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Karl-Heinz Kohl

ENTZAUBERTER BLICK
Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation

© Qumran Verlag,
Frankfurt am Main und Paris 1983
Alle Rechte vorbehalten
Druck: Georg Wagner, München
Printed in Germany
ISBN 3-88655-192-X

INHALT
Erster Teil
Die Formierung des Bildes vom Guten Wilden
Die Neue Welt entdeckt die
Alte Kolumbus, Morus, Campanella
Aristokraten des Urwalds
Die philosophische Grundlegung des Bildes vom Guten Wilden bei Montaigne
Oroonoko, Freitag und die edlen Pferde
Der Wilde in der englischen Literatur des 17. und frühen 18. Jahrhunderts
Zweiter Teil
Die ethnographische Berichterstattung im 17. und 18. Jahrhundert am Beispiel Nordamerikas
Margen des Konflikts
Die Anfänge der britischen Kolonisierung Nordamerikas
Indianer, Waldläufer und Jesuiten Neu-Frankreich im 17. Jahrhundert
Ethnographie als Zivilisationskritik
Zu Louis-Armand de Lahontans „Nouveaux Voyages dans l'Amérique Septentrionale“
Ethnologie als Apologetik
Zu Joseph François Lafitaus „Mœurs des Sauvages amériquains comparées aux mœurs des premiers
temps“
Konservativer und kritischer Gehalt der frühen Ethnologie
Dritter Teil
Der „Amerikanische Wilde“ im philosophischen Diskurs der Aufklärung
Die Herrschaft des Klimas und die Beherrschung der Welt
Montesquieus Anthropogeographie
Die Wilden auf der Skala des Fortschritts
Turgots Geschichtsphilosophie
Prototyp und Varietäten der Gattung
Buffons Anthropologie
Das Maß des Widerstands
Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Voltaire
Das neue Zentrum
Rousseaus Konstruktion des „homme naturel“
Vierter Teil
Die Entdeckung Tahitis und die Neubelebung der Figur des Guten Wilde
Imagination und nüchterner Blick
Bougainvilles Reise um die Welt
Von der Utopie zur Uchronie
Literaturverzeichnis
Personenregister
Prolog
Das Ende der Mythen
Die Einleitung des Zweiten Entdeckungszeitalters durch Bougainville
Am 16. März des Jahres 1769, fast auf den Tag genau zwei Jahre und vier Monate nach ihrer
Abfahrt, trifft die Fregatte La Boudeuse im Hafen von St. Malo ein, nach einer Reise, die sie, von
Nantes ausgehend, über den Atlantischen Ozean, die südamerikanische Küste, die Falklandinseln
und die Magellanstraße zu den Inseln des Stillen Ozean, von der Nordküste Australiens über die
Molukken, die großen Sundainseln und den Indischen Ozean nach Madagaskar und über das Kap
der Guten Hoffnung entlang der westafrikanischen Küste zurück nach Frankreich führte. An Bord
des Schiffes befindet sich Louis-Antoine de Bougainville, Initiator und Kommandant der
dreizehnten Weltumsegelung nach der des Magellan, der siebten jedoch, die - wie Bougainville in
seinem Rechenschaftsbericht im Rahmen einer systematischen Aufzählung der früheren
Unternehmungen mit Stolz behauptet - „im Geiste der Entdeckung“ durchgeführt wurde, und der
ersten schließlich, die im Namen der französischen Nation vorbereitet und unternommen worden
war.
Bougainvilles Weltumsegelung leitete von Seiten Frankreichs eine Epoche ein - die
Geschichtsschreibung gibt ihr heute den Namen des Zweiten Entdeckungszeitalters - an deren
Ende die äußeren Umrisse der Erdkontinente für die Gelehrten der Zeit die Form angenommen
haben sollten, die uns heute noch vertraut ist, die erste Etappe der planmäßig durchgeführten
wissenschaftlichen Forschungsreisen, deren Protagonisten in dem Grade, in dem sie die
Oberfläche der Erde durchmaßen, jenen mythischen, utopischen und wissenschaftlichen
Spekulationen ein Ende setzten, die seit der Entdeckung der Neuen Welten erneut Aktualität
erhalten und die europäische Bewußtseinslandschaft über Jahrhunderte hin beherrscht hatten.
Die geographischen Mythen vom Irdischen Paradies, vom Reich des Priesterkönigs Johannes
oder, in säkularisierter Form, vom legendären Goldland Eldorado, die den portugiesischen und
spanischen Seefahrern, Entdeckern, Eroberern und Abenteurern in und neben ihren
ökonomischen Interessen als Stimulus dienten, sie waren in dem Prozeß zunehmender Erfahrung
und Ernüchterung, der der gewaltsamen Unterwerfung, der handelsmäßigen Erschließung und der
teilweisen Besiedelung der Landstriche westlich des Atlantik folgte, realistischeren
Einschätzungen über die noch zu erwartenden Neuentdeckungen gewichen. Lebten diese Mythen
zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch im allgemeinen Bewußtsein noch fort, so waren doch in der
naturwissenschaftlich-philosophischen Diskussion an ihre Stelle Spekulationen über große
zusammenhängende Landmassen in der südlichen Hemisphäre getreten, die „terra australis“, den
Südkontinent, dessen Vorhandensein man mit Hilfe geophysikalischer Überlegungen im Blick auf
die Notwendigkeit der Erhaltung des Gleichgewichts der Erdkugel hinlänglich bewiesen zu haben
glaubte und dessen Entdeckung daher um 1750 von fahrenden Geographen und Philosophen wie
de Brosses und Maupertuis zur vordringlichsten wissenschaftlichen Aufgabe erklärt worden war.
Anders verhielt es sich dagegen mit einem weiteren Bestandteil der Mythologien der frühen
Entdecker, den Monstren und Fabelwesen mit denen nicht nur dem breiten Leserpublikum der
populären älteren und neuen, fiktiven und echten Reisebeschreibungen noch um die Mitte des 18.
Jahrhunderts die überseeische Welt bevölkert zu sein schien. Auch in den wissenschaftlichen
Debatten der Zeit nahmen insbesondere jene Zwitterbildungen und halbmenschlichen Lebewesen
breiten Raum ein, über deren Existenz von den Reisenden immer wieder Belege erbracht worden
waren und die von den Naturhistorikern und Philosophen als die noch fehlenden Zwischenglieder
zwischen Tier- und Menschenreich in der „großen Kette des Seins“, dem in sich harmonischen,
lückenlosen und kontinuierlich abgestuften göttlichen Schöpfungsplan, angesehen werden
konnten. Zu dieser Klasse der Halbmenschen, für die Linné in seinem Klassifikationsschema der
Arten die Kategorien des homo sapiens ferus und monstruosus freigelassen hatte, zählten neben
den „Waldmenschen“ Javas und den Zwergen Innerafrikas auch die Riesen Patagoniens, über
deren erstaunliche körperliche Ausmaße schon Pigafettal der Chronist der ersten Reise um die
Welt, berichtet hatte, und dessen Angaben selbst noch von Byron, dem Kapitän eines britischen
Schiffes, das um 1764 die feuerländische Küste befuhr, bestätigt wurden.
Bougainville, der sich in seinem Reisebericht nicht zuletzt durch seine Kritik an „jener Klasse
bequemer und anmaßender Schriftsteller, welche im Schatten ihres Arbeitszimmers ins Blaue
hinein über die Welt und ihre Bewohner philosophieren und die Natur gebieterisch ihren
Imaginationen unterwerfen“ als nüchterner Empiriker auszuweisen versuchte, trug durch seine
aufmerksamen Beobachtungen in der Tat dazu bei, nicht nur die Legende von der
Großwüchsigkeit der Patagonier für immer in das Reich der Fabel zu verweisen: „Unter denen,
die wir sahen, war keiner unter fünf Fuß und fünf bis sechs Zoll, aber auch keiner über fünf Fuß
und acht bis neun Zoll groß“ - so beschreibt er die Bewohner Feuerlands, an die er vermutlich,
wie wenige Monate zuvor schon Captain Wallis, der Kommandant einer britischen Seexpedition
in diese Region, den Zollstock angelegt haben wird. Gleichwohl erhielt im Gefolge seiner
Entdeckungsfahrten und ethnographischen Beobachtungen im Südpazifik in Europa eine Legende
neuen Auftrieb, die sich hartnäckiger als alle anderen im Zeitalter der Entdeckungen entstandenen
forterhalten hatte: die Legende vom Guten Wilden, die mit der Darstellung Tahitis durch
Bougainville und seine Reisegefährten gleichsam als ein Knotenpunkt von gattungsbezogener
und geographischer Utopie in der Vorstellung seiner Zeitgenossen erneut Gestalt annehmen
sollte.
Erster Teil
Die Formierung des Bildes vom Guten Wilden
Die Neue Welt entdeckt die Alte
Kolumbus, Morus, Campanella
1.
Die Figur des Guten Wilden ist so alt wie die Geschichte der europäischen überseeischen
Entdeckungen selbst. Schilderungen der physischen Erscheinungsform und der naturgemäßen
Lebensweise der Völker der Neuen Welt, die sie als in einem Zustand der Fülle und der
Sorglosigkeit, der Tugendhaftigkeit, der Unschuld und des Friedens lebend erscheinen lassen,
finden sich bereits in den Berichten der ersten Entdecker. Kolumbus selbst gilt als der eigentliche
Schöpfer der Legende. In den Bordtagebüchern seiner ersten Reise beschreibt er die
wohlgeformte Körperlichkeit und das friedfertige Verhalten der Kariben vor der Szenerie einer in
ihm Paradiesesvorstellungen wachrufenden tropisch-üppigen Gartenlandschaft. Joachim Moebus
hat neuerdings eindrücklich auf das innere Spannungsverhältnis hingewiesen, das jener ersten
Ausarbeitung des Bildes vom Guten Wilden bei Kolumbus zugrundeliegt: den ständigen
Zwiespalt zwischen einer aus utopischen Bedürfnissen gespeisten und von sinnlichen Qualitäten
affizierten Betrachtungsweise und dem allmählich obsiegenden, Natur und Wilde unter dem
einheitlichen Gesichtspunkt ihrer materiellen Verwertbarkeit subsumierenden taxonomischen
Blick, - ein Prozeß, in dessen Verlauf nicht nur die Nacktheit und Waffenlosigkeit der Wilden
anstelle des anfänglichen Glücksversprechens nurmehr leichte Zugänglichkeit der in Warenform
verwandelbaren natürlichen Ressourcen indiziert, sondern selbst noch der solchermaßen
gebrochene Zauber, wie ihn Kolumbus angesichts eines andersgearteten Naturverhältnisses
zunächst selbst verspürte, in seinen Rechenschaftsberichten an die Könige zum puren Stimulus
für neue Eroberungsunternehmungen verkommt. Durch seine Beschreibung der Kariben als eines
in inniger Naturverbundenheit lebenden, sanftmütigen und unschuldigen Volkes, bei dem der
Mangel ebenso unbekannt sei wie die Institution des Privateigentums, legte Kolumbus so, und
zwar in durchaus ambivalenter Weise, den Grundstein für die Herausbildung der Legende vom
Guten Wilden, deren Aufnahme in Europa durch das gleichzeitige Wiederaufleben ähnlicher
Mythen, die sich um den anfänglichen Glückszustand der Menschheit rankten und zum Teil noch
aus der Antike stammten, begünstigt wurde: sei es das Goldene Zeitalter der antiken Sage oder
sei es das mit der Vorstellung von den Glücklichen Inseln im Westen verschmolzene Irdische
Paradies der christlichen Überlieferung, das wiederentdeckt zu haben Kolumbus zunächst selbst
der Überzeugung war.
Sollten die Beobachtungen des Kolumbus in der Folgezeit auch von einigen der Chronisten
und Missionare, die den Eroberern der Neuen Welt folgten, bestätigt werden, so käme es doch
einer Fehleinschätzung gleich, wollte man die frühen Idealisierungen des Eingeborenenlebens als
repräsentativ für die gänzlich anders gearteten und in der doppeldeutigen Darstellung des
Kolumbus ebenfalls bereits vorgeformten Erwartungen und Verhaltensweisen der Protagonisten
des ersten Entdeckungszeitalters nehmen. Kennzeichnender für die Grundeinstellung der
Konquistadoren und die Selbstrechtfertigung ihrer Unternehmungen waren vielmehr die
Diskussionen, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts innerhalb des spanischen Klerus über die Frage
geführt wurden, ob die der christlichen Offenbarung nicht teilhaftigen Indianer denn dem Tier-
oder dem Menschenreich zuzurechnen seien. Als man diese Debatte damit beendete, daß die
ursprünglichen Einwohner der spanischen Kolonien zu gleichberechtigten Untertanen der Krone
erklärt wurden, konnte dies nurmehr wenig daran ändern, daß die indianische Bevölkerung der
meisten der von den Spaniern eroberten westindischen Inseln durch ihre blutigen Massaker,
durch die eingeschleppten europäischen Krankheiten und durch das Zwangsarbeitssystem der
Encomiendas bereits so gut wie ausgerottet war.
Vor dem Hintergrund dieses ersten namhaft gewordenen Genocids der europäischen
Kolonialgeschichte erhalten idealisierende Darstellungen des Eingeborenenlebens, wie man sie
etwa bei Bartolomé de Las Casas findet, erst ihre wahre Bedeutung. Um 1502 als Kolonist auf
die westindischen Inseln gelangt, wurde Las Casas zum Augenzeugen der brutalen spanischen
Ausrottungspolitik und trug durch seine dem spanischen Hof vorgelegten erschütternden Berichte
maßgeblich zu der vorübergehenden, langfristig aber dennoch erfolglosen Aufhebung des
Encomienda-Systems durch die Behörden des Mutterlandes bei. In seiner Brevistima Relación de
la Destruyción de Las Indias von 1539 konfrontiert er - vermutlich als erster europäischer
Beobachter - die Lebensformen der Bewohner der Neuen Welt bewußt denen seiner eigenen
Kultur, wenn er die Habsucht und Grausamkeit seiner eigenen Landsleute dem sich seinem Urteil
nach durch Bedürfnislosigkeit und Friedfertigkeit auszeichnenden Lebensstil der indianischen
Urbevölkerung gegenüberstellt: „Zwischen diese sanften Lämmer, die ihr Herr und Schöpfer so
reich beschenkt und begabt hat, sind die Spanier wie durch langes Fasten grausam gewordene
Wölfe, Tiger und Löwen eingebrochen, und haben in mehr als vierzig Jahren nichts anderes getan
als sie in Stücke zu reißen, sie zu schlachten, sie zu foltern, ihnen Leid anzutun, sie zu quälen und
sie mit einer solch abartigen Grausamkeit zu vernichten, wie man es noch nie zuvor gesehen,
gelesen oder gehört hat […]“. Ihrem Formierungsprozeß nach kritischer Reflex der eigenen
kolonialen Praktiken, haben die in Las Casas Berichten durchgängigen euphemistischen
Darstellungen des Eingeborenenlebens später kaum vermocht, die koloniale Praxis ihrerseits zu
bestimmen, waren doch die mit ihrer Hilfe von ihm angeprangerten Grausamkeit der Spanier auf
den westindischen Inseln auch in den europäischen Mutterländern selbst durchaus gebräuchlich.
Sie reproduzierten dort lediglich eine Realität, die im Europa des 16. Jahrhunderts zur
vorherrschenden zu werden begonnen hatte.
Vergleicht Las Casas die spanischen Eroberer mit einem Rudel wilder Raubtiere, das über die
Indianer wie über eine Herde „sanfter Lämmer“ herfiel, so waren es zur selben Zeit in England
die Schafe, „die so sanft und genügsam zu sein pflegten, jetzt aber, wie man hört, sogar
Menschen fressen, Dörfer, Gehöfte und Felder verwüsten und entvölkern“ - so schildert einer
seiner Zeitgenossen, der spätere britische Lordkanzler Thomas Morus, in der Einleitung zu seiner
1516 erschienenen Schrift De optimo reipublicae statu, deque nova insula Utopia in Umkehrung
desselben Bildes, aber durchaus der Wirklichkeit entsprechend, nicht nur die äußeren
Erscheinungsformen der wirtschaftlichen Umwälzung, die im damals fortgeschrittensten Land
Europas die Ablösung der feudalen durch die spätkapitalistische Produktionsweise einleitete,
sondern auch ihre zerstörerischen Auswirkungen für die ländliche Bevölkerung: die gewaltsame
Vertreibung der kleinen Bauern und Pächter von ihrem Grund und Boden infolge der
Einhegungsmaßnahmen der neu entstehenden Klasse kapitalistischer Grundherren, ihre
massenhafte Verwandlung in Bettler, Vagabunden und Diebe, die Kriminalisierung dieses
„vogelfreien Proletariats“, das, wie Marx später schrieb, „unmöglich ebenso rasch von der
aufkommenden Manufaktur absorbiert werden konnte, wie es auf die Welt gesetzt ward“, sowie
schließlich die blutige Verfolgung und physische Liquidierung der, wie es bei Morus weiter heißt,
„durch Lug und Trug umgarnten“, „enteigneten“ oder „zum Verkauf gezwungenen“ kleinen
Pächter durch die grausame Blutgerichtsbarkeit der Zeit, denn „was bleibt ihnen schließlich
anderes übrig, als zu stehlen und - nach Recht und Gerechtigkeit, gehenkt zu werden. „
Die wirtschaftliche Entwicklung Spaniens sollte sich zwar in der Folgezeit von der Englands
in entscheidenden Zügen unterscheiden, doch war auch sie im 15. und frühen 16. Jahrhundert
durch eine staatliche Begünstigung der Schafzucht und der Wollausfuhr gekennzeichnet. Im
Gefolge der vor allem während der Regierungszeit Ferdinands und IsabElias in großem Stil
betriebenen Einhegungspolitik war es daher auch in Spanien zu vergleichbaren, wenn auch
insgesamt wohl weniger krassen Verelendungsprozessen unter der einfachen Landbevölkerung
gekommen. Es kann daher mit Sicherheit angenommen werden, daß sich die spanischen
Schiffsmannschaften und Konquistadorenheere nicht nur aus Angehörigen des funktionslos
gewordenen Ritterstandes und aus verarmten städtischen Kleinhandwerkern, sondern auch aus
ähnlich expropiierten und bald kriminalisierten ländlichen Bevölkerungsschichten
zusammensetzten, wie sie zur gleichen Zeit in England aufs grausamste verfolgt wurden. Die
blutigen Praktiken, die sie auf den westindischen Inseln und auf dem amerikanischen Kontinent
zur Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung anwandten, waren also keineswegs Ausdruck
einer bestimmten nationalen Brutalität, als die sie später von den Engländern und den Franzosen,
den kolonialistischen Konkurrenten Spaniens, in Berufung auf das Zeugnis des Las Casas immer
wieder dargestellt worden sind; was sie den Indianern antaten, war nicht mehr als das, was ihnen
selbst auch in Europa jederzeit hätte widerfahren können.
2.
Thomas Morus und Tommaso Campanella, die beiden großen Utopisten der Renaissance,
haben die Umwälzung der Produktionsverhältnisse in der Epoche der ursprünglichen
Akkumulation des Kapitals als einen Prozeß beschrieben, in dessen Verlauf in eben dem Maße, in
dem die alten feudalen Abhängigkeitsverhältnisse sich auflösten, ein System von persönlichen
Beziehungen durch eine Gesellschaftsform ersetzt wurde, in der monetäre Tauschverhältnisse die
Beziehungen der Menschen untereinander zu regeln begannen. Noch hinreichend vertraut mit der
älteren, nach außen auf dem Feudalverhältnis, nach innen aber auf bestimmten überlieferten
Formen kollektiven Besitzes und kollektiver Arbeit basierenden Produktionsweise, wie sie sich
zum Teil noch auf den Dörfern finden ließen und wie sie sich in reinerer Form in den
klösterlichen Gemeinschaften erhalten hatten, machten sie die sich anbahnende
Konkurrenzgesellschaft und die gleichzeitige Ansammlung des gesellschaftlichen Reichtums in
Form des Kapitals in den Händen Weniger, das ihnen nun, anstatt angestammter Herrschaftstitel,
die Macht über die Mehrzahl der Menschen verlieh, für die Zersetzung der alten sozialen
Verhältnisse - des „Goldenen Zeitalters“ (K. Marx) - und ihre Folgen die Verelendung der
ländlichen Bevölkerung, verantwortlich. Vor allem Morus erkannte deutlich die Erfolgslosigkeit
der gesetzgeberischen Bemühungen, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. In seinen
Schlußfolgerungen radikal, erklärte er daher, ebenso wie Campanella, die Aufhebung des
Privateigentums zur notwendigen Voraussetzung für die Schaffung eines gerechten
Gemeinwesens. Gemeinsamer Besitz und gemeinsame Arbeit sind die ökonomische Grundlage
der Gesellschaftsmodelle, die in Morus' Utopia und in Campanellas Civitas solis entwickelt
werden.
Beide Autoren siedeln ihren Idealstaat im Raum an, Morus auf einer Phantasieinsel jenseits
des Indischen Ozean, Campanella auf Ceylon, nach einer alten Überlieferung der Ort des
Irdischen Paradieses. Beide berufen sich, hiermit eine langwährende Tradition in der fiktiven
Reiseliteratur einleitend, auf Gewährsmänner, um die Authentizität des Dargestellten zu
verbergen, Campanella auf einen genuesischen Seemann, Morus auf einen Reisegefährten des
Amerigo Vespucci, dessen Bekanntschaft er in Amsterdam gemacht haben will. In der Tat
konnten beide bei der Konzipierung ihrer utopischen Entwürfe Anregungen in der
zeitgenössischen Reiseliteratur finden. So erklärten etwa schon Amerigo Vespucci und Petrus
Martyr von Anghiera das bedürfnislose, von Neid und Mißgunst freie Leben der Indianer aus dem
Nichtvorhandensein von Eigentumsunterschieden. Morus waren die Schriften dieser beiden
Autoren wohl bekannt. Und was Campanella anbelangt, so war er, wie es sich aus bestimmten
Zügen der Verfassung seines Idealstaates schließen läßt, mit den frühen Berichten über die
kommunalen Institutionen des alten Azteken- und Inkareiches vermutlich gut vertraut.
Gleichwohl ist das Realsubstrat ihrer Utopien weniger in jenen fernen Gegenden, als vielmehr in
der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung ihrer Heimatländer selbst zu suchen, deren
zerstörerische Folgen ihnen die im Untergang begriffenen älteren Verkehrsformen in einem
verklärenden Licht erscheinen lassen mußten. Beider Staatsromane, sowohl die am Modell einer
Assoziation freier Bürger ausgerichtete Utopia des Thomas Morus, als auch der nach dem
Vorbild mittelalterlicher Klosterordnungen geformte Sonnenstaat das Campanella sind, als
Konzeption eines gerechten Gemeinwesens, „sowohl nach rückwärts als auch nach vorwärts
gerichtet“.
Nicht nur die großen Utopisten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts haben die ökonomischen
Ursachen, die die endgültige Zerstörung der mittelalterlichen Feudalordnung bewirkten,
hellsichtig erkannt. Ähnliche mit retrospektiven Tendenzen verbundene Einsichten lassen sich,
wenn auch nicht immer in derselben klaren Form, bei vielen ihrer Zeitgenossen finden,
angefangen mit Erasmus von Rotterdam, der eine Zeit lang als der heimliche Verfasser der
Utopia angesehen wurde, bis hin zu den Vertretern der Naturrechtslehre am Ende des 16.
Jahrhunderts. Der Schluß liegt daher nahe, daß die Erfahrung der gesellschaftlichen Entwicklung
in Europa selbst, insoweit sie die Perspektiven der erstmals mit als alternativ verstandenen
Gesellschaftsformen konfrontierten Reisenden des ersten Entdeckungszeitalters mitbestimmte,
zur Formation des Bildes vom Guten Wilden entscheidend beigetragen hat. Es mag weniger die
Andersartigkeit der Gesellschaften der westindischen Inseln und des amerikanischen Kontinents
gewesen sein, die richtig zu erfassen einen langen, intensiven Kontakt zur Voraussetzung gehabt
hätte, als vielmehr die Erinnerung an jenes noch gar nicht so weit zurückliegende „Goldene
Zeitalter“: an eine aus einer statischen Produktionsweise resultierende verhältnismäßige Stabilität
der ökonomischen und sozialen Beziehungen, die einige europäische Entdecker und Missionare,
die im 16. Jahrhundert die Neue Welt besuchten, dazu bewog, die Friedfertigkeit und die
Tugendhaftigkeit der Indianer ebenso wie den Zustand der Unschuld und des Glücks, der
Sorglosigkeit und der Bedürfnislosigkeit, in dem sie zu leben schienen, zu den bei ihnen noch
vorfindbaren kollektiven Besitz- und Arbeitsformen in Beziehung zu setzen.
3.
Ansätze zu einer Idealisierung der die Peripherien der Olkumene bewohnenden barbarischen
Randvölker sind zwar schon aus der griechischen und hellenistischen Antike bekannt. Dennoch
hieße es die zentrale Bedeutung verkennen, die dem Bild vom Guten Wilden in den ersten
Berichten über die Völkerschaften der Neuen Welt zukam, wollte man es, im Sinne einer
anthropologischen Relativierung und im Hinblick auf eine Neutralisierung des in ihm enthaltenen
und bis in unsere Tage fortwirkenden gesellschaftskritischen Potentials, lediglich als einen „die
Geistesgeschichte der Menschheit in zahlreichen Varlanten“ begleitenden Topos bis in die Antike
zurückverfolgen und es dementsprechend als die pure Emanation eines „zeitlosen Eskapismus“,
jener Versuch nämlich, „aus einer enttäuschenden Gegenwart nach Vergangenheit und Zukunft
hin auszubrechen“, auffassen oder es gar, remythologisierend, als „die Erinnerung seines
mythischen Urbildes“ ansehen. Zweifellos läßt sich in der Geschichte dieser Leitidee
frühneuzeitlicher ethnologischer Reflexion ein direkter oder indirekter Rückbezug zu den
entsprechenden antiken Überlieferungen in vielen Fällen nachweisen. Freilich bliebe durch ein
solches bloßes Aufzeigen geistesgeschichtlicher Traditionszusammenhänge die eigentliche Frage
ungeklärt, weshalb nämlich und unter welchen besonderen historischen Bedingungen gerade an
diese Traditionen angeknüpft wurde. Das Bild vom Guten Wilden ist - ebenso wie sein negatives
Gegenstück: die Verfremdung der Bewohner der Neuen Welt zu dämonischen oder halbtierischen
Lebewesen - erster und in sich noch ungebrochener Ausdruck der doppelten Erfahrung, auf der
jede Wiedergabe der Beobachtungen fremder Kulturen beruht: der niemals unmittelbaren,
sondern durch die jeweils besondere historische Situation des interkulturellen Kontakts schon
immer vermittelten Erfahrung der fremden Kultur in gleicher Weise wie der
eigengesellschaftlichen Erfahrung dessen, der die fremde Kultur in den Begriffen seiner eigenen
beschreibt. In dieser doppelten Eigenschaft fungierte das Bild vom Guten Wilden in der frühen
ethnographischen Berichterstattung ebenso als organisatorischer Parameter fremdkultureller
Erfahrungen wie es zugleich als Projektionsfläche des in der eigenen Gesellschaft Unterdrückten
und Verdrängten diente. Die Entstehungsgeschichte des Bildes vom Guten Wilden und die
verschiedenen Modifikationen, die es im Lauf der europäischen kolonialen Expansion erhielt,
wären demnach im Zusammenhang einer Geschichte der geographischen Neuentdeckungen, der
Eroberung und der Erschließung der überseeischen Regionen zum einen, der philosophischen und
literarischen Verarbeitung der in der kolonialen Sphäre gewonnenen Erfahrungen vor dem
Hintergrund der in Europa selbst ablaufenden ökonomisch-sozialen Prozesse zum anderen sowie
der aus beiden Faktoren resultierenden Verschiebung der Projektionsflächen zu untersuchen.
Die Herausbildung der Figur vom Guten Wilden steht am Beginn der ethnographischen
Berichterstattung im 15. und 16. Jahrhundert. Die philosophische Kritik dieses zentralen Topos
früher ethnologischer Reflexion sowie seine kurzfristige Wiederbelebung durch die Berichte über
die Entdeckung Tahitis im 18. Jahrhundert leitete das Ende jener frühen Epoche der europäischen
Ethnographie ein, für die noch die Verschränkung von Imagination und Wirklichkeitssinn und die
Vorherrschaft zivilisationskritischer Impulse über die koloniale Selbstbehauptung kennzeichnend
war. Der Prozeß der Konventionalisierung, der inneren Transformation, der politischen
Instrumentalisierung und schließlich der Kritik, dem die unter dem Begriff des Guten Wilden
subsumierten Vorstellungsmuster und Beurteilungsstereotypen innerhalb dieses Zeitraumes
unterworfen waren, bietet sich mithin als ein Leitfaden an, an dem die Entwicklung
ethnographischer Beobachtungstätigkeit und ethnologischer Reflexion exemplarisch verfolgt
werden kann. Die Fülle des vorliegenden Materials zwingt zu Einschränkungen. So ist im
Rahmen der vorliegenden Arbeit auf eine Rekonstruktion der antiken, mittelalterlichen und
neuplatonischen Traditionszusammenhänge, denen die untersuchten Vorstellungsmuster
zuzuordnen wären, ebenso verzichtet worden wie auf eine eingehende Darstellung der vor allem
in England entwickelten frühbürgerlichen Vertragstheorien in ihrer Bedeutung für die
anthropologische Diskussion der französischen Aufklärung. Die Auswahl der ausführlicher
diskutierten Werke einzelner Autoren richtet sich nach dem Kriterium der Repräsentanz der von
ihnen jeweils vertretenen besonderen Ansätze für die im entsprechenden Zeitraum dominierenden
Formen der systematischen Verarbeitung ethnographischer Informationen. Die einzelnen
Abschnitte erheben insofern keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit. Dies gilt insbesondere für
das Kapitel über die Darstellung des Wilden in der englischen Literatur des 17. und frühen 18.
Jahrhunderts; es soll lediglich dem Zweck dienen, einige grundsätzliche Tendenzen
herauszustellen und über einen Vergleich mit der entsprechenden französischen Literatur die
erfahrungsmäßigen Determinanten des ethnologischen Blicks in ein umso schärferes Licht zu
rücken.

Aristokraten des Urwalds


Die philosophische Grundlegung des Bildes vom Guten Wilden bei Montaigne
1.
Die idealisierenden Darstellungen der indianischen Kulturen in den Reiseberichten und
Kompilationen des 16. Jahrhunderts weichen in ihren Grundzügen kaum voneinander ab.
Hinweise auf die Sorglosigkeit, die Friedfertigkeit und die natürliche Unschuld der Wilden, die
Reminiszensen an das Goldene Zeitalter der antiken Überlieferung wach werden lassen, finden
sich fast durchgängig. Sie stehen nicht selten in scharfem Kontrast zu den ausführlichen
Schilderungen ihrer grausamen Kriegsgewohnheiten und kannibalischen Bräuche. Anstatt den
Varianten im Einzelnen nachzugehen, die das Bild vom Wilden in den Berichten der frühen
Entdecker und Missionare erhalten hat, soll hier nur, und zwar gleichsam stellvertretend, auf
Montaignes Essai Des Cannibales Bezug genommen werden. In Zusammenfassung der Züge, die
den indianischen Völkerschaften von den ersten ethnographischen Berichterstattern und von den
Chronisten der Entdeckungsreisen zugeschrieben worden waren, verlieh Montaigne in dieser um
1580 entstandenen kleinen Schrift der Legende vom Guten Wilden die Gestalt, die sie nicht nur
in der Philosophie und Literatur, sondern auch in der Ethnographie des 17. Jahrhunderts zu einer
bedeutenden Konvention werden lassen sollte.
Montaignes Essai liegen vermutlich Lopez Gómaras Historia General de las Indias von 1552
und die 1578 veröffentlichte Histoire d'un voyage fait en la terre du Brésil, autrement dite
Amérique Jean de Lérys zugrunde, das Reisetagebuch eines französischen Hugenotten, der an der
Gründung der Kolonie France Antarctique teilgenommen hatte, die um 1557 unter der Führung
des Vizeadmirals Villegagnons an der brasilianischen Küste angelegt worden war. Montaigne
benennt seine Quellen allerdings nicht ausdrücklich. Stattdessen beruft er sich, ähnlich wie schon
Morus und Campanella, auf einen Augenzeugen, einen namentlich nicht genannten Gefolgsmann
Villegagnons, „der zehn oder zwölf Jahre in jener anderen Welt gelebt hat, die in unserem
Jahrhundert entdeckt wurde. „ Schon in der Schilderung dieses Gewährsmannes deutet sich die
Stoßrichtung seiner Argumentation an: „Dieser Mann war ein einfacher und ungeschlachter
Mensch, was eine günstige Voraussetzung ist, um wahrheitsgetreu Zeugnis abzulegen, denn die
feinen Köpfe beobachteten wohl wißbegieriger, aber sie machen sich ihren Vers dazu […], und
sie stellen die Dinge niemals unverfälscht dar. „ Die reine und reflexionslose Erfahrung dessen,
der noch auf dem Boden der gemeinen Ordnung steht, wird so zum Beweis seiner Wahrheitsliebe
und Glaubwürdigkeit, denn „kaum hat einer vor uns voraus“ - so heißt es weiter - „Palästina
gesehen zu haben, so will er auch gleich das Vorrecht genießen, uns von der ganzen übrigen Welt
Neuigkeiten zu erzählen. „ Montaignes Lob des natürlichen Menschen in „jener anderen Welt“
beginnt solchermaßen mit einem Lob des von der Gelehrsamkeit noch nicht affizierten und von
der Kunstfertigkeit, „die unserer großen und mächtigen Mutter Natur die Ehre streitig macht“
noch nicht verdorbenen einfachen Menschen in der eigenen Welt.
In dieser kurzen Einleitung, die dem ersten Anschein nach nicht mehr enthält als einen
satirischen Seitenhieb auf gewisse zeitgenössische Reiseschriftsteller und Kosmographen, werden
bereits die Pole abgesteckt, zwischen denen der Diskurs sich bewegt: die Verfälschtheit des
Kulturzustandes auf der einen, die Reinheit des Naturzustandes auf der anderen Seite. Ist es nach
Montaigne doch das Leben in einer künstlichen, „polizierten“ Gesellschaft, das unseren Blick für
die Vorzüge des natürlichen Lebens verstellt. Denn was berechtigt uns eigentlich, die Völker
jener anderen Welt als Wilde oder Barbaren zu bezeichnen, „wenn nicht dies, daß ein jeder das
Barbarei nennt, was seiner eigenen Gewohnheit nicht entspricht; scheint es doch, daß wir über
keinen anderen Prüfstein der Wahrheit und der Vernunft verfügen als das Beispiel und Vorbild der
Meinungen und Gebräuche des Landes, in dem wir leben. Dort herrscht stets die vollkommene
Religion, die vollkommene Staatsordnung, die vollkommene und unübertreffliche Gepflogenheit
in allen Dingen. Sie aber sind Wilde so wie wir die Früchte wild nennen, die die Natur selbst und
nach ihrem gewohnten Gang hervorgebracht hat, wo wir doch in Wahrheit diejenigen wild
nennen sollten, die wir durch unsere Eingriffe verfälscht und der gemeinen Ordnung abspenstig
gemacht haben. „
Montaignes Kritik an den Voreingenommenheiten seiner Zeit hat zweifellos bis heute nichts an
Aktualität verloren. Gemessen an seinen eigentlichen Absichten erscheint es dennoch
übertrieben, den Essai Des Cannibales allein wegen dieser Kritik als erstes Zeugnis des
abendländischen Kulturrelativismus ansehen zu wollen. Sie, und mit ihnen zugleich die
Beschränktheit und Projektionsbestimmtheit auch seiner Sichtweise, werden bereits dort deutlich,
wo Montaigne zunächst in abstrakter Form darangeht, einen eigenen Maßstab des Urteils zu
entwickeln; sie treten noch deutlicher zutage in den konkreten Einzelzügen seiner positiven
Bestimmung der brasilianischen Wilden. Jene Völker sind zwar Barbaren, so nämlich fährt er
fort, sie sind es aber nur in dem Sinn, als sie „wenig Zuschliff von Menschengeist“ erfahren
haben, als sie „der natürlichen Unbefangenheit noch sehr nahe sind“ und als sie „noch den
natürlichen Gesetzen folgen, von den unseren kaum verderbt. „ Ihr Beispiel überträfe in dieser
Hinsicht nicht nur alle Schilderungen des Goldenen Zeitalters, sondern selbst „den Begriff und
das Wunschbild der Philosophie“, denn die Gesetzgeber und Philosophen des Altertums hätten
sich „weder eine solch einfache und reine Unbefangenheit vorstellen können, wie wir sie durch
die Erfahrung gesehen haben, noch glauben, daß unsere Gesellschaft mit einem solch geringen
Maß an Kunstfertigkeit und menschlicher Mühsal zu erhalten ist.“ Könnte er Platon
gegenüberstehen, so würde er ihm sagen:
„Dies ist eine Nation […], in der es keine Handelsgeschäfte gibt; keine Kenntnis der Schrift; keine Zähl- und
Rechenkunst; keine Begriffe für Würdenträger und staatliche Obrigkeit; keinen Zustand der Dienstbarkeit, des
Reichtums und der Armut; keine Rücksicht auf Verwandtschaft als die uns allen gemeinsame; keine Bekleidung,
keinen Ackerbau, kein Metall; keinen Gebrauch des Weines oder des Getreides. Unerhört sogar die Worte, welche
die Lüge, den Verrat, die Verstellung, den Geiz, den Neid, die Verleumdung, die Verzeihung bezeichnen. „
Der ideale Gesellschaftszustand, den Montaigne hier in Berufung auf die Erfahrung seines
Jahrhunderts Platons imaginierter Republik entgegenhält, ist der allein aus der Negation
bestimmte Naturzustand des Menschen. Die eigenen gesellschaftlichen Institutionen bilden die
Struktur, und einzig ihre Nicht-Existenz erscheint als Wesensmerkmal des Naturzustandes.
Montaignes Blick bleibt damit aber auf die europäischen Verhältnisse fixiert: Das Glück der
Wilden beruht auf dem Mangel all dessen, was das Wesen der eigenen Gesellschaft ausmacht.
Unter diesem Gesichtspunkt erscheint ihm selbst der Kannibalismus als eine wenn auch
grausame, so doch „ursprünglichere“ Form der Rache den pervertierten Kriegsbräuchen seiner
eigenen Landsleute bei weitem überlegen:
„Ich finde, daß es eine schlimmere Barbarei ist, einen Menschen lebendig zu fressen als tot zu fressen, einen noch
von Gefühlen belebten Körper mit Folter und Qualen zu zerreißen, ihn bei langsamen Feuer zu rösten, ihn von
Hunden und Schweinen zerreißen und zerfleischen zu lassen (wie wir es nicht nur gelesen, sondern in jüngster Zeit
gesehen haben, und dies nicht nur unter alten Feinden, sondern Nachbarn und Mitbürgern, und, was noch schlimmer
ist, unter dem Vorwand der Frömmigkeit und der Religion), als ihn zu braten und zu verspeisen, wenn er bereits
verendet ist. „
Formulierungen, die ihre Schärfe aus der Kraft einer moralistisch eingefärbten Negation
beziehen, deren Schwäche aber gerade darin besteht, daß sie im Medium ebenjener Negation
verbleiben. Bei aller Kritik an den Mißständen seiner Zeit - der der französischen Religionskriege
- war ihr einer wohlhabenden Bordeauxer Patrizierfamilie entstammender Autor, der in seinen
Schriften die Lebensformen der Epikuräer pries, der sehr früh schon Mitglied des Parlamentsrates
und später Bürgermeister seiner Vaterstadt wurde, und der im übrigen in den politischen
Auseinandersetzungen der Zeit eine nicht unbedeutende Rolle spielte, Montaigne also war im
Grunde alles andere als der radikale Gegner der Zivilisation, als den ihn diese und ähnliche
Äußerungen des Essai Des Cannibal erscheinen lassen.
