Autopsie des Vaters: Roman
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Book preview
Autopsie des Vaters - Kramer, Pascale
sei.
Die Zeitschrift lag auf dem Tisch des kleinen Mitarbeiterraums der Krippe. Eine Programmseite war aufgeschlagen, Gabriels Foto illustrierte einen kurzen Artikel, über den jemand mit leichtem Federstrich etwas hinweggekritzelt hatte. Es war ein gestelltes Foto, schön, irgendwie bitter, an das Ania sich sehr gut erinnerte: Es war vielleicht zehn Jahre alt und stammte aus der Zeit, als mehrere Zeitungen die Kandidatur ihres Vaters für die Leitung eines staatlichen Rundfunksenders unterstützt hatten. Ania lebte damals zusammen mit einer Mitbewohnerin in einer Mietskaserne von Suresnes und fühlte sich immer seltener bemüßigt, nach Les Épinettes zurückzukehren. Gabriel hatte ihr den Artikel geschickt, wie alles Bemerkenswerte, was über ihn erschien, begleitet von einem kurzen Damit Du es weißt, Gruß und Kuss, Dein Vater. Damit sie was weiß?, hatte sie sich oft gefragt. Dass er erfolgreich war? Dass er die Verbindung aufrechterhielt, auch wenn sie ihm aus dem Weg ging? Diese Briefe waren Zeugnisse eines Lebens, von dem sie nur die Randerscheinungen gekannt hatte: die Vertrautheit mit der Macht, die stillen, langweiligen Lesestunden auf den tiefen Sofas des Wohnzimmers, die Gäste am Sonntag mit ihrer behäbigen Herablassung dem Dorf gegenüber. Gabriel erwartete nicht, dass Ania ihn auf diese Artikel ansprach oder stolz darauf war. Bekanntheit hatte ihm nie viel bedeutet, schon gar nicht seine eigene.
Ania drehte die Zeitschrift um, während sie sich einen Tee kochte und sich versicherte, dass ihre Kollegin Lucia immer noch draußen war. Die Vorsicht war jedoch unnötig, Lucia hätte niemals geglaubt, dass der Mann auf dem Foto Anias Vater war, und vor allem hätte sie sich gar nicht dafür interessiert. Sie rauchte da draußen, auf den Fersen hockend, das Gesicht bis zu den Wangen im Kragen eines roten Kunstfellmantels versunken, den Gabriel früher witzig gefunden hätte.
Die Geschäftsführung der Rundfunkanstalt hatte tags zuvor bekannt gegeben, dass Gabriel auf Verlangen der gesamten Redaktion entlassen werden solle. Der Artikel ging nicht mehr auf die »Entgleisung« ein, die zu dieser Einmütigkeit geführt hatte, das war wohl schon hinreichend kommentiert worden. Ania hatte nichts davon gehört, sie hielt sich wenig auf dem Laufenden, aber sie konnte sich sehr gut vorstellen, in welche Extreme ihr Vater abgeglitten sein mochte.
Der Bildausschnitt zeigte nur das Gesicht. Der scharf gezeichnete Mund lächelte schief, der Blick fixierte das Objektiv durch die Reflexe der Brillengläser. Es war genau jenes sinnliche und intelligente Gesicht, dessen Ironie sie seit ihrem achten Lebensjahr in Panik versetzt und ihn ihr entfremdet hatte. Doch an diesem Tag, in der turbulenten Nähe der aus dem Mittagsschlaf erwachenden Kinder, erschien es ihr vollkommen bedeutungslos, ob sie in seinen Augen unzulänglich war. Die gedrungenen Rosenstöcke unter den Fenstern des Spielzimmers trugen noch ein paar schöne samtrote Blüten. Anja hatte wunderbare Erinnerungen an diese schläfrig milden Frühherbsttage auf der Wiese von Les Épinettes mit dem breiten Band des dunklen Wassers unten. Théo hatte Fotos gesehen, er verstand nicht, dass sie nie kommen durften. Ania nahm sich vor, am nächsten Wochenende mit ihm hinzufahren, wenn das Wetter so bleiben sollte. Gabriel hatte immer Interesse für kleine Kinder gezeigt, in den ersten Jahren, als sie beide allein waren, hatte er es sogar verstanden, als Vater Sicherheit zu geben.
Während Ania auf dem Kilometer, der den Bahnhof von Les Épinettes trennte, durch das hohe Gras des Straßenrands stapfte und dabei auf Théos Schritte achtete, der in seinen Turnschuhen vorwärtsstolperte, fiel ihr ein, dass Gabriel vielleicht gar nicht da sein könnte oder bestimmt nicht allein war. Schon vier Jahre hatten sie nichts mehr voneinander gehört, überlegte sie. Sie hätte sich zumindest erkundigen sollen, was der Grund für seinen Rausschmiss aus der Rundfunkanstalt gewesen war. Je näher sie dem Haus kam, desto mehr erwachte ihre alte Angst, nicht Bescheid zu wissen.
Der Weg zum Eingang des Anwesens war noch tiefer ausgewaschen und ganz glatt von den halb freigelegten Steinen. Das Tor stand wie immer weit offen; Ania wusste nicht, wie sie Théo diesen Nonkonformismus Gabriels, Türen nie zu verschließen, erklären sollte. Der wuchernde Efeu hing über die Gartenmauer wie nasse Wäsche, und die Wipfel der hohen, von Misteln besiedelten Linden vereinten sich jetzt über dem Werkzeug- und Fahrradschuppen. Der alte Audi, den Gabriel für seine Ausflüge ins Dorf benützte, stand noch immer am gleichen Platz im Schatten der Äste.
