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ENTZAUBERTER BLICK
Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation
© Qumran Verlag,
Frankfurt am Main und Paris 1983
Alle Rechte vorbehalten
Druck: Georg Wagner, München
Printed in Germany
ISBN 3-88655-192-X
INHALT
Erster Teil
Die Formierung des Bildes vom Guten Wilden
Die Neue Welt entdeckt die
Alte Kolumbus, Morus, Campanella
Aristokraten des Urwalds
Die philosophische Grundlegung des Bildes vom Guten Wilden bei Montaigne
Oroonoko, Freitag und die edlen Pferde
Der Wilde in der englischen Literatur des 17. und frühen 18. Jahrhunderts
Zweiter Teil
Die ethnographische Berichterstattung im 17. und 18. Jahrhundert am Beispiel Nordamerikas
Margen des Konflikts
Die Anfänge der britischen Kolonisierung Nordamerikas
Indianer, Waldläufer und Jesuiten Neu-Frankreich im 17. Jahrhundert
Ethnographie als Zivilisationskritik
Zu Louis-Armand de Lahontans „Nouveaux Voyages dans l'Amérique Septentrionale“
Ethnologie als Apologetik
Zu Joseph François Lafitaus „Mœurs des Sauvages amériquains comparées aux mœurs des premiers
temps“
Konservativer und kritischer Gehalt der frühen Ethnologie
Dritter Teil
Der „Amerikanische Wilde“ im philosophischen Diskurs der Aufklärung
Die Herrschaft des Klimas und die Beherrschung der Welt
Montesquieus Anthropogeographie
Die Wilden auf der Skala des Fortschritts
Turgots Geschichtsphilosophie
Prototyp und Varietäten der Gattung
Buffons Anthropologie
Das Maß des Widerstands
Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Voltaire
Das neue Zentrum
Rousseaus Konstruktion des „homme naturel“
Vierter Teil
Die Entdeckung Tahitis und die Neubelebung der Figur des Guten Wilde
Imagination und nüchterner Blick
Bougainvilles Reise um die Welt
Von der Utopie zur Uchronie
Literaturverzeichnis
Personenregister
Prolog
Das Ende der Mythen
Die Einleitung des Zweiten Entdeckungszeitalters durch Bougainville
Am 16. März des Jahres 1769, fast auf den Tag genau zwei Jahre und vier Monate nach ihrer
Abfahrt, trifft die Fregatte La Boudeuse im Hafen von St. Malo ein, nach einer Reise, die sie, von
Nantes ausgehend, über den Atlantischen Ozean, die südamerikanische Küste, die Falklandinseln
und die Magellanstraße zu den Inseln des Stillen Ozean, von der Nordküste Australiens über die
Molukken, die großen Sundainseln und den Indischen Ozean nach Madagaskar und über das Kap
der Guten Hoffnung entlang der westafrikanischen Küste zurück nach Frankreich führte. An Bord
des Schiffes befindet sich Louis-Antoine de Bougainville, Initiator und Kommandant der
dreizehnten Weltumsegelung nach der des Magellan, der siebten jedoch, die - wie Bougainville in
seinem Rechenschaftsbericht im Rahmen einer systematischen Aufzählung der früheren
Unternehmungen mit Stolz behauptet - „im Geiste der Entdeckung“ durchgeführt wurde, und der
ersten schließlich, die im Namen der französischen Nation vorbereitet und unternommen worden
war.
Bougainvilles Weltumsegelung leitete von Seiten Frankreichs eine Epoche ein - die
Geschichtsschreibung gibt ihr heute den Namen des Zweiten Entdeckungszeitalters - an deren
Ende die äußeren Umrisse der Erdkontinente für die Gelehrten der Zeit die Form angenommen
haben sollten, die uns heute noch vertraut ist, die erste Etappe der planmäßig durchgeführten
wissenschaftlichen Forschungsreisen, deren Protagonisten in dem Grade, in dem sie die
Oberfläche der Erde durchmaßen, jenen mythischen, utopischen und wissenschaftlichen
Spekulationen ein Ende setzten, die seit der Entdeckung der Neuen Welten erneut Aktualität
erhalten und die europäische Bewußtseinslandschaft über Jahrhunderte hin beherrscht hatten.