Montaignes Idealisierung des Naturzustandes, dessen Überlegenheit er in den Essais nicht nur
am Beispiel der brasilianischen Wilden, sondern auch an Vergleichen zwischen Tier- und
Menschenwelt darzulegen versucht hat, nehmen nach George Boas' Analyse der theriophilen
Momente in Montaignes Schriften eine bestimmte literarische Tradition auf: Es ist die der
Paradoxa, die sich gerade unter den humanistischen Philosophen und Schriftstellern großer
Beliebtheit erfreute und der, als die vielleicht bedeutendsten Werke, Erasmus von Rotterdams
Encomium moriae und Agrippa von Nettesheims De vanitate et incertitudine scientiarium
zuzurechnen sind. Montaigne war mit beiden Autoren gut vertraut, ebenso wie mit anderen, im
selben Geist abgefaßten und damals sehr populären Werken, die sich in seiner Bibliothek fanden,
wie etwa Ortensio Landis Paradossi und Giraldis Progymnasma adversus literas et literatos, -
Abhandlungen, die, George Boas zu folgen, zu dem Zweck abgefaßt worden waren, dem Leser
amüsanten Gesprächsstoff für die gesellige Konversation zu liefern und in denen die
verschiedenen Argumente aufgezählt wurden, die gegen Urteile der herrschenden Meinung
vorgebracht werden konnten. Einen beliebten Angriffspunkt dieser Schriften bildeten die
Gelehrten selbst. War den Grammatikern, Schriftstellern, Dichtern und Rhetoren schon in den
Narrenrunden des Erasmus und Sebastian Brants breiter Raum gewidmet, so führte etwa Landi
die Gracchen, Cicero, Demosthenes und die beiden Cato als Beispiele dafür an, wie die Weisen
schon immer zum Ruin ihres eigenen Staatswesens beigetragen hätten und erklärte im selben
Zusammenhang das Glück des Goldenen Zeitalters, dessen sich die Wilden auch heute noch
erfreuten, daraus, daß ihnen die Schrift ebenso unbekannt sei wie der Stand der Gelehrten.
Ähnlich äußerte sich Giraldi, dem zufolge die Reinheit des Urzustandes des Menschen durch jene
„pestem studiorum“ verseucht wurde, die die Götter sandten, um die Menschen für ihre Sünden
zu bestrafen.
An diese spielerisch anti-intellektualistische Argumentationsform knüpft Montaigne zweifellos
an, wenn er in seinem Essai über die Kannibalen die Unverdorbenheit des Naturzustandes
wiederholt unserer eitlen Kunstfertigkeit gegenüberstellt, mit deren Erfindungen wir, wie es
einmal heißt, „die Schönheit und Reichtümer der Werke [der Natur] so überladen haben, daß wir
sie fast erstickt haben. „ Überwiegt in diesen und ähnlichen Betrachtungen des Essai auch der des
Prinzips der einfachen Umkehrung sich bedienende rhetorische Effekt, so hieße es dennoch, das
in ihnen zum Ausdruck gelangende Moment an historischer Realität verkennen, wollte man sie
ausschließlich als Versuche ansehen, gängige Vorurteile in Frage zu stellen. Ebenso wie hinter
den Äußerungen der die Gelehrsamkeit selbst zum Grundübel des gesitteten Lebens erklärenden
Gelehrten verbirgt sich hinter ihnen mehr als bloße Koketterie. Montaignes Lob des
Naturzustandes erscheint vielmehr insgeheim geprägt von den Auswirkungen der - um hier einen
Ausdruck von Norbert Elias aufzunehmen, auf dessen Theorie des zivilisatorischen Prozesses
noch ausführlicher Bezug zu nehmen sein wird - aus der Umsetzung von Fremd- in Selbstzwänge
resultierenden „zivilisatorischen Affektmodellierung“, Auswirkungen, die gerade Montaigne - als
ein Mann des öffentlichen und höfischen Lebens - als ständigen Zwang zur Selbstkontrolle
deutlich verspürt und in verschlüsselter Form auch wiederholt zur Sprache gebracht hat. Sie sind
es, die als das eigentliche Substrat des in den Essais immer wieder anklingenden zivilisatorischen
Überdrusses angesehen werden können, und sie sind es auch, die in Des Cannibales die scheinbar
ungebundeneren Lebensformen der Wilden zum Gegenbild der komplizierten eigenen
Lebenswelt werden lassen.
Vor allem unter diesem Gesichtpunkt erweist sich die im Mittelpunkt des Essai stehende
ausführliche Schilderung der Sitten und Gebräuche der brasilianischen Tupinamba als
aufschlußreich. Läßt sich der eigentliche Projektionsgehalt von Montaignes Bild des Wilden aus
den allgemeinen einleitenden Betrachtungen nur abstrakt deduzieren, so wird an diesen positiven
Bestimmungen vollends deutlich, wie sehr es von der gesellschaftlich-zivilisatorischen
Entwicklung seiner Zeit tatsächlich geprägt war.
Nach den Angaben seiner Gewährsleute bewohnen die brasilianischen Wilden einen, wie er
schreibt, „lieblichen und sehr milden Landstrich“, weshalb Krankheiten und selbst die
Gebrechlichkeiten des Alters bei ihnen so gut wie unbekannt seien. Nahrung besäßen sie im
Überfluß. Ihre einfach zubereiteten Speisen genügten zur Befriedigung ihrer geringen
Bedürfnisse vollkommen; alles, was darüber hinausgeht, betrachteten sie als überflüssig.
Geselligkeit ist nach Montaigne der Grundzug ihres sozialen Lebens. Männer und Frauen wohnte
gemeinsam in großen Behausungen. Die Jagd und die Nahrungszubereitung seien ihre
Hauptbeschäftigungen. Ansonsten würden sie den ganzen Tag beim Tanz verbringen. - Montaigne
scheint mit dieser Aufzählung zunächst nur der Konvention Genüge zu leisten. Die
Genügsamkeit, die einfache Ernährungsweise, die Gesundheit und die Geselligkeit der Wilden:
all dies sind Topoi, die sich schon in der älteren Reiseliteratur finden. Nun bindet Montaigne
diese Züge allerdings nicht mehr an die Fortexistenz des Gemeineigentums. Stattdessen schiebt
sich in seiner Darstellung sehr bald ein ganz anderer Aspekt der indianischen Lebensform in den
Vordergrund. Es ist die spontane und zweckfreie Aggressionslust der Wilden. Ihre natürliche und
ungezwungene Geselligkeit findet in ihr ein von ihm nicht weniger positiv bewertetes
Gegenstück. Die rückhaltlose Tapferkeit der Wilden nach außen und ihre Brüderlichkeit nach
innen lobt Montaigne als ihre höchsten Tugenden:
„Ihre Kriegsführung ist so vollkommen edel und großherzig, und es eignet ihr so viel Rechtfertigung und Schönheit,
wie dieser Seuche der Menschheit zugestanden werden kann: der Krieg hat unter ihnen keinen anderen Grund als
einzig den Wetteifer der Tugend. Sie liegen nicht im Streite über die Eroberung fremder Ländereien, denn sie
erfreuen sich noch jenes natürlichen Überflusses, der ihnen ohne Arbeit und Mühe alles Notwendige in einem
solchen Ausmaß schenkt, daß ihnen an einer Erweiterung ihrer Grenzen gar nichts gelegen sein kann […].
Untereinander nennen sie sich gemeinhin Brüder, wenn sie gleichen Alters sind; Kinder die jüngeren; und die Greise
sind für alle Väter. „
Im Gegensatz zu den früheren Darstellungen hebt Montaigne also nicht mehr die
Friedfertigkeit einer noch auf der Institution des Gemeineigentums basierenden
Gesellschaftsform hervor, sondern vielmehr die Kampfeslust der Wilden, die sie den Krieg
gewissermaßen als Selbstzweck betreiben läßt, ihr ausgeprägtes Ehrgefühl und weiterhin ihre
Standhaftigkeit, die Folterungen ihrer Feinde ohne Zeichen des Schmerzes zu ertragen,
kriegerische Tugenden mithin, die gewissermaßen als Kehrseite, zugleich aber auch als äußerer
Bedingungsgrund der inneren Harmonie erscheinen, die seinem Urteil nach das gesellige Leben
der Wilden auszeichnet.
Ergebnis der französischen Religionskriege des 16. Jahrhunderts, deren grausame Exzesse
Montaigne eindringlich beschrieben hat, war die Herausbildung der monarchischen Zentralgewalt
unter Heinrich IV. Damit wurde ein Prozeß eingeleitet, in dessen Verlauf der in den langwierigen
kriegerischen Auseinandersetzungen dezimierte und durch die Entwicklung neuer
Kriegstechniken seiner traditionellen Funktionen beraubte alte Feudaladel sich der königlichen
Macht allmählich unterordnen mußte, um schließlich in das Hofleben integriert zu werden.
Norbert Elias hat dargestellt, wie die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols langfristig
eine Eindämmung jener ungebändigten und spontanen Aggressionslust zur Folge hatte, wie sie
noch für das mittelalterliche Rittertum kennzeichnend war. Gerade diese im Untergang
begriffenen ritterlich-kämpferischen Eigenschaften aber sind es, die Montaigne den wilden
Völkern Brasiliens zuschreibt. Im Blick auf die zunehmende Funktionslosigkeit der kriegerischen
Tugenden des alten Schwertadels mutet daher atavistisch an, was er gegen Ende des Essai einem
der nach Frankreich gebrachten Brasilianer in den Mund legt, an deren Empfang durch den
damals zwölfjährigen Karl IX. er teilgenommen hatte. Diesen Wilden nämlich läßt Montaigne
seine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, daß so viele starke und bewaffnete Männer -
gemeint war die Leibwache des Königs - sich dazu herabließen, einem Kind zu dienen und „daß
man nicht einen von ihnen wählte, um den Befehl zu führen. „ Nicht weniger seltsam hätten die
Brasilianer, die Montaigne bei dieser Gelegenheit nach ihrer Meinung über sein Vaterland befragt
haben will, es empfunden, daß sich dessen Bevölkerung in zwei Hälften teilte, wie sie es
auszudrücken pflegten, von denen die eine in übermäßigem Luxus lebte, und die andere eher
hungerte und bettelte, als daß sie die Reichen „an der Gurgel packten und Feuer an ihre Häuser
legten. „
Die Unabhängigkeit der Wilden gründet, Montaignes Darstellung zufolge, auf ihrer
Bedürfnislosigkeit, welche wiederum der Fruchtbarkeit und Fülle ihrer natürlichen Umwelt
entspricht; ihre Gleichheit auf ihren kämpferisch-ritterlichen Tugenden, die ihnen die
Unterordnung unter andere verbieten; ihre Freiheit aber auf ihrer Gesetzlosigkeit, denn keine
andere Sittenlehre kennen sie, als „die Tapferkeit gegen die Feinde und die Liebe gegen ihre
Frauen. „ Über das polizierte Gemeinwesen aber, dem er selbst angehörte, schreibt Montaigne an
anderer Stelle, Tacitus zitierend: „Wie einst von Verbrechen, so sind wir jetzt von Gesetzen
geplagt. „ Und ähnlich wie Tacitus in seiner Germania die alten römischen Ideale auf die wilden
Völker des Nordens projiziert, nimmt Montaigne die brasilianischen Wilden als Exempel, um an
ihnen die Vorzüge eines im Untergang begriffenen, von bedrängenden Selbstzwängen scheinbar
noch freien Ordnungs- und Wertesystems zu demonstrieren - eine Absicht, der sowohl seine
eingangs geäußerte Kritik an der Künstlichkeit und Verfälschtheit der Kultur seiner Zeit, als auch
sein Lob der ungebändigten und zweckfreien Tapferkeit der Tupinamba dient. Diese Perspektive
erscheint klassenspezifisch bestimmt. Anders als jene Geistlichen und Entdecker, von denen die
ersten Berichte über ein wiederentdecktes Paradies des Friedens und der Sorglosigkeit stammten,
rechnete Montaigne sich der herrschenden Oberschicht seines Landes zu. Es ist deren im Zuge
der Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols und der zunehmenden gesellschaftlichen
Verflechtung domestizierte altherkömmliche Lebensart, die seiner Konzeption des mit im Grunde
aristokratischen Qualitäten ausgestatteten Wilden zugrunde liegt. Wenn Montaigne also beklagt,
„wie teuer eines Tages die Kenntnis unserer Sittenzerrüttung ihrer Ruhe und ihrem Glück zu
stehen kommen und daß aus diesem Verkehr ihr Verderben entspringen wird“, so schwingt in
dieser Prophezeiung Trauer mit über den Niedergang eines Wertesystems, mit dem er selbst sich
zwar nicht unbedingt identifizierte, dem er aber als selbstbewußter Angehöriger einer in die
Nobilität aufgestiegenen reichen Bürgersfamilie nicht ohne ein gewisses Maß an Sympathie
gegenübergestanden haben mag.
2.
Die große Beachtung, die dem Essai Des Cannibales bis heute entgegengebracht wird,
verdankt sich zu einem nicht geringem Teil Montaignes rigorosem Moralismus. Verglichen mit
den die Ursache für das Glück und die Harmonie der indianischen Lebensform in der
Unterschiedlichkeit ihrer Besitz- und Arbeitsverhältnisse von den gleichzeitigen europäischen
suchenden und insofern um ein universales Erklärungsmodell bemühten älteren Darstellungen
stellt die seine jedoch, insofern sie es im wesentlichen bei der Konstatierung ihrer bloßen
Andersartigkeit bewenden läßt, einen ersten Schritt zur Exotisierung des Wilden dar. Ähnliches
mag für die meisten philosophischen und literarischen Behandlungen dieses Themas im 17.
Jahrhundert gelten. Der Literaturhistoriker Geoffrey Atkinson hat als einer der ersten auf die
starke Neigung zur Stereotypenbildung hingewiesen, wie sie nicht nur für die Verarbeitung der
Berichte über die Völker der „Neuen Welt“ im 17. Jahrhundert, sondern auch für die authentische
Reiseliteratur selbst kennzeichnend war. Bald sind es die mannhaften Tugenden der Wilden, bald
das Glück und die Sorglosigkeit eines Lebens in unmittelbarem Kontakt mit den Ressourcen
einer üppigen Natur, die stärker in den Vordergrund treten. Allem Anschein nach haben sich die
literarisch-philosophischen Reflexionen und die ethnographische Berichterstattung des 17.
Jahrhunderts in dieser Hinsicht gegenseitig beeinflußt. So wurde laut Atkinson von den
Missionaren und Entdeckungsreisenden geradezu erwartet, daß sie durch ihre eigenen
Erfahrungen die Theorie von der „natürlichen und ursprünglichen Güte“ der Wilden bestätigten.
Sind auch die Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt, so finden sich die für diese Literatur
charakteristischen Züge und Werturteile, ungeachtet dessen, ob sie eher der Vorstellung vom
„Edlen“ oder der vom „Guten Wilden“ zuneigten, doch alle schon bei Montaigne vorgeprägt. Es
mag daher genügen, ihre wichtigsten Vertreter im folgenden nur stichpunktartig vorzustellen.
Für Frankreich wären zu nennen Marc Lescarbot, der in seiner Histoire de la Nouvelle France
von 1609 die Wilden mit fast denselben Worten verteidigt wie Montaigne die Kubaner als eine
Nation rühmt, die weder Bücher noch Handelswaren noch das Privateigentum kennen und von
den Kanadiern schreibt, sie würden ihren Tag allein mit Singen und Tanzen verbringen; der
Franziskanerpater Gabriel Sagard, der in seiner 1636 veröffentlichten Histoire du Canada et des
voyages que les Frères Mineurs Recollects y ont faicts die Gastfreundschaft und die Treue der
Huronen, die Wohlgestaltetheit ihres Körperbaus und die asketischen Züge ihrer, scheinbar der
der Mönche selbst gleichenden, Lebensweise preist und im übrigen daran zweifelt, daß die
Kenntnis der europäischen Kultur und insbesondere der Umgang mit ihren Vertretern zur
Verbesserung ihrer Sitten beitragen könnten; der ebenfalls viele Jahre in Kanada tätig gewesene
Jesuitenpater Paul Le Jeune, der die Körperhaltung und die Profile der Huronen mit denen der
alten Römer vergleicht, dessen Urteil zufolge ihre „natürliche Intelligenz“ die der bäuerlichen
Bevölkerung seines eigenen Landes bei weitem übertrifft und der lobend feststellt, daß ihnen die
schlimmsten Laster einer polizierten Nation wie Ehrgeiz oder Neid unbekannt seien; auf den
karibischen Inseln wirkte der Dominikanerpater Jean Baptiste Du Tertre, der in seiner 1667
erschienenen Histoire generale des Antilles habitées par les François nochmals all die Züge
zusammenfaßt, die die Bewohner der westindischen Inseln und des amerikanischen Kontinents
zum bevorzugten Objekt der Bonsauvagisierung und damit zu mustergültigen Repräsentanten des
verlorenen Naturzustandes hatten werden lassen. Du Tertres Beschreibung der Kariben soll hier
ausführlich zitiert werden, da an ihr deutlich wird, wie wenig sich die Beurteilungsstereotypen in
den knapp neunzig Jahren seit der Veröffentlichung von Montaignes Essai Des Cannibales
verändert hatten:
„…die Wilden dieser Inseln sind die zufriedensten, die glücklichsten, die am wenigsten lasterhaften, die geselligsten,
die am wenigsten mißgestalteten und von Krankheit geplagten Völker der Welt. Denn sie sind so, wie die Natur sie
geschaffen hat, das heißt von einer großen Einfachheit und natürlichen Unbefangenheit: sie sind alle gleich, nahezu
jede Art von Knechtschaft oder Herrschaft ist ihnen unbekannt […] Weder ist jemand reicher noch ist jemand ärmer
als seinesgleichen, und einmütig beschränken alle ihre Wünsche auf das, was ihnen nützlich und unabdingbar
notwendig ist, und verachten alles überflüssige als etwas, das des Besitzes unwürdig sei. Sie haben kein anderes
Gewand als das, mit dem die Natur sie bedeckt hat. Sie kennen keine gesetzte Ordnung [Police]: sie leben ganz in
Freiheit, trinken und essen, wann es ihnen gefällt. Sie machen sich keinerlei Sorgen, nicht einmal von der einen
Mahlzeit zur nächsten, und schon gar nicht um den kommenden Tag, da sie nur das fischen und jagen, was sie gerade
zum Essen brauchen, ohne sich um die Zukunft zu kümmern, und da sie es vorziehen, sich mit wenigem zufrieden zu
geben, statt sich mit einer Menge Arbeit das Vergnügen einer reichgedeckten Tafel zu erkaufen. […] Sie denken
durchaus vernünftig, und ihr Verstand ist so scharfsinnig, wie er eben bei Personen sein kann, die in der Schrift völlig
unbewandert sind, und die niemals Bildung und Zuschliff erfahren haben durch die Wissenschaften, die zwar unseren
Verstand schärfen, uns dabei aber oft auch böse Gedanken eingeben […]. Sie sind von einer gutmütigen, sanften und
liebenswürdigen Wesensart, und mit unseren Franzosen empfinden sie ein solches Mitleid, daß sie häufig sogar in
Tränen ausbrechen, denn grausam sind sie nur gegenüber ihren geschworenen Feinden.“
Auffällig ist der große Anteil, den im 17. Jahrhundert die in Amerika tätigen französischen
Missionare zur Verfestigung des Bildes vom Guten Wilden beigetragen haben. Zweifellos waren
sie es, die nicht nur in engstem Kontakt mit den Eingeborenengesellschaften lebten, sondern auch
am elegantesten mit der Feder umzugehen wußten; zur partiellen Erfolglosigkeit ihrer
Missionsarbeit stehen jene Idealisierungstendenzen jedoch scheinbar in Widerspruch. Ob sie sich
dem Umstand verdankten, daß sich einige der Bekehrenden bald als Bekehrte wiedererkennen
mußten, dahingestellt. Gegen eine solche Vermutung spricht allerdings die, wie es gerade Du
Tertres hier zitierter Text zeigt, teilweise Identität der Erörterung des Themas in den Berichten
der Missionare und in den philosophischen Erörterungen derjenigen die fremde Länder niemals
bereist hatten. Die Berichte der Missionare mögen daher weniger zu dem Zweck abgefaßt worden
sein, dem Publikum in Reflexion eigener Erfahrungen ein authentisches Bild der indianischen
Lebensformen zu präsentieren, als vielmehr in der Absicht, in Repetition bereits gängig
gewordener Stereotypen die Ungezwungenheit des natürlichen Lebens der Wilden gegen die
Selbstzwangapparatur der künstlichen höfischen Lebenswelt auszuspielen.
Oroonoko, Freitag und die edlen Pferde
Der Wilde in der englischen Literatur des 17. und frühen 18. Jahrhunderts
1.
In der fiktiven französischen Reiseliteratur des 17. Jahrhunderts spielte die Vorstellung von der
Harmonie, dem Glück und der Unschuld der noch in Übereinstimmung mit den Gesetzen der
Natur lebenden Völker eine zentrale Rolle. In ähnlicher Weise wie die ersten Berichte aus der
Neuen Welt die großen Utopien des 16. Jahrhunderts beeinflußten, stand die idealisierende
ethnographische Berichterstattung der französischen Entdecker und Missionare bei der
Konzipierung der utopisch-planetarischen Reiseromane Cyrano de Bergeracs, bei Gabriel de
Foignys und Vairasse d'Allals' fiktiven Erzählungen von Schiffsbrüchigen über den legendären
Südkontinent oder auch bei Fénélons berühmten Erziehungsroman Les aventures de Télémaque
Pate, um hier nur einige der wichtigsten Vertreter dieser im 17. Jahrhundert in Frankreich so
populären Literaturgattung zu nennen. Verherrlichungen des Naturzustandes und des Wilden sind
in der gleichzeitigen englischen Reise- und schöngeistigen Literatur dagegen weit spärlicher zu
finden. Nach übereinstimmender Ansicht der neueren Literaturhistoriker, die sich mit diesem
Thema befaßt haben, handelt es sich bei der „Legende vom Guten Wilden“ um eine primär
romanische Tradition, die vor allem in der französischen Literatur ihre Ausformung erfahren hat.
Tendenzen zu einer Idealisierung der indianischen Völkerschaften lassen sich zwar schon in den
Berichten einiger englischer Entdeckungsreisenden des 16. Jahrhunderts feststellen, so etwa bei
Francis Drake und Walter Raleigh, rezeptionsgeschichtlich blieben sie aber zunächst weitgehend
wirkungslos. Der Prozeß der Bonsauvagisierung der überseeischen Völker setzte in England erst
um die Mitte des 17. Jahrhunderts ein, und zwar, wie die Literaturhistoriker Fairchild und
Atkinson hervorgehoben haben, unter maßgeblichem Einfluß der entsprechenden französischen
Tradition. Anders als in Frankreich erfolgte er in England zudem von Anbeginn an in einer
dezidiert politischen Stoßrichtung.
Es sind zunächst Inkas und Azteken, persische, maurische und siamesische Fürsten, die in den
zeitgenössischen englischen Theaterstücken und Gedichten als tragische Helden figurieren und
mit den Epitheta des Naturzustandes ausgestattet werden, also eher „Edle Barbaren“ als „Edle
Wilde“, wie etwa der Maure Almanzor, der in Drydens Conquest of Granada (1670) von sich
selbst behauptet:
„I am as free as Nature first made man,
Ere the base laws of servitude began,
When wild in woods the noble savage ran. „
Freilich bleibt zweifelhaft, ob eine solche Differenzierung zwischen „Wilden“ und „Barbaren“
bereits für das 17. Jahrhundert getroffen werden kann, ist die Unterscheidung der zum Objekt der
kolonialen Expansion gewordenen Völker nach dem Kriterium der Existenz bzw. Nicht-Existenz
staatlicher Organisationsformen doch eigentlich erst im 18. Jahrhundert ausgebildet und im 19.
Jahrhundert zur dominierenden geworden. Wie wenig diese Unterscheidung dem allgemeinen
Zeitbewußtsein geläufig war, wird etwa auch an der ersten bedeutenderen literarischen
Ausformung des Themas vom Edlen Wilden in der englischen Literatur, nämlich an Aphra Behns
1688 erschienenen Sklavenroman Oroonoko deutlich. Obwohl die Verfasserin dieses Romans in
Surinam aufgewachsen war und daher sicherlich einige persönliche Erfahrungen in die Erzählung
Eingang gefunden haben, handelt es sich bei dem Titelhelden - ein Afrikaner, der von
Sklavenhändlern gefangen und nach Südamerika verschleppt wird - um alles andere als um den
Repräsentanten eines „primitiven“ Gemeinwesens ohne Staat, Herrschaft oder Gesetz.
Bezeichnenderweise wird Oroonoko gleich auf den ersten Seiten des Romans eingeführt als der
Enkel des Herrschers eines fiktiven afrikanischen Königsreiches, das über ein ausgebildetes
Rechtssystem ebenso verfügt wie über einen luxuriösen Königshof und eine wohldisziplinierte
Armee. In der Beschreibung der Physiognomie ihres Helden versucht die Autorin überdies
sorgfältig all die Züge auszumerzen, die ihn als einen „gewöhnlichen Neger“ hätten erscheinen
lassen können: „Sein Gesicht war nicht von jenem rostbraunen Schwarz wie das der meisten
dieses Volkes, sondern makelloses Ebenholz oder geschaffener Gagat. Seine Augen waren
unerhört groß und sehr durchdringend […]. Er hatte die vorspringende Nase der Römer, nicht die
platte der Neger. Sein Mund war feiner geschnitten, als man je gesehen, weit entfernt von jenen
dicken Wulstlippen, welche bei allen anderen Negern ganz natürlich sind.“ Nicht weniger lobend
äußert sie sich über Oroonokos Bildung und höfliche Umgangsformen: „Seine Manieren waren
ungemein gefällig und anmutig, und er besaß die Höflichkeit eines wohlerzogenen vornehmen
Mannes. Sein Wesen hatte nichts Barbarisches, sondern er benahm sich in allen Dingen so, als
hätte er seine Erziehung an einem europäischen Hof genossen. „ Offensichtlich bedurfte es erst
einer solchen Purifikation des Helden nach Maßgabe der eigenen ästhetischen und
gesellschaftlichen Ideale, um eine Konfrontation seiner heroischen Tugenden mit den
Charaktereigenschaften seiner weißen Peiniger, wie sie im Mittelpunkt der Romanhandlung steht,
für den allgemeinen Zeitgeschmack akzeptabel zu machen. - Dieselbe Tendenz tritt noch stärker
hervor in Southerns Bearbeitung des Werkes als Bühnenstück von 1696, in der der Held anläßlich
jeder dramatischen Zuspitzung der Handlung erneut seine kriegerischen, höfischen und
staatsmännischen Qualitäten unter Beweis stellt und dabei, im Gegensatz zu seinen
Widersachern, nicht in Prosa, sondern in wohlgesetztem Versmaß spricht.
Aphra Behns Oroonoko ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen ist es erstmals ein
Afrikaner, der in einem zeitgenössischen Werk als Prototyp des Edlen Wilden figuriert; zum
anderen handelt es sich bei diesem Roman um das wohl früheste literarische Zeugnis der
englischen Antisklavereibewegung. Anders als die späteren naturrechtlichen Kritiker des
Sklavenhandels argumentiert Aphra Behn freilich noch weitgehend sentimentalistisch. Um
wirksam an das Mitgefühl ihre Leser appellieren zu können, bedurfte es allem Anschein nach
jener hier nur an einem Beispiel vorgeführten Assimilation des schwarzen Helden an deren
Normen: Seinem Auftreten nach eher ein englischer Aristokrat als ein afrikanischer Eingeborener,
ist Oroonoko alles andere als der Vertreter einer natürlicheren und von inneren Zwängen freieren
Gesellschaftsform. Diese an den vorherrschenden Verhaltensmustern und ästhetischen Maßstäben
ausgerichtete geschmackskonforme Verschönerung des kaum mehr als solchen
wiederzuerkennenden Wilden macht deutlich, in welchem Grad die der Konzeption vom Guten
Wilden ursprünglich innewohnenden zivilisationskritischen Impulse im Zuge ihre
Konventionalisierung an Kraft verloren hatten. Der Umbruch deutet sich bereits an:
Zivilisatorisches Selbstbewußtsein findet sowohl in jener Travestie als auch im moralischen
Appell an das von vorneherein in Rechnung gestellte Überlegenheitsbewußtsein des
Leserpublikums Ausdruck.
Der wenig realitätsgerechte Charakter der Zeichnung des Wilden in Behns Roman verdankt
sich indes nicht allein der Konventionalisierung des Topos. Nicht zufällig wurde der Kult des
Edlen Wilden in England von Autoren wie Dryden und Aphra Behn inauguriert, die überzeugte
Parteigänger der Tories waren, jener hochkirchlichen, aristokratischen und kulturell stark an
Frankreich orientierten politischen Fraktion, die im Parlament vor allem die Interessen der
adligen Großgrundbesitzer vertrat. Im Kampf der Tories gegen die bürgerlichen Whigs um
politische Einflußnahme hatten die englischen Literaten in der zweiten Hälfte des 17.
Jahrhunderts als Propagandisten der sie jeweils unterstützenden Parteien zunehmend an
Bedeutung gewonnen, waren zugleich aber auch immer mehr auf die politische Propaganda als
ihre wichtigste Erwerbsquelle angewiesen, da einerseits der Hof nach der Glorreichen Revolution
seine Mäzenatenrolle praktisch aufgegeben hatte und es andererseits noch nicht zur Entstehung
eines breiteren Leserpublikums und damit eines freien Büchermarkts gekommen war. Es kann
daher angenommen werden, daß auch Aphra Behn - „eine der ersten Frauen, die von der Feder
lebten“ - mit ihrer romantischen Attacke gegen die Sklaverei und ihrer Nobilitierung des Wilden
bestimmte politische Absichten verband: Insgeheim und weit stärker als den Unmenschlichkeiten
des Sklavenhandels mag ihre Kritik den in die kommerziellen kolonialen Unternehmungen in
weit größerem Ausmaß involvierten bürgerlichen Parteigängern der Whigs gegolten haben, deren
von der Gegenpartei häufig verspotteten ungehobelten Umgangsformen sie zudem die feine
Bildung und die aristokratischen Manieren des afrikanischen Prinzen Oroonoko gegenüberstellen
konnte. In Übernahme und zugleich in erheblicher Modifikation der entsprechenden
französischen Tradition gab Aphra Behn so in ihrem Roman der Figur des Edlen Wilden seine
spezifisch englische Fasson.
2.
Im England des 17. und frühen 18. Jahrhunderts hat sich die Idee des seine Tugenden aus
einem Leben in Übereinstimmung mit der Natur und ihren Gesetzen beziehenden einfachen
Menschen - dies gewissermaßen die Quintessenz der Theorie vom Guten Wilden - nie einer
ähnlich großen Beliebtheit erfreut wie zur selben Zeit in Frankreich. Zwar gab es auch unter den
französischen Reiseschriftstellern und Literaten Autoren, die gegenteilige Tendenzen vertraten
und die Vertreter amerikanischer und später insbesondere afrikanischer Stammesgesellschaften
als Inbegriff der Roheit, des Lasters und der Verkommenheit darstellten. Doch blieb es dem
Engländer Thomas Hobbes vorbehalten, ein auf diesen Charakteristiken basierendes Modell des
Naturzustandes zu entwerfen. Die Gründe für die unterschiedliche Bewertung ähnlicher
ethnographischer Beobachtungen, die dort tendenziell eher als Indiz für die größere Freiheit,
Ungezwungenheit und Unschuld der Wilden, hier aber als Indiz für ihre Zurückgebliebenheit und
Ungebildetheit angesehen wurden, sind zum Teil in den erheblich voneinander differierenden
Kolonialerfahrungen Frankreichs und Englands, zum Teil aber auch in der ungleichzeitigen
gesellschaftlichen Entwicklung beider Länder in der fraglichen Epoche, insbesondere im weit
früher einsetzenden Emanzipationsprozeß des englischen Bürgertums zu suchen.
Wie sehr das „optimistische Lebensgefühl dieses Bürgertums“ nach dem vorläufigen Sieg der
Whigs das zeitgenössische Bild vom Wilden prägte und veränderte, läßt sich exemplarisch an
Daniel Defoes 1719 veröffentlichtem Roman The Life and Strange Surprizing Adventures of
Robinson Crusoe of York verfolgen. Der Gesinnung, dem Selbstbild und der Ideologie des in der
Kolonialsphäre sich konstituierenden englischen Handelsbürgertums hat Defoe in dieser
Erzählung in klassischer Weise Ausdruck verliehen, und zwar in der Zeichnung des Robinson
Crusoe nicht weniger als in der Darstellung seiner Beziehung zu Freitag, dem von ihm erretteten
Wilden.
Eingeführt wird der Titelheld als Angehöriger jenes „besten und glücklichsten Standes der
Welt, der weder die Mühsal, das Elend, die Sorgen und die Quälerei der arbeitenden Klasse, aber
auch nicht den Hochmut, das Wohlleben, den Ehrgeiz und die Mißgunst der Oberklasse kennt“.
Der Langeweile und den Beschränktheiten eines biederen heimischen Kaufmannslebens sucht
Robinson zunächst in der Existenz eines merchant adventurers zu entfliehen. In
Handelsunternehmen an der afrikanischen und brasilianischen Küste, als Sklavenhändler und
Plantagenbesitzer erwirbt er verschiedentlich kleine Vermögen, die er indes, sobald er sich erneut
seiner ungebändigten Abenteuerlust überläßt, ebenso schnell wieder verliert. Gleichzeitig erwirbt
und vervollkommnet er in diesen Unternehmungen jedoch auch die Eigenschaften seines Standes,
die es ihm schließlich erlauben, als „Solofabrikant“ (Adorno/Horkheimer) Jahrzehnte seines
Lebens im Kampf gegen die Widrigkeiten der Natur in der Einsamkeit der bekannten kleinen
Insel zu verbringen: es sind dies das Vertrauen in die göttliche Prädestination ebenso wie in die
eigene Tatkraft, Ausdauer und Vernunft, über die jene sich erst beweist.
Der Inselbewohner Robinson repräsentiert so in der Darstellung Defoes nicht nur das
englische Handelsbürgertum, sondern die menschliche Zivilisation schlechthin, für die er in und
gegen die Natur steht. In ihrer Bewältigung wiederholt er, gänzlich auf sich gestellt, als Sammler
und Jäger, als Züchter, Pflanzer und Handwerker die einzelnen Stadien menschlicher
Kulturentwicklung. Erst nach Abschluß dieses Prozesses trifft er auf den namenlosen Wilden -
„the poor man Friday“ -, in dessen Bekehrung, Kultivierung und Nutzbarmachung als
Arbeitskraft Robinsons selbstgeschaffene Zivilisation ihre erste Bewährungsprobe erfährt. Kraft
seiner Verfügungsgewalt über die Produktivkraft der gebändigten Natur wird Robinson so
schließlich vom einsamen Kulturheroen zum Begründer eines kosmopolitischen bürgerlichen
Idealstaates.
Aus diesem Selbstbild des Bürgers als Kulturschöpfer und Naturbewältiger erklären sich die
Transformationen, die das Bild des Wilden in Defoes Darstellung erfährt. Sie interessieren hier
vor allem. Robinson rettet Freitag bekanntlich aus den Händen seiner Stammesgenossen, als sie
an ihm einen kannibalischen Ritus zelebrieren wollen. Doch nicht nur durch diesen äußerlichen
Akt, sondern auch innerlich befreit er, als Vertreter des fortgeschrittensten Teils der Menschheit,
Freitag aus den Zwängen seiner eigenen Kultur. In einem mühsamen Erziehungsprozeß
unterweist er Freitag in den Grundsätzen der christlichen Religion und überzeugt ihn schließlich
von der Lasterhaftigkeit der eigenen Bräuche und der Vernunftwidrigkeit der eigenen
Vorstellungen. Erst jetzt vermag Robinson den Wilden als einen Menschen zu erkennen, der nicht
nur derselben Gefühle, derselben moralischen Einsichten und derselben Vernunftleistungen wie
er selber fähig ist, sondern in der Aufrichtigkeit seiner Zuneigung und in der Ernsthaftigkeit
seines Glaubens durchschnittliche Europäer, wie sie später in Gestalt der Spanier und der Piraten
auf der Insel eintreffen, bei weitem übertrifft. Doch erst ihm, dem Repräsentanten der
bürgerlichen Gesellschaft, blieb es vorbehalten, durch Erziehung im Geiste ihrer Gesinnung die
natürlichen gattungsmäßigen Fähigkeiten und moralischen Veranlagungen des Wilden zu
erwecken. Freitags „common sense“ - sein gesunder Menschenverstand, beweist und beschränkt
sich denn auch in der Anerkennung der Überlegenheit und unbestrittenen Führungsrolle seines
neuen Herrn.
Vor dasselbe Problem gestellt: sowohl dem gewachsenen zivilisatorischen Selbstbewußtsein
als auch den positiven Eigenschaften gerecht zu werden, mit denen die Figur des Wilden seit
jeher behaftet war, gelingt es Defoe durch diese Wendung weit realitätsnäher als Aphra Behn es
durch ihren kosmetischen Kunstgriff versucht hat, an den durch die Konvention einer langen
Tradition verbürgten besonderen Qualitäten des Wilden festzuhalten, sie aber auf der anderen
Seite zugleich im Sinne einer bürgerlichen Kolonialideologie umzufunktionieren, indem er sie als
im Keim nur vorhandene, durch die Erziehung des „weißen Mannes“ aber erst noch
auszubildende darstellt. In der Beziehung Robinsons zu Freitag erscheint die Idee der
„Trusteeship“, wie sie erst im 19. Jahrhundert zum Leitgedanken der britischen Kolonialpolitik
werden sollte, bereits vorgebildet.
Vermochte Aphra Behn den Wilden nurmehr um den Preis bestimmter dem
Publikumsgeschmack entgegenkommender ästhetisierender Operationen gegen die rüden
bürgerlichen Whigs ins Feld zu führen, so fungiert er bei Defoe als Argument für den universalen
Führungsanspruch gerade des Bürgertums. Die Transformation des Guten Wilden vom
Instrument der Gesellschafts- und Zivilisationskritik zum bloßen Wilden als Beweisgrund für die
grundsätzliche Überlegenheit der eigenen Gesellschaft und Zivilisation, die sich in Aphra Behns
moralischen Appellen bereits ankündigt, wird damit von Defoe vollends vollzogen. Es erscheint
daher in sich nur folgerichtig, wenn die Figur des Guten, resp. Edlen Wilden, solchermaßen
neutralisiert und gleichsam entmächtigt, in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts bis zu
ihrer Wiederentdeckung in der Romantik eine bedeutsam Rolle nur noch in der Satire zu spielen
vermochte. Als Beispiel erwähnt sei hierfür die karikaturhafte Exposition des Themas in Jonathan
Swifts fiktivem Reiseroman Travels into Several Remote Nations of the World by Lemuel
Gulliver: Nach enttäuschenden Erfahrungen im Reiche der Zwerge von Lilliput, im Lande der
Riesen von Brobdingnag und in der fliegenden Gelehrtenrepublik Laputa, die Gulliver immer
wieder von neuem über die Unzulänglichkeiten und Boshaftigkeiten der menschlichen Natur
belehren, gelangt er im Verlauf seiner Reisen schließlich doch noch zu einem Volk, das noch den
Gesetzen der Natur folgt und bei dem es weder Richter noch Rechtsanwälte, weder Kriege noch
Politiker, weder Krankheiten noch Ärzte, weder Literatur noch Gelehrte und nicht einmal die
Worte gibt, um die menschlichen Laster zu bezeichnen. Doch die Houyhnhnms, die Bewohner
dieses glücklichen Landes, sind nicht Menschen, sondern vernunftbegabte Pferde.
3.
