeln und das Erlebnis, in reinem Wasser zu schwimmen. An üblichen Wochenenden kommen als körperlicher Ausgleich zum Sitz-Beruf alle Arten von Bewegung in Frage. Sie dienen der bewussten Alltagsdistanz durch Suche nach individuellen Freiräumen und Muße, nach Stresslösung, Selbstbesinnung und Selbstfindung. Darauf zielen auch mentales Training, Meditieren, Yoga, Tai Chi, aktives Musikhören, eigenes Musizieren, Zeichnen und Malen oder das Lesen eines ‚guten Buches‘, auch von Zeitungen und Zeitschriften wie Die Zeit oder Eltern. Abends sind Theater, Oper, Konzert, aber auch Programmkino und Veranstaltungen in der Kleinkunstszene angesagt, der Besuch eines Restaurants mit ‚ehrlicher Küche‘ rundet alles ab.

    Berührung mit der Kirchengemeinde vor Ort ist eher selten. Vergeblich hat man sich vielleicht bemüht, sie auf ‚sozialpastoralen‘ befreiungstheologischen Kurs zu bringen und als basisgemeindliches Bildungs- und Kommunikationsforum umzugestalten, wo Mystik und Politik sich kreativ vereinen, der herrschaftsfreie Diskurs ebenso zur Blüte gelangt wie die ökumenische Geschwisterlichkeit, wo die Option für die Armen am Ort genauso gelebt wird wie das Eine-Welt-Engagement für die Globalisierungsopfer. Die ‚Postmateriellen‘ prallen aber häufig an der kleinbürgerlichen Milieugrenze der meisten Kirchengemeinden ab, die sich dem demokratischen Partizipationsgedanken ebenso verschließt wie einem aufgeklärten Umgang mit den biblischen Texten und der eigenen Tradition.

    6. Die Modernen Performer haben eine ähnlich hohe Position im sozialen Raum, ihr Altersdurchschnitt ist allerdings wesentlich jünger (das jüngste Milieu), fortschrittsgläubiger, erfolgsorientierter, technologiefreudiger, egologischer und egotaktischer. Das Ich – nicht das gesellschaftspolitische Gemeinschaftsprojekt – ist der zentrale Bezugspunkt, an dem die Lebensführung orientiert ist, die Kultivierung des Körpers eingeschlossen. Wenn man es sich leisten kann und der Beruf es zulässt, dem auch am Wochenende manchmal viele Stunden gewidmet werden, dient es dazu, in andere spannende Welten einzutauchen, um mental abzuschalten, entweder outdoor oder indoor, online oder offline. Das Wochenende beginnt für dieses Milieu bereits freitagabends. Sein Bedürfnis nach Aktion und Expressivität mischt sich auch und gerade am Wochenende mit einer demonstrativ hochkulturellen Ambitioniertheit, die sich etwa im Besuch von Ausstellungen, Theater- und Konzertveranstaltungen sowie Angeboten der Kleinkunstszene öffentlich manifestiert. Indoor ist man häufig online oder bei der Realisierung prominenter Buchempfehlungen und mentaler Trainingsprogramme offline – ganz bei sich und seiner Selbstverwirklichungstätigkeit.

    Der hat auch die Religion zu dienen. Die eigene Seele, die eigene Größe soll durch sie stimuliert und angestoßen werden. Kirchliche Traditionalismen, Konventionalitäten, Formalitäten und Verbindlichkeiten sind dabei ebenso wenig hilfreich wie Demutsrituale (Kniebeuge, Verneigung) und Massenpassivität in den Gottesdiensten. Deshalb wird das Verhältnis dieses Milieus zur Kirche als asynchron erlebt. Weil Kirche nicht da ist, wo man selbst ist, ist man am Wochenende nicht da, wo Kirche ist. An kirchlichen Events nimmt man vielleicht teil, auch an zeitgenössischen christlichen Kunstausstellungen und Literaturlesungen, aber nicht an den kirchlichen Dauervergemeinschaftungen unter dogmatischen Vorzeichen und ästhetischen und thematischen Duftnoten der anderen Milieus. Kirche wird allenfalls als punktuelle, situative und virtuelle Dienstleisterin und Weisheitsquelle in Anspruch genommen, ist aber nicht als kontinuierliches Moment in der milieuspezifischen Wochenenddramaturgie präsent, zumal die Bereitschaft gering ist, seine religiöse Orientierung auf nur eine ‚Energie‘-Quelle beschränken zu müssen.

    7. Die Experimentalisten sind ähnlich jung, allerdings weniger einkommensstark und gebildet. Viele

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