Die geographischen Mythen vom Irdischen Paradies, vom Reich des Priesterkönigs Johannes
oder, in säkularisierter Form, vom legendären Goldland Eldorado, die den portugiesischen und
spanischen Seefahrern, Entdeckern, Eroberern und Abenteurern in und neben ihren
ökonomischen Interessen als Stimulus dienten, sie waren in dem Prozeß zunehmender Erfahrung
und Ernüchterung, der der gewaltsamen Unterwerfung, der handelsmäßigen Erschließung und der
teilweisen Besiedelung der Landstriche westlich des Atlantik folgte, realistischeren
Einschätzungen über die noch zu erwartenden Neuentdeckungen gewichen. Lebten diese Mythen
zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch im allgemeinen Bewußtsein noch fort, so waren doch in der
naturwissenschaftlich-philosophischen Diskussion an ihre Stelle Spekulationen über große
zusammenhängende Landmassen in der südlichen Hemisphäre getreten, die „terra australis“, den
Südkontinent, dessen Vorhandensein man mit Hilfe geophysikalischer Überlegungen im Blick auf
die Notwendigkeit der Erhaltung des Gleichgewichts der Erdkugel hinlänglich bewiesen zu haben
glaubte und dessen Entdeckung daher um 1750 von fahrenden Geographen und Philosophen wie
de Brosses und Maupertuis zur vordringlichsten wissenschaftlichen Aufgabe erklärt worden war.
Anders verhielt es sich dagegen mit einem weiteren Bestandteil der Mythologien der frühen
Entdecker, den Monstren und Fabelwesen mit denen nicht nur dem breiten Leserpublikum der
populären älteren und neuen, fiktiven und echten Reisebeschreibungen noch um die Mitte des 18.
Jahrhunderts die überseeische Welt bevölkert zu sein schien. Auch in den wissenschaftlichen
Debatten der Zeit nahmen insbesondere jene Zwitterbildungen und halbmenschlichen Lebewesen
breiten Raum ein, über deren Existenz von den Reisenden immer wieder Belege erbracht worden
waren und die von den Naturhistorikern und Philosophen als die noch fehlenden Zwischenglieder
zwischen Tier- und Menschenreich in der „großen Kette des Seins“, dem in sich harmonischen,
lückenlosen und kontinuierlich abgestuften göttlichen Schöpfungsplan, angesehen werden
konnten. Zu dieser Klasse der Halbmenschen, für die Linné in seinem Klassifikationsschema der
Arten die Kategorien des homo sapiens ferus und monstruosus freigelassen hatte, zählten neben
den „Waldmenschen“ Javas und den Zwergen Innerafrikas auch die Riesen Patagoniens, über
deren erstaunliche körperliche Ausmaße schon Pigafettal der Chronist der ersten Reise um die
Welt, berichtet hatte, und dessen Angaben selbst noch von Byron, dem Kapitän eines britischen
Schiffes, das um 1764 die feuerländische Küste befuhr, bestätigt wurden.