Die Idee des Guten Wilden, die sich in Europa unter dem Eindruck der ethnographischen
Berichte der ersten Entdeckungsreisenden herausbildete, bezog ihre kritische Kraft aus den
Erfahrungen der gesellschaftlichen und ökonomischen Umwälzungen in den kolonisierenden
Ländern selbst. Wurden die Beschreibungen andersgearteter Gesellschaften den großen Utopisten
der Renaissance zum Anlaß utopischer Entwürfe, so tritt mit der Ausformung der Figur vom
Guten Wilden, ihrem Eintritt in die philosophische Diskussion und Literatur und ihrer
Konventionalisierung jene durch die Konfrontation mit einer anderen Sozialität evozierte
Rückbesinnung auf die Grundlagen der Organisationsweise der eigenen Gesellschaft und damit
auf eine verändernde gesellschaftliche Praxis zunehmend in den Hintergrund: im Zuge seiner
Exotisierung wird der Gute Wilde bald, wie vor allem in Frankreich, zur bloßen Projektionsfläche
rückwärtsgerichteter Wunschträume oder er dient allenfalls, wie es die Romane Aphra Behns und
Daniel Defoes zeigen, als Argumentationsfigur in den zeitgenössischen politischen
Auseinandersetzungen. Gleichzeitig erfolgt die Herausbildung eines Katalogs fixer
Beurteilungsstereotypen, die durch die Anhäufung neueren ethnographischen Materials nicht
etwa widerlegt wurden, sondern vielmehr die Sichtweisen der Beobachter selbst bestimmt zu
haben schienen.
Als in ideengeschichtlicher Hinsicht weit weniger wirksam sollte sich die später dafür umso
stärker hervortretende gegenläufige, den Wilden als Inbegriff menschlicher Roheit zeichnende
Tendenz erweisen, auf die im Rahmen dieses kurzen Exkurses nur hingewiesen werden konnte.
Auffällig bleibt indes, daß die frühen ethnographischen Berichterstatter in dem einen wie in dem
anderen Fall offensichtlich der Versuchung nicht zu widerstehen vermochten, im Medium des
Fremden ein sei es negatives, sei es positives Vexierbild der eigenen gesellschaftlichen
Verhältnisse zu entwerfen. Gegenstand der hier an einigen wenigen ausgewählten Beispielen
dargestellten Epoche der frühen ethnologischen Reflexion war - so paradox dies auch erscheinen
mag - die europäische Gesellschaft selbst.
Zweiter Teil
Die ethnographische Berichterstattung im 17. und 18.
Jahrhundert am Beispiel Nordamerikas
Sieht man von den auf den Eintausch von Negersklaven sich reduzierenden sporadischen
Kontakten zu den Stammesgesellschaften der westafrikanischen Küste einmal ab, so
beschränkten sich die Erfahrungen und damit zugleich die Kenntnisse Europas über die
sogenannten primitiven Gesellschaften bis zur Erforschung des pazifischen Inselraums und dem
Beginn der Erschließung Innerafrikas im wesentlichen auf die Berichte über die indianische
Bevölkerung der karibischen Inseln und des amerikanischen Festlandes. Die französischen und
englischen Schriftsteller bezogen ihre entsprechenden Informationen noch in der Mitte des 16.
Jahrhunderts fast ausschließlich aus spanischen Reiseberichten, Chroniken und Kosmographien.
Eine eigenständige ethnographische Berichterstattung begann sich in beiden Ländern erst mit der
Gründung eigener kolonialer Niederlassungen zu entwickeln. Als Frankreich und England im 17.
Jahrhundert Teile der westindischen Inseln von Spanien übernahmen, war die dortige
einheimische Bevölkerung bereits so gut wie ausgerottet. Zu engeren Formen der
Kulturberührung konnte es daher nur in den französischen und englischen Siedlerkolonien auf
dem amerikanischen Festland kommen. Die Tatsache, daß sich die Theorie vom Guten Wilden
vor allem in Frankreich weiterentwickelte und von einigen englischen Autoren lediglich
übernommen wurde sowie die ansonsten insgesamt eher zum Negativen tendierende Beurteilung
des Wilden in der englischen Philosophie und Literatur erklären sich aus der ungleichzeitigen
ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung beider Länder ebenso wie aus dem
besonderen Charakter und der unterschiedlichen Bedeutung der amerikanischen Besitzungen für
die beiden Nationen. Die von verschiedenen ökonomischen und sozialen Voraussetzungen
abhängenden jeweils besonderen Formen der Beziehungen der französischen und englischen
Kolonisten zu der indianischen Bevölkerung der Festlandskolonien prägten die Berichte
maßgeblich, die aus der Neuen Welt in die Mutterländer gelangten. Sie erklären auch, weshalb
nicht in den englischen nordamerikanischen Kolonien, sondern zunächst im französischen
Kanada von den Reisenden und Missionaren im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert erste
Ansätze einer gegenständlichen Ethnographie entwickelt wurden.
Margen des Konflikts
Die Anfänge der britischen Kolonisierung Nordamerikas
1.
England ist, ebenso wie Frankreich, in die Phase der kolonialen Expansion erst eingetreten, als
sich die Spanier und die Portugiesen den Zugang zu den fruchtbaren tropischen und
subtropischen Gebieten Mittel- und Südamerikas bereits gesichert hatten. Noch bis zur Mitte des
16. Jahrhunderts beschränkte sich die Rolle Englands auf kleinere Handels- und
Entdeckungsunternehmen, auf gelegentliche Raubzüge in den spanischen westindischen
Besitzungen und auf die Plünderung spanischer Edelmetalltransporte aus der Neuen Welt. Zur
Gründung eigener kolonialer Niederlassungen in größerem Maßstab führte erst die durch die
ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen mit Spanien ausgelöste und durch die Schließung
der für den englischen Handel wichtigen Festlandsexporthäfen in den spanischen Niederlanden
verschärfte Absatzkrise in der englischen Tuchindustrie. Die hierdurch verursachten
Handelsverluste durch die planmäßige Organisation von Kaperfahrten und durch die
Erschließung neuer Absatzmärkte in Übersee wettzumachen, war Zielsetzung der großen
Handelskompanien, zu denen sich Teile der britischen Kaufmannschaft in der zweiten Hälfte des
16. Jahrhunderts zusammenschlossen.
Die Gründung der ersten englischen Kolonien auf amerikanischem Boden geht im
wesentlichen auf die Initiative dieser Handelsgesellschaften zurück. So wurden seit 1604 entlang
der nordamerikanischen Küste verschiedene kleinere Stützpunkte angelegt, die dem Fischfang
oder auch als Umschlagplätze für den Pelzhandel dienten. Ihre Verwaltung unterstand den großen
Kaufmannsgesellschaften in Plymouth, Bristol und London, die durch Freibriefe der britischen
Krone mit dem Handelsmonopol und dem Besitz dieser Gebiete belehnt worden waren. Eine
andere Form der Koloniegründung war die Vergabe von Kronlehen an einzelne oder mehrere
Adlige, wie etwa die Verleihung von Maryland an Lord Baltimore im Jahre 1634. Auch die zu
Beginn des 17. Jahrhunderts gegründeten freien Niederlassungen der Puritaner in Neuengland
wurden später nominell als Bestandteil des britischen Königreiches anerkannt. Auf diese Weise
entstand, zumeist mit einem Mindestmaß an staatlicher Unterstützung, in der ersten Hälfte des
17. Jahrhunderts auf nordamerikanischem Boden eine Reihe vom Mutterland weitgehend
unabhängiger und ihrer administrativen Struktur nach durchaus heterogener kleiner Staats- und
Gemeinwesen, deren Entwicklung von außen zunächst kaum beeinflußt wurde.
2.
Verglichen mit den spanischen und portugiesischen Kolonien auf dem amerikanischen
Kontinent waren die britischen Festlandsbesitzungen relativ arm; aufgrund der klimatischen
Bedingungen zum Anbau der auf dem europäischen Markt begehrten tropischen Produkte nur
zum Teil geeignet, noch reich an anderen exportierbaren Naturvorkommen, gab es in dem
verhältnismäßig dünn besiedelten Raum überdies kaum Möglichkeiten, gewinnträchtige
Handelsbeziehungen zu der einheimischen Bevölkerung aufzunehmen oder ihre Arbeitskraft
anderweitig, durch Versklavung oder Zwangsarbeit, in größerem Maßstab auszubeuten. Auch der
Einsatz von afrikanischen Sklaven im Plantagenbau sollte sich später nur in den südlicher
gelegenen Kolonien als lohnend erweisen. Andererseits eigneten sich aber vor allem die
nördlichen Kolonien gerade wegen ihres gemäßigten, dem Mutterland ähnlichen Klimas für die
Ansiedlung europäischer Auswanderer in besonderem Maße.
In England hatte die Agrarrevolution im 16. und 17. Jahrhundert zu einem starken Anwachsen
der Bevölkerung, zugleich aber auch zur Freisetzung und Pauperisierung eines großen Teils der
ehemals hörigen Bauernschaft geführt. Durch die Gründung von überseeischen Siedlerkolonien
der wachsenden sozialen Probleme Herr zu werden, war schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts
von den Befürwortern einer expansiven englischen Kolonialpolitik gefordert worden, eine
Argumentation, der sich einflußreiche politische Gruppierungen denn auch anschlossen, nachdem
die Ansiedlung englischer und schottischer Auswanderer in Irland auf den zunehmenden
Widerstand der dortigen alteingesessenen Bevölkerung zu stoßen begonnen hatte. Aus jenen
verarmenden, infolge der ökonomischen Entwicklung von ihrem eigenen Boden vertriebenen
ländlichen Bevölkerungsschichten sollte sich in der Folgezeit ein Großteil der amerikanischen
Siedler rekrutieren - die wegen geringfügiger Vergehen strafweise deponierten Convicts ebenso
wie die Indented Servants, die sich dazu hatten verpflichten müssen, die Kosten für die Überfahrt
durch einen mehrjährigen Arbeitsdienst abzuleisten oder die zum Teil auch gewaltsam in die
Kolonien verschleppt worden waren. Unterschied sich ihr Schicksal während dieser Kontraktzeit
auch nur wenig von dem der afrikanischen Sklaven, so konnten sie sich doch nach Beendigung
ihres Dienstverhältnisses als kleine Farmer oder Pflanzer eine selbständige neue
Existenzgrundlage schaffen. Bedeutender noch war, zumindest in den ersten Jahrzehnten, der
Anteil, den die von der englischen Hochkirche verfolgten Puritaner und Katholiken sowie die
Angehörigen kleinerer Sekten an der Besiedlung der nordamerikanischen Kolonien nahmen.
Neuengland wurde im 17. Jahrhundert zur bevorzugten Fluchtstätte vor allem der Puritaner, der
Anhänger der calvinistisch-kongregationalistischen Glaubenslehre, die hier durch die Gründung
theokratisch-demokratischer Gemeinwesen ihre Vorstellungen von einer am Vorbild der
biblischen Überlieferung ausgerichteten Lebensweise zu verwirklichen suchten. Ähnlich schuf
Lord Baltimore in der ihm von der Krone verliehenen Eignerkolonie Maryland eine Heimstätte
für englische Katholiken. Religiöse Toleranz war schließlich auch das Grundprinzip der von
William Penn 1681 gegründeten Quäker-Kolonie Pennsylvania, in der Baptisten, deutsche
Mennoniten, Böhmische Brüder und Anhänger anderer in Europa unterdrückter Sekten Zuflucht
fanden.
Blieben die nordamerikanischen Festlandkolonien für die englische Wirtschaft und den Handel
auch weiterhin nur von untergeordneter Bedeutung, so erlebten sie doch in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts einer rapiden Bevölkerungszuwachs und ökonomischen Aufschwung, der sich
neben der restaurativen politischen Entwicklung in England selbst vor allem der Tatsache
verdankte, daß sich nicht nur in den puritanischen Neuenglandstaaten Massachusetts,
Connecticut, Rhode Island, New Hampshire und Maine, die ja schon mit dem Ziel gegründet
worden waren, sich der Oberhoheit des Staates und der anglikanischen Hochkirche zu entziehen,
sondern auch in den meisten von den Handelsgesellschaften gegründeten Kolonien eigenständige
demokratische Strukturen herausgebildet hatten, durch die sich der Bauernschaft und den
aufsteigenden mittelständischen Schichten Entfaltungsmöglichkeiten boten, wie sie im feudalen
Europa zur selben Zeit undenkbar waren. So unterstanden die Finanz- und Steuerhoheit fast
überall einer von den Siedlern selbst gewählten gesetzgebenden Körperschaft. Ebenfalls gewählt
wurden in vielen Kolonien der Exekutivrat und der Gouverneur, der offizielle Stellvertreter des
Königs. Eine Ausnahme stellten in dieser Beziehung lediglich die Kronkolonien dar, wie etwa
Virginla und Maryland. Galten die Krone und das Parlament in London auch als die obersten
Instanzen, so schalteten sie sich in die inneren Angelegenheiten der Kolonien doch faktisch nur
selten ein. Ihre Verwaltung wurde erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts einer zentralen Behörde,
dem neugegründeten Board of Trade unterstellt. Trotz der seither immer wieder unternommenen
Versuche, die Kolonien im Sinne der merkantilistischen Wirtschaftstheorie durch
Handelsbeschränkungen enger an das Mutterland zu binden, konnten sich die
nordamerikanischen Besitzungen Englands bis hin ins 18. Jahrhundert einen Großteil ihrer alten
Autonomie erhalten.
3.
Seit dem Beginn der Restaurationsepoche in England hatte der Zustrom von Neusiedlern in
die nordamerikanischen Festlandskolonien ständig zugenommen. 1715 zählten sie bereits mehr
als 400.000 Einwohner. Während dieses Zeitraums hatte eine ständige Bewegung der Kolonisten
von den küstennahen Regionen nach Westen stattgefunden. Sie erfolgte auf Kosten der
alteingesessenen indianischen Bevölkerung.
Das Gebiet zwischen dem Atlantik im Osten und dem Mississippi im Westen, dem Golf von
Mexiko im Süden und dem St. Lorenz-Strom und den Großen Seen im Norden wurde vor der
Ankunft der Europäer von den großen Stammesgruppen der Irokesen, der Algonkin, der
Muskhogee und der Sioux bewohnt. Neben der Jagd und dem Fischfang bildete der mit Hilfe des
Grabstocks oder der einfachen Hacke betriebene Anbau von Mais, Bohnen und Kürbissen die
Haupternährungsquelle der indianischen Völkerschaften des sogenannten östlichen Waldlandes.
Düngemethoden waren nur im Nordosten bekannt. Die meisten anderen Stämme waren darauf
angewiesen, sich neue Felder durch Brandrodungsbau zu erschließen und ihre Dörfer alle Jahre
zu verlegen. Nach neueren Schätzungen bewohnten dieses Gebiet nicht mehr als 200.000
Indianer. Vermutlich erklärt sich aus dieser dünnen Besiedlung und der die Fruchtbarkeit des
Bodens sehr schnell erschöpfenden Methode des extensiven Feldbaus die anfängliche
Bereitschaft der indianischen Stammesgruppen, den europäischen Siedlern Teile des für sie nicht
mehr brauchbaren Landes freiwillig zur Verfügung zu stellen. Die Entwicklung, die sich vor
allem im Gebiet der puritanischen Kolonien östlich der Appalachen in der ersten Hälfte des 17.
Jahrhunderts abspielte, ließe sich als ein Prozeß der Verdrängung einer einfachen Hackbaukultur
durch eine militärisch wie technisch überlegene Pflugbaukultur beschreiben, eine Entwicklung,
die sich in den ersten Jahren noch weitgehend friedlich gestaltete. So erlernten z. B. die 1620 aus
England nach Nordamerika gelangten Pilgrim Fathers in New Plymouth von den Wampanoags
die Kunst des Maisbaus, und auch die Gründer der 1607 von einer englischen
Handelsgesellschaft angelegten Stadt Jamestown, der Keimzelle der späteren Kolonie Virginia,
waren die erste Zeit auf die Lebensmittellieferungen benachbarter indianischer Stammesgruppen
angewiesen, um überhaupt überleben zu können. In beiden Fällen bemühten sich die Siedler,
durch Vertragsabschlüsse der Abtretung indianischen Landes eine in ihrem Sinne legale Basis zu
geben. In Jamestown wurde das Bündnis zusätzlich durch die Heirat des Pflanzers John Rolfe mit
der Tochter des Häuptlings der Powhatans besiegelt, den die Kolonisten kurzweg zum König des
Stammes ernannten, von dem sie ihr Siedlungsgebiet überlassen bekommen hatten. Von ihrem
Ehemann einige Jahre später mit nach London genommen, erregte die angebliche
Indianerprinzessin Pocahontas in der englischen Hofgesellschaft großes Aufsehen, zu der sie,
anders als ihr Mann, aufgrund ihres königlichen Ranges Zugang fand. Freilich galt ihr dieses
Interesse weniger als Vertreterin eines Volkes des unverdorbenen Naturzustandes; vielmehr
wurde die Verbindung einer Königstochter mit einem Bürgerlichen als Skandal gefunden. Die
Legendenbildung um die Häuptlingstochter Pocahontas, die in die Literatur als Prototyp der
exotischen Märchenprinzessin Eingang fand, sollte indes nur Episode bleiben.
Die friedlichen Beziehungen zu den Indianern dauerten in den neugegründeten Kolonien meist
nur solange an, bis die einzelnen Siedlungen stark genug waren, um gegen ihre indianischen
Nachbarn mit Gewalt vorgehen zu können. Weit davon entfernt, deren anfängliche
Hilfeleistungen als selbstlosen Akt anzusehen, interpretierten die englischen Kolonisten, wie es
etwa die Dokumente aus der Zeit der Gründung von Jamestown bezeugen, die Bereitschaft ihrer
„Todfeinde“, sie mit den dringend benötigten Nahrungsmitteln zu versorgen, als ein Zeichen der
göttlichen Vorsehung. Ganz ähnlich glaubten auch die Pilgrim Fathers göttliches Geschick am
Werk, als bald nach ihrer Ankunft die benachbarten Indianerstämme durch eine geheimnisvolle,
vermutlich von den Siedlern selbst eingeschleppten Epidemie hinweggerafft wurden - „These
woods were almost cleared of these pernicious creatures, to make room for a better growth“, so
liest man bei Cotton Mather, einem der ersten Kolonisten von New Plymouth. In ihrem
Grundtenor freundlicher sind die Berichte von Reisenden, die entweder allein oder in kleinen
Gruppen aufbrachen, um das Landesinnere zu erforschen. Zu ihnen zählt etwa auch Captain John
Smith, einer der Begründer von Jamestown, der in seiner Map of Virginia von 1612 und in seiner
General History of Virginia von 1616 nicht nur die später zur Legende gewordene Geschichte
seiner wundersamen Errettung durch die Indianerprinzessin Pocahontas aus den Händen der
wilden Powhatans, sondern auch eine genaue und verhältnismäßig detailgetreue Beschreibung
dieses Indianerstammes gegeben hat.
Als sich die Indianerstämme der nordamerikanischen Küstenregion angesichts der
Niederlassung von immer mehr Siedlern gegen die Okkupation ihrer Territorien gewaltsam zur
Wehr zu setzen begannen, hörten jedoch selbst diese fragmentarischen Ansätze eines positiven
Interesses an ihren Lebensformen geradezu schlagartig auf. Vor allem der unerwartete Überfall
der Powhatans auf Jamestown im Jahre 1622 nach der ersten kurzen Phase friedlicher
Beziehungen und der wenig später ausbrechende Krieg der kleinen Stammesgruppe der Pequots
gegen die Siedler von Massachusetts dienten den Kolonisten als Vorwand, von ihrer
militärischen, organisatorischen und später auch zahlenmäßigen Überlegenheit immer
rücksichtsloser Gebrauch zu machen. Die Berichte über die indianischen Stämme der
nordamerikanischen Küstenregion, die seit diesen und ähnlichen Ereignissen nach England
gelangten, waren vom Eindruck der kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt. Ihren
Grundtenor hat der Reverend Samuel Purchas in seiner 1625 erschienenen Fortsetzung der
Hakluytschen Reisekompilation wiedergegeben. Die Indianer sind, so schreibt er, „ein so übles
Volk, haben kaum eine Spur Menschliches an sich, kennen keine Höflichkeiten, keine Künste,
keine Religion; sie sind tierischer als die Tiere, die sie jagen, und unmenschlicher als das
menschenleere, wilde Land, das sie eher durchstreifen als bewohnen; auch der Tyrannei Satans
verfallen , in närrischer Frömmigkeit, verrückten Freveleien, übler Nichtsnutzigkeit, blutigen und
eifrig betriebenen Greueln…“ Die Besetzung ihres Landes durch die englischen Kolonisten sei
ein durchaus legaler Akt, argumentiert Purchas an anderer Stelle, denn ihren naturrechtlichen
Anspruch auf dessen Besitz hätten sie spätesten nach dem Vertragsbruch für immer verwirkt, den
der heimtückische Überfall auf Jamestown darstellte. Nunmehr könnten die christlichen Nationen
ohne Bedenken daran gehen, die weiten, unbebauten Landstriche Neuenglands zu übernehmen
und gemäß dem Gebot der Bibel zu bestellen.
Purchas konnte sich bei der Abfassung dieser ersten ausführlichen Rechtfertigung der
englischen Landnahme in Nordamerika auf die Briefe und Dokumente der Siedler der Kolonie
von Massachusetts stützen. Die von ihm in diesem Zusammenhang mehrfach angeführte
Darstellung der Indianer als „Satansdiener“ spielt in den ersten Berichten der Puritaner die Rolle
eines zentralen theologischen und ideologischen Arguments. Dieser Topos, der sich von nun an
durch fast alle englischen Reisebeschreibungen und Kompilationen des 17. Jahrhunderts
hinziehen sollte, ist, wie unter anderen der Amerikanist Werner Müller nachgewiesen hat, auf
eine christlich-manichäische Fehldeutung der Religionsvorstellungen der östlichen
Waldlandindianer zurückzuführen. Sie entsprach der Selbstinterpretation der Puritaner.
Betrachteten sie sich als Gottes auserwähltes Volk, so sahen sie in dem Kampf gegen ihre
diabolischen Gegenspieler, die Indianer, eine ihnen von der göttlichen Vorsehung auferlegte
Prüfung.
4.
In den spanischen, portugiesischen und französischen Kolonien waren die katholischen
Missionsstationen seit dem 16. Jahrhundert zu Zentren friedlicher Formen der Kulturberührung
zwischen den Kolonisten und der Eingeborenenbevölkerung geworden. Versuche zur Bekehrung
der indianischen Bevölkerung waren auch in den englischen nordamerikanischen Besitzungen
verschiedentlich unternommen worden. Mit der Notwendigkeit, das Christentum unter den
heidnischen Völkern zu verbreiten, hatten, ebenso wie in Spanien und in Portugal, auch in
England führende Kolonialtheoretiker die koloniale Expansion zu begründen und zu rechtfertigen
versucht. Und nicht nur den Angehörigen der anglikanischen Staatskirche, sondern auch den
christlichen Kongregationen und Sekten, die in Nordamerika eine neue Heimstatt gefunden
hatten, war der Gedanke der Heidenmission durchaus geläufig. Die anfänglichen
Missionierungsversuche in den englischen Kolonien scheiterten jedoch bald nicht nur an der
mangelnden Willfährigkeit derer, die bekehrt werden sollten, sondern auch am Fehlen einer der
den großen katholischen Ordensgemeinschaften vergleichbaren rigiden Organisation der
Missionare. Darüber hinaus wurden die religiösen Aktivitäten der protestantischen Prediger durch
ihre Beteiligung am Aufbau und ihre Vormachtstellung innerhalb der zum Teil nach
theokratischen Prinzipien geführten Siedlergemeinschaften weitgehend aufgesogen.
Nennenswertere Bekehrungserfolge unter den Indianern konnten bezeichnenderweise nicht in den
puritanischen Kolonien, sondern nur von einigen der in Maryland tätigen Jesuitenmissionare und
von den pennsylvanischen Quäkern erzielt werden. In den meisten anderen englischen
Niederlassungen wurden die Missionierungsversuche nach dem Beginn der ersten kriegerischen
Auseinandersetzungen wieder aufgegeben. Nach den Angaben eines 1698 in Boston
veröffentlichten Berichtes bekannten sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als 2500 Indianer
zum Christentum, die zumeist in der Nähe der englischen Siedlungen hausten und mit der
Religion auch die Krankheiten der Siedler und die Trunksucht übernommen hatten. Vor allem in
den puritanischen Kolonien wurden die bekehrten Indianer meist mit noch mehr Mißachtung
behandelt als ihre freien „heidnischen“ Stammesgenossen. Ihr Status innerhalb der
gesellschaftlichen Hierarchie unterschied sich von dem der afrikanischen Sklaven nur
geringfügig. Zu einem von der christlichen Mission vermittelten Kontakt zur indianischen
Bevölkerung, von dem etwa die Berichte der katholischen Ordensgeistlichen aus Kanada zeugen,
ist es daher in den englischen Besitzungen, mit Ausnahme von Maryland und Pennsylvania, nur
in den seltensten Fällen gekommen.
5.
Das ungebrochene Selbstbewußtsein, die Borniertheit und die Überheblichkeit, die aus den
Äußerungen der frühen Neuenglandsiedler sprechen, und das seit dem Beginn der ersten
Indianerkriege zu beobachtende zunehmende Desinteresse an den ohnehin an den Maßstäben der
christlichen Religion und der Zivilisation beurteilten fremdartigen Lebensformen, erscheinen als
der Selbstbehauptung dienende kollektive Reaktionsbildungen in einer als bedrohlich
empfundenen Situation interethnischer Friktion. Nach ihrer anfänglichen Abhängigkeit von den
Indianern und nach einer kurzen Zeitspanne relativ friedlicher Beziehungen waren die politisch
weitgehend unabhängigen und wirtschaftlich autarken Siedlergemeinschaften durch den
anhaltenden Zustrom von Auswanderern aus dem Osten dazu gezwungen worden, immer mehr
Land unter den Pflug zu nehmen und suchten sich daher zunächst durch Verträge, später aber
zunehmend durch Gewalt, in den Besitz der indianischen Territorien zu bringen. Die Berufung
auf die Botschaft des Alten Testaments und die Gleichsetzung ihres Kampfes gegen die Indianer
mit dem der Kinder Gottes gegen Satans Volk spielte für den Zusammenhalt der überdies zu
einem Teil von einem starken religiösen Sendungsbewußtsein geprägten kleinen Gemeinwesen
eine bedeutende Rolle. Daß es unter diesen Bedingungen zu der Entwicklung eines intensiveren
Verständnisses der indianischen Lebensformen oder gar zu einer Verherrlichung der potentiellen
Gegner im Sinne des zeitgenössischen Bildes vom Guten Wilden nicht einmal in Ansätzen hat
kommen können, bedarf also kaum der Begründung.
Versuche einer gerechteren Beurteilung der Indianer zeichnen sich in den Darstellungen der
angloamerikanischen Kolonisten erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts ab. Sie finden sich in den
offiziösen Berichten englischer Regierungsbeauftragter, zum Teil aber auch in den
Aufzeichnungen der zunächst noch kleinen Schicht von Pelztier-Jägern und Händlern, die an der
Erschließung des amerikanischen Westens maßgeblichen Anteil hatten. James Fenimore Cooper,
durch dessen Lederstrumpfromane die Figur des „Edlen Indianer“ zu einer Zeit in die
amerikanische Literatur Eingang fand, als die einst großen Volksstämme der südlichen Algonkin,
der Muskhogee und der Sioux aus ihrer ursprünglichen Heimat, dem Osten der Vereinigten
Staaten, schon längst vertrieben waren, hat sein Quellenmaterial vor allem aus diesen Berichten
bezogen. Persönliche Kontakte zu jenen freien heroischen Wilden, die er in seinen Erzählungen
schilderte, hat Cooper, der einer der reichen New Yorker Großgrundbesitzerfamilien entstammte,
soweit es bekannt ist, kaum je unterhalten.
Indianer, Waldläufer und Jesuiten
Neu-Frankreich im 17. Jahrhundert
1.
Die Kolonisation Kanadas durch Frankreich ähnelte lediglich in ihren Anfängen der
Inbesitznahme der südlicher gelegenen Gebiete durch die Engländer und die Holländer. Auch hier
waren es vor allem die großen, von der französischen Krone mit Handelsmonopolen und
Bodenbesitzrechten ausgestatteten Handelskompanien, die seit dem frühen 17. Jahrhundert
entlang der nordatlantischen Küste und den Ufern des St. Lorenz-Stroms kleinere
Niederlassungen gründeten. Anders als in England wurden diese kolonialen Unternehmungen in
Frankreich von staatlicher Seite in weit größerem Maße unterstützt und kotrolliert. Schon unter
Richelieu, insbesondere aber in der Ära Colberts, waren es neben strategischen Zielsetzungen in
erster Linie merkantilistische Erwägungen, die man mit der amerikanischen Kolonialpolitik
verband: die Anlage militärischer Stützpunkte in Übersee, die Verhinderung des Abflusses
größerer Geldmengen ins Ausland durch die Einfuhr tropischer Produkte, die Stärkung des
nationalen Handels usf. Als Gegenleistung für die vom Staat erhaltenen Privilegien und
Subventionen mußten sich die Handelskompanien daher u. a. dazu verpflichten, ausschließlich
Waren aus dem Mutterland zu importieren, die Produkte der Kolonien nur nach Frankreich zu
verkaufen, die Beförderung von Siedlern und Angehörigen des Klerus auf ihren Schiffen zu
übernehmen und für die Aufrechterhaltung von Justiz und Verwaltung in den Kolonien zu sorgen.
Im Gegensatz zu den in subtropischen Breiten gelegenen übrigen französischen Kolonien auf
den karibischen Inseln und auf dem amerikanischen Festland konnten, ähnlich wie in den
Neuenglandstaaten, auch in den französischen Besitzungen in Kanada nennenswertere
Handelsgewinne nur durch den Export von Pelzen erzielt werden, während für Holz und
Getreide, die wichtigsten Agrarprodukte des Landes, auf dem europäischen Markt kaum Bedarf
bestand. Gemessen an der Gewinnspannen erwiesen sich die finanziellen Mittel, die von den
Handelsaktionären für den Unterhalt der Forts, der Siedlungen, der Verwaltung und der
Geistlichkeit aufgebracht werden mußten, als zu groß. Als sich die meisten der mit der
Erschließung der Kolonie befaßten großen Handelsgesellschaften gegen Mitte des 17.
Jahrhunderts auflösten, ging Kanada daher als Kronkolonie Nouvelle France in Staatsbesitz über.
War die Kolonie schon seit ihren Anfängen enger an das Mutterland gebunden als die englischen
nordamerikanischen Besitzungen, so wurde ihre Verwaltung nunmehr der der französischen
Provinzen vollständig angeglichen. Der gesamte Behördenapparat unterstand einem von der
Krone ernannten Generalgouverneur, der in der Regel Angehöriger des Schwertadels war.
Ebenfalls von staatlicher Seite ernannt wurden die Mitglieder des Conseil Supérieur, einer Art
ständischer Vertretung, der vor allem Beamte, Offiziere und einige Notable der Kolonie
angehörten. Die Rechte dieser Vertretung waren jedoch mehr als eingeschränkt, da alle
Entscheidungen von Bedeutung, die die Administration und die Besteuerung betrafen, durch
königliche Erlasse geregelt wurden. Anders als die englischen Siedlerkolonien kannten die
französischen Besitzungen in Nordamerika also formell betrachtet weder bestimmte
verfassungsrechtliche Freiheiten noch repräsentative gesetzgebende Körperschaften. Das
absolutistische französische Feudalsystem war vollständig auf die Kolonien übertragen worden.
Grund und Boden galten als Kronbesitz, mit dem einzelne Adlige belehnt wurden. Ungebrochen,
ja zum Teil noch größer als in Frankreich selbst, waren Macht und Einfluß der katholischen
Kirche. Vor allem die großen Orden der Jesuiten, der Dominikaner und der Rekollekten, aus
denen sich auch die höhere Geistlichkeit rekrutierte, galten als Staat im Staate. „In gewissem
Sinn“, so hat der französische Historiker E. Tersen die Entwicklung Neu-Frankreichs im 17.
Jahrhundert charakterisiert, „feierte der Feudalismus dort eine Auferstehung, während er zu
gleicher Zeit in Frankreich verfiel. Man fand in Kanada ausgedehnte Herrschaften mit Pächtern
und Halbpächtern, riesige Kirchengüter, die ungefähr ein Viertel des bewohnten Landes
umfaßten, und in den kleinen und wenig zahlreichen Städten ein aktives, gewinnsüchtiges und oft
prozeßlustiges Bürgertum.“
2.
In Kanada nahm die Bevölkerungsentwicklung im 17. Jahrhundert einen weit langsameren
Verlauf als zur gleichen Zeit in den angloamerikanischen Siedlerkolonien. Die Zahl der seßhaften
Einwohner, die noch 1653, fünfzig Jahre nach der Gründung der Kolonie, nicht mehr als knapp
700 Personen betragen hatte, war erst gegen Ende des Jahrhunderts auf über 10.000 angestiegen.
Ein Großteil der englischen Kolonisten war entweder durch wirtschaftliche Verelendung, wie die
sogenannten Indented Servants, oder durch ihre religiöse Unterdrückung im Mutterland, wie die
Puritaner, die Katholiken und die Angehörigen der kleinen christlichen Sekten, zur
Auswanderung gezwungen worden. Zwar kam auch bei der Besiedlung Neu-Frankreichs den aus
den verarmten unteren Klassen stammenden Dienstverpflichteten, den sogenannten engagés des
trente-six mois, eine gewisse Bedeutung zu, doch hatte die gleichzeitige allgemeine und
insbesondere die ökonomische Entwicklung auf dem Agrarsektor in Frankreich nicht in
demselben Maße wie in England zu einer Freisetzung der ländlichen Bevölkerungsschichten aus
den feudalen Abhängigkeitsverhältnissen geführt. Ebensowenig bot den französischen
Calvinisten die Auswanderung nach Kanada die Möglichkeit, sich der Unterdrückung durch die
katholische Kirche zu entziehen, die hier fast noch unumschränkter herrschte als im
französischen Mutterland selbst. Die Einwanderung von Hugenotten nach Neu-Frankreich war
bereits 1627 durch ein von den großen katholischen Ordensgemeinschaften erwirktes Edikt
ausdrücklich untersagt worden.
Auch die unter Colbert verschiedentlich unternommenen Versuche, bäuerliche Familien aus
der Normandie, der Bretagne und anderen ärmeren Provinzen Frankreichs in Kanada anzusiedeln,
wurden später wieder aufgegeben. Staatlich organisierte Auswanderungsprogramme dieser Art
hatten nur geringen Erfolg, da die Kolonie ihrer inneren Struktur nach dem feudalistischen
Mutterland zu sehr glich, als daß sie selbst für Auswanderungswillige hätte attraktiv sein können.
„Die französischen Bauern zögerten“, so urteilt der Kolonialhistoriker Georg Friederici, „nach
Neu-Frankreich auszuwandern, wo sie alle Übel der Heimat, den Großgrundbesitz, ‘les droits
seigneuriaux’ aller Art, die Tote Hand der Kirche und den Zehnten wiederfanden.“
3.
Anders als die feldbauenden großen indianischen Völkerschaften der weiter südlich gelegenen
Regionen ernährten sich die zum Teil ebenfalls der Algonkinsprachgruppe zugehörenden
Micmac, Montaignais, Cree und Nipissing, um hier nur einige der wichtigsten der vielen kleinen
kanadischen Stammesgruppen zu nennen, vor allem vom Wildreichtum der großen Wälder oder
vom Fischfang. Landbau in größerem Stil wurde nur im Osten Kanadas von den Huronen
betrieben.
Zu jener Form von Konflikten, wie sie sich zur gleichen Zeit in Neuengland um den
Landbesitz anzubahnen begannen, ist es aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte und der
besonderen Wirtschaftsweise der kanadischen Indianer, des nur dünnen Zustroms von
Neusiedlern aus Frankreich und der vornehmlich handelsmäßigen Interessen der französischen
Kolonisten in der Folgezeit nur selten gekommen. Einerseits stand den Franzosen für ihre
Siedlungszwecke genug brachliegendes Land zur Verfügung, andererseits verlangte der
Pelzhandel, der der Haupterwerbszweig der Kolonie blieb, die Aufnahme und Aufrechterhaltung
friedlicher Beziehungen zu den Indianern. So wenig den Siedlern an einer Vertreibung der
indianischen Bevölkerung, den Jägern und Agenten des Pelzhandels, gelegen sein konnte, so sehr
waren wiederum die Indianer selbst, deren wichtigste Ernährungsquelle die Jagd bildete, an den
europäischen Feuerwaffen und anderen Gütern, die sie im Tausch gegen die Pelze erhalten
konnten, interessiert. Zudem war das Gebiet zwischen Montréal und Québec, das Kernstück der
kanadischen Kolonie, seit der Mitte des 16. Jahrhunderts durch die Kriege zwischen den
nördlichen Algonkin und der Irokesenföderation im Süden entvölkert worden und stellte bei der
Ankunft der französischen Siedler eine Pufferzone zwischen den beiden in ständiger Fehde
liegenden Völkerschaften dar. Im Gegensatz zu den englischen Kolonisten griffen die Franzosen
in die inneren Auseinandersetzungen der ihnen benachbarten Stammesgruppen bereits sehr früh
ein, versorgten die Algonkin und die mit ihnen verbündeten Huronen mit Waffen, nahmen
bisweilen auch selber an ihren Feldzügen gegen die Irokesen teil und fanden später, während der
ständigen kleinen Scharmützel mit den Neuenglandsiedlern, unter diesen beiden
Stammesgruppen auch immer wieder Verbündete.
Infolge des verhältnismäßig engen und beständigen Kontakts, den der Pelzhandel und die
gemeinsam unternommenen Kriegszüge mit sich brachten, lernten die kanadischen Siedler eine
Reihe indianischer Sitten und Gewohnheiten kennen, die sie, soweit sie sich für sie als nützlich
erwiesen, schließlich auch übernahmen. Vor allem die einfachen Habitants, die als Bauern
außerhalb der wenigen größeren Niederlassungen in verstreuten Gehöften an der „Grenze“
wohnten, hatten sich der Lebensweise ihrer indianischen Nachbarn weitgehend angepaßt.
Heiraten zwischen Franzosen und Indianerinnen waren durchaus üblich und wurden von der
französischen Regierung sogar zeitweise durch die Zahlung von Prämien offiziell unterstützt.
Freilich hatten diese und ähnliche Maßnahmen, von denen man sich eine Assimilation der
eingeborenen Bevölkerung versprach, oft die gegenteilige Wirkung zur Folge. Europäische
Reisende, die im 18. Jahrhundert Kanada besuchten, zeigten sich nicht selten verblüfft über den
Grad der Adaptation indianischer Lebensformen, wie er schon allein äußerlich, in der Bekleidung
und manchmal auch in den Tätowierungen der französischen Kolonisten, zum Ausdruck kam.
„Während alle Völker der zivilisierten Welt die Gewohnheiten der Franzosen annehmen“, so
schrieb etwa der schwedische Naturforscher Peter Kalm, der die Kolonie um 1750 bereiste,
„nehmen sie selbst in Amerika die Sitten der Indianer an.“
Diese Erscheinungsformen mußten einem von außen kommenden Beobachter umso mehr
auffallen, als die kanadische Gesellschaft in anderer Hinsicht ein genaues Spiegelbild der
Verhältnisse des Mutterlandes bot. Der gesellschaftliche Status der einfachen kanadischen
Bauern, die ein Zehntel ihrer Produkte an die adligen Großgrundbesitzer und einen weiteren Teil
an die Kirche abführen mußten, unterschied sich nur unwesentlich von dem der einfachen
französischen Landbevölkerung. Ähnlich eingeschränkt wie in Frankreich selbst waren auch die
politischen Rechte und Freiheiten des Bürgertums. Boten sich den in Neu-Frankreich ansässigen
Kaufleuten auch bessere Möglichkeiten zum Erwerb großer Vermögen und damit zum Aufstieg in
die unteren Adelsränge, so war doch - ganz anders als zur gleichen Zeit in den meisten
Neuenglandstaaten - ihr Einfluß auf die inneren Angelegenheiten, auf die Steuer- und auf die
Gesetzgebung der vom Mutterland aus verwalteten Kolonie denkbar gering. Weitgehend feudal
geprägt war auch das gesellschaftliche Leben in den kleinen kanadischen Städten, das von der
großen Zahl von Offizieren und Verwaltungsbeamten beherrscht wurde, während zugleich die
vielen katholischen Ordensgeistlichen über die Einhaltung der Kirchenregeln und die Moral der
Stadtbürger wachten.
4.