Es dauerte lang, bis er aufmachte, obwohl die Musik beim ersten Läuten verstummt war. Ihr Erscheinen überraschte ihn weniger, als dass es ihn störte, ganz gleich, was er vorzutäuschen versuchte. Sein Gesicht war schmaler geworden unter dem vollkommen weißen Kranz seiner Haare, die er schon seit einigen Jahren kurz trug. Sein Blick aus den von kleinen Äderchen getrübten Augen beobachtete amüsiert die Veränderungen bei ihr, ihre Beleibtheit, ohne Zweifel, die er sich aber hütete zu kommentieren. Dann wandte er sich Théo zu, musterte ihn lange, als suchte er in ihm das Kleinkind wiederzufinden, das er vor vier Jahren hier gesehen hatte. Ihr kommt ungelegen, stellte er schließlich fest und schenkte Ania ein Lächeln. Nach all der Zeit hättest du Bescheid sagen können, meinst du nicht? Ania erwiderte, es sei einfach über sie gekommen, als sie in einer Zeitung sein Foto gesehen habe. Gabriel würdigte ihre Offenheit mit einem spöttischen Hochziehen der Brauen. Er bat sich fünf Minuten aus, sie könnten sich ja nach draußen setzen, die Sessel stünden bereit.
Für Théo war dieser Besuch bei seinem Großvater ein Ereignis. Der Empfang und die Wildnis des großen Gartens versetzten ihn in fiebrige Erregung. Er hatte die Hand seiner Mutter losgelassen und verhielt sich plötzlich, als würde er beobachtet. Ania entdeckte mit seinen an die Anarchie der Vorstädte gewohnten Augen den Ort ganz neu. Die Kirschbäume begannen sich rot zu färben. Die Schaukelseile, die jahrelang an einem der Äste vor sich hin rotteten, waren verschwunden. Im Gras vor dem Haus standen tatsächlich die Korbsessel. Sie waren weiß gestrichen worden. Ganz unten im Garten bemerkte Ania auch Bambusmatten, die die Sicht auf ein Nebengebäude des Nachbaranwesens verdeckten: ein hübscher Flachdachbau, den Ania stets mit verrammelter Tür und vernagelten Läden gekannt hatte. Hier und da blühten noch einige dicke Hortensienbälle.
Wenn du wegen der Vorfälle hier bist, begann Gabriel, der mit einer Kanne frischem Verbenentee und einem Rest Eiscreme für Théo zu ihnen kam, will ich dir lieber gleich sagen, dass deine Meinung mich nicht interessiert. Seine bitteren, listigen Augen blickten sie an. Ania hätte ihm gern gesagt, seine Spielchen könnten ihr nichts mehr anhaben. Aber er hätte es nicht verstanden, er hätte bei dem Wort Spielchen im schmerzlichen Bemühen, ihr zu folgen, die Stirn gerunzelt, wie er es tat, als sie ein Kind war, wenn er ihre zögernden, nie wohlformulierten Antworten hörte. So lehnte sie sich in ihren Sessel zurück, der Sonne zugewandt, und ließ ihn reden, hörte ihm nur halb zu. Er wollte nicht wissen, was sie machte, wie es ihr ging. Das war die Regel, seit sie das Haus verlassen hatte, ostentativ fragte er nichts, wie um ihr zu zeigen, dass er sich ihrem Wunsch beugte, ihr Leben anders und anderswo zu leben. Dafür redete er umso mehr über sich, antwortete auf ungestellte Fragen, nach seiner Wohnung in Monceau und was er damit zu tun gedenke, nachdem ihm die paar Sendungen, die ihm noch blieben, entzogen worden wären, oder was mit dem Haus der Verwalter passieren sollte, wenn das Paar in drei oder vier Jahren in Rente ginge.
Théo aß sein Eis auf, ohne diesen Großvater im T-Shirt aus den Augen zu lassen, der lange Sätze von sich gab und mit seinen zarten Händen die Armlehnen des Korbsessels massierte. Er hatte keine Erfahrung mit diesen unantastbaren und kultivierten Kreisen, in denen sie sich als Kind so minderwertig gefühlt hatte, ja, er hatte nicht einmal eine Vorstellung davon. Ania merkte, wie er zwischen Faszination und Verlegenheit schwankte, unschlüssig, ob er dableiben und zuschauen oder auf Entdeckungstour gehen sollte.
Hinter der Pappelreihe, die Gabriel zum Schutz gegen die Kajakfahrerscharen des Wochenendes hatte pflanzen lassen, trieben mit leichtem Lichtgesprudel Holzstücke im trägen Wasser des Flusses. Théo war schließlich bis in den unteren Teil der Wiese vorgedrungen und hatte in einem Dickicht von Brombeerranken und Brennnesseln das im Zaun versteckte kleine Tor gefunden. Ania sah, wie er vorsichtig die Dornen niedertrat, um hinzukommen. Gleich würde er sich umdrehen, um sich zu versichern, dass sie ihn gesehen hatte und ihm erlaubte, zum Fluss hinunterzugehen. Gabriel war plötzlich verstummt und hatte sich aufgerichtet, um den Jungen zu beobachten. Lass es besser zu und geh bloß nicht zu den Nachbarn, rief er ein erstes Mal und dann noch ein zweites Mal lauter. Er hatte es also vergessen, dass Théo ihn nicht hören konnte, ziemlich ungeheuerlich, so etwas zu vergessen. Ania war wie vor den Kopf geschlagen, ihr dröhnten die Ohren. Sie nahm ihre Tasche, schlüpfte in die Schuhe und musterte ihren Vater wie jemanden, an den sie sich nur mit Mühe