Bougainville, der sich in seinem Reisebericht nicht zuletzt durch seine Kritik an „jener Klasse
bequemer und anmaßender Schriftsteller, welche im Schatten ihres Arbeitszimmers ins Blaue
hinein über die Welt und ihre Bewohner philosophieren und die Natur gebieterisch ihren
Imaginationen unterwerfen“ als nüchterner Empiriker auszuweisen versuchte, trug durch seine
aufmerksamen Beobachtungen in der Tat dazu bei, nicht nur die Legende von der
Großwüchsigkeit der Patagonier für immer in das Reich der Fabel zu verweisen: „Unter denen,
die wir sahen, war keiner unter fünf Fuß und fünf bis sechs Zoll, aber auch keiner über fünf Fuß
und acht bis neun Zoll groß“ - so beschreibt er die Bewohner Feuerlands, an die er vermutlich,
wie wenige Monate zuvor schon Captain Wallis, der Kommandant einer britischen Seexpedition
in diese Region, den Zollstock angelegt haben wird. Gleichwohl erhielt im Gefolge seiner
Entdeckungsfahrten und ethnographischen Beobachtungen im Südpazifik in Europa eine Legende
neuen Auftrieb, die sich hartnäckiger als alle anderen im Zeitalter der Entdeckungen entstandenen
forterhalten hatte: die Legende vom Guten Wilden, die mit der Darstellung Tahitis durch
Bougainville und seine Reisegefährten gleichsam als ein Knotenpunkt von gattungsbezogener
und geographischer Utopie in der Vorstellung seiner Zeitgenossen erneut Gestalt annehmen
sollte.
Erster Teil
Die Formierung des Bildes vom Guten Wilden
Die Neue Welt entdeckt die Alte
Kolumbus, Morus, Campanella
1.
Die Figur des Guten Wilden ist so alt wie die Geschichte der europäischen überseeischen
Entdeckungen selbst. Schilderungen der physischen Erscheinungsform und der naturgemäßen
Lebensweise der Völker der Neuen Welt, die sie als in einem Zustand der Fülle und der
Sorglosigkeit, der Tugendhaftigkeit, der Unschuld und des Friedens lebend erscheinen lassen,
finden sich bereits in den Berichten der ersten Entdecker. Kolumbus selbst gilt als der eigentliche
Schöpfer der Legende. In den Bordtagebüchern seiner ersten Reise beschreibt er die
wohlgeformte Körperlichkeit und das friedfertige Verhalten der Kariben vor der Szenerie einer in
ihm Paradiesesvorstellungen wachrufenden tropisch-üppigen Gartenlandschaft. Joachim Moebus
hat neuerdings eindrücklich auf das innere Spannungsverhältnis hingewiesen, das jener ersten
Ausarbeitung des Bildes vom Guten Wilden bei Kolumbus zugrundeliegt: den ständigen
Zwiespalt zwischen einer aus utopischen Bedürfnissen gespeisten und von sinnlichen Qualitäten
affizierten Betrachtungsweise und dem allmählich obsiegenden, Natur und Wilde unter dem
einheitlichen Gesichtspunkt ihrer materiellen Verwertbarkeit subsumierenden taxonomischen
Blick, - ein Prozeß, in dessen Verlauf nicht nur die Nacktheit und Waffenlosigkeit der Wilden
anstelle des anfänglichen Glücksversprechens nurmehr leichte Zugänglichkeit der in Warenform
verwandelbaren natürlichen Ressourcen indiziert, sondern selbst noch der solchermaßen
gebrochene Zauber, wie ihn Kolumbus angesichts eines andersgearteten Naturverhältnisses
zunächst selbst verspürte, in seinen Rechenschaftsberichten an die Könige zum puren Stimulus
für neue Eroberungsunternehmungen verkommt. Durch seine Beschreibung der Kariben als eines
in inniger Naturverbundenheit lebenden, sanftmütigen und unschuldigen Volkes, bei dem der
Mangel ebenso unbekannt sei wie die Institution des Privateigentums, legte Kolumbus so, und
zwar in durchaus ambivalenter Weise, den Grundstein für die Herausbildung der Legende vom
Guten Wilden, deren Aufnahme in Europa durch das gleichzeitige Wiederaufleben ähnlicher
Mythen, die sich um den anfänglichen Glückszustand der Menschheit rankten und zum Teil noch
aus der Antike stammten, begünstigt wurde: sei es das Goldene Zeitalter der antiken Sage oder
sei es das mit der Vorstellung von den Glücklichen Inseln im Westen verschmolzene Irdische
Paradies der christlichen Überlieferung, das wiederentdeckt zu haben Kolumbus zunächst selbst
der Überzeugung war.