Unter den großen indianischen Völkerschaften des nordamerikanischen Kontinents war es
zum beständigen Zusammenschluß mehrerer Stammesgruppen unter einer gemeinsamen
zentralen Führung - die Konföderation der Irokesen ist hierfür das bekannteste Beispiel - erst
kurz vor Beginn der europäischen Kolonisation gekommen. Das bestimmende soziale
Organisationsprinzip der kleinen, nicht-seßhaften Stammesgesellschaften aber, die den Großteil
der indianischen Bevölkerung Neu-Frankreichs ausmachten, war die akephale Segmentation. Die
Sammler- und Jägerstämme des kanadischen Koniferengürtels, die in kleinen Banden die
wildreichen Wälder durchstreiften, schlossen sich nur zu Kriegszwecken zu lockeren größeren
Verbänden zusammen. Ihre Führung lag zumeist in den Händen eines Ältestenrates, dem alle
alten Männer und auch einige Frauen angehörten, oder bei den sogenannten Häuptlingen,
keineswegs autokratische Herrscher, sondern vielmehr Männer, deren Stimme innerhalb der
Sippe oder des Stammes großes Gewicht besaß, da sie sich bei der Jagd, beim Krieg, bei der
Organisation gemeinsamer Arbeiten, bei der Regulierung von Streitigkeiten innerhalb der eigenen
Gruppe oder als Unterhändler mit anderen Gruppen hervorgetan hatten. Die soziale Organisation
wurde durch Verwandtschaftsbeziehungen, durch die jeweilige Stammestradition und Religion
sowie insbesondere durch die Erfordernisse der nomadisierenden Wirtschaftsweise bestimmt.
Polygamie und voreheliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern waren bei den meisten
Stämmen gebräuchlich, beides Institutionen, die nach Meinung der frühen europäischen
Beobachter von der sexuellen Libertinage der Indianer zeugten.
Verglichen mit den vielfältigen wirtschaftlichen, politischen und moralischen Restriktionen,
denen die französischen Kolonisten unterworfen waren, und zwar nicht nur die einfachen Bauern,
sondern auch die Stadtbürger und die Angehörigen der höheren Stände, mußte ihnen die
anarchisch anmutende Lebensweise der Indianer als Inbegriff der Freiheit und Ungebundenheit
erscheinen. Früher und in einem weit bedeutenderen Maß als in den britischen Siedlerkolonien
hatte sich daher in Neu-Frankreich eine Schicht von PelztierJägern und -händlern herausgebildet,
die das unsichere, aber freizügige Leben in den Wäldern der Existenz eines von Adel, Kirche und
Staat unterdrückten kleinen Bauern vorzogen; die Zahl dieser Zivilisationsflüchtlinge, der
sogenannten Coureurs de bois, war in Kanada außerordentlich hoch. Nach den Schätzungen des
französischen Historikers E. Salone betrug sie um 1680 nicht weniger als ein Drittel der
erwachsenen männlichen Bevölkerung der Kolonie. Über die „Verwahrlosung“ und
„Sittenlosigkeit“ der Waldläufer, die mit der Wirtschaftsform zumeist auch die
Lebensgewohnheiten der Indianer übernommen hatten und die sich um die behördlichen Erlasse
ebenso wenig kümmerten wie um die Moralvorschriften der Kirche, wird in den zeitgenössischen
Berichten der Kolonialbeamten und Ordensgeistlichen zwar beredt Klage geführt, doch wurde
faktisch von staatlicher Seite gegen diesen „indianisierten“ Bevölkerungsteil nicht vorgegangen,
da die seßhaften Kolonisten in Anbetracht der ständigen Kleinkriege mit den Neuenglandsiedlern
und der gelegentlichen Überfälle verfeindeter Indianerstämme weder auf die Landeskenntnis, die
Sittenkundigkeit und die Waffenhilfe der kampferprobten Waldläufer verzichten mochten, noch
der Pelzhandel ohne ihre Hilfe abgewickelt werden konnte. Schriftliche Dokumente, die von den
zumeist ungebildeten Coureurs de bois stammten, sind kaum überliefert. Doch für den, im
Verhältnis zu den Vorgehensweisen der Neuenglandsiedler, weit freundschaftlicheren Charakter
der auf Reziprozität beruhenden Beziehungen der französischen Kolonisten zur alteingesessenen
indianischen Bevölkerung zeugt schon allein ihre zahlreiche Existenz.
Die, wie J. W. Eccles schreibt, „allen mittelständischen Tugenden entgegengesetzte“
Lebensform der Waldläufer, die nur sporadisch in den größeren Niederlassungen auftauchten, um
ihre Jagdbeute zu verkaufen und ihre Vorräte an Waffen, Munition und Branntwein aufzufrischen,
erregte das Mißfallen der offiziösen staatlichen und kirchlichen Stellen nicht ohne Grund. Denn
das Beispiel, das sie gaben, wirkte ansteckend. Nicht nur für die Söhne der Stadtbürger, sondern
selbst für die in der Kolonie stationierten jüngeren Armeeoffiziere war es gegen Ende des 17.
Jahrhunderts gleichsam zur Gewohnheit geworden, dem langweiligen Alltag der Städte und
Garnisonen zu entfliehen, um für einige Monate das Leben eines indianischen Wildbeuters zu
führen. Einige dieser Männer haben ihre Erlebnisse unter den Indianern des kanadischen Urwalds
zu Papier gebracht und durch ihre Reflexionen über die Freiheit des Naturzustandes im
Frankreich des 18. Jahrhunderts zur Neuformierung des Bildes vom Guten Wilden entscheidend
beigetragen.
5.
Eine vergleichbare vermittelnde Position zwischen den seßhaften Kolonisten und den
Indianern nahmen schließlich auch die den großen Ordensgemeinschaften zugehörenden
Missionare ein. Während zur gleichen Zeit in anderen Teilen des Kontinents Bekehrungen mit
Gewalt erzwungen wurden, waren die in Kanada tätigen Rekollekten- und Jesuitenpatres sowohl
aufgrund der unsteten Lebensweise der meisten Stammesgruppen, als auch in Anbetracht der
verhältnismäßig schwachen Stellung der Kolonialverwaltung, darauf angewiesen, sich der
Lebensform der Indianer weitgehend anzupassen. Trotz der zentral gelenkten und planmäßigen
Organisation ihrer Arbeit scheinen die Missionare nennenswertere Erfolge nur dort erzielt zu
haben, wo es ihnen gelang, sich vollständig in das Stammesleben zu integrieren. So hatten es
einige von ihnen verstanden, sich als Kriegshäuptlinge einen Namen zu machen. Englische
Chroniken aus dem 18. Jahrhundert berichten, daß die sogenannten Praying Indians während der
Kolonialkriege unter der Führung der in die Tracht ihrer Beichtkinder gewendeten französischen
Patres die Siedlungen der puritanischen „Ketzer“ jenseits der Grenze überfielen, plünderten und
brandschatzten. Eine der höchsten bekanntgewordenen Skalpprämien wurde von dem britischen
Gouverneur Cornwallis auf den Kopf des wegen solcher Taten berüchtigt gewordenen Abbé Le
Loutre ausgesetzt. Von anderen Missionaren ist überliefert, daß sie sich bewußt der animistischen
Vorstellungen und Praktiken der Indianer bedienten, um ihnen die Riten, den Heiligenkult und die
Glaubenssätze der katholischen Kirche nahezubringen. Einige von ihnen übernahmen auf diese
Weise die traditionellen Funktionen des indianischen Medizinmannes oder Schamanen. Die in
den Berichten der Jesuiten aufgeführten hohen Bekehrungszahlen, nach denen zwischen 1633
und 1672 ca. 16.000 Indianer zum Christentum übergetreten sein sollen, sind dennoch wohl
insofern irreführend, als es sich bei den Getauften, wie es aus den Berichten ebenfalls hervorgeht,
in erster Linie um Kinder, Frauen und Sterbende, in den wenigsten Fällen aber um männliche
Erwachsene gehandelt hat.
Vor dem Beginn der staatlich forderten Aussiedlungspolitik in der zweiten Hälfte des 17.
Jahrhunderts war der Anteil der katholischen Geistlichkeit an der Gesamtbevölkerung der
Kolonie außerordentlich hoch. Nach den Angaben G. Friedericis trafen zwischen 1640 und 1660
auf 30 Einwohner Neu-Frankreichs allein 10 Jesuiten samt Dienerschaft. Daß die Beweggründe
einiger der Patres, die sich von der weitreichenden Verflechtung des katholischen Klerus in das
politische und kommerzielle Leben der Kolonie abgestoßen fühlten und zudem der strengen
Hierarchie in den Orden durch ihre einsame, aber unabhängige Tätigkeit unter den Indianern zu
entfliehen suchten, ähnlich geartet waren wie die der Coureurs de bois, kann aus ihren von den
oberen kirchlichen Behörden zensierten Berichten zwar nur indirekt geschlossen werden,
erscheint aber zumindest in einigen Fällen als wahrscheinlich.
Auf die näheren historischen Umstände der Tätigkeit der katholischen Orden in Kanada, die
zum Gegenstand einer Anzahl erschöpfender Abhandlungen geworden ist, soll hier nicht weiter
eingegangen werden. Durch die besonderen Bedingungen, unter denen die katholischen
Missionare ihre Bekehrungsarbeit verrichteten, wurden sie zu intimen Kennern der Sprache und
der Kultur der kanadischen Indianerstämme. Das reichhaltige Material, das in den Relations de la
Nouvelle France der Jesuiten und in den Berichten einzelner Rekollektenmönche
zusammengetragen worden ist, stellt trotz mancher Verzerrungen, die sich zum Teil der
kirchlichen Zensur verdankten, eine der bedeutendsten ethnographischen Quellen des 17.
Jahrhunderts dar.
6.
Von den zahlreichen Berichten, die im späten 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus
Kanada nach Frankreich gelangten, sollen im folgenden zwei der ideengeschichtlich wie
wissenschaftshistorisch bedeutendsten herausgegriffen und untersucht werden: die 1703 in Den
Haag erstmals veröffentlichte und innerhalb von wenigen Jahren in die wichtigsten europäischen
Sprachen übersetzte Reisebeschreibung Nouveaux voyages dans l'Amérique Septentrionale des
ehemaligen französischen Armeeoffiziers Louis-Armand de Lahontan sowie das 1724 in Paris
erschienene große komparatistische Werk des französischen Jesuitenpaters Joseph François
Lafitau Mœurs des Sauvages amériquains, comparees aux mœurs des premiers temps. Während
man in Lahontan heute einen der radikalsten Denker der frühen französischen Aufklärung
wiedererkennt, wird Lafitau in der Ethnologiegeschichte inzwischen weithin unbestritten der
Platz des Begründers der vergleichenden ethnologischen Methode und des wichtigsten Vorläufers
der empirischen Ethnographie eingeräumt. Tatsächlich aber ist Lahontans direkter Einfluß auf die
französische Philosophie zu seinen Lebzeiten ähnlich gering geblieben wie der Anstoß, der von
Lafitaus Werk im 18. Jahrhundert für die Entwicklung eines wissenschaftlichen Programms zur
Untersuchung fremder Völker ausging. Der qualitative Umschlag, der sich in Lahontans
Behandlung des Themas vom Guten Wilden abzeichnet, und die grundsätzlich neue Perspektive,
die Lafitau durch seine Beschreibung der nordamerikanischen Stammesgesellschaften und ihre
nicht mehr nur illustrative, sondern methodische Vergleichung mit den Völkern des Altertums der
ethnologischen Reflexion eröffnet hat, werden erst aus der historischen Distanz deutlich.
Zugleich lassen sich an den Schriften beider Autoren die unterschiedlichen Formen der
Verarbeitung einer langjährigen und intensiven ethnographischen Erfahrung in einem annähernd
identischen sozialen und historischen Kontext: der unterschiedliche Interessenstandpunkt eines
autodidaktischen Freidenkers auf der einen Seite und der eines klassisch gebildeten und mit der
antiken Überlieferung vertrauten Theologen auf der anderen Seite, in exemplarischer Weise
aufzeigen.
Ethnographie als Zivilisationskritik
Zu Louis-Armand de Lahontans „Nouveaux Voyages dans l'Amérique Septentrionale“
1.
Zumindest in ihren ersten Stadien ist Lahontans Lebensgeschichte nicht untypisch für die
eines Angehörigen des verarmenden französischen Provinzadels unter der Herrschaft Ludwig
XIV. Am 9. Juni 1666 in einem kleinen Dorf im südfranzösischen Béarn geboren, übernahm
Louis-Armand de Lom d'Arce nach dem Tod seines Vaters 1674 die Baronie La Hontan, die drei
Jahre später aufgrund der starken Verschuldung des Familienbesitzes und wegen gewisser
Erbstreitigkeiten eingezogen wurde. Ähnlich wie viele andere verarmte Landadlige sah sich
Lahontan daher im Alter von 15 Jahren gezwungen, der französischen Armee beizutreten und
gelangte auf diese Weise 1683 als Kolonialoffizier nach Kanada, wo er sich insgesamt fast zehn
Jahre aufhielt. Der Streit um den Familienbesitz sollte in seinem Leben auch weiterhin eine
entscheidende Rolle spielen. Durch Gerichtsprozesse und durch Eingaben beim Hof bemühte sich
Lahontan bis zu seinem Tod immer wieder vergebens, die eingezogene väterliche Baronie
zurückzuerhalten. Nach dem wiederholten Scheitern dieser Versuche hat er in seinen Briefen aus
seiner Verachtung für die zeitgenössischen Formen der Rechtsprechung, die Bestechlichkeit der
Richter und die Indolenz der Hofbürokratie keinen Hehl gemacht. Hat die Verbitterung über das
ihm persönlich widerfahrene Unrecht auch zu der ablehnenden Haltung beigetragen, die er später
der eigenen Gesellschaft gegenüber bekundete, so mag sie für den radikalen Prozeß, den er in
seiner Reisebeschreibung der französischen Feudalordnung macht, doch nur den ersten Anstoß
gegeben haben. Weit prägender noch für seine scharfe Kritik an den kirchlichen, staatlichen und
gesellschaftlichen Institutionen seines Geburtslandes sind zweifellos die Eindrücke gewesen, die
er während der vielen Jahre empfing, die er als junger Kolonialoffizier, Entdeckungsreisender
und Abenteurer in engem Kontakt mit den Waldläufern und Indianern Kanadas verbrachte.
Im Alter von knapp 17 Jahren in Kanada angelangt, hält Lahontan sich die ersten Monate in
Québec und Montréal auf, fühlt sich aber vom Leben in den kleinen kanadischen Kolonialstädten,
das vom harten moralischen Regiment der Ordensgeistlichen bestimmt wurde, zunehmend
abgestoßen und entwickelt bald eine heimliche Zuneigung für die freien Sitten der nur hin und
wieder in den Siedlungen auftauchenden Waldläufer und Pelzhändler. In den folgenden Jahren
nimmt er mehrfach an kleineren Kriegszügen gegen die Irokesen teil und wird zeitweise
Kommandant eines kleinen vorgeschobenen Forts am Rande der Wildnis. Im Verlauf
monatelanger Jagdexpeditionen und einer Entdeckungsreise, die er in den Jahren 1688 und 1689
in die noch unerforschten Gebiete westlich der Großen Seen unternimmt, lernt er die
Lebensweise und die Sitten der kanadischen Indianerstämme kennen und immer mehr schätzen.
Die außergewöhnlichen Sprach- und Landeskenntnisse, die er sich während dieser Unternehmen
erwirbt, machen Frontenac, den damaligen Gouverneur der Kolonie, auf ihn aufmerksam.
Lahontan wird zu einem der engeren Berater des Gouverneurs und fungiert wiederholt als
Verbindungsmann zu den verbündeten Indianerstämmen. Als Sonderbeauftragter Frontenacs
erhält er in den folgenden Jahren zweimal Gelegenheit, nach Frankreich zurückzukehren, um
seine persönlichen Angelegenheiten zu regeln und der Krone einen von ihm selbst
mitausgearbeiteten Plan zur weiteren Erschließung der Kolonie zu unterbreiten. Doch beide
Missionen bleiben erfolglos.
Als Lahontan 1693 erneut in Nordamerika eintrifft, kommt es zwischen ihm und seinem neuen
militärischen Vorgesetzten zu einer heftigen Auseinandersetzung. Um seiner drohenden
Verhaftung zuvorzukommen, desertiert er aus der Armee und flüchtet zunächst nach Portugal.
Zurück in Europa, reist er in den folgenden Jahren von Fürstenhof zu Fürstenhof und versucht
immer wieder vergeblich, mit der französischen Krone Verhandlungen über seine Rehabilitierung
und die Rückerstattung seiner Güter aufzunehmen. Eine Zeitlang hält er sich in Holland auf, wo
er Zugang zum Kreis der im Exil lebenden französischen Freidenker und Calvinisten findet. Am
dänischen Königshof gelingt es ihm wenig später, ein Empfehlungsschreiben des französischen
Gesandten zu erhalten, das ihm erlaubt, für kurze Zeit nach Frankreich zurückzukehren. Doch
auch dieses Mal kann er sich seiner Verhaftung nur durch die Flucht entziehen. Über Spanien und
Holland reist er nach England und unterbreitet dem König einen Plan zur Eroberung der
französischen Kolonien in Nordamerika, von dem er sich vielleicht seine Rückkehr nach Kanada
erhofft haben mochte. 1702 befindet er sich erneut in Den Haag und gibt die ersten beiden Teile
seiner Reisebeschreibung in Druck, wartet ihre Veröffentlichung aber nicht ab, sondern reist
weiter nach London, wo 1703 der vollständige Text seines Werkes in englischer Übersetzung
erscheint. Einige Jahre später macht er in Hannover die Bekanntschaft Leibniz', von dem eine der
letzten verbürgten Nachrichten über ihn stammt. Gegen 1710 verliert sich seine Spur. Man nimmt
an, daß Lahontan um 1715 im Exil gestorben ist.
Dieser kurze biographische Abriß zeigt bereits, daß es Lahontan nach seiner Rückkehr aus
Kanada nicht gelang, sich den europäischen Verhältnissen erneut anzupassen. Lahontan hat sich
praktisch die letzten zwanzig Jahre seines Lebens auf der Flucht befunden, eine Flucht, die nicht
nur durch das beständige Fehlschlagen seiner Pläne und Projekte oder durch die besonderen
politischen Umstände bedingt war. Sein offensichtliches Unvermögen, sich in die eigene
Gesellschaft zu reintegrieren und der damit verbundene Drang nach ständiger räumlicher
Veränderung können vielmehr als Symptome der marginalen Position gewertet werden, in die er
durch seinen langjährigen Aufenthalt in einem andersgearteten Kulturzusammenhang gedrängt
worden war. Sie sind Reaktionsbildungen auf eine Reihe tiefgreifender persönlicher Erfahrungen,
die ihn die eigene Gesellschaft nach seiner Rückkehr mit einem Mal in einem fremden, ja
befremdlichen Licht erscheinen ließen. In den Briefen, die den ersten Teil der Nouveaux Voyages
dans l'Amérique Septentrionale bilden, hat Lahontan wiederholt darauf angespielt, als wie
bedrückend er die hierarchische Ordnung der Höfe, als wie lächerlich er die polizierten
Umgangsformen seiner altvertrauten sozialen Umgebung empfand und wie wenig er sich dieser
Kultur im Grunde noch zugehörig fühlte.
Lahontan ist einer der ersten, wenn nicht sogar der erste europäische Reisende, der den aus der
kulturellen Doppelbindung des Ethnographen resultierenden und heute zu einem bevorzugten
Gegenstand ethnologischer Selbstreflexion gewordenen Identitätskonflikt nicht nur bewußt
verspürt, sondern auch thematisiert hat: als zentraler Verfremdungseffekt und organisierendes
Prinzip bildet er den geheimen Angelpunkt seines Werkes.
Lahontans Reisebeschreibung gliedert sich in drei Teile. Im ersten Band gibt er in Form eines
Reisejournals die stark persönlich gefärbte Schilderung seiner Erlebnisse in den kleinen
kanadischen Kolonialstädten, seiner Jagdexpeditionen, Kriegszüge und Entdeckungsreisen. Der
zweite Band enthält eine Beschreibung der geographischen Gegebenheiten, der Fauna und der
Flora Kanadas, eine kurze Geschichte der Eroberung Nordamerikas durch die Franzosen und
Engländer sowie ausführliche Darstellungen der Religion, der Sitten, der Jagdgewohnheiten und
Kriegsbräuche der kanadischen Indianer. Den dritten Teil bildet ein Dialog zwischen dem Autor
und einem Huronen namens Adario, von dem es heißt, er habe sich selbst längere Zeit in Europa
aufgehalten. In einem Anhang sind, wiederum in Briefform, Lahontans eigene Reiseerlebnisse
nach seiner Rückkehr aus Kanada beigegeben.
Schon der Aufbau des Werkes macht deutlich, worum es dem Autor vor allem zu tun ist: nicht
nur auf der Ebene der objektivierenden Beschreibung, sondern auch auf der des subjektiven
Erlebens das gesellschaftliche Ordnungsgefüge und die Lebensformen der fremden Kultur denen
der eigenen gegenüberzustellen. Ist auch die spezifische Form neu, derer Lahontan sich hierbei
bedient, so ist es doch die Intention selbst nicht. Sie liegt auch schon den meisten der früheren
Reiseberichte zugrunde, die in Europa zur Herausbildung der Vorstellung vom Guten Wilden
beigetragen haben. Ebensowenig können die idealisierenden Attribute, die er den kanadischen
Indianerstämmen beilegt, Anspruch auf besondere Originalität erheben: ihre
Entstehungsgeschichte läßt sich zum Teil bis hin zu Kolumbus zurückverfolgen. Eigentlich neu
an seinem Werk ist, daß mit ihm der Bannkreis der konventionalisierten Bonsauvage-Literatur
des 17. Jahrhunderts erstmals durchbrochen wird. Für Lahontan repräsentieren die
amerikanischen Wilden mehr als nur das Glück des verlorenen Naturzustandes des Menschen.
Radikaler als alle seine Vorgänger, hat er aus der Lektion, die die Existenz einer in seinen Augen
gerechteren Gesellschaftsordnung bot, auch praktische Konsequenzen zu ziehen versucht. Am
Ende seiner Reisebeschreibung steht der Aufruf zur Revolte.
2.
Galt Lahontans Augenmerk auch letztlich der eigenen Gesellschaft, so war sein kritischer
Blick für die Mißstände der französischen Feudalordnung doch erst durch die Erfahrungen
geschärft worden, die er während seines langen Aufenthalts unter den kanadischen
Indianerstämmen gewann. Entgegen den Zweifeln, die von seinen Gegnern sehr früh schon an
der Authentizität seiner Reiseerlebnisse vorgebracht worden waren, enthält der Mémoires de
l'Amérique Septentrionale betitelte zweite Band seiner Reisebeschreibung genaue Beobachtungen
und erstaunlich nüchterne Interpretationen der indianischen Kultur, die von dem hohen Grad
seiner Vertrautheit mit der indianischen Lebensweise zeugen. So hat Lahontan etwa eine
Darstellung der Glaubens- und Seelenvorstellungen der Indianer des kanadischen
Koniferengürtels gegeben, die in ihrer Grundaussage - ganz im Gegensatz zu den auf
theologischen Interpolationen beruhenden Deutungen der indianischen Religionen als
manichälsch-dualistischer Systeme oder auch als reiner Teufelsglauben in den zeitgenössischen
Berichten der Puritaner oder auch mancher Jesuitenmissionare - den Ergebnissen neuerer
Forschungen weitgehend entspricht. In seiner Reisebeschreibung finden sich ebenfalls erste
Hinweise auf die 90 Jahre später nach den Berichten des PelztierJägers und Dolmetschers John
Long über die Ojibwa benannten „totemistischen“ Institutionen der nordamerikanischen
Indianerstämme, die er, weit realistischer als selbst noch führende Ethnologen des 19. und frühen
20. Jahrhunderts, als heraldische Bezeichnungssysteme einzelner Stammesgruppen und ihrer
Territorien interpretiert. Ferner hat er, im übrigen schon vor Lafitau, die Erbabfolge der Irokesen
und Huronen in der Mutterlinie klar erkannt, ohne hierin fälschlicherweise ein Indiz für eine
gynaikokratische Gesellschaftsordnung zu sehen. Ähnlich zuverlässige Darstellungen der
geographischen, botanischen und astronomischen Kenntnisse, des Schamanentums, der
medizinischen Praktiken und der Kriegs- und Jagdbräuche der kanadischen Stammesgruppen wie
bei Lahontan lassen sich in kaum einer der früheren Reisebeschreibungen finden.
Allerdings erweist Lahontan sich nur in der Beschreibung derjenigen Kulturzüge, die ihm
selbst als eher periphere erschienen sein mögen, als genauer Beobachter. Dagegen unterdrückt er
dort, wo er auf sein eigentliches Thema: die Kritik des absolutistischen Gesellschaftssystems, zu
sprechen kommt, bisweilen auch gegen besseres Wissen die Aspekte der indianischen Kultur, die
mit dem vorgefaßten Bild einer nach den Prinzipien der Vernunft konstruierten sozialen Ordnung
nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Als ein Beispiel sei hier nur seine Darstellung der
indianischen Heiratsbräuche genannt. Da es ihm in dem entsprechenden Abschnitt vor allem
darum geht, der unter der französischen Aristokratie üblichen Vertragsehe die Freiheit der
indianischen Frauen in der Wahl ihrer Ehepartner gegenüberzustellen, bleiben in der ansonsten
detailgetreuen Schilderung der Hochzeitszeremonien die mit dem Eingehen einer matrimonialen
Allianz zwischen zwei Verwandtschaftsgruppen verbundenen vielfältigen Tauschaktionen
unerwähnt. An anderen Stellen verstrickt er sich in offene Widersprüche, so etwa dort, wo er den
Huronenhäuptling Adario in den Dialogues curieux eine lange Tirade gegen die Grausamkeit der
an den europäischen Gerichtshöfen praktizierten Folter halten läßt, obwohl er selbst in der
Wiedergabe seiner kanadischen Erlebnisse im ersten Teil der Reisebeschreibung seine Abscheu
vor den blutigen Kriegs- und Folterbräuchen der Indianer wiederholt zum Ausdruck gebracht hat.
Lassen sich in Lahontans Darstellung der kanadischen Stammesgruppen auch vorzügliche
Beispiele einer gegenständlichen Ethnographie entdecken, - ähnlich wie die der von ihm wegen
ihrer Voreingenommenheiten kritisierten Rekollekten- und Jesuitenmissionare bleibt sie dennoch
in ihren zentralen Themenbereichen selektiv: sie erfolgt nach Maßgabe der Kriterien, die ihm die
Mißstände der eigenen Gesellschaft liefern. In der allgemeinen Charakteristik der amerikanischen
Wilden, die der Libertin und antiklerikale Deist Lahontan in seiner Reisebeschreibung gibt, findet
sich daher ein Großteil der idealisierenden Züge wieder, mit denen sie bereits von seinen
klerikalen Vorgängern ausgestattet worden waren. Nicht anders als vor ihm schon der
Franziskaner Sagard, der Jesuit Le Jeune oder der Dominikaner Du Tertre führt auch Lahontan
das genügsame und heitere, von den Leidenschaften des Neids und der Eifersucht freie Leben der
Wilden auf ihre Unkenntnis des Privateigentums zurück. Für ihn ist der Unterschied zwischen
Mein und Dein die Wurzel all der übel und Mißstände, unter denen die eigene Gesellschaft zu
leiden hat. Die Wilden aber, die noch unestört von den Auswirkungen der Selbstsucht in „jener
Art von Gleichheit leben, die den Gefühlen der Natur entspricht“, bedurften des Geldes, das sie
„die Schlange der Franzosen nennen“ und dem sie alle menschlichen Laster zuschreiben,
ebensowenig wie der Gesetzbücher und der Richter. Für sie sind „alle Menschen aus dem
gleichen Lehm gemacht“. Da sie den Unterschied zwischen Arm und Reich nicht kennen, sind
ihnen auch die Unterschiede zwischen Herrschern und Beherrschten, zwischen vererbbaren
Rängen, Ständen und Klassen unbekannt. Jeder Mann erhält bei ihnen den Platz, der ihm
aufgrund seiner persönlichen Fähigkeiten zukommt. Aber auch den Anordnungen ihrer Kriegs-
und Jagdführer würden sie nur dann nachkommen, wenn sie ihnen vernünftig erscheinen. Alle
bedeutenderen Entscheidungen werden von einem gemeinsamen Rat der Ältesten beschlossen.
Jede Form der Unterordnung unter den Willen eines Einzelnen ist ihnen verhaßt. Die Gleichheit
und Unabhängigkeit der Wilden beschränkt sich indes, so führt er weiter aus, nicht nur auf die
Männer. Auch die Frauen betrachten sich als „Herr über ihren eigenen Körper“ und lassen sich in
ihren Liebesangelegenheiten nicht einmal von ihren nächsten Verwandten Vorschriften machen.
Vor der Ehe geben sie sich jedem hin, der ihnen gefällt. In der Ehe selbst aber zählt die Treue zu
ihren höchsten Tugenden. Gleichwohl betrachten sie die Unauflösbarkeit der Ehe, wie die
Jesuiten sie ihnen predigten, als ein „monströses Ding“.
Liest sich Lahontans Darstellung in vielen Teilen zunächst auch nur wie eine nochmalige
Zusammenfassung der den amerikanischen Wilden seit jeher zugeschriebenen positiven
Eigenschaften, so bleibt dennoch eine entscheidende Differenz gegenüber der herkömmlichen
Bonsauvage-Literatur. Lahontan verleiht den inhaltsleer gewordenen idealisierenden Attributen
neuen Gehalt, indem er sie im sozialen Leben, in den Sitten, Gebräuchen und Vorstellungen der
Wilden verankert. Es sind damit aber nicht mehr die abstrakten positiven Eigenschaften der
Wilden, die gegen die abstrakten negativen Eigenschaften der Zivilisierten stehen, sondern
vielmehr die vernünftigen Sitten der Indianer, die in seiner Darstellung gegen die unvernünftigen
Institutionen der Europäer ausgespielt werden. Dieser Abstand, den Lahontan durch die
gegenständliche Erfahrung des indianischen Lebens dem Mythos vom Guten Wilden gegenüber
gewann, verliert sich freilich in dem Maß, in dem er die Vernunftgemäßheit der Sitten und
Vorstellungen der Indianer im Sinne jener Kritik überbetonen muß. Dies wird vor allem in den
Passagen seines Werkes deutlich, in denen er die „Vernunftreligion“ der Wilden den Institutionen
und Glaubenssätzen der katholischen Kirche gegenüberzustellen versucht.
„Der Glaube der Wilden und die Hindernisse ihrer Bekehrung“ - dieser Titel, den das die
Religionsvorstellungen der kanadischen Indianerstämme betreffende Kapitel seiner
Reisebeschreibung trägt, ist nicht mehr als ironische Paraphrase. Das größte Hindernis ihrer
Bekehrung zum Christentum bestehe nämlich darin - so führt Lahontan des näheren aus -, daß sie
die Vernunft als das höchste den Menschen von Gott gegebene Gut betrachten und der
Überzeugung seien, daß man sich ihrer Führung auch im Bereich des Glaubens nicht begeben
dürfe. Ihre Religion beschränke sich dementsprechend auf den Glauben an die aus dem Dasein
des Umversums logisch ableitbare Existenz eines Schöpfergottes, den sie als unpersönliche
Essenz, den in allen Dingen wesenden „Großen Geist“ verehren sowie auf die ihnen aus
ähnlichen Gründen als evident erscheinende Vorstellung vom Fortleben der Seelen nach dem
Tode. Da sie nur das als wahr anerkennen, was entweder sichtbar ist oder zumindest
wahrscheinlich erscheint, lehnten sie die Offenbarungen, Prophezeiungen und
Wundergeschichten der Bibel ebenso ab wie die christlichen Glaubenssätze der Erbsünde und der
Inkarnation Christi, die sie aus den Predigten der Jesuiten kennen.
Ungeachtet dessen, daß Lahontan zum Beleg seiner Ausführungen auch in diesem Fall eine
Reihe von Beobachtungen anführen kann, deren Authentizität außer Frage steht, sind die
Überzeugungen, die er den Indianern zuschreibt, unverkennbar die der deistischen Religionskritik
der Aufklärung. Diese enge Verknüpfung von authentischer Ethnographie und zeitgenössischer
Religionskritik sollte Lahontans Werk zum schärfsten Angriff werden lassen, der bis dahin in der
Form der Reisebeschreibung gegen die katholische Kirche und die christliche Religion überhaupt
vorgetragen worden war.
3.
Dem Inhalt nach enthält der dritte Band der Nouveaux Voyages nicht mehr als eine
Zusammenfassung der in den ersten beiden Bänden teils durch die Produktion von Gegenbildern
evozierten, teils bereits offen geäußerten Kritik an der französischen Feudalgesellschaft. Formal
aber bedient sich Lahontan hier einer Wendung, die zwar auch schon älteren Reiseschriftstellern
geläufig war, die von ihm aber erstmals in radikaler Weise zur Durchführung gebracht wird: der
Vertauschung der Perspektiven. Dem europäischen Reisenden, der sich lange Zeit unter den
Wilden aufgehalten und seine Beobachtungen wiedergegeben hat, wird in den Dialogues curieux
entre l'Auteur et un Sauvage de bon sens quia voyagé der Huronenhäuptling Adario
gegenübergestellt, der als ein nicht weniger sorgfältiger Beobachter fremder Lebensformen
Europa besucht hat und nun seinerseits Gelegenheit erhält, seine Eindrücke und Reflexionen
vorzutragen. Anders als in der älteren Reiseliteratur handelt es sich bei diesem fingierten
Zwiegespräch zwischen einem „Wilden“ und einem „Zivilisierten“ nicht mehr nur um eine
spielerische, dem - wie es der Titel zunächst zu suggerieren scheint - Kuriositätsbedürfnis des
Lesers Rechnung tragende Episode; es erweist sich vielmehr als das sich der
Verfremdungswirkung eines gedoppelten Beobachtungsprozesses bedienende Urteil, auf das hin
die Konstruktion der ganzen Reisebeschreibung angelegt ist.
Ihrem inneren Aufbau nach gleichen die Dialogues curieux einem Tribunal, in dem Adario als
Vertreter des Naturzustandes und im Namen des „bon sens“ die Anklage führt, während Lahontan
zum Schein die Rolle des Verteidigers übernimmt. Nach Maßgabe der allen Menschen
gemeinsamen Vernunft werden solchermaßen die Institutionen des französischen Staats- und
Gesellschaftssystems abgehandelt und mit der egalitären Gemeinschaftsordnung der Huronen
verglichen: das despotische Regime des Monarchen, die Abhängigkeit des Einzelnen von der
Willkür des Staates und die hierarchische Ständeordnung; die Macht der Kirche und der Priester;
die Vernunftwidrigkeit der christlichen Religion; die nur den Interessen der Besitzenden
willfahrende Gesetzgebung; die grausamen Praktiken der Rechtsfindung; die Ausbeutung und
Verelendung der unteren Bevölkerungsschichten; die Verschwendungssucht der Reichen; die
Unterdrückung der Frauen usf. All die Ungerechtigkeiten, Mißstände und Verbrechen, unter
denen die Franzosen im Gegensatz zu den in Freiheit und brüderlicher Gleichheit lebenden
Huronen zu leiden haben, könnten auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden, so betont
Adario immer wieder: den Unterschied zwischen Mein und Dein. Anstatt die Länder der Wilden
unrechtmäßig in Besitz zu nehmen, Missionare zu ihrer Bekehrung auszusenden und durch den
Handel mit Feuerwaffen, Eisenwerkzeugen und Branntwein die Herrschaft des Geldes
einzuführen, die vernünftigen Sitten der Wilden zu zerrütten und sie den korrumpierten Gesetzen
der polizierten Nationen zu unterwerfen, sollten sich die Franzosen ihre gerechtere soziale
Ordnung zum Vorbild nehmen:
„Von euren Gesetzen werde ich nie eine gute Meinung haben, es sei denn, sie verringern endlich die Steuern und
Abgaben, die zu entrichten man das arme Volk zwingt, während die Reichen jeden Standes im Verhältnis zu ihrem
Vermögen so gut wie nichts zu zahlen haben. […] Dann erst kann ich wirklich hoffen, daß ihr eure Reform
allmählich zu einem Ende bringen werdet, daß die Vermögensunterschiede nach und nach geringer werden, und daß
ihr endlich dem Eigennutz abschwören werdet, der Ursache all der Mißstände, unter denen Europa leidet. Sobald ihr
dies erreicht habt, wird es weder mehr ein Mein noch ein Dein geben, das Euch stören kann, sondern ihr werdet
ebenso glücklich leben wie die Huronen.“
Die sozialkritische Tradition der großen Utopisten erneut aufgreifend, entwickelt Lahontan aus
der Darstellung einer Form gesellschaftlicher Organisation, die, wie er meint, auf der Institution
des Gemeineigentums beruht, ein Programm zur Reformierung der eigenen
Gesellschaftsordnung. Sein eigentliches Interesse gilt der Umwälzung der bestehenden
Verhältnisse in Europa allerdings nur am Rande. Hinweise dieser Art finden sich in der
ursprünglichen Fassung des Textes weit spärlicher als solche, die vermuten lassen, daß Lahontan
die konkrete Möglichkeit der „anthropologischen Konversion“ (Moebus), wie er sie am Beispiel
der kanadischen Coureurs de bois hatte beobachten können, auch für sich persönlich in
Erwägung gezogen haben mag. Ein Anarchist avant la lettre, sieht er in Erinnerung an seine
eigenen Erfahrungen in den kanadischen Wäldern im Leben der Wilden vor allem eine Utopie der
Befreiung aus einem hierarchisch bestimmten Ordnungsgefüge, dessen Mechanismen er nach
seinem langjährigen Aufenthalt unter den Indianern und Waldläufern Neu-Frankreichs um so
klarer erkannte:
„Folge meinem Rat und werde Hurone!“ - so wendet sich Adario im Verlauf der Dialogues wiederholt an seinen
Gesprächspartner: „Denn ich sehe deutlich, welch Unterschied zwischen deiner und meiner Lage besteht. Ich bin
Herr über meinen Körper, kann völlig über mich selbst verfügen, tue, was mir gefällt, bin der erste und der letzte
meines Volkes, fürchte niemanden und bin einzig und allein vom Großen Geist abhängig; wohingegen du dazu
verdammt bist, mit Leib und Seele von deinem großen Häuptling abhängig zu sein; dein Vize-König verfügt über
dich; du hast nicht die Freiheit das zu tun, was dir gefällt; du fürchtest dich vor Räubern, falschen Zeugen,
Meuchelmördern u.s.w.; du bist von unzähligen Personen abhängig, die aufgrund ihrer Stellung über dir stehen. Ist
das richtig oder falsch? Liegt das nicht klar auf der Hand, und kann es nicht ein jeder sehen? Nun, mein lieber
Bruder, du siehst wohl ein, daß ich recht habe, und dennoch bist du lieber ein französischer Sklave als ein freier
Hurone !“
Schon die Konzeption des mit den kriegerischen Tugenden des funktionslos werdenden alten
Schwertadels ausgestatteten Edlen Wilden bei Montaigne war von den Auswirkungen der mit der
Herausbildung der absolutistischen Königsherrschaft parallel einhergehenden Entwicklung jenes
sich zunehmend verselbständigenden Systems von Fremd- und Selbstzwängen geprägt, in das
zunächst vor allem die Angehörigen der Aristokratie einbezogen waren und dessen Ausformung
unter der Regierung Ludwig XIV. einen ersten Höhepunkt erreicht hatte. Auch Lahontans Kritik
scheint sich primär an den Erscheinungsformen zu kristallisieren, die sich in der höfischen
Gesellschaft als Resultat des sogenannten Königsmechanismus herausgebildet hatten und die er
während seiner Reisen durch Europa so aufmerksam beobachtet hatte. Gleichwohl ist der
abstrakte Freiheitsbegriff, den er in Reflexion seiner kanadischen Erfahrungen entwickelt, nicht
mehr identisch mit den rückwärtsgewandten Wunschträumen des im Zuge tiefgreifender
politischer, sozialer und ökonomischer Veränderungen seine einstige Unabhängigkeit
verlierenden Adels: als Negation von Herrschaft und Zwang überhaupt die radikalsten Positionen
der bürgerlichen Aufklärung antizipierend, weist er nach vorne.
4.