Sollten die Beobachtungen des Kolumbus in der Folgezeit auch von einigen der Chronisten
und Missionare, die den Eroberern der Neuen Welt folgten, bestätigt werden, so käme es doch
einer Fehleinschätzung gleich, wollte man die frühen Idealisierungen des Eingeborenenlebens als
repräsentativ für die gänzlich anders gearteten und in der doppeldeutigen Darstellung des
Kolumbus ebenfalls bereits vorgeformten Erwartungen und Verhaltensweisen der Protagonisten
des ersten Entdeckungszeitalters nehmen. Kennzeichnender für die Grundeinstellung der
Konquistadoren und die Selbstrechtfertigung ihrer Unternehmungen waren vielmehr die
Diskussionen, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts innerhalb des spanischen Klerus über die Frage
geführt wurden, ob die der christlichen Offenbarung nicht teilhaftigen Indianer denn dem Tier-
oder dem Menschenreich zuzurechnen seien. Als man diese Debatte damit beendete, daß die
ursprünglichen Einwohner der spanischen Kolonien zu gleichberechtigten Untertanen der Krone
erklärt wurden, konnte dies nurmehr wenig daran ändern, daß die indianische Bevölkerung der
meisten der von den Spaniern eroberten westindischen Inseln durch ihre blutigen Massaker,
durch die eingeschleppten europäischen Krankheiten und durch das Zwangsarbeitssystem der
Encomiendas bereits so gut wie ausgerottet war.
Vor dem Hintergrund dieses ersten namhaft gewordenen Genocids der europäischen
Kolonialgeschichte erhalten idealisierende Darstellungen des Eingeborenenlebens, wie man sie
etwa bei Bartolomé de Las Casas findet, erst ihre wahre Bedeutung. Um 1502 als Kolonist auf
die westindischen Inseln gelangt, wurde Las Casas zum Augenzeugen der brutalen spanischen
Ausrottungspolitik und trug durch seine dem spanischen Hof vorgelegten erschütternden Berichte
maßgeblich zu der vorübergehenden, langfristig aber dennoch erfolglosen Aufhebung des
Encomienda-Systems durch die Behörden des Mutterlandes bei. In seiner Brevistima Relación de
la Destruyción de Las Indias von 1539 konfrontiert er - vermutlich als erster europäischer
Beobachter - die Lebensformen der Bewohner der Neuen Welt bewußt denen seiner eigenen
Kultur, wenn er die Habsucht und Grausamkeit seiner eigenen Landsleute dem sich seinem Urteil
nach durch Bedürfnislosigkeit und Friedfertigkeit auszeichnenden Lebensstil der indianischen
Urbevölkerung gegenüberstellt: „Zwischen diese sanften Lämmer, die ihr Herr und Schöpfer so
reich beschenkt und begabt hat, sind die Spanier wie durch langes Fasten grausam gewordene
Wölfe, Tiger und Löwen eingebrochen, und haben in mehr als vierzig Jahren nichts anderes getan
als sie in Stücke zu reißen, sie zu schlachten, sie zu foltern, ihnen Leid anzutun, sie zu quälen und
sie mit einer solch abartigen Grausamkeit zu vernichten, wie man es noch nie zuvor gesehen,
gelesen oder gehört hat […]“. Ihrem Formierungsprozeß nach kritischer Reflex der eigenen
kolonialen Praktiken, haben die in Las Casas Berichten durchgängigen euphemistischen
Darstellungen des Eingeborenenlebens später kaum vermocht, die koloniale Praxis ihrerseits zu
bestimmen, waren doch die mit ihrer Hilfe von ihm angeprangerten Grausamkeit der Spanier auf
den westindischen Inseln auch in den europäischen Mutterländern selbst durchaus gebräuchlich.
Sie reproduzierten dort lediglich eine Realität, die im Europa des 16. Jahrhunderts zur
vorherrschenden zu werden begonnen hatte.
Vergleicht Las Casas die spanischen Eroberer mit einem Rudel wilder Raubtiere, das über die
Indianer wie über eine Herde „sanfter Lämmer“ herfiel, so waren es zur selben Zeit in England
die Schafe, „die so sanft und genügsam zu sein pflegten, jetzt aber, wie man hört, sogar
Menschen fressen, Dörfer, Gehöfte und Felder verwüsten und entvölkern“ - so schildert einer
seiner Zeitgenossen, der spätere britische Lordkanzler Thomas Morus, in der Einleitung zu seiner
1516 erschienenen Schrift De optimo reipublicae statu, deque nova insula Utopia in Umkehrung
desselben Bildes, aber durchaus der Wirklichkeit entsprechend, nicht nur die äußeren
Erscheinungsformen der wirtschaftlichen Umwälzung, die im damals fortgeschrittensten Land
Europas die Ablösung der feudalen durch die spätkapitalistische Produktionsweise einleitete,
sondern auch ihre zerstörerischen Auswirkungen für die ländliche Bevölkerung: die gewaltsame
Vertreibung der kleinen Bauern und Pächter von ihrem Grund und Boden infolge der
Einhegungsmaßnahmen der neu entstehenden Klasse kapitalistischer Grundherren, ihre
massenhafte Verwandlung in Bettler, Vagabunden und Diebe, die Kriminalisierung dieses
„vogelfreien Proletariats“, das, wie Marx später schrieb, „unmöglich ebenso rasch von der
aufkommenden Manufaktur absorbiert werden konnte, wie es auf die Welt gesetzt ward“, sowie
schließlich die blutige Verfolgung und physische Liquidierung der, wie es bei Morus weiter heißt,
„durch Lug und Trug umgarnten“, „enteigneten“ oder „zum Verkauf gezwungenen“ kleinen
Pächter durch die grausame Blutgerichtsbarkeit der Zeit, denn „was bleibt ihnen schließlich
anderes übrig, als zu stehlen und - nach Recht und Gerechtigkeit, gehenkt zu werden. „
Die wirtschaftliche Entwicklung Spaniens sollte sich zwar in der Folgezeit von der Englands
in entscheidenden Zügen unterscheiden, doch war auch sie im 15. und frühen 16. Jahrhundert
durch eine staatliche Begünstigung der Schafzucht und der Wollausfuhr gekennzeichnet. Im
Gefolge der vor allem während der Regierungszeit Ferdinands und IsabElias in großem Stil
betriebenen Einhegungspolitik war es daher auch in Spanien zu vergleichbaren, wenn auch
insgesamt wohl weniger krassen Verelendungsprozessen unter der einfachen Landbevölkerung
gekommen. Es kann daher mit Sicherheit angenommen werden, daß sich die spanischen
Schiffsmannschaften und Konquistadorenheere nicht nur aus Angehörigen des funktionslos
gewordenen Ritterstandes und aus verarmten städtischen Kleinhandwerkern, sondern auch aus
ähnlich expropiierten und bald kriminalisierten ländlichen Bevölkerungsschichten
zusammensetzten, wie sie zur gleichen Zeit in England aufs grausamste verfolgt wurden. Die
blutigen Praktiken, die sie auf den westindischen Inseln und auf dem amerikanischen Kontinent
zur Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung anwandten, waren also keineswegs Ausdruck
einer bestimmten nationalen Brutalität, als die sie später von den Engländern und den Franzosen,
den kolonialistischen Konkurrenten Spaniens, in Berufung auf das Zeugnis des Las Casas immer
wieder dargestellt worden sind; was sie den Indianern antaten, war nicht mehr als das, was ihnen
selbst auch in Europa jederzeit hätte widerfahren können.
2.