Lahontans Urheberschaft an den Dialogues curieux war lange Zeit bestritten und Nicolas
Gueudeville zugeschrieben worden, einem ehemaligen Benediktinermönch, der nach seinem
Übertritt zum Calvinismus in Holland im Exil lebte und als Übersetzer von Thomas Morus'
Utopia, als Verfasser von polemischen Schriften gegen den Hof Ludwig XIV. und als Kompilator
zeitgenössischer Reiseberichte bekannt geworden war.
Gueudeville hatte die zweite französische Auflage der Nouveaux voyages dans l'Amérique
Septentrionale überarbeitet und herausgegeben, die 1704 in Amsterdam erschien und die
Grundlage für alle späteren Übersetzungen und Neuauflagen bildete. Die eingehenden
quellenkritischen Untersuchungen des Literaturhistorikers Gilbert Chinard zur Frage nach der
eigentlichen Urheberschaft der Dialogues curieux haben indes ergeben, daß nur einige wenige,
wenn auch wesentliche Zusätze in der Ausgabe von 1704 von Gueudeville stammen. In den
Dialogues curieux sind vor allem die Ausführungen Lahontans erweitert worden, die der
Verelendung der unteren Bevölkerungsschichten, der Kritik am absolutistischen
Herrschaftssystem und der Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung der Eigentums- und
Herrschaftsverhältnisse gelten. Sich gleichfalls der Figur des weitgereisten Huronenhäuptlings
Adario bedienend, entwirft Gueudeville auf der Grundlage der wenigen bei Lahontan bereits
entwickelten Ansätze zur Reformierung des französischen Staats- und Gesellschaftswesens ein
revolutionäres Umsturzprogramm:
„Halt ein, Baron; ich war in Frankreich, wie du weißt; ich kenne die Regierung und ich versichere dir, daß in deinem
Land die Leute ohne Kapital und Vermögen weitaus in der Mehrzahl sind. Was sollte sie daher daran hindern, auch
die Mächtigsten zu werden? Sie könnten dies umso leichter, als die Besitzlosen den Hauptteil der Streitkräfte der
Nation stellen. Denn sage mir bitte, wie steht es denn um die dreihunderttausend oder mehr Soldaten, die euer
Monarch in seinem Reich unterhält und die ihn so mächtig und stolz machen? Sind es nicht dreihunderttausend
Bettler, die sich für ein paar Sous am Tag umbringen lassen? Und für wen? Für den Reichen, vom ersten bis zum
letzten Mann; für die Erhaltung des Überflusses, in dem er lebt, damit er seinen Vergnügungen und Ausschweifungen
nachgehen und seinen Wohlstand weiterhin vergrößern kann. Aber verschaffen diese vielen tausend Soldaten den
Angehörigen ihrer Schicht und Klasse, ich will sagen: den um ihr Hab und Gut betrogenen Bewohnern des Landes,
dadurch irgendeinen Vorteil, daß sie ihr Blut vergießen und ihr Leben verlieren? Keinen einzigen, es sei denn, daß sie
ihr Elend noch vergrößern und ihre Zahl vermehren. Es hängt folglich nur von diesen Truppen ab, die Nation wieder
in ihre Rechte einzusetzen und die Güter gleichmäßig und gerecht zu verteilen, mit einem Wort, eine so menschliche,
so gerecht geordnete Regierungsform zu errichten, daß alle Glieder der Gesellschaft, und zwar ein jedes seinen
Fähigkeiten entsprechend, zum allgemeinen Glück beitragen können.“
Eine solche mit Hilfe des Heeres durchführbare gewaltsame Abschaffung des Privateigentums,
des Adels, des Klerus und der Kaufmannschaft, der Königsherrschaft und der zentralen
Regierungsgewalt würde, so führt Gueudeville in diesem Zusammenhang weiter aus, in eine
„klassenlose“ Gesellschaft von freien Produzenten und autarken Gemeinden münden, in der die
gemeinsam erarbeiteten Güter gemäß den Bedürfnissen des Einzelnen verteilt werden könnten.
Die Resultate jenes gedoppelten Beobachtungsprozesses, der dem inneren Aufbau von
Lahontans Reisebeschreibung als organisierendes Prinzip zugrunde liegt, findet sich in
Gueudevilles Überarbeitung der Dialogues curieux in konkrete Handlungsanweisungen
umgesetzt. Wie bei Lahontan die persönliche Befreiung aus einem System bedrängender
Fremdzwänge durch die anthropologische Konversion, erscheint bei Gueudeville die kollektive
Befreiung aus Armut und Unterdrückung durch die gewaltsame Erhebung der ausgebeuteten
Massen in den Rang einer realen Möglichkeit erhoben. Die egalitäre Gesellschaftsordnung der
amerikanischen Wilden wird in beiden Fällen zum universalen Modell der Freiheit, Gleichheit
und Vernunft, das der europäischen Gesellschaft als Wertmesser ihrer eigenen Wahrheit und
Gerechtigkeit dienen soll. Unter diesem Gesichtspunkt erweisen sich die Nouveaux Voyages dans
l'Amérique Septentrionale als der wenn schon nicht historische, so doch logische Schlußpunkt
jener Form ethnologischer Betrachtungsweise, die sich der ethnographischen Beobachtungen
vornehmlich zu dem Zweck bedient, auf ihrer Grundlage ein Raster zu entwickeln, durch das
kritisch zurückgeblickt werden kann auf die eigene Kultur, jener Form der Ethnographie mithin,
deren eigentlicher Gegenstand nicht so sehr die fremde, als vielmehr die eigene Gesellschaft
bildet.
Ethnologie als Apologetik
Zu Joseph François Lafitaus „Mœurs des Sauvages amériquains comparées aux
mœurs des premiers temps“
1.
Die Reaktion auf Lahontans Attacken gegen die christliche Religion und die katholische
Kirche, gegen die Ständeordnung und gegen den absolutistischen Staat blieb nicht aus. Die
Gegenpolemik, die bereits unmittelbar nach dem Erscheinen der Ausgabe der Nouveaux Voyages
von 1703 einsetzte, wurde von den Jesuiten angeführt. Ihre Versuche, die Glaubwürdigkeit dieser
Reisebeschreibung in Frage zu stellen, richteten sich zunächst gegen die Person des Autors selbst.
Die gegen ihn vorgebrachten Diffamierungen reichten vom Vorwurf des heimlichen Atheismus,
des Libertinismus und des Vaterlandsverrats bis zum Verdacht des kulturellen Überläufertums.
Von einigen Autoren war zeitweise selbst die Existenz Lahontans bezweifelt und seine
Reisebeschreibung als reine Erfindung abgetan worden; kein geringer als Leibniz, der Lahontans
Bekanntschaft in Hannover gemacht hatte, sah sich daher dazu veranlaßt, sich für die
Authentizität von Autor und Werk persönlich zu verbürgen. Noch dreißig Jahre nach seinem Tod
bemühte sich der Jesuitenpater Franéois-Xavier Charlevoix in seiner maßgeblichen Histoire de la
Nouvelle France von 1744 Lahontans Angaben über seine Entdeckungsreisen westlich der
Großen Seen als Lügengeschichten hinzustellen, um damit zugleich auch den Wahrheitsgehalt
seiner Ausführungen über die religiösen Vorstellungen und Bräuche der kanadischen Indianer in
Zweifel zu ziehen. Die von den Jesuiten eingeleitete Kontroverse über die Nouveaux Voyages
dans l'Amérique Septentrionale läßt sich bis hin zu den Artikeln über die Geographie und
Naturgeschichte Nordamerikas in den Supplementbänden der Großen Encyclopédie verfolgen.
Zu den Autoren, die wesentlich dazu beitrugen, Lahontans ethnographische Beobachtungen als
Erfindungen zu diskreditieren, zählt auch der Jesuitenpater Joseph Franéois Lafitau. Sein Werk,
das nach Ansicht der meisten neueren Wissenschaftshistoriker den Beginn der vergleichenden
Völkerkunde markiert, stellt seiner eigentlichen Absicht nach den Versuch dar, die von Lahontan
und anderen Reisenden aufgestellten Behauptungen über die Religion, die Herrschaftsfreiheit und
die sexuelle Freizügigkeit der amerikanischen Wilden Punkt für Punkt zu widerlegen.
Apodiktisch heißt es jeweils in den Einleitungssätzen der den Glaubensvorstellungen, der
Regierungsform und den Heiratsbräuchen der kanadischen Indianerstämme geltenden zentralen
Kapiteln der Mœurs des Sauvages amériquains, comparées aux mœurs des premiers temps: „Eine
Religion ist den Menschen notwendig“; „Jede Völkerschaft hat ihre Beherrschungsart“; und: „Die
Heirat [ist] von allen Völkern als eine heilige und feierliche Sache beständig betrachtet, und
deren Gerechtsame auch von den wildesten Völkern verehret worden.“
Ist die Kritik der Institutionen am Maßstab der allen Menschen gemeinsamen Bedürfnisse
letztlich Zielpunkt von Lahontans subjektivistischer Ethnographie, so mündet die Verschränkung
von kirchlicher Apologetik mit dem Anspruch auf empirische Wissenschaftlichkeit - das
Spannungsverhältnis, in dem sich die Grundlegung der Ethnologie bei Lafitau vollzieht und
dessen Auflösung den Diskurs seines Werkes bestimmt - in eine Anthropologie der Institution.
2.
In der Einleitung der Mœurs des Sauvages amériquains hat Lafitau das Ziel seiner
vergleichenden Untersuchung ausdrücklich benannt: Nicht nur die Argumente zu entkräften, die
die Atheisten und Deisten unter den Aufklärern aus den Nachrichten über die Völker der Antike
und der Neuen Welt zur Begründung ihrer Kritik an der christlichen Religion hatten beziehen
können, sondern darüber hinaus durch eine - im Gegensatz zu den älteren Darstellungen -
tatsachengetreue Beschreibung der Glaubensvorstellungen und der Sitten der amerikanischen
Wilden den Beweis für die universale Verbreitung der Verehrung eines Höchsten Wesens und
damit zugleich für die Wahrheit der christlichen Religion zu erbringen. Lafitau schreibt:
„Ich habe mit vielem Verdruß in den mehresten Nachrichten bemerket, daß diejenigen, welche die Sitten der
barbarischen Völker beschrieben, uns solche als Menschen abgebildet, bei welchen nicht die geringsten Spuren einer
Religion, keine Kenntnis von Gott, kein Vorwurf einiger Verehrung anzutreffen. Sie haben uns solche als Leute
vorgestellet, die weder Gesetze, weder eine äußerliche bürgerliche Verfassung [une police extérieure] noch die
geringste Art einer Regierungsform hätten; mit einem Wort, als solche Geschöpfe, bei denen fast weiter nichts als die
menschliche Gestalt anzutreffen wäre. Dieser Fehler ist auch selbst bei den Missionarien und vielen von solchen
Männern gemein, die einesteils mit großer Übereilung von Sachen geschrieben, so ihnen noch nicht hinlänglich
bekannt gewesen, und andernteils die übeln Folgerungen nicht vorhergesehen, welche aus einem der Religion so
nachteiligen Vorgeben gemacht werden können. […] Was wird aber über dieses den Gottesleugnern [Athées] dadurch
nicht für ein starkes Argument dargeboten? Denn einer der stärksten Beweise von der Notwendigkeit und
Wirklichkeit einer Religion, welche wir ihnen entgegen setzen können, bestehet in der allgemeinen
Übereinstimmung aller Völker in Ansehung der Erkenntnis eines höchsten Wesens und desselben Verehrung […].
Dieser Beweisgrund würde aber hinwegfallen, wenn es an dem sein sollte, daß sich eine Menge verschiedener
Nationen fände, die dergestalt viehisch geworden, daß sie auch nicht den geringsten Begriff von einiger Gottheit und
eingeführten Obliegenheiten einer schuldigen Verehrung derselben unter sich hätten; denn alsofort scheint der
Gottesleugner Recht zu haben, wenn er dergestalt schließet: Wenn beinahe eine ganze Welt von Völkern anzutreffen,
die keine Religion haben; so ist diejenige Religion, die sich bei den anderen Nationen findet, nichts anderes als ein
Werk des menschlichen Witzes [1'Ouvrage de la Prudence Humaine] und ein Kunstgriff der Gesetzgeber [artifice
des Legislateurs], welche solche erfunden haben, um die Völker durch die Furcht, als eine Mutter des Aberglaubens,
in Ordnung zu halten.“
Will man aber, so fährt er fort, den Atheisten jede Gelegenheit nehmen, „die Religion von
dieser Seite anzugreifen“, so sei es zunächst nötig, „die falschen Begriffe, welche dergleichen
Verfasser von den Wilden beigebracht, zu zerstören“ und darzutun, „daß wirklich keine Nation,
sie sei auch noch so wild, ohne Religion und ohne gewisse Sitten angetroffen werde.“
Lafitau war mit den Positionen seiner Gegner zu sehr vertraut, als daß er nicht versucht hätte,
sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Um sein Vorhaben zu verwirklichen, war er daher
gezwungen, an mehreren Fronten zugleich zu kämpfen. Bestrebt, die nationalistische
Beweisführung der zeitgenössischen Religionskritik weniger in dogmatischer Berufung auf die
christliche Überlieferung und theologische Tradition, als vielmehr durch wissenschaftliche
Gegenargumente, durch historische Fakten und empirisches Tatsachenmaterial zu widerlegen,
mußte er nicht nur gegen Reisende wie Lahontan Stellung beziehen, die wegen ihrer offen
eingestandenen politischen Absichten leicht zu attackieren waren, sondern auch gegen die
Missionare und diejenigen seiner Ordensbrüder, die durch ihre Darstellung der amerikanischen
Wilden als in natürlicher Freiheit lebende Völker ohne Religion, Herrschaft und Gesetz den
Philosophen immer wieder neues Beweismaterial zum Beleg ihrer Behauptungen an die Hand
gegeben hatten. Lafitau hat dieses Problem auf der praktischen Ebene durch ein sorgfältiges
Studium antiker Quellen, neuerer und zeitgenössischer Reisebeschreibungen zu lösen versucht,
deren Angaben er mit Hilfe der von den Vertretern des philosophischen Rationalismus zur Kritik
der christlichen Überlieferung entwickelten historisch-analytischen Methoden sowie anhand der
Beobachtungen überprüfte, die er während seines eigenen mehrjährigen Aufenthalts unter den
kanadischen Indianerstämmen gesammelt hatte, auf der theoretischen Ebene aber durch den
Entwurf einer religiösen Depravations- und diffusionistischen Wanderungstheorie, die einerseits
von der Idee einer von Gott allen Menschen gegebenen, im Lauf der Geschichte verfälschten und
erst wieder im Christentum zu sich selbst gekommenen Ur-Religion ausging und andererseits auf
der Grundannahme beruhte, die Indianerstämme Amerikas seien Nachkommen bestimmter
antiker Völkerschaften, die den Kontinent in vorhistorischer Zeit besiedelten. Die Ergebnisse, zu
denen er im Verlauf seiner Untersuchungen gelangte, führten indes über seine ursprüngliche
Absicht, den Beweis für die universale Gültigkeit der christlichen Religion zu erbringen, weit
hinaus.
3.
Lafitaus Theorie über die Herkunft der Indianer war keineswegs neu. Schon in der
Renaissance waren ähnliche, ebenfalls mit der Vorstellung eines Verfalls der gemeinsamen
adamitischen Urreligion und -kultur verbundene Abstammungshypothesen entwickelt worden,
mit deren Hilfe man versucht hatte, die Fülle der geographischen Neuentdeckungen seit dem 15.
Jahrhundert mit dem beschränkten Erkenntnisrahmen der biblischen und antiken Überlieferung in
Übereinstimmung zu bringen. So waren die amerikanischen Völkerschaften bald als die
Nachfahren Hams, bald als die verlorenen zehn Stämme Israels oder auch als die Nachkommen
einer präadamitischen Rasse angesehen worden. Ein in der Tradition des Humanismus stehender
Autor wie Hugo Grotius hatte dagegen bereits differenzierter die Bewohner Nordamerikas
aufgrund vermeintlicher Sprachähnlichkeiten von den Norwegern, die Südamerikas aber von den
christlichen Abessiniern abgeleitet; andere wiederum führten sie mit ähnlichen Begründungen auf
die Ägypter, die Karthager, die Tartaren oder gar die Walliser zurück. Die auch von Lafitau
vertretene Gleichsetzung der Indianer mit den Völkern des alten Griechenland schließlich findet
sich fast durchgängig in den Berichten der Reisenden und Missionare des 17. Jahrhunderts.
Lafitau listet im zweiten Kapitel der Mœurs des Sauvages amériquains die geläufigsten älteren
Theorien auf und kritisiert sie: Zu häufig habe man aus dem Vorkommen der Sitten, Gebräuche
und Vorstellungen, die bei allen Völkern verbreitet seien, voreilige Rückschlüsse auf die Herkunft
der Indianer von einem bestimmten Volk der Alten Welt gezogen. Seine eigene Vorgehensweise
würde dagegen auf dem Prinzip beruhen, zum Beweis seiner Mutmaßungen nur solche
„distinktiven und charakteristischen Merkmale heranzuziehen, die „eigentümlicher und weniger
allgemein“ sind und die „die neuentdeckten Völker mit den alten Völkern, von denen uns die
Geschichte eine bestimmte Vorstellung bewahrt hat“ gemeinsam haben.
Mit dieser in der Tat neuartigen Methode entwickelt Lafitau nun allerdings eine
Abstammungstheorie, die sich von den früheren zwar durch einen höheren Grad an
Differenziertheit unterscheidet, ihnen in ihrem spekulativen Charakter jedoch kaum nachsieht.
Sich vor allem auf die Nachrichten Herodots, Strabons und anderer antiker Autoren über die
Urbevölkerung und die Randvölker des alten Griechenlands stützend, vertritt er die Auffassung,
daß aufgrund solcher gemeinsamen „eigentümlichen und weniger allgemeinen“ Kulturmerkmale
die nomadisierenden Algonkinstämme der amerikanischen Ostküste von den altgriechischen
Pelasgern herzuleiten seien, die ebenfalls „weder säten noch ernteten, sondern bloß von den
Baumfrüchten, der Jagd, der Fischerei und von demjenigen lebten, was der Zufall ihnen
bescherte“; dagegen sollten die Kariben von den Kariern abstammen, da es bei ihnen - ebenso
wie bei jenem kleinasiatischen Volkstamm, von dem Herodot berichtet - auch heute noch Sitte
sei, daß „die Weiber […] niemalen mit ihren Männern [essen], ihnen [dienen], als wenn sie ihre
Sklavinnen wären, und […] eine von der ihrer Männer ganz unterschiedene Sprache [reden]“;
und was schließlich die seßhaften Irokesen und Huronen anbelangt, so mutmaßt er, daß sie nicht
nur wegen ihrer Kenntnis des Ackerbaus, sondern auch wegen ihrer föderalen
Stammesorganisation und ihrer ausgeprägten „gynaikokratischen“ Züge als die Nachfahren der
kleinasiatischen Lykier anzusehen seien, die erst im Zeitalter der Römischen Bürgerkriege aus
ihren angestammten Wohnsitzen in der Alten Welt vertrieben worden seien.
Bleibt dieser Versuch einer Rekonstruktion von Völkerstammbäumen noch weitgehend im
Rahmen der herkömmlichen Spekulationen, so entwickelt Lafitau zur Darlegung der Ursachen,
die zur Auslösung der seiner Ansicht nach in mehreren Schüben erfolgten
Wanderungsbewegungen dieser Völker und zur Besiedelung des nordamerikanischen Kontinents
führten, durchaus realistische, um nicht zu sagen materialistische Erklärungsversuche. Ähnlich
wie später erst wieder Turgot unterscheidet er zu diesem Zweck anhand der unterschiedlichen
Wirtschaftsformen die von der Jagd, vom Fischfang und vom Sammeln wilder Früchte lebenden
„vagabundierenden Völker“, die sich aufgrund ihre Lebensweise „ständig teilen mußten, um
überleben zu können“ und „große Wälder und beträchtliche Räume unbebauten Landes
brauchten, um ihre Subsistenz zu finden“ von den „ein wenig seßhafteren Völkern“, die den
Ackerbau zwar bereits kannten, ihn aber noch nicht „bis zu einer solchen Vollkommenheit
gebracht hatten“, als daß sie nicht ihrerseits auch darauf angewiesen gewesen wären, ständig
neues Land zu erobern und urbar zu machen. Jene einfacheren Gesellschaften, die, obgleich sie
am Rande der Subsistenz lebten, weit beweglicher waren als die bereits Ackerbau betreibenden,
seien im Verlauf der Geschichte der Alten Welt durch die blutigen Kriegszüge und die
Koloniegründungen der besser organisierten und sich schneller vermehrenden frühen
Ackerbauvölker entweder unterworfen oder vertrieben worden. Dieser Art seien auch die Gründe
gewesen, die zunächst die Pelasger, die Vorfahren der Jäger- und Sammlerstämme des
nordöstlichen Amerika, und später Teile der hellenischen Bevölkerung Griechenlands und
Kleinasiens, von denen die Huronen und Irokesen abstammten, zur Auswanderung zwangen:
„Die Not war hierfür der erste Beweggrund“.
Wegen seiner Gleichsetzung der amerikanischen Völker mit den primitiven Gesellschaften der
europäischen Vor- und Frühgeschichte ist Lafitau verschiedentlich als ein Vorläufer des
Evolutionismus bezeichnet worden. Freilich ist dabei zumeist übersehen worden, daß es sich bei
dieser Gleichsetzung noch um eine mehr oder weniger naive Identifizierung, keineswegs jedoch
bereits um eine Parallelisierung von Entwicklungsreihen handelt. - Dagegen enthält die
unbeachteter gebliebene Begründung seiner Wanderungshypothese im Kern erste Ansätze einer
ökonomischen Evolutionstheorie, wenngleich auch hierbei das den großen
Repräsentationssystemen seiner Zeit verpflichtete statische Modell eines hierarchischen
Ordnungsgefüges, in dem, ebenso wie jede Tier- und Pflanzengattung, auch jede menschliche
Wirtschafts- und Gesellungsform einen festbestimmten Platz einnimmt, noch eindeutig über die
dynamischen Momente dominiert. Die Mœurs des Sauvages ameriquains als einen im Hinblick
auf „allgemeine Entwicklungsgesetze“ unternommenen Versuch zu werten, „die Entwicklung der
menschlichen Gesellschaften von dem primitivsten Zustand zur höheren Kultur zu begreifen“,
erscheint überdies nicht nur von daher, sondern auch hinsichtlich Lafitaus eigener Intentionen
verfehlt. Ebenso wie in dem hier kurz referierten Abschnitt seines Werkes geht es Lafitau auch
bei dem die Gesamtanlage seiner Untersuchung bestimmenden Vergleich der Sitten der
amerikanischen Wilden mit denen der antiken Völker nicht um eine Typologie bestimmter
aufeinanderfolgender ökonomischer und gesellschaftlicher Formationen, sondern primär um den
Nachweis seiner Abstammungshypothese; eine systematische Ausarbeitung der seinem
Erklärungsversuch der Wanderungsbewegungen gleichwohl inhärenten Vorstellung einer
progredierenden Entwicklung der Gattung hätte darüber hinaus zu seiner religiösen und
kulturellen Depravationstheorie in Widerspruch gestanden.
4.
Die für Lafitaus Vorgehen insgesamt typische Tendenz, sich soweit wie möglich auf die
Beweisführungen seiner Gegner einzulassen, ohne damit jedoch im engeren Sinn theologische
Positionen preiszugeben, tritt in seiner Religionstheorie am deutlichsten zutage. Seine zunächst
nur auf der abstrakt-logischen Ebene geführte eigene Argumentation steht und fällt dabei mit dem
empirisch erst noch zu erbringenden Nachweis von den Spuren der Verehrung eines Höchsten
Wesens bei allen Völkern und zu allen Zeiten.
Wäre die Religion nämlich tatsächlich nichts anderes als ein Produkt des menschlichen
Geistes - so leitet Lafitau seine Beweisführung ein -, so ließe sich weder das allen Menschen
gemeinsame und auf die Existenz eines vollkommenen Höchsten Wesens hindeutende Gefühl der
Anhängigkeit und der Ohnmacht erklären, noch die gleichermaßen bei allen Völkern zu
findenden strengen Religionsübungen, die schwerlich, wie es gegen die Atheisten gewendet
heißt, nur eines „Hirngespinstes“ wegen eingesetzt worden seien, oder auch nur, wie er gegen die
Deisten argumentierend fortfährt, „um einen Gott zu verehren, von dem man annahm, daß er sich
um nichts kümmerte“. Vielmehr müsse man aus der universalen Verbreitung der
Gottesvorstellungen und des Kultes schließen, daß Gott sich zu Anfang der Zeiten nicht nur den
Stammeltern der Menschen offenbart, sondern sie auch selbst in die kultischen Handlungen
eingewiesen habe, die seiner Verehrung dienten. Diese „in ihrem Ursprung reine und heilige, in
ihren Übungen strenge und in ihrem Ziel erhabene“ Urreligion, die so alt sei wie die Menschheit
selbst, wäre im Verlauf der Geschichte durch die menschlichen Leidenschaften und Laster, durch
die Unwissenheit und den Aberglauben verdorben worden. Anstatt den Schöpfer selbst habe der
von seinen Begierden getriebene Mensch begonnen, nur noch dessen Geschöpfe zu verehren.
Lafitau läßt es allerdings nicht dabei bewenden, diese „merkwürdige Verkehrung“ allein aus
der Erbsünde zu erklären. Da der beschränkte menschliche Verstand Gottes Unendlichkeit und
Vollkommenheit nur unzureichend begreifen könne, sei er seit jeher darauf angewiesen gewesen,
so heißt es an anderer Stelle, sich die Teilaspekte des Göttlichen in bildlicher oder symbolischer
Form vorzustellen. In dem Maße aber, in dem der eigentliche Inhalt dieser Symbole des
Göttlichen in Vergessenheit geriet, vermochten sich die Priester dieser Geheimnisse zu
bemächtigen, um das einfache Volk irrezuleiten und ihre eigenen Interessen durchzusetzen; in
ähnlicher Weise hätten sich auch die großen Gesetzgeber des Altertums, von denen manche
Philosophen behaupteten, sie wären die wahren Urheber der Religion, der göttlichen Mysterien
zur Durchsetzung ihre Ziele bedient.
Die Lehre vom Verfall der den Menschen von Gott selbst gegebenen Urreligion, die ihre reine
Form erst wieder mit der Inkarnation Christi und der Gründung seiner Kirche zurückgewann,
steht im Zentrum von Lafitaus Apologie. Die Konstruktion einer durch menschliche Begierden
und Leidenschaften, durch Unwissenheit, Aberglauben und Idolatrie, durch Priestertrug und
menschliche Gesetzgebung verfälschten Uroffenbarung erlaubt ihm, die gängigsten
religionskritischen Theorien der Aufklärung nicht nur weitgehend zu entschärfen, sondern
überdies sogar in seine eigene Beweisführung einzubauen. Das Problem eines empirischen
Nachweises der Wahrheit des Christentums reduziert sich für ihn aber damit darauf, den Spuren
des einen, reinen und heiligen Ursprungs aller Religionen im „Chaos der Finsternis und der
Verwirrung“ der Glaubensvorstellungen und kultischen Gebräuche der Völker der Antike, Asiens
und Amerikas nachzugehen, sind die heidnischen Religionen seiner Theorie nach doch nicht
mehr als historische Depravationen jenes erst im Christentum erneut zu sich selbst gekommenen
Ursprungs. Die Dogmatik und Sakramentenlehre der katholischen Kirche kann daher das
konzeptuelle Muster seiner vergleichenden Untersuchung der Mythologien und Kultpraktiken der
nicht-christlichen Völker liefern. So glaubt er in den Göttermythen des alten Ägypten, Indiens,
Japans und Mexikos das Mysterium der Heiligen Dreifaltigkeit, in den weiblicher Gottheiten der
Antike Symbolisierungen der nach ihrer jungfräulichen, ihrer hetärischen und ihrer mütterlichen
Seite aufgespaltenen Urgestalt Evas, im römischen und vorderasiatischen Vestalinnentum eine
Präfiguration des Marienkultes und in den weitverbreiteten gemeinsamen Opfermahlzeiten die
christliche Eucharistie wiederzuerkennen. In gleicher Weise dienen ihm die im Sinne einer
solchen interpretatio Graeca et Catholica als verfälschte Überreste der ihrerseits wiederum mit
dem Naturrecht gleichgesetzten Sakramente angesehenen Übergangs- und Reinigungsriten der
antiken und wilden Völker als Paradigmata der christlichen Taufe, der Beichte, der Absolution,
der Krankensalbung, des katholischen Ehezeremonials und der Priesterweihe.
5.
Dem Kapitel „De la Religion“ ist fast die Hälfte der über tausend Seiten zählenden Mœurs des
Sauvages amériquains gewidmet. Verglichen mit der Fülle der zum Beleg der
Depravationshypothese aus der antiken Überlieferung angeführten Beweisstücke spielen in
diesem Abschnitt die der zeitgenössischen Reiseliteratur über Amerika entnommenen
Informationen nur eine marginale Rolle. Um seinen Mutmaßungen auch in dieser Hinsicht eine
haltbare Grundlage zu verschaffen, mußte Lafitau zunächst erklären, weshalb aus den Berichten
der europäischen Reisenden und selbst der Missionare unter ihnen über die Religion der Wilden
so wenig zu erfahren war. Wiederholt verweist er daher auf den Verfall der traditionellen
indianischen Kultur infolge der europäischen Kolonisierung; insbesondere begründet er jenen
Mangel aber damit, daß die meisten europäischen Beobachter den eigentlichen religiösen Gehalt
der indianischen Gebräuche entweder aufgrund ihrer Voreingenommenheit oder aufgrund ihrer
unzureichenden Sprachkenntnisse verkannt hätten:
„Vielleicht hätte ich mich auf eine noch weitere Erörterung einlassen, und die Gleichförmigkeit umständlicher zeigen
können, die sich unter der Religion der Alten und denen Überbleibseln eben jener Religion findet, welche unter den
Wilden in America fortgesetzet worden […] Es ermangelt dem Ansehen nach an nichts, die Vergleichung in ein
helles Licht zu setzen; wenn nur diejenigen, die von den Sitten der Wilden geschrieben, selbige etwas weiter
ausgedehnet, und die, welche sich unter ihnen aufgehalten, in den Grund der Religionsgebräuche mehr Einsicht
gehabt, und nicht nur bloß bei der äußersten Schale stehen geblieben wären.“
Und an anderer Stelle heißt es, ausdrücklich gegen Lahontan gerichtet, dessen Vertrautheit mit
den Sprachen der kanadischen Indianerstämme Lafitau anzweifelt:
„…der erste Blick ist trügerisch. Man muß sich nicht sogleich in die ausführliche Beschreibung der Sitten und
Gebräuche eines Landes einlassen, von dem man noch keine aufgezeichneten Nachrichten hat; zumal wenn man die
Sprache nicht versteht. Eine Wissenschaft, die ein langes Studium erfordert, und selbst vielen unbekannt ist, die
solche inne zu haben vermeinen. Wenigen ist die Bedeutung der Redensarten, die sie doch selbst gebrauchen,
bekannt, wenn sie nicht bis zum Ursprunge der Wörter hinabsteigen, und die Wurzel und mancherlei Wortfügungen
entdecken.“
Diese grundlegende Voraussetzung für das Verständnis einer fremden Kultur hätte allerdings
häufig auch den Missionaren gefehlt:
„Die Ursache der großen Schwierigkeiten, welche die Missionare anfänglich beim Erlernen der Sprache der Wilden
gefunden, war diese, daß sie in diesem Punkt in eben dem Irrtum schwebten, als derjenige war, worin sie sich
hinsichtlich ihrer Sitten befanden. Sie wollten die Wilden nach unseren Sitten und Gebräuchen beurteilen. da sie nun
aber nichts von der Polizei, die unter uns eingeführet, noch von der Religion und weltlichen Regierungsform
[Gouvernement civil] etwas antrafen; so glaubten sie, daß sie ohne Religion, ohne Gesetze und ohne einige
Beherrschungsart [sans forme de République] lebten.“
Das Einfühlen in die Gebräuche und Vorstellungen einer fremden Gesellschaft, die genaue
Beherrschung ihrer Sprache und die Einsicht in den kulturbestimmten, vorurteilsgeprägten
Charakter der eigenen Sehweise - diese methodischen Prinzipien des Fremdverstehens, die
Lafitau hier in Kritik an seinen Vorgängern entwickelt und während seines eigenen Aufenthalts in
Kanada auch in die Tat umgesetzt hat, lassen ihn heute als den vielleicht bedeutendsten Vorläufer
der modernen Feldforschung erscheinen. Ihrer primären Intention nach erweist sich diese ihm als
maßgebliches Verdienst zugerechnete Zuwendung zur Empirie indes als bloßes Nebenprodukt
seiner theologisch-apologetischen Zielsetzungen. Lafitaus langjährige Forschungen unter den
kanadischen Indianerstämmen waren zunächst von dem Bemühen getragen, jene offensichtlichen
Lücken über die religiösen Vorstellungen und Gebräuche der „Wilden“ in der älteren
Berichterstattung zu füllen. Einige biographische Anhaltspunkte sowie die äußeren Umstände
seiner Tätigkeit in Kanada sprechen dafür, daß er seine dortigen Untersuchungen nicht nur
„bewußt getrieben“, sondern auch systematisch vorausgeplant hat. Es kann sogar vermutet
werden, daß sie im Auftrag und mit direkter Unterstützung seines Ordens erfolgten.
Im Unterschied zu den meisten in Kanada tätigen und oft unmittelbar nach ihrer Ordinierung
mit Missionsaufgaben betrauten Ordensgeistlichen hatte Lafitau innerhalb der kirchlichen
Ämterhierarchie bereits einen festen Platz inne, als er 1712 nach Neu-Frankreich gelangte. Am
16. Mai 1681 in Bordeaux geboren, war er 1696 der Gesellschaft Jesu beigetreten und hatte nach
Abschluß seiner theologischen Ausbildung zunächst selber einige Jahre Philosophie und Rhetorik
gelehrt. In Poitiers, La Flèche und Paris vervollständigte er später seine Studien. Da er über
seinen jüngeren Bruder Pierre François, einem Günstling des Kardinals Dubois, über
einflußreiche Beziehungen verfügte, kann als sicher gelten, daß die Aufnahme seiner Tätigkeit in
Kanada nicht, wie in vielen anderen Fällen, gegen seinen Willen, sondern sogar auf sein eigenes
Betreiben hin erfolgte. Lafitau hielt sich in Kanada insgesamt fünf Jahre auf. Die meiste Zeit
verbrachte er in Sault de Saint-Louis, einer Missionssiedlung am Südufer des St. Lorenz-Stromes,
die im 17. Jahrhundert zur Missionierung der Huronen gegründet worden war. Nach Abschluß
seiner Feldstudien kehrte er 1717 nach Frankreich zurück. Ein Jahr später veröffentlichte er eine
kleine Abhandlung über die Entdeckung der Ginseng-Wurzel in Nordamerika, durch die er in den
französischen Gelehrtenkreisen bekannt wurde. Von anderen Aufgaben weitgehend entbunden,
schrieb er in den folgenden Jahren sein 1724 in Paris veröffentlichtes Hauptwerk, das er dem
Herzog von Orléans widmete.
Von seiner außerordentlichen Belesenheit, seinen weitläufigen Sprachkenntnissen, seiner
Vertrautheit mit den klassischen Werken der Antike und seiner Kenntnis der zeitgenössischen
Philosophie her entsprach Lafitau weit eher dem Typus des Schreibstubengelehrten als dem eines
praktisch tätigen Priesters und Missionar. In der Tat finden sich in seinem Werk auch kaum
Hinweise auf seine eigene Bekehrungsarbeit. Es kann daher angenommen werden, daß er die ihm
während seines Aufenthaltes in Sault de Saint-Louis zur Verfügung stehende Zeit ausschließlich
auf das Sammeln ethnographischer Informationen verwandte. Wahrscheinlich hatte er auch den
größten Teil seiner Thesen bereits entwickelt, bevor er im Auftrag seines Ordens nach Neu-
Frankreich aufbrach. Die Zielgerichtetheit seiner Untersuchungen und die Fülle des von ihm in
dem - gemessen an den kaum vorhandenen Möglichkeiten, auf die Arbeiten anderer
zurückgreifen zu können - kurzen Zeitraum von fünf Jahren zusammengetragenen
ethnographischen Materials ließen sich anders kaum erklären. Der große Wert seiner
Beobachtungen aber verdankte sich seinen intensiven eigenen Erfahrungen nicht weniger als
seiner klassischen Bildung und systematischen Vorgehensweise. Durch seine detaillierte Kenntnis
der griechischen und römischen Literatur, insbesondere aber der Berichte eines Herodot, eines
Strabon, eines Xenophon oder eines Tacitus über die Randvölker der antiken Oikumene war sein
Blick für die Eigenheiten der Sitten und Gebräuche geschärft, die er unter den kanadischen
Huronen und Irokesen selbst vor Augen hatte. Lafitau hat die Methode, derer er sich bei seinen
Untersuchungen bediente, selbst als eine der wechselseitigen Erhellung beschrieben:
„Ich begnügte mich nicht allein damit, den Charakter der Wilden kennenzulernen, und mich von ihren Gewohnheiten
und ihren Gebräuchen zu unterrichten; ich habe mich vielmehr bemüht, in diesen Gewohnheiten und Gebräuchen die
Spuren des entferntesten Altertums zu suchen, ich habe mit Sorgfalt diejenigen ältesten Schriftsteller gelesen, die
von den Sitten, Gesetzen und Bräuchen der ihnen einigermaßen bekannten Völker handelten; zwischen den Sitten der
einen und der anderen habe ich Vergleiche angestellt; und ich gebe zu, daß, wenn die alten Schriftsteller mir einiges
Licht gegeben, einige glückliche Mutmaßungen in Ansehung der Wilden zu wagen, mir die Gebräuche der Wilden
einiges Licht gaben, um einige Dinge leichter zu verstehen und zu erklären, die die Alten in ihren Schriften
anführen.“
Zwar vermochte sich Lafitau die Gleichartigkeit der Sitten der antiken und der amerikanischen
Völkerschaften nur aus einer Stammbaumhypothese zu erklären, die - wie gezeigt - den
herkömmlichen Theorien über die Herkunft der Indianer weitgehend verhaftet blieb und überdies
mit seinen theologischen Ansichten glänzend in Übereinstimmung zu bringen war; andererseits
lieferte ihm diese spekulative Gleichsetzung aber auch den konzeptualen Rahmen für eine
systematische Zuordnung und Deutung seiner eigenen Beobachtungen, die er ihrerseits wiederum
als Mittel für eine kritische überprüfung des Wahrheitsgehalts der antiken Quellen und sogar der
alttestamentarischen Überlieferung verwandte. Darüber hinaus eröffnete sie ihm überhaupt erst
die Möglichkeit zielbewußter ethnographischer Forschung - Lafitau glaubte zu wissen, wonach er
zu suchen hatte.
6.
Bei einer auf den inneren Aufbau der Mœurs des Sauvages ainériquains aufmerksamen
Lektüre wird deutlich, wie sich das Interesse an der realen Lebenswelt der kanadischen
Indianerstämme aus der theologischen Eingebundenheit allmählich zu lösen und zu
verselbständigen beginnt. Beschränkt sich der Beitrag aus Lafitaus eigenen Forschungen unter
den Huronen und Irokesen in dem umfänglichen, von gelehrten Querverweisen auf die
Mythologien und Kultpraktiken der alten Ägypter, Phönizier, Griechen und Römer, der Azteken,
der Peruaner, der Kariben und der Brasilianer geradezu überquellenden Abschnitt über die
Religion noch auf wenige Seiten, so treten ausschweifende Exkurse dieser Art in den sich
anschließenden Kapiteln über die Regierungsart, die Heiratsbräuche, die Erziehungsformen, die
Wirtschafts- und Ernährungsweise, das Alltagsleben, die Kriegsbräuche, die medizinischen
Kenntnisse, die Begräbnisriten und die Sprachen der amerikanischen Wilden vor den während
seines eigenen Aufenthalts in Kanada gesammelten Beobachtungen zunehmend in den
Hintergrund. Mit Hilfe der Methode der wechselseitigen Erhellung gelangt Lafitau gerade in
diesen Teilen seines Werkes zu Einsichten in die soziale und politische Organisation, die
Wirtschaftsform und die materielle Kultur der kanadischen Indianerstämme, die weit über sein
ursprüngliches Ziel des Nachweises der Universalität des Eingottglaubens hinausführen. Dabei
erweist sich die ihm zur Verfügung stehende Begrifflichkeit häufig nicht mehr in der Lage, der
Komplexität der in ihren Einzelzügen ansonsten richtig beschriebenen Sachverhalte gerecht zu
werden. Dies läßt sich etwa exemplarisch aufzeigen an seiner Darstellung dessen, was wir heute
als die mutterrechtliche Struktur der huronischen und irokesischen Gesellschaft bezeichnen
würden.
Ausgehend von Herodots Bericht über die Gynaikokratie der Lykier sowie im Anschluß an
eine Wiedergabe der bei Herakleides Ponticus und Nicolaus Damascenus über diesen
Volksstamm zu findenden Nachrichten, stellt er in dem Kapitel über den Ursprung der Völker
Amerikas zunächst die entsprechenden, ebenfalls auf eine Frauenherrschaft bei den Irokesen und
Huronen hindeutenden Züge zusammen: die Weitergabe des Besitzes, des Namens und des
sozialen Ranges in der Mutterlinie; die Rolle der Frauen im Stammesrat bei Entscheidungen über
Krieg und Frieden und beim Eingeben von Ehebündnissen; die Zurechnung der Kinder zum
Langhaus („cabane“) der Mutter; das Erlöschen einzelner genealogischer Linien beim Fehlen
weiblicher Nachkommenschaft usf., um mit Hilfe dieser in direkter Beobachtung gewonnenen
Kenntnisse sogleich die Angaben der genannten antiken Autoren zu überprüfen und
richtigzustellen. So bemängelt er etwa an Herakleides und Herodot, daß sie durch ihre Berichte
über die Lykier den Eindruck erweckt hätten, die lykischen Frauen führten eine Art
monarchischen oder aristokratischen Regimes, wogegen schon allein die Tatsache spräche, daß in
den historisch verbürgten Quellen nur von männlichen Königen die Rede sei. Dieser Fehler ließe
sich aber leicht daraus erklären, daß die Frauen, wie man am Beispiel der Irokesen sehen könne,
die „wirkliche Autorität“ insofern in Händen hätten, als sie die Häuptlinge innerhalb ihrer
Familien wählten, „um diese Autorität zu repräsentieren und vor dem Ältestenrat [sénat]
gleichsam als ihre Treuhänder aufzutreten, wie ich es im Folgenden zeigen werde, wenn ich von
ihrer Regierungsart spreche. Die Frauen wählen diese Häuptlinge unter ihren Brüdern
mütterlicherseits oder ihren eigenen Kindern; und es sind wiederum die Söhne dieser oder ihre
Neffen, welche ihre Erbfolge in der Cabane der Mutter antreten.“
Was Lafitau in dem hier referierten kurzen Abschnitt zunächst abstrakt bestimmt und in dem
Kapitel Du Gouvernement politique in weiteren Einzelzügen beschreibt, ist - um die
Terminologie der neueren Ethnologie zu verwenden - eine Gesellschaft mit matrilinearer
Deszendenz und matrilokaler Residenz, in der die Frauen verhältnismäßig große Möglichkeiten
der politischen Einflußnahme haben, wenngleich die eigentlichen Träger und Ausführenden der
gemeinsam getroffenen Entscheidungen die Männer sind. Zieht man ferner in Betracht, daß die
Ausbeutung der Arbeitskraft der Frauen, die - gemäß dem von Lafitau an anderer Stelle
ausführlich beschriebenen Prinzip der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung - die
Felderbestellung und die Nahrungszubereitung allein zu besorgen hatten, während die Männer
den eher marginalen Beschäftigungen des Hausbaus, der Jagd und der Kriegsführung nachgingen,
eine der wesentlichen ökonomischen Grundlagen der irokesischen Gesellschaft darstellte, so zeigt
dies noch mehr, wie verfehlt es wäre, von einer „Frauenherrschaft“ bei den Irokesen zu reden.
Obgleich Lafitau die Grundzüge dieser Gesellschaftsform erfaßt hat und von daher zurecht
Herakleides und Herodots Vorstellung von einer bloßen Umkehrung der Machtverhältnisse in
einer mutterrechtlichen Gesellschaft kritisiert, hält er, vermutlich mangels einer treffenderen
Bezeichnung, an dem Begriff „Ginéocratie ou Empire des femmes“ fest.
Ähnlicher Art sind die Schwierigkeiten, die sich ihm bei der Darstellung des Clansystems der
Irokesen stellen. Die ihm aus dem eigenkulturellen Erfahrungsbereich zur Verfügung stehenden
Begriffe tribu und famille, denen er zur Bezeichnung der lokalen Verwandtschaftseinheiten den
der cabane hinzufügt, erweisen sich als unzureichend für eine der komplexen unilinearen
Phratrie-, Clan- und Subclanstruktur dieser Gesellschaft adäquaten Beschreibung; zudem grenzt
er die von ihm zur Darstellung der sozialen Organisation verwendeten Bezeichnungen nur
unscharf voneinander ab, so daß es bisweilen geschieht, daß er sie selber miteinander
verwechselt.
Freilich war es wesentlich historisch bedingt, wenn Lafitau eine begriffliche Durchdringung
des den Gegenstand seiner Untersuchungen bildenden Stoffes nur unvollständig gelang, mußte er
sich doch, ohne auf nennenswertere Vorarbeiten zurückgreifen zu können, die Ansätze eines
wissenschaftlichen Begriffsinstrumentariums erst selber schaffen. Um so erstaunlicher sind die
Resultate, zu denen er in Anwendung der vergleichenden Methode gelangte. Dabei läßt sich im
übrigen, ähnlich wie in Lahontans Nouveaux Voyages dans l'Amérique Septentrionale, deutlich
verfolgen, wie der Wert seiner ethnographischen Beobachtungen in dem Maße zunimmt, in dem
das Dargestellte nurmehr in mittelbarem Bezug steht zu den Thesen, deren Beleg die Abhandlung
vor allem gilt. So gibt er gerade in den seine expliziten Grundpositionen nur am Rande
berührenden Abschnitten seines Werkes Beschreibungen und Interpretationen der
klassifikatorischen Verwandtschaftsnomenklatur, der Ökonomie und der Ergologie der Irokesen,
die an Sorgfalt und Genauigkeit die aller früheren Berichte übertreffen und in weiten Bereichen
die Ergebnisse der über ein Jahrhundert später erfolgten Feldforschungen Lewis H. Morgans
unter den Irokesen vorwegnehmen. Wie sehr das Bild der indianischen Sozialstrukturen und
Lebensformen, das Lafitau in den Mœurs des Sauvages amériquains entwarf, der Wirklichkeit
tatsächlich entsprach, können wir im Hinblick auf die Kenntnisse der modernen Ethnologie erst
heute ermessen.
7.
Mochte Lafitau zunächst auch nicht mehr beabsichtigt haben, als die Angriffe der Deisten und
Atheisten gegen die christliche Religion zu widerlegen, so gelangte er im Verlauf seiner
Feldstudien doch zu Einsichten in die soziale Organisation der kanadischen Indianerstämme, die
den Rahmen seines ursprünglichen Vorhabens sprengten. Jene von den Philosophen in Berufung
auf die Berichte über die Völker der neuen Welt vorgebrachte Kritik hatte indes der Kirche nicht
weniger gegolten als den sich noch weitgehend theologisch begründenden Institutionen des
Feudalismus. Reisebeschreibungen wie die Lahontans hatten das utopische Bild einer von
Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung freien und allein von den menschlichen Bedürfnissen
bestimmten egalitären Gesellschaft evoziert. Lafitau war nun allerdings zu sehr Theoretiker, als
daß er nicht klar erkannt hätte, wie sich der empirische Reichtum seiner Untersuchungen nicht
nur zur Verteidigung des christlichen Glaubens, sondern auch im Sinne einer Apologie der durch
die Kirche legitimierten eigenen Gesellschaftsordnung nutzen ließ. „Man hat den Wilden
Amerikas dadurch ein nicht geringeres Unrecht angetan“ - so hält er den herkömmlichen Urteilen
über die amerikanischen Völkerschaften entgegen - „daß man sie als Barbaren ohne Gesetze und
ohne gesittete Ordnung [Police] darstellte, als durch die Behauptung, sie besäßen kein Gefühl für
die Religion, und man fände davon bei ihnen nicht einmal die geringste Spur.“ Nachzuweisen,
daß Herrschaft in der Form der institutionellen Einbindung menschlicher Bedürfnisse unter den
gegen die feudale abendländische Gesellschaftsordnung so häufig in den Zeugenstand gerufenen
Völkern der Neuen Welt ebenso anzutreffen sei wie in Europa selbst, ja, daß die Vorstellung einer
von äußeren Zwängen und einer gesetzten Ordnung freien Gesellschaft Illusion sei, war neben
der Verteidigung der Religion das zweite, und mit dem ersten eng verknüpfte Ziel seiner
voluminösen Abhandlung.
Nachdrücklich verweist er daher auf den aristokratischen Charakter der Stammesverfassung
der Irokesen, auf die Rangunterschiede zwischen den Angehörigen einzelner
Verwandtschaftsgruppen und auf die hierarchische Dreiteilung der Gesellschaft in Edle, Gemeine
und Sklaven; in aller Ausführlichkeit beschreibt er die rigorosen Formen der Ahndung von
Blutverbrechen innerhalb des Stammes und stellt die stete Gefährdung und Unsicherheit des
Einzelnen als die Kehrseite einer gesellschaftlichen Ordnung heraus, die anstelle geschriebener
Gesetze nur das Gesetz der gegenseitigem Vergeltung kennt; ebenso nachdrücklich betont er die
ökonomische Bedeutung und den Allianzcharakter der Ehe bei den Irokesen, die, wie er anmerkt,
auch bei den „Wilden“ nur in den wenigsten Fällen aus reiner Zuneigung geschlossen wird.
Doch beschränkt sich sein Vorhaben nicht allein darauf, anhand dieser und ähnlicher Beispiele
das Vorkommen direkter und indirekter Herrschafts- und Unterdrückungsformen auch bei den
scheinbar egalitären kanadischen Indianerstämmen aufzuzeigen. Lafitau strebte nichts weniger
an, als auf der Grundlage des ihm zur Verfügung stehenden historischen und ethnographischen
Materials in Widerlegung seiner Gegner einen Katalog der bei allen Völkern der Gegenwart und
der Vergangenheit vorzufindenden Institutionen aufzustellen. Es ist die Kapiteleinteilung der
Mœurs des Sauvages amériquains selbst, die dem Prinzip einer anthropologischen Gliederung der
menschlichen Institutionen folgt. Sie impliziert die Aussage, daß sich die Gebräuche der
Menschen, „die überall die gleichen sind und geboren werden mit den gleichen guten und
schlechtenEigenschaften“, um eine begrenzte Anzahl von Kernproblemen gruppieren lassen:
Religion, Regierungsart und Heirat; Erziehung, Arbeitsteilung und Krieg; Gesandtschaften und
Handel; Gewerbe, Jagd und Fischfang; Zeitvertreib und Spiele; Krankheiten, Begräbnis- und
Trauerriten; die Sprache. „Damit ist das moderne anthropologische Bild in großen Zügen
gegeben“, so kommentiert W. E. Mühlmann in seiner Geschichte der Anthropologie diesen seiner
Meinung nach grundlegenden Beitrag, den Lafitau zur Herausbildung der Ethnologie leistete:
„der Mensch als ein Wesen, das von Natur und Geschichte aus Religion besitzt und in sozialen
Ordnungen lebt. Es ist keine christliche Religion und dennoch Religion; es sind keine
naturrechtlichen Ordnungen und dennoch Ordnungen.“
In der Tat enthält Lafitaus Werk die durch ein weitläufiges ethnographisches und historisches
Anschauungsmaterial belegte, bis dahin vielleicht umfassendste Zusammenstellung global
verbreiteter Institutionen. Gleichwohl bleibt das von ihm entworfene „anthropologische Bild“
noch wesentlich eingebunden in eine theologisch begründete geschichtsphilosophische
Konstruktion, wird doch die schon der Philosophie der Renaissance und der Frühaufklärung
geläufige Frage nach dem historischen Entstehungsort und der Funktion gesellschaftlicher
Ordnung dadurch bewußt ausgeklammert, daß Lafitau sie als den Menschen von Gott zusammen
mit der Uroffenbarung gegeben ansieht und sie damit in das Wesen des Menschen und der
Schöpfung selbst verlegt. Religion und gesellschaftliche Ordnung bildeten seiner Auffassung
nach eine ursprüngliche Einheit, deren Auseinandertreten im Lauf der menschlichen Geschichte
er auf der einen Seite mit dem Prozeß der Depravation der reinen Urreligion und auf der anderen
Seite mit dem Verfall der allen Menschen gemeinsamen gesellschaftlichen Ordnung und ihrer
religiösen Rückbindung gleichsetzt:
„Die Religion hatte vor Zeiten in alles Einfluß, was die Menschen taten, insbesondere in ihre öffentlichen
Handlungen, und war beinahe die Triebfeder von allem. Dieses würde von den Alten leicht zu erweisen sein, und die
Spuren davon erscheinen noch in den Feierlichkeiten der Wilden. Da aber heutzutage das Gefühl der Religion fast
ganz erloschen, so sind diese Religionsverrichtungen nichts weiter als Gebräuche, bloße bürgerliche Gewohnheiten
[des coûtumes purement civiles], zu deren Beibehaltung sie weiter keinen Beweggrund haben, als daß sie solche von
ihren Vorfahren übernommen und, damit ich mich ihrer Art gemäß ausdrücke, daß ihr Land also gemacht sei. Wie
weit gestattet Gott nicht, daß die Menschen, so verständig sie auch sein mögen, verblendet werden, wenn sie das
Licht der Vernunft ihrer Begierde weichen lassen, und der Tierhaftigkeit ihrer Leidenschaften.“
Theologie, Geschichtsphilosophie und Anthropologie sind bei Lafitau noch nicht
auseinandergetreten. Sie kulminieren und finden zugleich ihr einigendes Band in seiner Theorie
der „säkularisierten Institution“. An der Idee von der ursprünglichen Güte des Menschen
festhaltend, diese aber zugleich eng an die Einhaltung der mit dem Naturrecht ineinsgesetzten
göttlichen Gebote knüpfend, vermag er solchermaßen als Fürsprecher eines hierarchischen
Institutionenaufbaus gegen die Aufklärung in ihren egalitaristischen Tendenzen zu kämpfen, und
kann sich dabei dennoch, ebenso wie er sich schon in seiner Methodik der von der Aufklärung
bereitgestellten wissenschaftlichen Mittel bediente, auf die im Zentrum der frühbürgerlichen
Gesellschaftkritik stehende naturrechtliche Argumentation stützen. Die ideologische Stoßrichtung
seiner geschichtsphilosophischen Konstruktion ist evident: Erst dort, wo die Institutionen erneut
die Sanktion der Religion erhalten, erscheint jener verhängnisvolle gattungsgeschichtliche
Verfallsprozeß, von dem die zu „bloßen bürgerlichen Gewohnheiten“ verkommenen Sitten der
Wilden zeugen, aufgehoben. Vom Apologeten der christlichen Religion wird Lafitau damit zum
Apologeten der zeitgenössischen feudalen Gesellschaftsordnung: Wer die Religion kritisiert,
greift zugleich auch die Fundamente des eigenen Staats- und Gesellschaftswesens an, ebenso wie
sich umgekehrt derjenige eines Verbrechens gegen die Religion schuldig macht, der die
Rechtmäßigkeit einer von der Kirche abgesegneten Gesellschaftsordnung anzweifelt. Die
Zueignung der Mœurs des Sauvages ameriquains an den Herzog von Orléans, dessen Vater
während seiner Regentschaft für die Restauration der alten Feudalordnung eingetreten war,
entbehrt insoweit keineswegs eines inneren Sinnbezugs.
8.
Die Absicht, durch den empirischen Nachweis der universalen Verbreitung religiöser,
politischer und sozialer Institutionen die Aufklärung mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, blieb
nicht ohne Rückwirkungen auf das Bild des Wilden, das Lafitau in seinem Werk entwirft. Der
allgemeinen Konvention folgend, hat er diesem Thema ein eigenes, Idée ou caractere des
Sauvages en General überschriebenes Kapitel gewidmet. Es enthält dem ersten Anschein nach
nicht mehr als eine Wiederholung der aus der älteren Reiseliteratur bereits bekannten
Beurteilungsstereotypen, der positiven ebenso wie der negativen, die er hier scheinbar
unverbunden einander gegenüberstellt. Gleichwohl folgt ihre Anordnung einem inneren Prinzip,
das wiederum in Zusammenhang steht mit seiner religiösen und sozialen Depravationstheorie. In
Lafitaus Bestimmung des Wilden deutet sich ein erster grundsätzlicher Bruch mit den
herkömmlichen Vorstellungen an, ein Bruch, der sich paradoxerweise nicht zuletzt seiner eher
traditionalen theologischen Ausgangsposition verdankt.
Was ihre körperliche Erscheinungsform, ihr intellektuelles Vermögen und ihre
gesellschaftliche Ordnung anbelangt, handele es sich bei den amerikanischen Wilden - so hält er
zunächst ausdrücklich fest - keineswegs um halbtierische Geschöpfe, die, wie man früher glaubte,
„gleich den wilden Tieren ohne Gesellschaft in den Wäldern lebten“, sondern vielmehr um
Menschen, die mit ebenden körperlichen Eigenarten und geistigen Fähigkeiten ausgestattet seien
und in ebensolchen religiösen und sozialen Ordnungen lebten wie alle anderen auch: „…sie sind
wohlgewachsen, von gutem Temperament, stattlich, stark und geschickt“; „sie besitzen einen
guten Verstand, eine lebhafte Einbildungkraft, eine schnelle Auffassungsgabe und ein
bewundernswertes Gedächtnis“; „in ihren eigenen Angelegenheiten denken sie richtig und sogar
besser als das einfache Volk bei uns“; vor allem aber „haben sie wenigsten die Spuren einer alten
und erblichen Religion, benebst einer Regierungsform“. Lafitau betont diese anthropologischen
Gemeinsamkeiten jedoch nur, um die charakterlichen Besonderheiten der Wilden im Blick auf die
bei allen Menschen anzufindenden „guten und bösen Eigenschaften“ um so stärker hervorheben
zu können:
„In ihren Handlungen sind sie kaltsinnig und erweisen dabei eine solche Gleichgültigkeit, daß unsere Geduld
dadurch ermüdet würde. Soviel den Punkt der Ehre und Hoheit der Seele anbelangt, so kommen sie niemals in Eifer,
scheinen allezeit Herren ihrer Affekte [maitres d'eux-mime] und niemals zornig zu sein; sie haben ein erhabenes und
stolzes Herz, einen Mut, der jeder Probe standhält, eine unerschrockene Tapferkeit; in den grausamsten Martern eine
Beständigkeit, die in der Tat heldenmütig ist; eine Gleichheit des Gemüts, welche widrige Zufälle und üble Ausgänge
nicht zu ändern vermögend sind. Unter sich selbst beobachten sie eine Art von Höflichkeit [une espece de civilité],
wovon sie alle Wohlanständigkeit beibehalten. Ferner haben sie vor ihren Ältesten eine Art von Ehrerbietung, und
gegen ihresgleichen eine solche Achtsamkeit [une déférence pour leurs égaux], die etwas überraschendes hat, und
die man kaum mit dieser Unabhängigkeit und Freiheit, worauf sie so außerordentlich eifersüchtig zu sein scheinen,
zusammenreimen kann. Sie sind zwar nicht schmeichelnd und überhäufen niemand mit großen
Freundschaftsversicherungen; dem ohngeachtet aber sind sie gütig, gesprächig und üben gegen Fremde und Elende
eine solche mildtätige Gastfreundschaft aus, daß sie dadurch beinahe alle europäischen Nationen beschämen. Diese
schönen Eigenschaften sind aber auch mit vielen Fehlern vermischt. Denn sie sind leichtsinnig und flüchtig,
Müßiggänger, im äußersten Grad undankbar, argwöhnisch, verräterisch, rachgierig, und um so gefährlicher, je mehr
sie ihre Absichten verbergen und ihre Gefühle lange Zeit bei sich behalten können [dautant plus dangereux qu'ils
sçavent mieux couvrir, & qu'ils couvent plus longtemps leurs ressentiments]: Gegen ihre Feinde sind sie grausam, in
ihren Ergötzlichkeiten viehisch, lasterhaft sowohl aus Unwissenheit als auch aus Bosheit. Der Mangel aber, den sie
beinahe an allen Dingen haben, gibt ihnen über uns den Vorzug, daß ihnen alle Ausschweifungen des Lasters, welche
Überfluß und Üppigkeit einfuhren, unbekannt sind.“
Lafitau sucht die hervorstechendsten positiven Eigenschaften der Wilden und ihre negativen
Züge sorgfältig voneinander zu trennen. Hebt er ihre Zielstrebigkeit, ihren Gleichmut, ihre
außerordentliche Tapferkeit ihre Selbstbeherrschung und ihre Zurückhaltung im offenen
Bezeugen von Haß- oder Liebesgefühlen zunächst lobend hervor, so tadelt er in unmittelbaren
Anschluß daran die Eigenschaften, die als das genaue Gegenstück der erstgenannten erscheinen:
die Undankbarkeit, die Rachsucht, die Grausamkeit und die lasterhaften Vergnügen der Wilden.
Seine Aufzählung der positiven und der negativen Charakterzüge der Wilden zentriert sich damit
aber im Grunde nur um ein Problem: das einer nur äußerlichen Beherrschung starker emotionaler
Regungen, die als noch nicht verinnerlichte umso gewaltsamer zum Durchbruch gelangen, sobald
sich ihnen nur die Gelegenheit bietet. Anders als Lahontan und die meisten seiner Vorgänger
leitet Lafitau die besonderen Tugenden der Wilden nicht aus der Freiheit von Herrschaft und
äußerem Zwang ab. Im Gegenteil: seine Verwunderung über den seiner Ansicht nach kaum
erklärbaren Gegensatz zwischen der gegenseitigem „Höflichkeit“ und „Achtsamkeit“ der Wilden
und jener „Freiheit und Unabhängigkeit“, über die sie doch ansonsten so eifersüchtig wachen,
deutet darauf hin, daß er gerade den hohen Grad persönlicher Freiheit des Einzelnen als die
Ursache der moralischen Verkommenheit der Wilden ansieht. Ihre gesellschaftliche Verfassung
erscheint auf der einen Seite durch das nur noch rudimentäre Vorhandensein religiös fundierter
sozialer Institutionen gekennzeichnet, dem auf der anderen Seite die Notwendigkeit einer zwar
starken, aber doch nur oberflächlichen Kontrolle institutionell nurmehr unzureichend
eingebundener Affekte entspricht. Allein dem Mangel: der objektiven Armut ihrer Kultur,
schreibt er daher zu, daß sich bei den Wilden, die ja, wie es an anderer Stelle heißt, „vom Neid,
der Begierde, der Rachsucht und anderen Leidenschaften ebenso getrieben werden wie die
übrigen Menschen“, die allen Menschen gemeinsamen „guten und bösen Eigenschaften“ noch
gegenseitig die Waage halten. In nuce enthält Lafitaus Bestimmung des Wilden also bereits eine
durchgängig affirmative Theorie des zivilisatorischen Prozesses.
Gleichwohl hat er sich von der noch für seine Vorgänger kennzeichnenden Fixierung auf die
europäische Gesellschaftsordnung als den optischen Brennpunkt einer sei es positiven, sei es
negativen Verzeichnung der „Wilden Völker“ bereits weit entfernt. Gerade durch seine Theorie
der säkularisierten Institution gelingt es ihm, die starre Entgegensetzung von Kultur- und
Naturzustand zu überwinden. Zugleich mit der Geschichtlichkeit der Wilden erkennt Lafitau auch
die Individualität der einzelnen indianischen Kulturen an. Sein Bild des Wilden übertrifft die
früheren an Differenziertheit bei weitem. Nicht von ungefähr stellt er daher in Zusammenfassung
seiner Ausführungen über den „Charakter der Wilden im allgemeinen“ in Frage, ob es ein solches
einheitliches Bild des Wilden überhaupt gibt:
„Dieses ist nun der allgemeine Charakter aller barbarischen Nationen in America, die uns am bekanntesten sind, die
Peruvianer und Mexikaner ausgenommen, welche in Betracht der andern als gesittet [policées] angesehen werden
können. Das Gemeinsame, das sie untereinander haben, hindert nicht, daß nicht jede Nation unter ihnen etwas
besonderes Eigenes habe. Es sei nun in ihrem Charakter, gewissen Gesetzen oder unterschiedenen Sitten, wodurch
eine vor der anderen kennbar ist.“
Lafitau hat also „den Kulturunterschied einzelner Völker und das Individuelle einzelner
Kulturen schon klar erkannt“, so kommentiert K. Kälin. Und W. N. Fenton fügt hinzu: „He
transformed generic savages in specific Indians.“
Die Vermenschlichung der Wilden und die Spezifizierung der indianischen Kulturen - dieser
doppelte Bruch mit dem herrschenden Bild vom Wilden, der sich in Lafitaus Darstellung
abzeichnet, läßt sich indessen ebenfalls unschwer aus seinen theologischen und theoretischen
Grundpositionen ableiten. An das theologische Dogma vom gemeinsamen Ursprung der
menschlichen Rassen gebunden, mußte Lafitau einerseits die Vorstellung von der Tierhaftigkeit
der Wilden ablehnen, konnte sie aber andererseits nicht als Repräsentanten eines geschichtslosen
und paradiesischen Urzustandes zeichnen, ohne damit den Gegnern der Religion neue Argumente
an die Hand zu geben. Lafitau löste dieses Problem dadurch, daß er die amerikanischen
Völkerschaften zu Abkömmlingen der von der reinen Ur-Religion und -kultur ihrerseits bereits
weit entfernten Urbevölkerung Griechenlands und Kleinasiens erklärte. Um seine
Abstammungshypothesen zu belegen, mußte er daher notwendig die Besonderheiten einzelner
indianischer Kulturen herausstellen. Diese Gleichsetzung hatte indes Konsequenzen, die ihn auch
in diesem Fall weit über sein ursprüngliches Ziel hinausführten, barg sie doch angesichts der
zeitgenössischen Verherrlichung der Antike die Gefahr einer erneuten Idealisierung der Wilden in
sich. Lafitau konnte es also nicht dabei bewenden lassen, nur die Wilden zu entmystifizieren.
Anhand seiner eigenen ethnographischen Beobachtungen unternahm er daher den kühnen
Versuch, gleichsam in einem Prozeß der Rückkoppelung mit dem Bild der Wilden zugleich auch
das herkömmliche Bild der Antike zu korrigieren. Entsprechende Ansätze finden sich in seinem
Werk durchgängig. So vergleicht er etwa die Ratsversammlung der „am Boden gleich den Affen
hockenden und mit ihren Knien fast die Ohren berührenden“ Irokesen mit dem römischen Senat
„wie er war zu der Zeit, als Rom einen Cincinnatus oder Serranus vom Pflug wegholte, um sie zu
Konsuln oder Diktatoren zu machen“. Wiederholt ist die Rede von der „viehischen Brutalität“ der
homerischen Helden und der alten Römer, die an Grausamkeit den Irokesen und Huronen in
nichts nachgestanden hätten. Und die sagenhaften Eroberer des Goldenen Vlieses mit ihrem „von
einem Eingeborenenkanu kaum zu unterscheidenden berühmten Schiff Argo“ findet er ein
anderes Mal zum Verwechseln ähnlich „mit einer Horde zerlumpter und erbärmlicher Wilder“.
Selbst noch Herakles, der, wie es in der Argonautensage heißt, „in den Wäldern verschwindet, um
sich, nachdem er sein Ruder verloren hat, aus einer jungen Fichte ein neues zu schnitzen, und der
jedes Mal, wenn er an Land geht um ein Lager aufzuschlagen, unter freiem Himmel auf einem
Bett aus Laub und Zweigen schläft; er ist, in allen seinen Formen, ein Wilder und nicht mehr.“
Zwar war Lafitau nicht der erste zeitgenössische Autor, der die Sitten und
Glaubensvorstellungen der exotischen Gesellschaften mit denen der Völker der Antike verglich;
was ihn von seinen unmittelbaren Vorläufern wesentlich unterscheidet, ist jedoch gerade dieser
Versuch, in Umkehrung des herkömmlichen Verfahrens seine eigenen Erfahrungen unter den
kanadischen Indianerstämmen dazu zu verwenden, die Antike in einem neuen Licht erscheinen zu
lassen. Erst dieser doppelte Prozeß der Entmystifizierung - der Vermenschlichung und
Spezifizierung der Wilden auf der einen Seite und der Entgöttlichung bzw. Entheroisierung der
vorbildhaften Gestalten der abendländischen Mythologie und Geschichte auf der anderen Seite -
erweist sich als die Bedingungsmöglichkeit der „anthropologischen Perspektive“, die er, wie
Michéle Duchet in ihrem grundlegenden Werk über die Anthropologie der französischen
Aufklärung bemerkt, mit den Mœurs des Sauvages amiriquains, comparies aux mœurs des
premiers temps der philosophischen Reflexion erschloß.
Konservativer und kritischer Gehalt der frühen Ethnologie
1.
Als Begründer der vergleichenden Völkerkunde ist Lafitau erst zu Beginn dieses Jahrhunderts
wiederentdeckt worden. Die Wertschätzung, die seinem lange Zeit in Vergessenheit geratenen
Werk heute entgegengebracht wird, geht wesentlich auf die wissenschaftshistorischen Studien des
französischsprachigen Ethnologen Arnold van Gennep zurück. Vor dem Hintergrund der
jahrzehntelangen Stagnation ethnologischer Forschung in Frankreich und der auf diesem Gebiet
zur gleichen Zeit in England und Deutschland erreichten Fortschritte wollte van Gennep am
Beispiel Lafitaus aufzeigen, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit den sog. primitiven
Gesellschaften auf eine genuin französische Tradition zurückzuführen sei. Ein kontinuierlicher
und bewußter Traditionszusammenhang ist indes nicht nachweisbar. Erst die Entwicklung, die die
Ethnologie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in ihrer evolutionistischen und in ihrer
kulturhistorisch-diffusionistischen Ausrichtung nahm, ließ Lafitau als einen maßgeblichen
Vorläufer erscheinen. Doch knüpfte keine der großen Schulrichtungen unmittelbar an sein Werk
an. So bezieht sich etwa Lewis H. Morgan, der seine für die Herausbildung der amerikanischen
Ethnologie und des Evolutionismus wegweisenden Feldforschungen wie Lafitau unter den
Irokesen betrieb und wie dieser die Abfolge in der Mutterlinie als das bestimmende
Strukturprinzip dieser Gesellschaft erkannte, in keiner seiner Schriften auf die Untersuchungen
seines historischen Vorläufers. Auch Bachofen hat die Theorie des Mutterrechts aller
Wahrscheinlichkeit nach unabhängig von Lafitau entwickelt. In Edward B. Tylors Primitive
Culture von 1871, einer der Hauptschriften des britischen Evolutionismus, wird Lafitau zwar des
öfteren als Gewährsmann zitiert, nirgends aber mit seinen theoretischen Ansichten vorgeführt,
obschon sich in den Mœurs des Sauvages ameriquains Elemente der Tylor'schen
„Survival“-Theorie finden lassen. Und selbst Pater Wilhelm Schmidt, der Lafitaus apologetischen
Absichten unter den neueren Ethnologen wohl am nächsten stehende Begründer der Wiener
kulturhistorischen Schule, hatte von dessen Werk vermutlich noch keine Kenntnis, als er im
Anschluß an Andrew Langs Urmonotheismushypothese anhand umfangreichen ethnographischen
Vergleichsmaterials den Versuch machte, die Existenz eines ursprünglichen und universal
verbreiteten Hochgottglaubens zu beweisen.
Lafitaus empirische Forschungen, in deren Verlauf er die grundlegende Bedeutung unilinearer
Verwandtschaftsbeziehungen für die soziale und politische Organisation der nordamerikanischen
Indianerstämme entdeckte, sein Prinzip der „wechselseitigen Erhellung“ und der von ihm in
diffusionistischer Perspektive unternommene systematische Vergleich einzelner Kulturzüge
blieben wissenschaftshistorisch zunächst folgenlos, um erst über hundert Jahre später und
unabhängig von ihm erneut aufgenommen zu werden. Die als Antizipationen späterer
Entwicklungen zu betrachtenden methodischen Ansätze Lafitaus fanden im 18. Jahrhundert selbst
nur geringen Widerhall; seine Schriften sind von den Philosophen der Aufklärung vor allem ihrer
ethnographischen Informationen wegen geschätzt und ausgewertet worden. Seine zentralen
Hypothesen über die Ur-Religion und die Abstammung der Indianer aus der Alten Welt hingegen
stießen weitgehend auf Ablehnung. Das spöttische Urteil, das Voltaire in seinem Essai sur les
mœurs et l'esprit des nations über Lafitaus Migrationstheorie fällte, ist in dieser Hinsicht
sicherlich repräsentativ:
„Schließlich läßt Lafitau die Amerikaner von den alten Griechen abstammen. Und hier seine Gründe: die Griechen
hatten Mythen, und einige Amerikaner haben auch welche. Die ersten Griechen gingen zur Jagd, und die Amerikaner
tun dies auch. Die ersten Griechen hatten Orakel, und die Amerikaner haben Zauberer. In Griechenland pflegte man
bei Festen zu tanzen, und man tanzt in Amerika. Man muß zugeben, daß diese Gründe überzeugend sind.“
Die große Bedeutung, die man heute Lafitau und seinen Untersuchungen zumißt, hat häufig
dazu geführt, seine eigentlichen Zielsetzungen unterzubewerten. Die genaue Analyse der Mœurs
des Sauvages amertquains zeigt indes, daß das von ihm in Ansätzen entwickelte Programm einer
empirischen Ethnographie, daß seine Entdeckung der universalen Verbreitung bestimmter
sozialer Institutionen und daß seine Kritik an den herrschenden Auffassungen über die „Wilden“
nicht mehr waren als die eher marginalen Produkte des apologetischen Interesses, das er mit
seinen Forschungen verband und zu dem er sich auch in aller Offenheit bekannte. Die
unverhohlene Ablehnung, die ihm im übrigen nicht nur Voltaire entgegenbrachte, ist insoweit
kaum verwunderlich. Lafitau wurde von seinen Zeitgenossen als der verstanden, der er auch
tatsächlich war: ein Theologe, der mit Hilfe der Wilden den christlichen Glauben gegen die
Angriffe zu verteidigen suchte, die mittels des Wilden gegen ihn vorgebracht worden waren.
Nicht nur unter diesem Gesichtspunkt wäre es wenig sinnvoll zu fragen, ob Lafitaus
systematische ethnographische Untersuchungsmethoden zur herkömmlichen Vorgehensweise
eine Alternative hätten darstellen können. Die Frage nach einer alternativen
Wissenschaftsentwicklung stellt sich frühestens zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die Ethnologie als
akademische Disziplin mit einem mehr oder weniger eng umgrenzten eigenen
Gegenstandsbereich auch institutionell zu verankern beginnt. Die Grundlagen für diesen im 19.
Jahrhundert erfolgten Verselbständigungs- und Spezialisierungsprozeß, dessen interne und
externe Voraussetzungen in Zusammenhang mit der Gesamtentwicklung des europäischen
Wissenschaftssystems zum einen und der Entwicklung der kolonialen europäischen Expansion
zum anderen zu untersuchen wären, sind im 18. Jahrhundert erst geschaffen worden. Mit gutem
Grund bezeichnet Jean Poirier diese Phase daher als „Prähistorie der Ethnologie“. Das von den
Entdeckern, den Missionaren und den Reisenden zusammentragene umfangreiche
ethnographische Material hat in der Philosophie der Aufklärung überhaupt erst begonnen, eine
über das Interesse an exotischen Absonderlichkeiten und an dem, was als die bloße Negation des
Eigengesellschaftlichen erschien, hinausgehende Rolle zu spielen. Solange sich der ethnologische
Diskurs aus dem übergreifenden philosophischen nicht gelöst hatte, war die „Feldforschung“, wie
Gérard Leclerc im Hinblick selbst noch auf die Aktivitäten der um 1799 im Umkreis der
französischen Ideologenschule gegründeten Société des observateurs de l'homme bemerkt, „fast
überflüssig, sie soll lediglich die Reflexion stimulieren“. In dem Maße, in dem der Wilde in den
zeitgenössischen Debatten über das Verhältnis von natürlicher und christlicher Religion, von
universaler Vernunft, menschlicher Natur und Gesellschaft als beliebig einsetzbare
Argumentationsfigur verwendet wurde, bestand für eine systematische Erforschung der Sitten
und Gebräuche der „wilden“ Gesellschaften kaum Bedarf. Die Tatsache, daß auch Lafitau die
Ergebnisse seiner Untersuchungen in erster Linie als Beitrag zu dieser Auseinandersetzung
verstand, erklärt nicht nur die geringe Resonanz, die die von ihm entwickelte Methodik fand,
sondern macht zugleich auch die Grenzen seines wissenschaftlichen Ansatzes deutlich.
2.
Ein Vergleich zwischen Lahontans Nouveaux Voyages dans l'Amérique Septentrionale und
Lafitaus Meeurs des Sauvages ameriquains zeigt, wie die Beschäftigung mit ethnologisch-
anthropologischen Fragestellungen seit ihren Anfängen zwischen einem „kritischen“ und einem
„konservativen Erbe“ oszillierte: auf der einen Seite die um die persönliche Erfahrungsebene
zentrierten Reflexionen des gesellschaftlich deklassierten Aristokraten und chronisch
unangepaßten Abenteurers, der in Rückübersetzung der unter den Indianerstämmen und in den
Wäldern Kanadas erfahrenen Eindrücke die Vision eines egalitären und herrschaftsfrelen
Gemeinwesens entwirft; auf der anderen Seite die kühle Distanz, mit der der in der Tradition
seines Glaubens und seiner Ordensgemeinschaft stehende klassisch gebildete Gelehrte ähnlich
geartete Erfahrungen bewältigt, indem er sie in ein weit gefächertes System von gegenseitigem
Zuordnungen und Spekulationen einbindet, um den Einblick, den er in den inneren
Zusammenhang der fremden Gesellschaft gewann, schließlich doch nur dazu zu verwenden, die
Ordnung der eigenen Gesellschaft zu rechtfertigen. Lahontans anthropologisch begründete Kritik
der gesellschaftlichen Hierarchie des Feudalismus und Lafitaus anthropologisch begründete
Rechtfertigung der Institutionen verdeutlichen beispielhaft, daß die „Berufung auf das Allgemein-
Menschliche“ in gleicher Weise als „Offensiv-Ideologie gegenüber dem weithin noch theologisch
argumentierenden Adel“ zu fungieren vermochte, wie sie in den Dienst einer Apologie von
Kirche und Staat gestellt werden konnte.
Ebenso wie der zu seinen Zielsetzungen sich freimütig bekennende Jesuitenmissionar ist auch
sein durch die Verleumdungskampagnen der Jesuiten als unzuverlässiger ethnographischer
Beobachter diskreditierter libertinistischer Gegenspieler von der Gelehrtenwelt des 18.
Jahrhunderts zumeist nur mit Vorbehalten zitiert worden. Dennoch sind die Mœurs des Sauvages
ameriquains bis zur Mitte des Jahrhunderts zweimal und die Nouveaux Voyages dans l'Amirique
Septentrionale über zwanzig Mal neu aufgelegt worden. Der tatsächliche Einfluß, der von beiden
Werken ausging, war daher, wie Michele Duchet in Bezug auf Lahontan schreibt, wohl vor allem
ein „unterirdischer, der sich auf dem Niveau der Ideen bewegte“. Lahontan gab mit den
Dialogues curieux das Vorbild für jenes „rhetorische und dialektische Modell“, auf das sich
fortan „jedervergleich zwischen Wilden und Zivilisierten implizit bezieht, sei es, um es
zurückzuweisen, sei es auch, um es zu übertreffen“. Lafitaus vergleichende Studie reiht sich
dagegen ein in die um 1720 erfolgenden ersten Versuche, das aus der Reiseberichterstattung
bezogene Informationsmaterial über fremde Völker nicht mehr nur unter chronologisch-
heilsgeschichtlichen oder kosmographischen Gesichtspunkten zu ordnen, sondern vielmehr
systematisch zu vereinheitlichen; fast gleichzeitig mit den mœurs des Sauvages amiriquaines
erscheinen in Frankreich Jean-Frédéric Bernards Cérémonies et coûtumes religieuses de tous les
peuples du monde (1723-1724), Fontenelles De l'origine des fables (1724) und Claude Buffiers
Tratté de la société civile (1726), Werke, die den von Jean Poirier als „Übergang vom Exotismus
zum Humanismus“ bezeichneten grundsätzlichen Perspektivenwechsel bei der Betrachtung der
außereuropäischen Gesellschaften markieren, der sich in diesem Zeitraum vollzog.