Thomas Morus und Tommaso Campanella, die beiden großen Utopisten der Renaissance,
haben die Umwälzung der Produktionsverhältnisse in der Epoche der ursprünglichen
Akkumulation des Kapitals als einen Prozeß beschrieben, in dessen Verlauf in eben dem Maße, in
dem die alten feudalen Abhängigkeitsverhältnisse sich auflösten, ein System von persönlichen
Beziehungen durch eine Gesellschaftsform ersetzt wurde, in der monetäre Tauschverhältnisse die
Beziehungen der Menschen untereinander zu regeln begannen. Noch hinreichend vertraut mit der
älteren, nach außen auf dem Feudalverhältnis, nach innen aber auf bestimmten überlieferten
Formen kollektiven Besitzes und kollektiver Arbeit basierenden Produktionsweise, wie sie sich
zum Teil noch auf den Dörfern finden ließen und wie sie sich in reinerer Form in den
klösterlichen Gemeinschaften erhalten hatten, machten sie die sich anbahnende
Konkurrenzgesellschaft und die gleichzeitige Ansammlung des gesellschaftlichen Reichtums in
Form des Kapitals in den Händen Weniger, das ihnen nun, anstatt angestammter Herrschaftstitel,
die Macht über die Mehrzahl der Menschen verlieh, für die Zersetzung der alten sozialen
Verhältnisse - des „Goldenen Zeitalters“ (K. Marx) - und ihre Folgen die Verelendung der
ländlichen Bevölkerung, verantwortlich. Vor allem Morus erkannte deutlich die Erfolgslosigkeit
der gesetzgeberischen Bemühungen, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. In seinen
Schlußfolgerungen radikal, erklärte er daher, ebenso wie Campanella, die Aufhebung des
Privateigentums zur notwendigen Voraussetzung für die Schaffung eines gerechten
Gemeinwesens. Gemeinsamer Besitz und gemeinsame Arbeit sind die ökonomische Grundlage
der Gesellschaftsmodelle, die in Morus' Utopia und in Campanellas Civitas solis entwickelt
werden.
Beide Autoren siedeln ihren Idealstaat im Raum an, Morus auf einer Phantasieinsel jenseits
des Indischen Ozean, Campanella auf Ceylon, nach einer alten Überlieferung der Ort des
Irdischen Paradieses. Beide berufen sich, hiermit eine langwährende Tradition in der fiktiven
Reiseliteratur einleitend, auf Gewährsmänner, um die Authentizität des Dargestellten zu
verbergen, Campanella auf einen genuesischen Seemann, Morus auf einen Reisegefährten des
Amerigo Vespucci, dessen Bekanntschaft er in Amsterdam gemacht haben will. In der Tat
konnten beide bei der Konzipierung ihrer utopischen Entwürfe Anregungen in der
zeitgenössischen Reiseliteratur finden. So erklärten etwa schon Amerigo Vespucci und Petrus
Martyr von Anghiera das bedürfnislose, von Neid und Mißgunst freie Leben der Indianer aus dem
Nichtvorhandensein von Eigentumsunterschieden. Morus waren die Schriften dieser beiden
Autoren wohl bekannt. Und was Campanella anbelangt, so war er, wie es sich aus bestimmten
Zügen der Verfassung seines Idealstaates schließen läßt, mit den frühen Berichten über die
kommunalen Institutionen des alten Azteken- und Inkareiches vermutlich gut vertraut.
Gleichwohl ist das Realsubstrat ihrer Utopien weniger in jenen fernen Gegenden, als vielmehr in
der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung ihrer Heimatländer selbst zu suchen, deren
zerstörerische Folgen ihnen die im Untergang begriffenen älteren Verkehrsformen in einem
verklärenden Licht erscheinen lassen mußten. Beider Staatsromane, sowohl die am Modell einer
Assoziation freier Bürger ausgerichtete Utopia des Thomas Morus, als auch der nach dem
Vorbild mittelalterlicher Klosterordnungen geformte Sonnenstaat das Campanella sind, als
Konzeption eines gerechten Gemeinwesens, „sowohl nach rückwärts als auch nach vorwärts
gerichtet“.