Stellt Lahontans auf die eigene Gesellschaft kritisch rückbezogene subjektivistische
Ethnographie, die sich als „eine Zusammenfassung all der Attacken gegen die Religion und
gegen die Gesellschaft“ lesen läßt, „die das Studium der primitiven Gesellschaften den Reisenden
und Philosophen hat eingeben können“, das erste systematische Manifest der „primitivistischen“
Philosophie des 18. Jahrhunderts dar, so eröffnete Lafitaus vergleichende Ethnologie mit der
Auflösung des monolithischen Bildes vom Wilden den Weg zur Aufnahme der „wilden
Gesellschaften“ in die großen universalhistorischen Konstruktionen der Aufklärung. Mit den
Nouveaux Voyages dans l'Amérique Septentrionale und den Mœurs des Sauvages ameriquains,
comparees aux mœurs des premiers temps, diesen vor dem Hintergrund derselben
ethnographischen Realität entstandenen und in ihren Grundpositionen antithetisch aufeinander
bezogenen Werken, sind gewissermaßen die beiden paradigmatischen Pole abgesteckt, zwischen
denen sich der ethnologische Diskurs im Kontext der französischen Aufklärungsphilosophie bis
zum neuerlichen Beginn der großen maritimen Entdeckungsreisen im letzten Drittel des 18.
Jahrhunderts bewegen sollte.
Das Bild der „Wilden“ in den großen anthropogeographischen, naturhistorischen und
geschichtsphilosophischen Entwürfen der Jahrhundertmitte ist durch die von den europäischen
Missionaren und Reisenden in Amerika gesammelten ethnographischen Beobachtungen
entscheidend geprägt. Bis zum Eintreffen der ersten Nachrichten über die Völkerschaften des
pazifischen Inselraums sind es neben den Hottentotten und den Lappen vor allem die Brasilianer,
die Kariben, die Irokesen und die Huronen, auf die als Prototypen des Wilden in den
anthropologischen Exkursen der französischen Aufklärungsphilosophie immer wieder Bezug
genommen wird. Die entsprechenden Äußerungen Montesquieus, Turgots, Buffons, Voltaires und
Rousseaus sollen im folgenden Abschnitt vor allem unter dem Gesichtspunkt untersucht werden,
inwieweit sich die von Lahontan und Lafitau vertretenen unterschiedlichen methodischen
Ansätze und Grundpositionen selbst noch in den Schriften der bedeutendsten Vertreter der
philosophischen Bewegung des 18. Jahrhunderts wiederfinden lassen.
Dritter Teil
Der „Amerikanische Wilde“ im philosophischen Diskurs der
Aufklärung
Die Herrschaft des Klimas und die Beherrschung der
WeltMontesquieus Anthropogeographie
1.
Montesquieus Werk zeigt in seiner inneren Entwicklung deutlich, daß sich jene beiden
entgegengesetzten Betrachtungsweisen, für die die Schriften Lahontans und Lafitaus einstehen,
gegenseitig keineswegs ausschließen mußten, sondern zueinander sogar in einem Verhältnis
logischer Abfolge stehen konnten. Folgen die Lettres Persanes von 1721 noch der von den
Dialogues curieux vorgegebenen Form gesellschaftskritischer Reflexion, so ist die den Mœurs
des Sauvages ameriquains zugrundeliegende komparatistische Perspektive in seinem Hauptwerk,
dem Esprit des lois von 1748, aufgenommen und fortentwickelt worden.
Wie der weitgereiste Huronenhäuptling Adario in den Dialogues curieux sind es in den Lettres
Persanes Usbek und Rica, zwei weitgereiste Perser, die als Besucher aus einer anderen Welt die
für selbstverständlich hingenommenen Einrichtungen, Sitten und Gewohnheiten der eigenen Welt
in Frage stellen. Bald in moralisierender und bald in spielerischer Form fällen sie ihr Urteil über
die augenfälligsten Absonderlichkeiten einer ihnen fremden Kultur: die Privilegien des Klerus
und die Allüren der Neureichen, die Moral der Frauen und die Spleens der Gelehrten, die
manierierten Umgangsformen der gehobenen Gesellschaft und die harmlosen Vergnügungen der
hauptstädtischen Bevölkerung. Es ist mithin dieselbe Technik der Vertauschung der Perspektiven,
derer Montesquieu sich hier bedient. Bei aller Ähnlichkeit der äußeren Form bleibt freilich ein
Unterschied. Im Gegensatz zu Lahontans Huronen sind Montesquieus Perser keineswegs
Repräsentanten einer Gesellschaft, die der eigenen insofern als Modell dienen könnte, als sie
noch in allem den Gesetzen der Natur gehorcht; ähnlich wie der ägyptische Weise, der
chinesische Gelehrte, der heimliche Kundschafter aus dem Serail und andere exotische
Phantasiegestalten, die in die französische Literatur in dem Maß Eingang zu finden begannen, in
dem die Hochkulturen des Orients die Aufmerksamkeit der Philosophen erweckten, sind sie
vielmehr Angehörige einer Zivilisation, die der abendländischen in ihren Vorzügen und Mängeln
durchaus vergleichbar ist.
Bald schon kann der Leser daher erfahren, daß Usbek und Rica nicht nur durch ihr Verlangen,
die Grenzen des eigenen Wissens zu erweitern sondern auch durch die Intrigen am Hof des
heimischen Potentaten dazu getrieben wurden, die Heimat zu verlassen. Zunächst
gefangengenommen von den Absonderlichkeiten ihrer neuen Umgebung, gilt der verwunderte
Blick der beiden Perser, je länger sie sich in Frankreich aufhalten, den Mißständen der eigenen
Gesellschaft bald nicht weniger als denen der fremden. So merkwürdig sie anfänglich die
Auswüchse des absolutistischen Systems, die Vormachtstellung der Kirche oder auch das frivole
Gebaren der Frauen in ihrem Gastland empfanden, so befremdend erscheinen ihnen aus der
zeitlichen wie räumlichen Distanz die despotische Herrschaft des Fürsten, der alles bestimmende
Einfluß der Religion und die Unterdrückung der Frauen im eigenen Land. Gab die romanhafte
Handlung zunächst nur den Leitfaden ab für vielfältige philosophische Erörterungen, moralische
Reflexionen und satirische Seitenhiebe, so tritt sie gegen Ende des Briefwechsels zunehmend in
den Vordergrund. Die Reisenden sehen sich selbst in die Ereignisse verstrickt, die sie zunächst
nur von außen beobachteten. Die Handlung mündet schließlich in eine doppelte Katastrophe.
Während Usbek in die Heimat berichtet, wie der Staatsbankrott in Frankreich zur Auflösung der
Ordnung und zum Zusammenbruch der Moral führt, empfängt er von dort die Nachricht, daß die
Frauen seines Harems gegen ihr Sklavendasein zu revoltieren begonnen haben. Abrupt endet der
Briefwechsel mit der Anklage von Usbeks Lieblingsfrau, die nur noch im Tod die Erfüllung des
Freiheitsbedürfnisses zu finden vermag.
Die Illusion, die Sitten und Institutionen der fremden Gesellschaft seien denen der eigenen
überlegen, wird so im Verlauf der Erzählhandlung Stück für Stück zerstört. Hinter den
mannigfaltigen äußeren Unterschieden entbirgt sich ein System von Identitäten. Unfreiheit und
Unterdrückung lassen sich in der „orientalischen Despotie“ ebenso finden wie unter der
Herrschaft des Absolutismus, ja, sie haben dort sogar ihre extremste Ausformung erfahren. Die
freie und gerechte Ordnung aber existiert hier ebensowenig wie dort. Mit dieser Relativierung
läuft die Kritik freilich Gefahr, sich ihres eigenen Fundaments zu begeben. Notwendig stellt sich
die Frage nach den absoluten Kriterien, an denen die bestehenden Verhältnisse zu messen seien.
Ihre Lösung hat Montesquieu gleich auf den ersten Seiten des Buches, in der politischen
Lehrfabel von den Troglodyten, anzudeuten versucht.
Vordergründiger Anlaß der Erzählung ist die im Zehnten Brief geäußerte Bitte eines Freundes
Usbeks, ihm näher zu erörtern, ob das Glück der Menschen in der „Befriedigung der Sinne“ oder
in „der Ausübung der Tugend“ liege, vor allem aber, inwieweit die Gerechtigkeit eine
Eigenschaft sei, „die ihnen ebenso angeboren sei wie die Existenz. Usbek beantwortet diese Bitte
mit einer Fabel. Sie handelt davon, wie die Troglodyten, ein kleines Volk im Innern Arabiens,
nacheinander die verschiedensten Formen politischer Organisation durchlaufen. Um „die
Bösartigkeit des Naturells“ der Troglodyten, die anfänglich „mehr Tieren als Menschen glichen“,
zu mildern, wird ihnen von außen ein despotischer Herrscher aufgezwungen. Sein gewaltsamer
Sturz führt zur Errichtung der Republik. Doch auch diese Regierungsform ist dem Naturell der
wilden Troglodyten nicht angemessen. Bald schon weicht sie daher einem Zustand der
Gesetzlosigkeit und der absoluten Unabhängigkeit des Einzelnen, der schließlich im Kampf aller
gegen alle endet. Nur zwei Familien überleben das Chaos. Gemeinsam gründen sie ein neues
Gemeinwesen, in dem die Liebe zu den Frauen, den Eltern und den Göttern und die Erziehung
zur Tugend als oberste Maximen gelten. Doch ebenso wie die gesetzlose Anarchie läßt sich auch
diese utopische Idylle nicht auf Dauer stellen: „Da die Volkszahl täglich zunahm, hielten die
Troglodyten es für ratsam, sich einen König zu wählen“. Mit der Klage des rechtschaffenen
Greises, auf den schließlich das Los fällt, den tugenhaften Troglodyten anstelle ihrer Sitten
„minder strenge Gesetz“ zu geben, bricht die Erzählung unvermittelt ab.
Durch das überraschenden Ende der Fabel von den Troglodyten, die auf die Charakterisierung
des Wilden in der zeitgenössischen Reiseliteratur ebenso anspielt wie auf die geläufigsten
Naturrechtstheorien, wird die Frage nach dem Wesen des Menschen und nach dem Ursprung der
Gesellschaft, wie sie im Zentrum aller frühbürgerlichen Vertragstheorien stand, letztlich als
irrelevant zurückgewiesen. Ungeachtet dessen, ob der Mensch von Natur aus schlecht oder ob die
Tugend ihm eingeboren sei, gehört der Naturzustand unwiderruflich der Vergangenheit an, sei er
nun einer des permanenten Krieges oder sei er einer der harmonischen Eintracht gewesen. Wie
die Eigensucht der wilden Troglodyten zur gegenseitigem Vernichtung führt, so findet das
gerechte Gemeinwesen der tugendhaften Troglodyten seine natürliche Grenze im eigenen
Gedeihen: In dem Maße, in dem die Bevölkerungszahl zunimmt, muß die familiale Organisation
der staatlichen weichen, muß die Herrschaft der Tugend durch die des Gesetzes ersetzt werden. In
jedem Fall trägt der Naturzustand den Keim seiner Überwindung bereits in sich. Sobald die
gesellschaftliche Entwicklung einen bestimmten Punkt erreicht hat, steht die Wahl der politischen
Organisationsform nicht mehr allein im Belieben der Menschen. Der Naturzustand hört damit
aber auf, als Gradmesser für die Beurteilung der eigenen Gesellschaft zu dienen, selbst wenn er in
dieser oder jener Form noch irgendwo auf der Erde existieren sollte. Die Maßstäbe der Kritik
sind anderswo zu suchen: in der konkreten Vermittlung der vernunftgemäßen Ideale der Freiheit
und Gerechtigkeit mit den jeweils besonderen inneren und äußeren Erfordernissen, denen die
bestehenden Gesellschaften im Verlauf ihrer Geschichte Rechnung zu tragen hatten. „Da die
Volkszahl täglich zunahm, hielten die Troglodyten es für ratsam, sich einen König zu wählen“ -
mit dieser lapidaren Schlußfolgerung am Ende der Troglodytenfabel ist der Weg aus den Aporien
des Moralismus der Lettres Persanes zum kausalen Determinismus des über ein
Vierteljahrhundert später veröffentlichten Esprit des lois bereits vorgezeichnet.
2.
Was den Esprit des lois von den Schriften der bürgerlichen Naturrechtstheoretiker
unterscheidet, ist sein Gegenstand ebenso wie seine Methode. Anders als bei Hobbes, bei Locke
und später wieder bei Rousseau gilt Montesquieus Interesse nicht der Spekulation über den
Vertrag als die Grundlage der menschlichen Gesellschaft, sondern vielmehr den menschlichen
Gesellschaften in der Diversität ihrer Regierungsformen, Gesetze, Sitten und Gewohnheiten, die
er mit dem Ziel untersucht, die der Mannigfaltigkeit menschlicher Institutionen
zugrundeliegenden objektiven Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Von der durch den Esprit des lois
eingeleiteten „soziologischen Revolution“ her gesehen erhalten die Lettres Persanes im
nachhinein den Stellenwert eines notwendigen Vorspiels: Erst die Einsicht in die Relativität der
eigenen Wertmaßstäbe und Lebensformen, die Montesquieu gewann, indem er sich fiktiv in die
Rolle des von außen kommenden Beobachters versetzte, schuf die Voraussetzung für das im
Esprit des lois eingeschlagene Verfahren. Erst der durch die Vertauschung der Perspektiven
gewonnene Abstand ließ die nun nicht mehr als selbstvertändlich hingenommenen Institutionen
und Verhaltensweisen der eigenen Gesellschaft der vergleichenden Betrachtung als Gegenstände
zugänglich werden. Erst diese Distanz ermöglichte den strengen Objektivismus und Kausalismus,
der für Montesquieus Hauptwerk kennzeichnend ist.
Die Diversifizierung menschlicher Gesellschaften folgt in nichts dem Zufall oder der reinen
Laune, so nämlich lautet der Leitgedanke des Esprit des lois, den Montesquieu immer wieder
zum Ausdruck bringt. Die grenzenlose Vielfalt der Sitten und Gebräuche der einzelnen Völker
könne vielmehr auf eine begrenzte Anzahl wirkender Ursachen zurückgeführt werden. Es seien
vor allem die Umweltbedingungen, wie das Klima, die geographischen Besonderheiten eines
Landes, die Natur und die Beschaffenheit des Bodens, die, zum Teil direkt und zum Teil
vermittelt durch die jeweilige Wirtschaftsweise, die jeweilige Religion und die jeweiligen
Lebensgewohnheiten, die Unterschiedlichkeit der sozialen Ordnungen formen und den Charakter
einer Nation bestimmen: Die Gesetze, die sich die Menschen selbst geben, und die Gesetze, die
sie unbewußt in ihren Handlungen leiten, bedingten sich gegenseitig. Jede der vergangenen und
der bestehenden Gesellschaften findet dementsprechend ihre Natur: die jeweilige Form der
politischen Machtausübung, ihr Prinzip: die in einer bestimmten Gesellschaftsordnung
vorherrschende psychische Triebkraft und ihren Zweck: „nämlich den, sich selbst zu behaupten“,
in sich selbst. „Gesetze im weitesten Sinne des Wortes sind Beziehungen, die sich aus der Natur
der Dinge mit Notwendigkeit ergeben“, so kann Montesquieu daher behaupten; das Gesetz im
allgemeinen aber „ist die menschliche Vernunft, sofern sie alle Völker der Erde beherrscht; und
die Staatsund Zivilgesetze eines jeden Volkes sollen nur die einzelnen Anwendungsfälle der
menschlichen Vernunft sein. Sie müssen dem Volk, für das sie geschaffen sind, so genau angepaßt
sein, daß es ein großer Zufall wäre, wenn sie auch einem anderen Volk angemessen wären“.
Mit der Überzeugung, in der Anpassung der menschlichen Vernunft an die jeweils besonderen
natürlichen Gegebenheiten den archimedischen Punkt jenseits aller bestehenden
Gesellschaftsordnungen gefunden zu haben, der es erlaubt, sie in ihrer Vielfältigkeit zureichend
zu erklären, wird implizite zugleich auch die Frage suspendiert, ob es zur eigenen Gesellschaft
eine grundsätzliche Alternative geben könne, wie sie Lahontan mit seinen provozierenden
Dialogen stellte und wie sie auch in der Troglodytenfabel noch anklang. An die Stelle des
moralischen Urteils über die Dinge tritt die Erklärung, weshalb sie notwendig so sind, wie sie
sind: „Jedes Volk wird hier die Vernunftgründe seiner Lebensregeln finden“, verspricht der
Verfasser des Esprit des lois: „Ich schreibe nicht, um zu tadeln, was in welchem Land wie auch
immer geordnet ist“.
Für die Entstehungsgeschichte des Esprit des lois sind wiederholt die Beobachtungen und
Eindrücke verantwortlich gemacht worden, die Montesquieu im Verlauf der ausgedehnten Reisen
sammelte, die er seit Aufgabe seiner öffentlichen Ämter durch Europa unternahm. Im
Unterschied zu den Verfassern der Reiseberichte, auf die er sich bei der Abfassung seiner Bücher
stützte, hat Montesquieu den europäischen Kulturraum jedoch nie verlassen, und damit
persönlich auch nie erfahren können, was die Konfrontation mit einer anders strukturierten
Gesellschaft tatsächlich bedeutet. Trotz der Distanz, die erlangt zu haben er vorgibt, bleibt sein
Blick auf die europäischen Verhältnisse fixiert. Daß die monarchische Verfassung, wie sie im 18.
Jahrhundert alle großen europäischen Staaten in absolutistischer oder konstitutioneller Form
gemein hatten, zwar bestimmte Mängel aufzuweisen habe, aber dennoch die beste aller
möglichen Regierungsformen sei, da sie das juste milieu hielte zwischen der vom Prinzip der
Furcht beherrschten grausamen Despotie des Orients und der nur kleinen Staatswesen
angemessenen Republik, stand für ihn ebenso außer Frage wie die Überlegenheit der
europäischen Völker auf allen anderen Gebieten. Montesquieus eigentliches Interesse galt den
außereuropäischen Kulturen nur am Rande. Im Mittelpunkt des breiten Spektrums fremder Sitten
und Gebräuche, das der Esprit des lois entwirft, steht die abendländische Zivilisation. Dort, wo
die außereuropäischen Völker in die Betrachtung einbezogen werden, läuft Montesquieus
Argumentation vor allem darauf hinaus, die Gründe aufzuzeigen, die es Europa ermöglichten,
fast alle anderen Erdteile seiner Botmäßigkeit zu unterwerfen. Unter der Vielzahl der natürlichen
Bedingungen, die seiner Ansicht nach für den besonderen Charakter der Regierungsformen und
der Lebensgewohnheiten der außereuropäischen Völker verantwortlich sind, schiebt sich bei der
Erklärung ihrer Unterlegenheit gegenüber denen Europas insbesondere ein Faktor in den
Vordergrund: der Einfluß des Klimas auf das Verhalten der Menschen.
3.
Die Sitten und den besonderen Charakter eines Volkes zur klimatischen Lage des von ihm
bewohnten Landstriches in Beziehung zu setzen findet sich als Erklärungsstereotyp schon in den
frühesten Reiseberichten und -kompilationen. Die Ursprünge dieser Theorie können über die
kosmologischen und astrologischen Spekulationen der Renaissance und des Mittelalters bis zur
Antike zurückverfolgt werden. Auch den französischen Philosophen des frühen 18. Jahrhunderts
war die Vorstellung durchaus geläufig, daß unterschiedliche klimatische Bedingungen
unterschiedliche Lebensgewohnheiten erzeugten, wenngleich man ihr nun auch im Hinblick auf
die Wahrnehmungstheorie des englischen Sensualismus eine haltbare wissenschaftliche
Grundlage geben zu können glaubte. Montesquieu blieb es allerdings vorbehalten, die
Klimatheorie zu einem kohärenten System auszubauen, das nicht nur erlaubte, die „Mentalität“
eines bestimmten Volkes, sondern auch die Gesamtheit seiner juridischen, politischen und
religiösen Institutionen aus den Bedingungen seiner natürlichen Umwelt abzuleiten.
Der empirischen Erkenntnistheorie des englischen Sensualimus zufolge sollten die
Sinneswahrnehmungen durch mechanische Einwirkungen der Außenwelt auf die Nervenzellen
des menschlichen Organismus entstehen. Wie vor ihm schon der Abbé DuBos und andere
Vertreter des französischen Frühmaterialismus knüpfte auch Montesquieu seine eigenen
Überlegungen unmittelbar an diese Theorie an: „Kalte Luft zieht die Oberfläche der äußeren
Gewebe unseres Körpers zusammen“, so führt er im XIV. Buch des Esprit des lois näher aus:
„Warme Luft dagegen erschlafft die Außenseiten der Gewebe und verlängert sie.“ Je straffer aber
das äußere Gewebe der Haut, so fährt er fort, desto unempfindiicher werde der Organismus für
die von außen auf ihn einwirkenden Sinnesreize, wohingegen die Schlaffheit des Gewebes eine
extreme Empfindlichkeit der offenen Nervenzellen und damit eine außerordentliche Steigerung
des Geschmacks, der Einbildungskraft und die Sinnlichkeit überhaupt bewirke. Wenn daher die
Völker des Nordens kräftiger, mutiger, freiheitsliebender, aufrichtiger und leidenschaftsloser als
die des Südens seien, so ließe sich dies darauf zurückführen, daß sie der ständigen Reizung der
Sinne weniger ausgesetzt sind; Verweichlichung, Furchtsamkeit und ungezügelte
Leidenschaftlichkeit seien dagegen für die südlichen Völker kennzeichnend. Zwar werde die
Stumpfheit des Gemüts umso größer, je weiter man nach Norden gelangt: „Man muß dem Russen
das Fell abziehen, wenn man eine Empfindung bei ihm hervorrufen will“; allgemeine Apathie
könne aber auch die Hitze des Südens bewirken:
„Die Wärme kann so außerordentlich sein, daß der Körper vollständig kraftlos ist. Dann teilt sich die Ermattung auch
dem Geist mit, es gibt keinen Wissensdrang, keine hochherzige Empfindung, die Neigungen bleiben passiv,
Nichtstun ist das Glück. Die meisten Strafen werden dort leichter ertragen als seelische Anspannung, und die
Knechtschaft leichter als geistige Anstrengung, derer es zur eigenen Beherrschung bedarf.“
Von allen Völkern der Erde seien allein die der gemäßigten Zonen dem bestimmenden Einfluß
des Klimas nicht unterworfen:
„In den gemäßigten Ländern findet man die Völker in ihrem Betragen, sogar ihren Lastern und Tugenden
unbeständig. Das Klima hat keine ausgeprägte in Qualität, um sie zu bestimmen.“
In den Rang eines universalen Erklärungsmodells erhoben, liefert die Klimatheorie so den
Schlüssel, um hinter der scheinbar unverbundenen Mannigfaltigkeit der Sitten und Gesetze ein
einheitliches Ordnungsgefüge sichtbar werden zu lassen. Mit ihrer Hilfe wird es möglich, all den
bis dahin als bloße Kuriositäten abgetanen fremdartigen Gebräuchen und religiösen Vorstellungen
vernünftigen Sinn abzugewinnen: Aus der gesteigerten sinnlichen Begierde der orientalischen
Völker erklärt sich die Vielweiberei und der Brauch, die Frauen im Harem einzuschließen; aus
der durch die Hitze erzeugten Trägheit des Geistes erklärt sich das für die Völker der südlichen
Hemisphäre kennzeichnende starre Festhalten an der Tradition und der passive Charakter der
asiatischen Religionen; aus ihrer durch das Klima erzeugten übersteigerten Einbildungskraft aber
die außerordentliche Furchtsamkeit, die den Despotismus und die Sklaverei erst ermöglicht. Zwar
macht Montesquieu für den „esprit général“ einer bestimmten Nation noch weitere Ursachen
geltend, wie die jeweilige Regierungsform, die Wirtschaftsweise, die Bevölkerungszahl, die
überlieferten Sitten oder auch die Religion, und überdies hält er daran fest, daß eine vernünftige
Gesetzgebung innerhalb der ihr durch die natürliche Umwelt und das gewordene soziale Milieu
gesteckten Grenzen korrigierend einzugreifen vermag, doch ebenso wie jene sekundären
Bereiche erweist sich auch der Handlungsspielraum des Gesetzgebers als in letzter Instanz durch
das Klima bestimmt: „L’empire des climats est le premier de tous les empires.“
In ihrem methodischen Ansatz revolutionär, bleibt die Klimatheorie in ihrer Grundaussage
konservativ. Stellt sie den Versuch dar, die Unterschiedlichkeit menschlicher Gesellschaften
weder mehr als Werk der göttlichen Vorsehung noch mehr mit Hilfe diffusionistischer
Ursprungskonstruktionen zu erklären, sondern ausschließlich aus den Naturgesetzen abzuleiten,
so mündet sie damit zugleich in einen geographischen Determinismus, der dem Fatalismus der
Astrologie, in dem ihre historischen Ursprünge zu suchen sind, wenig nachsieht. Ohne die
Vorstellung von der Einheit der menschlichen Gattung aufgeben zu müssen, erlaubt sie, die
Ungleichheit der Völker und Kulturen als naturbestimmt festzuschreiben. In der Freiheit, der
Gerechtigkeit und der Vervollkomnung der Vernunft findet die Gattung ihre natürliche
Bestimmung. Doch nur in den gemäßigten Klimazonen, in Europa mithin, können die
gattungsgemäßen Eigenschaften zu ihrer vollen Entfaltung gelangen, während sich die Menschen
in allen übrigen Regionen der Erde dem Zwang der äußeren Bedingungen in mehr oder weniger
starkem Maße anzupassen haben. Montesquieu kann daher die Sklaverei im allgemeinen
verurteilen, da sie im Blick darauf, daß „alle Menschen gleich geboren werden“, gegen die Natur
verstößt, und dennoch zugleich einräumen, daß sie in den Ländern, „wo die Hitze den Körper so
entnervt, daß die Menschen nur durch Furcht vor Strafe zur Erfüllung ihrer lästigen Pflichten
getrieben werden können“ durchaus ihre natürliche Berechtigung haben könne: „…und man muß
gut unterscheiden zwischen diesen Ländern und jenen, wo auch die natürlichen Ursachen ihr
entgegenstellen, wie die Länder Europas, wo sie ja glücklicherweise abgeschafft ist.“ Vertritt
Montesquieu nach innen den Standpunkt der gemäßigten Opposition gegen den Absolutismus, so
ermöglicht ihm die Klimatheorie, nach außen den Standpunkt der Sklavenhaltergesellschaft zu
vertreten. Der Freiheitsdrang der europäischen Völker hat seiner Auffassung nach seinen
natürlichen Bedingungsgrund in ihrer Freiheit von der Herrschaft des Klimas. Mit ihren
„deterministischen Konsequenzen“ gerät die Klimalehre damit aber, wie Friedrich Meinecke
zurecht bemerkt, in ein merkwürdiges Spannungsverhältnis zu Montesquieus aufklärerischen
Ideen. Ist sie einerseits als Versuch einer materialistischen Erklärung der Unterschiede zwischen
den Völkern anzusehen, so wird sie anderseits zur theoretischen Begründung der Überlegenheit
Europas über alle anderen Völker der Welt.
Ein solches inneres Spannungsverhältnis ist freilich nicht nur Montesquieus
Anthropogeographie immanent. An der Lösung, die die Klimatheorie anzubieten versucht, wird
vielmehr einer der grundlegenden Widersprüche der anthropologischen Entwürfe der
Aufklärungsphilosophie sichtbar, wie er sich ausgeprägter noch bei Voltaire und Buffon
wiederfinden läßt: Kämpft die Aufklärung im eigenen Land mit der Berufung auf die Freiheit und
Gleichheit aller Menschen gegen die die politische Emanzipation des Bürgertums und die freie
Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise hemmenden Fesseln der ständischen
Gesellschaftsordnung, so muß sie auf der anderen Seite doch auch die koloniale Unterwerfung
und Ausbeutung der außereuropäischen Völker anthropologisch rechtfertigen, soweit sie eine der
ökonomischen Grundlagen der Macht des aufsteigenden Bürgertums bildet. Dieser Entwicklung
im Inneren Frankreichs und vor allem den Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums stand
Montesquieu selbst indes noch durchaus zwiespältig gegenüber. Seine Klimatheorie bezeichnet in
gewisser Weise erst den Umschlagspunkt von einer feudalen Legitimations- in eine koloniale
Herrschaftsideologie, in deren Zentrum der in doppeldeutiger Form verwendete Freiheitsbegriff
steht. Wird der mit der Freiheit von äußeren Zwängen gleichgesetzte Freiheitsdrang der Völker
der gemäßigten Zonen in seiner Anthropologie zum Gradmesser einer hierachischen
Untergliederung der Weltgesellschaft, an deren Spitze die Völker Europas, in deren Mitte die des
Orients und an derem unteren Ende die des südlichen Asien, Afrikas und der polaren Regionen
des äußersten Nordens stehen, so enthält die Klimatheorie daneben noch eine zweite, weniger
explizite Stoßrichtung, die gegen die politischen Ansprüche des Bürgertums zielt, die
Montesquieu im Grunde beschränkt sehen will. Diese zweite Stoßrichtung aber steht, wie noch zu
zeigen sein wird, in engem Zusammenhang mit der Sonderstellung, die er in seinem großen
anthropogeographischen Entwurf den wilden Gesellschaften des amerikanischen Kontinents
einräumt.
4.
Nicht die Republik, deren Zeit für ihn unwiderruflich der Vergangenheit angehörte, sondern
die konstitutionelle Monarchie war bekanntlich Montesquieus politisches Zukunftsideal. In ihr
sah er die Regierungsform, in der allein die „politische Freiheit“ gewährleistet werden kann.
Montesquieu unterscheidet die „politische Freiheit“ sorgfältig von der „natürlichen Freiheit“.
Während „die politische Freiheit in der Sicherheit [besteht]“, entspringt aus der „Unabhängigkeit
jedes Privatmannes […] die Unterdrückung aller“. Und an anderer Stelle heißt es: „In einem
Staat, das heißt in einer Gesellschaft, in der es Gesetze gibt, kann die Freiheit nur darin bestehen,
das zu tun, was man wollen darf, und nicht gezwungen zu sein, zu tun, was man nicht wollen
darf.“ Unabhängigkeit und politische Freiheit sind für Montesquieu also keineswegs
gleichbedeutend. Die Unabhängigkeit des Einzelnen findet in einer gemäßigten Regierungsform
ihre Schranken in den Gesetzen. Sie garantieren die Erhaltung angestammter Vorrechte
gegenüber dem Herrscher ebenso wie gegenüber dem Volk. Montesquieus Plädoyer für die
Freiheit ist zugleich ein Plädoyer für die politischen Freiheitsrechte der Aristokratie, wie er sie in
seiner Zeit durch die Entwicklung der absolutistischen Monarchie und durch die
Emanzipationsbestrebungen der unteren Klassen bedroht sah. Auch die im X. Buch des Esprit
des lois entwickelte und später so folgenreich gewordene Theorie der politischen
Gewaltenteilung zielt im Grunde nur darauf ab, die Position des Adels als selbständiger
Zwischengewalt auf neuer Grundlage wiederherzustellen, um damit sowohl das Abgleiten der
Monarchie in den gesetzlosen Despotismus als auch die Tyrannei der reinen Volksherrschaft zu
verhindern.
Dem Entwurf von Montesquieus politischer Philosophie war in der zeitgenössischen
Diskussion die große Auseinandersetzung zwischen den „Romanisten“ um den Abbé DuBos und
den „Germanisten“ um den Grafen Boulainvilliers über den historischen Ursprung der
französischen Monarchie vorausgegangen. Montesquieu mochte die von DuBos in diesem
Zusammenhang „erstmalig versuchte geschichtliche Legitimierung des modernen Absolutismus“
in der Tat als „grenzenlose Provokation“ empfunden haben. Mit der germanistischen Fraktion, die
das absolutistische Regime vom Interessenstandpunkt des Adels aus bekämpfte, teilte er denn
auch weitgehend die Überzeugung, daß es die Eroberung des romanisierten Gallien durch die
freiheitsliebenden Franken war, der die alte französische Monarchie ihre vorbildhafte Verfassung
verdankte, in der die Rechte des Einzelnen durch ein ausgewogenes Gewaltenverhältnis zwischen
König, Adel und Klerus gesichert waren. Versuchte Montesquieu auch nicht, wie etwa
Boulainvilliers, die Privilegien des Adels aus dem Recht der Eroberer abzuleiten, so hielt er
dennoch daran fest, daß es die welthistorische Aufgabe der germanischen Völker gewesen sei, die
übrigen Völker Europas aus der Knechtschaft zu befreien. Im Norden Europas, so heißt es im
XVII. Buch des Esprit des lois,
„[entsprang] die Quelle aller europäischen Freiheit, d. h. fast aller Freiheit, die heute unter den Menschen besteht
[…]. Ich möchte ihn […] als die Werkstatt der Instrumente bezeichnen, welche die im Süden geschmiedeten Ketten
zerbrechen. Dort wachsen jene tapferen Völker, die aus ihrem Land ausziehen, um Tyrannen und Sklaven zu
vernichten und die Menschen zu lehren, daß die Natur sie gleich geschaffen hat und folglich die Vernunft sie
niemand als ihrem Glück unterwerfen kann.“
In dem Maße, in dem die Klimatheorie die Herrschaft Europas über die kolonisierten Völker
begründet, in dem Maße rechtfertigt sie auch die Sonderstellung, die Montesquieu den
Angehörigen des Adels in der eigenen Gesellschaft zugemessen sehen will. Durch ihre natürliche
Veranlagung zur Freiheit, die sie ihrer Herkunft von den Völkern des Nordens verdanken,
scheinen sie dazu prädestiniert, als vermittelnde Instanz zwischen König und Volk über die
Einhaltung der Freiheitsrechte jedes Standes zu wachen. Die Passage macht deutlich, wo die
politischideologischen Ursprünge der Klimatheorie und damit auch der Anthropogeographie
Montesquieus zu suchen sind: in den Klassengegensätzen und in der Klassenstruktur der
zeitgenössischen französischen Gesellschaft. Der Gegensatz zwischen dem Adel und dem Dritten
Stand, zwischen den vorgeblichen Nachkommen der freiheitsliebenden Germanen und der
unterdrückten alteingesessenen Gallier, liefert das Modell für die globale Entgegensetzung der
mit einem natürlichen Freiheitsdrang begabten Völker der gemäßigten Zonen und der zur
Knechtschaft neigenden Völker des Südens; die Klassenstruktur der eigenen Gesellschaft aber
liefert das Modell für Montesquieus breitgefächertes und hierarchisch gegliedertes
anthropogeographisches Ordnungssystem, dessen Maßstab die an das Klima gebundene Freiheit
und dessen horizontale Koordinaten die jeweilige Bodenbeschaffenheit, Wirtschaftsweise,
Bevölkerungszahl und Regierungsform bilden - ein System, in dem dementsprechend ein jedes
Volk seinen fest bestimmten und unabänderlichen Platz findet. Die privilegierte Position
schließlich, die nach Montesquieus Ansicht den Nachkommen der nordischen Eroberer in der
eigenen Gesellschaft zukommen muß, erklärt die Sonderstellung, die in diesem so festgefügten
Ordnungsschema die „wilden“ Völker des amerikanischen Kontinents einnehmen. Denn in
Aufgabe der ansonsten so sorgfältig durchgehaltenen Unterscheidung zwischen „natürlicher“ und
„politischer“ Freiheit heißt es von ihnen:
„Diese Völker genießen eine große Freiheit; denn, da sie nicht den Boden bebauen, sind sie auch nicht an ihn
gebunden; sie ziehen und streifen umher; und wenn ein Häuptling ihnen ihre Freiheit nehmen wollte, so würden sie
sie bei anderen suchen oder sich in die Wälder zurückziehen, um dort mit ihrer Familie zu leben. Bei diesen Völkern
ist die Freiheit des Einzelnen so groß, daß sie notwendig die politische Freiheit nach sich zieht.“
Den entscheidenen Hinweis aber stellt eine kurze Eintragung dar, die sich in einem der frühen
Notizbücher Montesquieus findet:
„Die Völker des amerikanischen Kontinents […] geben uns eine Vorstellung davon, wie die ersten Menschen
beschaffen waren, bevor es zur Entstehung großer Gesellschaften kam und bevor man die Erde zu bebauen begann.“
Die Tatsache, daß es gerade die amerikanischen Wilden sind, die den Schematismus von
Montesquieus anthropogeographischem System sprengen, zeigt, daß auch er, bei allem Bemühen
um äußere Distanz, der appellativen Anziehungskraft letztlich nicht hat widerstehen können, die
von den Reisebeschreibungen ausging, in denen ihre Lebensweise als Inbegriff der Freiheit und
Ungebundenheit geschildert worden war. Setzte Lafitau die Huronen und Irokesen mit den
Nachfahren der alten Griechen gleich, so sieht Montesquieu in ihnen zeitgenössische Ebenbilder
der eigenen Vorfahren, die aus den Wäldern aufbrachen, um der Welt die Freiheit zu bringen.
Die Wilden auf der Skala des Fortschritts
Turgots Geschichtsphilosophie
1.
Noch stark beeinflußt von der Lektüre des zwei Jahre zuvor erschienenen Esprit des lois hielt
Anne Robert Turgot am 11. Dezember 1750 vor der Theologischen Fakultät der Sorbonne eine
kurze, Tableau philosophtque des progrés successifs de l' esprit humain betitelte Vorlesung.
Dieser kleine Vortrag des damals dreiundzwanzigjährigen zukünftigen Finanzministers
Ludwig XVI., der viele Jahre später durch das Scheitern seiner Pläne zur Reform des
ökonomischen Systems des ancien rigime zum ersten politischen Märtyrer der französischen
Aufklärungsbewegung werden sollte, gilt heute, neben seinem Fragment gebliebenen Plan de
deux discours de l’histoire universelle, als eines der bedeutendsten Zeugnisse des
Fortschrittdenkens des 18. Jahrhunderts.
Lafitaus diffusionistischer Migrationstheorie, Montesquieus Anthropogeographie und Turgots
Geschichtsphilosophie ist eine Fragestellung gemeinsam: die nach den Ursachen der
Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen. Sucht Lafitau die Antwort in der
Immanenz des Geschichtsprozesses selbst, wenn er die gemeinsamen Kulturmerkmale auf einen
gemeinsamen Ursprung zurückführt und die kulturellen Unterschiede in Korrelation setzt zur
räumlichen wie zeitlichen Entfernung einzelner Völker von diesem einen Ursprung, so stellt
Montesquieu die äußeren Bedingungen, denen sich die Völker im Verlauf ihrer Geschichte
anzupassen hatten, als die eigentlich ursächlichen und bedingenden in den Vordergrund. Turgots
universalhistorischer Entwurf aber läßt sich als der Versuch lesen, die von Lafitau und
Montesquieu in dieser Frage vertretenden Positionen unter der Auspizie eines Geschichtsbegriffes
zu synthetisieren, der die Geschichte der Völker als den Ort des Fortschritts des menschlichen
Geistes zu immer größerer Vervollkommnung auffaßt.