Nicht nur die großen Utopisten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts haben die ökonomischen
Ursachen, die die endgültige Zerstörung der mittelalterlichen Feudalordnung bewirkten,
hellsichtig erkannt. Ähnliche mit retrospektiven Tendenzen verbundene Einsichten lassen sich,
wenn auch nicht immer in derselben klaren Form, bei vielen ihrer Zeitgenossen finden,
angefangen mit Erasmus von Rotterdam, der eine Zeit lang als der heimliche Verfasser der
Utopia angesehen wurde, bis hin zu den Vertretern der Naturrechtslehre am Ende des 16.
Jahrhunderts. Der Schluß liegt daher nahe, daß die Erfahrung der gesellschaftlichen Entwicklung
in Europa selbst, insoweit sie die Perspektiven der erstmals mit als alternativ verstandenen
Gesellschaftsformen konfrontierten Reisenden des ersten Entdeckungszeitalters mitbestimmte,
zur Formation des Bildes vom Guten Wilden entscheidend beigetragen hat. Es mag weniger die
Andersartigkeit der Gesellschaften der westindischen Inseln und des amerikanischen Kontinents
gewesen sein, die richtig zu erfassen einen langen, intensiven Kontakt zur Voraussetzung gehabt
hätte, als vielmehr die Erinnerung an jenes noch gar nicht so weit zurückliegende „Goldene
Zeitalter“: an eine aus einer statischen Produktionsweise resultierende verhältnismäßige Stabilität
der ökonomischen und sozialen Beziehungen, die einige europäische Entdecker und Missionare,
die im 16. Jahrhundert die Neue Welt besuchten, dazu bewog, die Friedfertigkeit und die
Tugendhaftigkeit der Indianer ebenso wie den Zustand der Unschuld und des Glücks, der
Sorglosigkeit und der Bedürfnislosigkeit, in dem sie zu leben schienen, zu den bei ihnen noch
vorfindbaren kollektiven Besitz- und Arbeitsformen in Beziehung zu setzen.
3.
Ansätze zu einer Idealisierung der die Peripherien der Olkumene bewohnenden barbarischen
Randvölker sind zwar schon aus der griechischen und hellenistischen Antike bekannt. Dennoch
hieße es die zentrale Bedeutung verkennen, die dem Bild vom Guten Wilden in den ersten
Berichten über die Völkerschaften der Neuen Welt zukam, wollte man es, im Sinne einer
anthropologischen Relativierung und im Hinblick auf eine Neutralisierung des in ihm enthaltenen
und bis in unsere Tage fortwirkenden gesellschaftskritischen Potentials, lediglich als einen „die
Geistesgeschichte der Menschheit in zahlreichen Varlanten“ begleitenden Topos bis in die Antike
zurückverfolgen und es dementsprechend als die pure Emanation eines „zeitlosen Eskapismus“,
jener Versuch nämlich, „aus einer enttäuschenden Gegenwart nach Vergangenheit und Zukunft
hin auszubrechen“, auffassen oder es gar, remythologisierend, als „die Erinnerung seines
mythischen Urbildes“ ansehen. Zweifellos läßt sich in der Geschichte dieser Leitidee
frühneuzeitlicher ethnologischer Reflexion ein direkter oder indirekter Rückbezug zu den
entsprechenden antiken Überlieferungen in vielen Fällen nachweisen. Freilich bliebe durch ein
solches bloßes Aufzeigen geistesgeschichtlicher Traditionszusammenhänge die eigentliche Frage
ungeklärt, weshalb nämlich und unter welchen besonderen historischen Bedingungen gerade an
diese Traditionen angeknüpft wurde. Das Bild vom Guten Wilden ist - ebenso wie sein negatives
Gegenstück: die Verfremdung der Bewohner der Neuen Welt zu dämonischen oder halbtierischen
Lebewesen - erster und in sich noch ungebrochener Ausdruck der doppelten Erfahrung, auf der
jede Wiedergabe der Beobachtungen fremder Kulturen beruht: der niemals unmittelbaren,
sondern durch die jeweils besondere historische Situation des interkulturellen Kontakts schon
immer vermittelten Erfahrung der fremden Kultur in gleicher Weise wie der
eigengesellschaftlichen Erfahrung dessen, der die fremde Kultur in den Begriffen seiner eigenen
beschreibt. In dieser doppelten Eigenschaft fungierte das Bild vom Guten Wilden in der frühen
ethnographischen Berichterstattung ebenso als organisatorischer Parameter fremdkultureller
Erfahrungen wie es zugleich als Projektionsfläche des in der eigenen Gesellschaft Unterdrückten
und Verdrängten diente. Die Entstehungsgeschichte des Bildes vom Guten Wilden und die
verschiedenen Modifikationen, die es im Lauf der europäischen kolonialen Expansion erhielt,
wären demnach im Zusammenhang einer Geschichte der geographischen Neuentdeckungen, der
Eroberung und der Erschließung der überseeischen Regionen zum einen, der philosophischen und
literarischen Verarbeitung der in der kolonialen Sphäre gewonnenen Erfahrungen vor dem
Hintergrund der in Europa selbst ablaufenden ökonomisch-sozialen Prozesse zum anderen sowie
der aus beiden Faktoren resultierenden Verschiebung der Projektionsflächen zu untersuchen.
Die Herausbildung der Figur vom Guten Wilden steht am Beginn der ethnographischen
Berichterstattung im 15. und 16. Jahrhundert. Die philosophische Kritik dieses zentralen Topos
früher ethnologischer Reflexion sowie seine kurzfristige Wiederbelebung durch die Berichte über
die Entdeckung Tahitis im 18. Jahrhundert leitete das Ende jener frühen Epoche der europäischen
Ethnographie ein, für die noch die Verschränkung von Imagination und Wirklichkeitssinn und die
Vorherrschaft zivilisationskritischer Impulse über die koloniale Selbstbehauptung kennzeichnend
war. Der Prozeß der Konventionalisierung, der inneren Transformation, der politischen
Instrumentalisierung und schließlich der Kritik, dem die unter dem Begriff des Guten Wilden
subsumierten Vorstellungsmuster und Beurteilungsstereotypen innerhalb dieses Zeitraumes
unterworfen waren, bietet sich mithin als ein Leitfaden an, an dem die Entwicklung
ethnographischer Beobachtungstätigkeit und ethnologischer Reflexion exemplarisch verfolgt
werden kann. Die Fülle des vorliegenden Materials zwingt zu Einschränkungen. So ist im
Rahmen der vorliegenden Arbeit auf eine Rekonstruktion der antiken, mittelalterlichen und
neuplatonischen Traditionszusammenhänge, denen die untersuchten Vorstellungsmuster
zuzuordnen wären, ebenso verzichtet worden wie auf eine eingehende Darstellung der vor allem
in England entwickelten frühbürgerlichen Vertragstheorien in ihrer Bedeutung für die
anthropologische Diskussion der französischen Aufklärung. Die Auswahl der ausführlicher
diskutierten Werke einzelner Autoren richtet sich nach dem Kriterium der Repräsentanz der von
ihnen jeweils vertretenen besonderen Ansätze für die im entsprechenden Zeitraum dominierenden
Formen der systematischen Verarbeitung ethnographischer Informationen. Die einzelnen
Abschnitte erheben insofern keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit. Dies gilt insbesondere für
das Kapitel über die Darstellung des Wilden in der englischen Literatur des 17. und frühen 18.
Jahrhunderts; es soll lediglich dem Zweck dienen, einige grundsätzliche Tendenzen
herauszustellen und über einen Vergleich mit der entsprechenden französischen Literatur die
erfahrungsmäßigen Determinanten des ethnologischen Blicks in ein umso schärferes Licht zu
rücken.