Obgleich Turgot sich weitgehend auf die Vorarbeiten des Esprit des lois stützt und viele der
von Montesquieu entwickelten Auffassungen übernimmt, erkennt er doch klar, daß nicht nur das
eigentlich Neue, sondern auch die Grenzen von Montesquieus methodischem Ansatz in der engen
Orientierung am mechanischen Gesetzesbegriff der Naturwissenschaften liegen. Die Vorstellung
eines allgemeinen Fortschritts der Gattung kann in der statischen Konstruktion des
anthropogeographischen Systems der Klimatheorie keinen Platz finden, in die nach Auffassung
Turgots der Versuch münden mußte, die Ungleichheit der Völker und Kulturen in Übertragung
der Naturgesetzlichkeit auf die Gattungsgeschichte zu erklären. Turgot kritisiert die Klimatheorie
daher mit dem Argument, daß auf die „physischen Ursachen“ erst dort zurückgegriffen werden
dürfe, wo die „moralischen Ursachen“ zur Erklärung allein nicht mehr ausreichen. Denn die
Gesetze, die den in zyklischen Revolutionen sich bewegenden und immer wiederkehrenden
Naturerscheinungen zugrundellegen, sind andere, so lautet seine zentrale These, als die Gesetze,
denen die stetig voranschreitende Geschichte der Menschheit folgt. Nicht die Wiederholung,
sondern der Fortschritt ist ihr Prinzip. Er beruht auf dem linearen Wachstum der durch die
Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse über die Wirkungsgesetze der Natur. Jede Generation gibt
ihre Kenntnisse an die nächste weiter. Die Sprache und die Schrift sind es, die in der Zeit, der
Handel und die Politik aber, die im Raum eine immer größer werdende Akkumulation des
Wissens ermöglichen und so bewirken, daß sich die Wissenschaften, die mechanischen Künste
und auch die Moral kontinuierlich vervollkommnen. Für Turgot bildet das menschliche
Geschlecht daher, „wenn man es von seinen Anfängen an betrachtet, […] in den Augen eines
Philosophen ein großes Ganzes, das für sich, wie jedes Individuum, seine Kindheit und seine
Fortschritte hat“. Zwar kennt die Geschichte der Menschheit Rückschläge und retardierende
Momente, doch inmitten der großen Kriege, die die Leidenschaften entfachen, inmitten der
Reiche, die fallen und entstehen, der Regierungen, die aufeinander folgen, und der Gesetze, die
einander ablösen, schreitet die Menschheit unaufhaltsam ihrem Ziel zu:
„[…] und inmitten dieses zerstörerischen Geschehens werden die Sitten milder, klärt der menschliche Geist sich auf,
nähern die isolierten Nationen sich einander; der Handel und die Politik vereinen schließlich alle Teile des Erdballs,
und während Zeiten der Ruhe und der Bewegung sich ablösen, auf das Gute das Böse folgt, schreitet die gesamte
Menschheit mit langsamen Schritten zwar, aber stetig, einer größeren Vollkommenheit zu.“
Ebenso wie die großen geschichtlichen Katastrophen den Gesamtprozeß auf lange Sicht nicht
aufzuhalten vermögen, können auch die jeweils besonderen „äußeren Umstände“ die
Entwicklung der Völker nur kurzfristig hemmen. Anders als Montesquieu sieht Turgot in den
Naturgegebenheiten nur sekundäre Faktoren, die den vorgezeichneten Gang der
Menschheitsgeschichte bisweilen beschleunigen oder auch verzögern, die ihn aber nicht in letzter
Instanz bestimmen. In dieser eingeschränkten Bedeutung als sekundäre Faktoren erklären die
„physischen Ursachen“ seiner Ansicht nach jedoch, weshalb bestimmte Völker auf dem der
Menschheit als ganzer vorgezeichneten Weg von der „barbarie“ zur „politesse“ weiter
vorangeschritten sind, während andere dazu verurteilt bleiben, auf früheren Entwicklungsstufen
zu verharren. Den seit Lafitau in Kraft gesetzten Gedanken aufgreifend, daß die wilden
Gesellschaften des amerikanischen Kontinents einen Zustand repräsentieren, wie er früher allen
Völkern gemeinsam war, stellt Turgot Montesquieus statischer Anthropogeographie daher ein
universalhistorisches Tableau gegenüber, in dem die zeitgenössischen außereuropäischen
Gesellschaften als die sukzessiv aufeinanderfolgenden, petrifizierten Stadien der
Gattungsgeschichte figurieren:
„Das Volk, das als erstes über ein paar Kenntnisse mehr verfügte, wurde seinen Nachbarn schnell überlegen: ein
jeder Fortschritt erleichterte den Übergang zum nächsten. So schritt die eine Nation von Tag zu Tag schneller voran,
während andere durch die besonderen äußeren Umstände dazu gezwungen wurden, auf halbem Weg stehen zu
bleiben, und wiederum andere in der Barbarei verharrten. Wirft man einen Blick über die Erde, so hat man daher
auch heute noch die gesamte Geschichte des menschlichen Geschlechts vor Augen; man sieht die Spuren all seiner
Schritte und die Monumente all der Stufen, die es erklommen hat, von der Barbarei, wie sie noch bei den
amerikanischen Völkern fortbesteht, bis zur vollendeten Ordnung [politesse] der aufgeklärtesten Nationen Europas.
Ach! Unsere Väter, und die Pelasger, die den Griechen vorangingen, sie glichen den Wilden Amerikas.“
Es ist die Existenz dieser rückständigen Gesellschaften selbst, durch die nach Turgots
Auffassung die These eines unaufhaltsamen Fortschritts der Gattung am nachdrücklichsten belegt
wird. Unter der Prämisse einer organischen Einheit des menschlichen Geschlechts beweisen sie,
als lebende Zeugen früherer Stadien, die Geradlinigkeit und die Zielgerichtetheit der
menschlichen Geschichte. An ihrem Beispiel den Nachweis dafür zu erbringen, daß sich die
einzelnen Stufen der Gattungsgeschichte auseinander entwickelten und dabei des weiteren
aufzuzeigen, wie die Verschränkung interner und externer Ursachen die „Ungleichheit der
Fortschritte der Nationen“ bewirkte, ist eines der maßgeblichen Ziele von Turgots
geschichtsphilosophischen Überlegungen.
2.
In Anlehnung an Montesquieus klassifikatorische Unterscheidung der Jäger-, Hirten- und
Ackerbau betreibenden Gesellschaften unterteilt Turgot die Menschheitsgeschichte in zwei große
Epochen. Die erste Epoche, die er - in diesem Punkt der biblischen Überlieferung folgend, und
ihre Aussagen über die Wirtschaftsform der ersten Menschen doch zugleich eskamotierend - mit
der Verbreitung der Menschheit über die Erde nach dem Ende der Sintflut beginnen läßt,
erscheint für ihn wesentlich durch den Kampf um die Befriedigung der unmittelbaren
Lebensbedürfnisse bestimmt. „Ohne Vorräte, inmitten der Wälder“ konnten sich die ersten
Menschen „nur um ihre Subsistenz kümmern“, und mußten, „da die Früchte, die die Erde ohne
den Ackerbau hervorbringt, nicht genügen“, bald schon zur Jagd übergehen. Ebenso wie Lafitau
sucht auch Turgot in der unsteten und von der bloßen Not beherrschten Lebensweise der frühen
Sammler und Jäger, „die noch keine festen Behausungen kannten und sich mit außerordentlicher
Leichtigkeit von Ort zu Ort bewegten“, die Ursache für ihre Aufteilung in kleine Gruppen und für
ihre ausgedehnten Wanderungen, in deren Gefolge die Erde bevölkert wurde.
Während dieses erste Stadium des Sammelns und Jagens noch unterschiedslos von allen
Völkern durchlaufen wurde, setzte mit dem Übergang zum zweiten Stadium, dem Hirtentum, ein
erster globaler Differenzierungsprozeß in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften ein.
Denn nur in den Regionen der Erde, in denen sich zur Zähmung geeignete Tierarten fanden,
bestanden nach Turgot die natürlichen Voraussetzungen, um die nächsthöhere und die
Lebensbedürfnisse weit leichter befriedigende Stufe des Pastoralismus zu erreichen:
„Es gibt Tiere, die sich von den Menschen zähmen lassen, wie Rinder, Schafe und Pferde, und für die Menschen
brachte es weit mehr Vorteile, sie in Herden zu halten, als wild umherschweifenden Tieren zu folgen. Die pastorale
Lebensweise entstand daher bald überall, wo diese Tiere zu finden waren: die Rinder und Schafe in Europa, die
Kamele und Ziegen im Orient, die Pferde in der Tartarei, die Rentiere im Norden.“
Mit diesem, wie Roland Meek bemerkt, in seiner Einfachheit verblüffenden Hinweis auf das
Vorhandensein domestizierbarer Tierarten als der Bedingungsmöglichkeit für den Übergang zu
einer höheren gattungsgeschichtlichen Entwicklungsstufe gelingt es Turgot nicht nur, eine
plausible Antwort auf die Frage zu geben, weshalb sich auf dem amerikanischen Kontinent kaum
Spuren des Pastoralismus finden ließen, sondern auch, zureichend zu erklären, weshalb die
amerikanischen Wilden auf dem frühesten Entwicklungsstadium der Menschheitsgeschichte
notgedrungen hatten stehenbleiben müssen:
„Die Lebensweise der Jägervölker hat sich in den Gegenden Amerikas erhalten, in denen jene Tierarten fehlen; in
Peru, wo die Natur den sogenannten Lamas, einer Art von Schafen, ihren Platz zugewiesen hat, kam es zur
Herausbildung des Hirtentums; und dies ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb man in diesem Teil Amerikas
leichter zur staatlichen Ordnung hat übergehen können.“
Während die meisten Völker der Neuen Welt über das Sammler- und Jägerstadium nie
hinauskamen, begann sich, so fährt Turgot fort, in der Alten Welt mit der Viehzucht eine neue und
weit effektivere Wirtschaftsform durchzusetzen, die die Subsistenzgrundlagen sicherte, die zu
einer Erhöhung der Bevölkerungszahl führte und die mit dem „Geist des Eigentums“ zugleich
auch „die Habgier, den Ehrgeiz der Barbaren“ entstehen ließ. Um gemeinsam benachbarte
Völkerstämme zu Überfällen, schlossen sich in Europa und Asien die kleinen nomadisierenden
Horden unter der Führung eines Häuptlings zu größeren Verbänden zusammen. Aus der
Vermischung von Eroberern und Unterworfenen, ihren Dialekten und Gebräuchen bildeten sich
die ersten Nationen. Die frühen Reiche der kriegerischen Hirtenvölker waren indes nur von
kurzem Bestand. Die menschlichen Gesellschaften erhielten eine größere Stabilität erst mit dem
Übergang zum Ackerbau, dem dritten großen welthistorischen Stadium.
Mit der Erfindung des Ackerbaus, zu dem „ohne Zweifel die Hirtenvölker, die sich in den
fruchtbaren Ländern befanden, als erste übergegangen sind“, setzt Turgot den Schnittpunkt an
zwischen den beiden großen Epochen der Menschheitsgeschichte. Wie die ihm nahestehenden
Physiokraten sieht auch er im Ackerbau die eigentliche Quelle des gesellschaftlichen Reichtums,
wurde es seiner Auffassung nach mit dem Übergang zu dieser Wirtschaftsform doch erstmals
möglich, Nahrungsmengen zu produzieren, die weit mehr deckten als den täglichen Bedarf
derjenigen, die an der Nahrungserzeugung arbeiteten. Die Erwirtschaftung eines Mehrproduktes,
von dessen Abschöpfung nun eine Schicht „Müßiger Leute“ (gens oisifs) leben konnte, steht nach
Turgot am Beginn der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Hatte sich die Entwicklung der
Menschheit in den ersten beiden Stadien nur langsam fortbewegt, so begann sich von diesem
Moment an der Fortschritt auf allen Gebieten rapide zu beschleunigen. Denn erst jetzt waren die
Voraussetzungen gegeben für die Entstehung der Städte und des Handels, für die Entwicklung der
nützlichen und der schönen Künste. Sie beruhten auf der wachsenden gesellschaftlichen
Ungleichheit, wie sie gattungsgeschichtlich zunächst in der Unterdrückung der Frau und in der
Institution der häuslichen Sklaverei zum Ausdruck kam.
Turgot ist indes weit davon entfernt, den Verlust der ursprünglichen gesellschaftlichen
Gleichheit als die bloße Negativseite dieses großen gattungsgeschichtlichen Entwicklungssprungs
anzusehen. Im Blick auf die während der beiden ersten Stadien noch brachliegenden
intellektuellen Fähigkeiten der Menschheit bedeutet jener Verlust für ihn vielmehr den
entscheidenden Schritt nach vorn. Hält er gemäß seiner Auffassung von der Einheit des
menschlichen Geschlechts auch daran fest, daß die Menschen - da sie von Anfang an mit den
gleichen Sinnesorganen ausgestattet waren und da nicht nur die menschliche Natur, sondern auch
„das Schauspiel des Universums“ überall das gleiche ist - potentiell schon immer zu denselben
Ideen haben gelangen können, so schränkt er diese Überzeugung doch in einem entscheidenden
Punkt ein. Denn was für die Gleichheit der organischen Ausstattung gilt, trifft seiner Ansicht nach
nicht auch für die besonderen geistigen Begabungen zu. Vor allem das Talent der Innovation: die
Fähigkeit, neue Ideenkombinationen zu entwickeln, findet sich nur bei einigen wenigen, deren
Zahl in konstanter Proportion zur Gesamtbevölkerungszahl steht und die, wie er hinzufügt, ihre
außerordentlichen Veranlagungen erst dort uneingeschränkt entfalten können, wo sie vom Druck
der täglichen Arbeit und der unmittelbaren Bedürfnisse frei sind. Das Anwachsen der
Bevölkerungszahl auf der Grundlage verbesserter Produktionsbedingungen einerseits und die
Herausbildung der gesellschaftlichen Ungleichheit auf der Grundlage der Arbeitsteilung
andererseits, jene beiden aus dem Übergang zum Ackerbau resultierenden Faktoren, schufen
insofern erst die gattungsgeschichtlieben Voraussetzungen für die Freisetzung jener wenigen
besonderen Begabungen im Sinne der Allgemeinheit und damit auch für die stete Akkumulation
und die praktische Umsetzung des Wissens über die Naturzusammenhänge, in der allein Turgot
den Motor des Fortschritts sieht.
Beschränkte Montesquieu die Entfaltung der Fähigkeiten der menschlichen Gattung auf jene
Regionen der Erde, die dem bestimmenden Einfluß des Klimas nicht unterworfen sind, so bindet
Turgot sie eng an die ökonomische Entwicklung; stand im Zentrum von Montesquieus
Anthropogeographie und politischer Theorie die von der äußeren Natur bedingte Ungleichheit der
Herkunft, so steht im Zentrum von Turgots universalhistorischem Entwurf die der menschlichen
Natur inhärente Ungleichheit des intellektuellen Vermögens. An die Stelle des statischen
raumorientierten Ordnungsmodells des Esprit des lois tritt bei Turgot ein dynamisches,
zeitorientiertes Entwicklungsschema. Daß Turgot sich mit der Konzipierung dieses
Geschichtsmodells an die Seite der aufsteigenden bürgerlichen Klasse stellt, geht aus einem Brief
mit aller Deutlichkeit hervor, den er während der Abfassung des Plan de discours sur l'histoire
universelle an Madame de Graffigny schrieb, die Autorin der Lettres d'une Péruvienne, eines
Briefromans in der Tradition von Aphra Behns Oroonoko und Montesquieus Lettres Persanes.
Die zeitgenössische Verherrlichung des Egalitarismus der Wilden, der auch Madame de Graffigny
ihrem Roman gefolgt war, nimmt Turgot hierin zum Anlaß einer Attacke gegen den Egalitarismus
überhaupt:
„Was wäre denn die Gesellschaft ohne diese Ungleichheit der Bedingungen? Ein jeder müßte sich mit dem
Notwendigsten zufriedengeben, ja, es gäbe sogar viele, die sich nicht einmal dessen sicher sein könnten […]. Man
kann den Boden nicht ohne Werkzeuge bestellen, und ohne Vorräte zu haben, von denen man bis zur Ernte leben
kann. Diejenigen aber, die nicht genug Intelligenz besaßen, oder die nicht die Gelegenheit hatten, sich diese zu
beschaffen, haben nicht das Recht, den zu berauben, der sie sich verdient, erworben oder erarbeitet hat […]. Es ist
nicht ungerecht, daß der, der eine produktive Arbeit erfunden, der seinen Mitarbeitern die zu ihrer Verrichtung
notwendigen Werkzeuge und Lebensmittel geliefert und der mit ihnen hierüber freie Verträge abgeschlossen hat, sich
den besten Teil vorbehält, daß er als Preis für sein Entgegenkommen weniger Mühe auf sich nehmen muß und mehr
freie Zeit erhält. Diese freie Zeit versetzt ihn in die Lage, sich neue Überlegungen zu machen und seine Kenntnisse
zu erweitern […]. So entstand die Ungleichheit und nahm selbst bei den tugendhaftesten und moralischsten Völkern
immer mehr zu; sie ist keineswegs ein übel, sie ist vielmehr ein Glück für die Menschen […]“
Turgot, der „die französische Bourgeoisie in der vollen Blüte ihrer Hoffnung personifiziert“
und der, „indem er das Eigentum und die Ungleichheit nur nach ihrem Effekt für das Wachstum
der Produktivkräfte bewertet am reinsten den kapitalistischen Standpunkt vertritt“, war, seiner
Parteinahme für die wirtschaftlich stärksten Schichten des Dritten Standes entsprechend, alles
andere als ein Anhänger der Theorie vom Guten Wilden. Zwar räumt er der Verfasserin der
Lettres d'une Péruvienne gegenüber ein, daß die wilden Völker vor den polizierten europäischen
Nationen einige wenige Vorzüge aufzuweisen hätten, vor allem was, ihre Erziehungs- und
Eheformen anbelangt. Doch ebenso wenig wie bei Turgot Spuren der für die Vertreter des
radikalen Flügels der Aufklärung oft kennzeichnenden Tendenzen zur Idealisierung der
kollektivistischen, libertären oder egalitären Aspekte des Lebens der Wilden zu finden sind, so
wenig zeigt Turgot sich, wie Montesquieu oder die Vertreter der antiabsolutistischen
feudalistischen Opposition, von den heroischen und kriegerischen Tugenden der
nordamerikanischen Indianerstämme beeindruckt. Sein Urteil bleibt eindeutig: „Den Wilden den
Vorzug zu geben ist eine lächerliche Effekthascherei“.
3.
In ihrem räumlichen Nebeneinander bilden für Turgot die wilden Völker des amerikanischen
Kontinents, die wie die ersten Menschen noch im Kampf um das tägliche Dasein befangen zu
sein scheinen und unter der selbst „der Genius eines Racine“ hätte verkümmern müssen, auf der
einen Seite, und die polizierten europäischen Nationen, die ihre Kenntnisse von Tag zu Tag
vervollkommnen und die schließlich einen Mann wie Newton hervorbrachten, der „die Sterne,
die Erde und alle Kräfte der Natur ins Gleichgewicht setzte“, auf der anderen Seite den zeitlichen
Anfangs- und Endpunkt der bisherigen Entwicklung des menschlichen Geschlechts. Mit der
Erfindung des Ackerbaus war der entscheidende Wendepunkt erreicht; seither hatte der
Fortschritt - so führt Turgot seine universalhistorische Konstruktion fort - nur noch gegen zwei
große Widerstände zu kämpfen: gegen die Erstarrung und innere Korruption der Gesellschaften
zum einen, die dazu führten, daß die großen Reiche des Morgenlands in der „Mediokrität ihrer
frühen Reife“ fixiert blieben, und gegen die Überfälle barbarischer Randvölker zum anderen, die
im Abendland nach der Blüte der antiken Kultur die lange Stagnation des Mittelalters bewirkten.
Doch während hier unter der Herrschaft der Barbarei die schönen Künste und die spekulativen
Wissenschaften verfielen, schritt zur gleichen Zeit in den Städten die Vervollkommnung der
mechanischen Künste, weil sie den „Bedürfnissen des Lebens“ dienen, „inmitten der Ignoranz“
stetig voran. Im kontinuierlichen technologischen Fortschritt sucht Turgot denn auch die
Grundlage für den erneuten Aufstieg der Wissenschaften in der Renaissance: Die Kenntnisse über
die Wirkungsgesetze der Natur, die von den Handwerkern der mittelalterlichen Städte in
praktischen Experimenten gesammelt worden waren und vor allem die Erfindung der
Druckkunst, die das seit der Antike angehäufte Wissen allgemein zugänglich machte und die
brachliegenden Talente der besonders Begabten wecken half, wirkten befruchtend auf die
Mathematik, die Naturwissenschaften und die Philosophie zurück und trieben seither, zusammen
mit der durch die Erfindung der Magnetnadel, der Uhr und des Fernglases erreichten
Verbesserungen der Navigationstechniken, die den Austausch des Wissens zwischen den
Nationen beförderten, den Fortschritt auf allen Gebieten voran. Turgots Tableau philosophique
des progrès successifs de l' esprit humain endet mit einem Lobpreis des Jahrhunderts Ludwig
XIV. und Newtons, des „Jahrhunderts der Vernunft“, in dem die Geschichte des Fortschritts ihren
ersten Kulminationspunkt fand. Mit der Kooperation der Wissenschaften auf der einen Seite und
mit dem Handel auf der anderen Seite, der nunmehr an die Stelle des Krieges treten, der die
barbarischen Nationen aus ihrer Isolation befreien und der sie am allgemeinen Fortschritt der
Gattung teilhaben lassen wird, scheint der die Menschheitsgeschichte in früheren Epochen stets
bedrohende Rückfall in die Barbarei für immer gebannt.
4.
Der Eintritt der Fortschrittsidee in die engere ästhetische, literarische und philosophische
Diskussion, und damit oft zugleich auch der Beginn der französischen Aufklärung selbst, wird
gemeinhin mit der Querelle des Anciens et des Modernes datiert, jener gegen Ende des 17.
Jahrhunderts im Umkreis der Académie française entstandenen und sich bis zur Mitte des 18.
Jahrhunderts hinziehenden großen Auseinandersetzung zwischen den Traditionalisten und den
Modernisten über den Vorbildcharakter der antiken Kunst. Turgot war zweifellos einer der ersten,
der in „Übertragung des Modells des theoretischen und ästhetischen Fortschritts auf die
Gesamtvorstellung der Geschichte“ die ökonomische Entwicklung, die großen technologischen
Innovationen und die kontinuierliche Akkumulation des Wissens als Gradmesser eines
allgemeinen Fortschritts der Gattung in universalhistorischer Perspektive wählte. Im Grunde ist
die vieldiskutterte Frage, ob die französische Geschichtsphilosophie des späten 18. Jahrhunderts
unter dem Einfluß Turgots oder unabhängig von ihm zu ähnlichen Konzeptionen gelangt ist,
jedoch irrelevant. Turgots Auffassung basierte auf der Erfahrung des gesellschaftlichen
Gesamtprozesses, der sich in der Epoche abspielte, in der er seinen universalhistorlschen Entwurf
verfaßte, auf der Erfahrung jener großen Umwälzungen, die die ökonomische Basis des
Feudalismus auszuhöhlen begannen und die er, bewußter freilich als die meisten seiner
Zeitgenossen, verfolgte und in seinen späteren Schriften auch zu analysieren verstand.
Auf dem ökonomischen Sektor erlebte Frankreich seit den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts
einen langsamen, aber kontinuierlichen Aufschwung. Während die großen Hungersnöte, die noch
das Ende der Regierungszeit Ludwig XIV. kennzeichneten, allmählich aufhörten und sich der
Außenhandelsumsatz, nicht zuletzt bedingt durch die Expansion des Kolonialhandels, zwischen
1716/20 und 1784/88 mindestens verdreifachte, führte während desselben Zeitraums auf dem
Agrarsektor die Erschließung neuer Anbaugebiete und die Verbesserung der traditionalen
Produktionstechniken zu einer Steigerung der Erträge um 60 Prozent. Die Einführung neuer
Produktionsmethoden in der Baumwollverarbeitung, in den Kohlengruben und in den
Hüttenwerken bewirkte, daß sich die industrielle Produktion bis zum Ende des Jahrhunderts fast
verdoppelte, die Anzahl der „reinen“ industriellen Lohnarbeiter aber sich verdreifachte. Zwar
blieb die Industrie in ihrer Gesamtheit noch von der Grundrente und dem Handelskapital
abhängig, doch schuf die Konzentration der Kapitalien in den Händen des Handelsbürgertums
innerhalb des merkantilistischen Wirtschaftssystems bereits die Voraussetzungen zur
Kapitalisierung auch der Agrikultur und zur Proletarisierung der Landbevölkerung.
Weit deutlicher noch als die langfristig wirkenden Veränderungen im ökonomischen Bereich
war der Wandel, der sich während dieses Zeitraums auf dem Gebiet der exakten Wissenschaften
vollzog. Die wissenschaftlichen Grundlagen für die großen technologischen Innovationen, die zur
industriellen Transformation des alten Manufakturwesens beitrugen, waren zum größten Teil
bereits im 17. und 16. Jahrhundert gelegt worden. Die praktische Umsetzung und die
systematische Verarbeitung jener neuen Erkenntnisse vor allem im Bereich der Astronomie,
Mechanik und Physik aber setzten in Frankreich erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein. Das
vielleicht bekannteste Beispiel ist die zeitgenössische Rezeption der Entdeckungen Newtons, vor
allem seiner Gravitationstheorie. Von Anhängern der klassischen cartesianischen Physik wie etwa
Fontenelle wegen ihres vermeintlich okkulten Charakters zunächst abgelehnt, begann sich die
Gravitationstheorie unter den französischen Gelehrten erst mit der Popularisierung der
Newton'schen Physik durch die Schriften Maupertuis' und Voltaires durchzusetzen. Die letzten
Zweifel wurden indes erst durch die Ergebnisse der großen Expeditionen widerlegt, die
Maupertuis und La Condamine ab 1735 im Auftrag der französischen Akademie nach Lappland
und nach Südamerika unternahmen, um durch die Vermessung der Längengrade in der Polar- und
Äquatorialregion den empirischen Nachweis für die abgeplattete Gestalt des Erdballs zu
erbringen. Es ist hier nicht der Ort, auf die Folgen näher einzugehen, die sich aus der
Aufarbeitung der großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen für die Umwälzung des
traditionellen Weltbildes in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ergaben. Turgots Versuch, den
Fortschritt der Gattung an die stete Anhäufung des Wissens über die Naturzusammenhänge zu
binden, macht jedoch ein weiteres Mal deutlich, daß „die Entdeckung des Fortschritts in der
beginnenden Neuzeit sich nicht als säkulare Umsetzung christlicher Positionen (darstellt)“ - wie
jürgen Mittelstraß in Kritik an der Löwith'schen Säkularisierungsthese formuliert „sondern
schlicht als eine Revolution im naturwissenschaftlichen Denken […]. Wo zu Beginn des
neuzeitlichen Denkens vom Fortschritt die Rede ist, geschieht dies entweder unmittelbar unter
Hinweis auf die neue Wissenschaft, z. B. die Arbeiten Galileis, Harveys, Newtons oder Bayles,
oder mittelbar in Berufung auf deren Interpreten […]“.
Parallel zur stürmischen Entwicklung in den Naturwissenschaften, die mit der Entfaltung der
Produktivkräfte Hand in Hand ging, zeichnet sich in dieser Epoche nicht nur in der
gesellschaftlichen Gesamtstruktur, sondern auch im mikrosoziologischen Bereich, vor allem in
der familialen Infrastruktur sowie im allgemeinen sozialen Verhaltenskodex ein tiefgreifender
Wandel ab, der in engem Zusammenhang steht mit der wachsenden gesellschaftlichen
Differenzierung. Philippe Ariés und Edward Shorter haben in ihren Studien zur Entstehung der
modernen Familie aufgezeigt, wie nunmehr insbesondere unter den städtischen mittelständischen
Schichten an die Stelle der „kooperativen“ und „unsentimentalen“ Großfamilie, die den
ökonomischen Focus der feudalen Gesellschaftsordnung bildete, die um das Kind zentrierte
konjugale Familie tritt, in der die gegenseitigem Gefühlsbindungen in dem Maße an Bedeutung
gewinnen und die sich in dem Maße einen eigenen Privatbereich schafft, in dem die
ökonomischen Gemeinschaftsaufgaben der Familie in den Hintergrund treten. Mit der
gleichzeitig erfolgenden „Entdeckung der Kindheit“ und der Ausgliederung der Kinder aus der
Arbeits- und Lebenswelt der Erwachsenen, beginnt die Erziehung - „das Zauberwort der
Aufklärung“ (J. Mittelstraß) - eine immer größere Rolle zu spielen. Neben der reinen
Unterweisung im Wissen bedeutet Erziehung im 18. Jahrhundert in zunehmendem Maße
Einübung in die „Mikrostrukturen des zivilisationsgemäßen Verhaltens“. Norbert Elias hat im
Rahmen seiner Theorie des zivilisatorischen Prozesses den Nachweis zu führen versucht, wie im
18. Jahrhundert jener langfristig eine Umstrukturierung des gesamten Triebhaushalts bewirkende,
und durch die Umsetzung von Fremd- in Selbstzwänge, das Vorrücken der Scham- und
Peinlichkeitsschwelle, die Beherrschung unmittelbarer Bedürfnisse, die Kontrolle spontaner
Affektregungen und die Herausbildung stabiler, zukunftsorientierter Handlungsketten
gekennzeichnete neue Verhaltenskodex, der zunächst unter den aristokratischen Oberschichten
des Hofes entwickelt worden war und sich bereits im 17. Jahrhundert unter den mit der
Hofgesellschaft eng verflochtenen gehobenen Kaufmannskreisen ausgebreitet hatte, nunmehr
auch die breiten Schichten des Bürgertums, entsprechend ihrer Einbeziehung in das „große Netz
der Interdependenzen“, zu erfassen begann.
Dieser kurze Überblick zeigt bereits, daß die Ursachen für die Entstehung der optimistischen
Geschichtsvisionen, die sich in Frankreich in der Mitte des 18. Jahrhunderts herausbilden und in
die Vorstellung eines infiniten Progresses der Gattung münden, weit weniger in der
Säkularisierung heilsgeschichtlicher Erwartungen, als vielmehr in der historischen
Realentwicklung der Zeit zu suchen sind: im offenkundigen Anwachsen der
naturwissenschaftlichen Kenntnisse, im, wenn auch weniger spektakulären, so doch
kontinuierlichen wirtschaftlichen Wachstum sowie in den fast unmerklich vor sich gehenden und
den entscheidenden „zivilisatorischen Schub“ bewirkenden Veränderungen des sozialen
Verhaltens.
Die Deklarierung der zeitgenössischen „wilden“ Gesellschaften zu den petrifizierten Vorstufen
der Gattungsgeschichte stellt einen wesentlichen Bestandteil des neuen Geschichtsbildes da,
dessen Entwicklung hier am Beispiel von Turgots universalhistorischem Entwurf verfolgt worden
ist. In dem Maße, in dem sich das Selbstverständnis der abendländischen Gesellschaften als des
fortgeschrittensten Teiles der Menschheit solchermaßen gerade im Blick auf die
zurückgebliebenen „wilden“ Gesellschaften konstituierte, mußte es notwendig auf das
herkömmliche Bild der Wilden selbst zurückzuwirken. Solange sich die Frage nach dem
Fortschritt, wie in der Querelle des Anciens et des Modernes, noch ausschließlich an der
Auseinandersetzung über den Vorbildcharakter der antiken Kunst und Literatur entzündete, war
die Gleichsetzung der Wilden mit den Völkern des Altertums keineswegs gleichbedeutend mit
ihrer Herabsetzung, sondern vermochte bisweilen sogar das Gegenteil zu bewirken. Dies ändert
sich jedoch spätestens dort, wo man anstelle der ästhetischen Entwicklung die neuzeitlichen
Errungenschaften auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und der mechanischen Künste ins
Auge zu fassen beginnt. Ein Indiz für den allmählichen Wandel bei der Beurteilung der Wilden ist
der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts immer häufiger Verwendung findende Vergleich ihrer
Lebensverhältnisse mit denen der pauperisierten Landbevölkerung in Europa selbst. Er zeigt
unter anderem an, wie man sich der durch die ökonomische und wissenschaftlich-technische
Entwicklung bewirkten und immer größer werdenden Kluft zwischen den städtischen und
ländlichen Lebensformen in der eigenen Gesellschaft auf der einen Seite und den sich
industrialisierenden europäischen Gesellschaften und den außereuropäischen
Subsistenzgesellschaften auf der anderen Seite zunehmend bewußt wurde.
In welchem Ausmaß die neuen Wertmaßstäbe und Verhaltensmuster, die sich parallel zu jener
Entwicklung durchzusetzen beginnen, auch in die direkte Beobachtung Eingang fanden und
damit ihrerseits zur Transformation des Bildes vom Wilden beitrugen, wird etwa an der
Beschreibung der südamerikanischen Wilden bei La Condamine deutlich, des bereits erwähnten
Mathematikers und Naturforschers, der um 1740 Peru und das Amazonasbecken im Auftrag der
französischen Akademie bereiste. La Condamine nämlich charakterisiert die Indianerstämme, auf
die er im Verlauf seiner Forschungsreisen traf, folgendermaßen:
„Gierig und gefräßig, sobald sie etwas haben, woran sie sich Genüge tun können; enthaltsam aber, wenn die Not sie
dazu zwingt, so daß sie auf alles verzichten und nichts zu begehren scheinen; über alle Maßen zaghaft und furchtsam
[…]; jeder Arbeit feind, und unberührt von jedem Antrieb des Ruhms, der Ehre oder der Dankbarkeit; allein mit dem
Gegenwärtigem befaßt, und von ihm vollständig beherrscht; ohne jede Sorge um die Zukunft; unfähig zur
Voraussicht und Reflexion; sobald nichts sie stört, überlassen sie sich einer kindlichen Freude, die sie dadurch zum
Ausdruck bringen, daß sie ohne Anlaß und Ziel umherspringen und unmäßig lachen; sie verbringen ihr Leben ohne
zu denken, und sie altern, ohne die Kindheit, deren Fehler sie alle behalten, je zu verlassen.“
Es sind genau jene zivilisationsgemäßen Verhaltensweisen, die nach der Darstellung Norbert
Elias' in der französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts zu den vorherrschenden werden,
deren Nichtvorhandensein bei den Wilden La Condamine hier konstatiert: ihre unbeherrschte
Gier und ihre ungezügelten „kindischen“ Freudenbezeugungen, ihre Fixierung auf den
Augenblick und ihr Unvermögen, die Zukunft zu planen, Züge, die insgesamt auf eine mangelnde
Kontrolle der Bedürfnisse und der spontanen Affektregungen hindeuten. Weit davon entfernt, die
Sorglosigkeit und Selbstgenügsamkeit der Wilden wie noch die meisten früheren Beobachter als
Hinweis auf ihre paradiesische Unschuld zu betrachten, wertet La Condamine sie umstandslos als
Beweis für ihre Arbeitsscheu, ja für ihre Unvernunft im allgemeinen, wenn er behauptet, daß sie
ihr Leben verbringen ohne zu denken; dagegen betonte etwa noch Lafitau, daß sie ihre eigenen
Angelegenheiten besser zu regeln wüßten als „das einfache Volk bei uns“. Vor allem
aufschlußreich aber ist die Schlußfolgerung, zu der La Condamine in Zusammenfassung seiner
Beobachtungen gelangt: sie werden alt, ohne das Stadium der Kindheit je zu verlassen.
Bedeutung erhält diese Bemerkung vor dem Hintergrund der in der französischen Gesellschaft
zur gleichen Zeit erfolgenden „Entdeckung der Kindheit“, zeigt sie doch, daß die Ausschließung
des Wilden aus dem gattungsmäßigen Vernunftzusammenhang offensichtlich von Anfang an
parallel einherging mit der Ausschließung des Kindes aus der vernünftigen Welt der
Erwachsenen. La Condamines Darstellung der Affektlage und der Verstandestätigkeit der Wilden
als einer „kindlichen“ stellt insofern einen der frühesten Belege für die Herausbildung dieses
Paradigmas dar, das später in der Ethnologie und in der Psychologie bis hin zu Freuds
Ineinssetzung von primitiver und kindlicher Psyche, von Phylogenese und Ontogenese, so
folgenreich fortwirken sollte.
Wenn hier auf La Condamines Charakterisierung der südamerikanischen Indianerstämme in
solcher Ausführlichkeit eingegangen worden ist, dann auch deshalb, weil ihr im Grunde die
gleiche Denkfigur zugrundeliegt wie der Bewertung der wilden Gesellschaften im Rahmen von
Turgots universalhistorischer Konstruktion. Sei es, daß die Einbeziehung der Wilden in die
Einheit und historische Kontinuität der Gattung unter der Auspizie eines an die ökonomische,
wissenschaftliche und technische Entwicklung gebundenen Fortschrittsbegriffs vorgenommen
wird, sei es auch, daß sie im Hinblick auf die wachsende Vervollkommnung der
Verstandesleistungen und der psychischen Apparatur im Sinne zunehmender Selbstkontrolle
erfolgt, in beiden Fällen bedeutet sie die Bedingungsmöglichkeit für die Entfernung der wilden
Gesellschaften von demjenigen Teil der Gattung, der auf dem tendenziell gemeinsamen Weg der
Völker am weitesten vorangeschritten zu sein scheint. Das in der Begegnung und
Auseinandersetzung mit den Gesellschafts- und Lebensformen der Wilden enthaltene kritische
Potential wird dadurch, daß man sie summarisch zu den unvollkommenen Stufen der eigenen
Entwicklung deklariert, endgültig neutralisiert. Ihre Einbeziehung in den Gattungszusammenhang
unter den genannten beiden Prämissen schafft zugleich aber auch die Voraussetzung zur
Auflösung des starren, zwischen der Alternative einer Idealisierung und einer Dämonisierung der
Wilden schwankenden Oppositionsrahmens, innerhalb dessen sich der anthropologische Diskurs
lange Zeit bewegt hatte. Die Frage, die von den Reisenden und Philosophen des 17. Jahrhunderts
wiederholt aufgeworfen worden war, sofern sie in den Wilden nicht nur halbtierische Lebewesen
sehen wollten, die Frage nämlich, ob ihre Lebensweise der der Zivilisierten überlegen sein
könnte, sie kann nunmehr als absurd oder lächerlich abgetan werden: „Den Wilden den Vorzug zu
geben ist eine lächerliche Effekthascherei“, ruft Turgot in seinem Brief an Madame de Graffigny
aus, und gegen die Bonsauvagisten gerichtet bemerkt auch La Condamine: „…man kann nicht
ohne Beschämung sehen, wie wenig der Mensch sich vom Tier unterscheidet, wenn er der
einfachen Natur überlassen und der Erziehung und der Gesellschaft beraubt ist“99a .
Prototyp und Varietäten der Gattung
Buffons Anthropologie
1.
1749 veröffentlichte George-Louis Leclerc de Buffon die ersten drei Bände der bis zu seinem
Tod auf sechsunddreißig Quartbände angewachsenen Histoire naturelle, générale et particulière,
ein Werk, das zu den verbreitetsten und wissenschaftshistorisch einflußreichsten des 18.
Jahrhunderts gehört, und das - obgleich sein Verfasser, der in seinen politischen Ansichten
zurückhaltende und wohl eher konservative gräfliche Intendant des Jardin du Roi, dem engeren
Kreis der philosophes nur bedingt zugerechnet werden kann - zum „biologischen Standardtext“
der Aufklärung werden sollte.
Im Mittelpunkt der Histoire naturelle steht in doppeltem Sinn der Mensch: als privilegierter
Gegenstand ebenso wie als Ordnungszentrum des Diskurses. Buffon entwickelt das
Ordnungssystem seiner Naturgeschichte in Kritik am abstrakt klassifizierenden Verfahren der
Linnéschen Botanik; für seine eigene Vorgehensweise ist die Einsicht zentral, daß letztlich ein
jedes naturhistorisches Klassifikationssystem eine willkürliche Schöpfung des menschlichen
Geistes darstellt. Ist es daher nicht sinnvoller - so fragt er in der Vorrede seines Werkes mit
deutlich polemischer Wendung gegen Linné und seine Schule -, sich an der Ordnung der Natur
selbst zu orientieren, anstatt künstliche Merkmale als Unterscheidungskriterien zu wählen und
zum Beispiel „auf das Pferd, das ein Einhufer [solipide] ist, den Hund folgen zu lassen, der zwar
ein Spaltfüßler [fissipide] ist, aber gewöhnlich tatsächlich dem Pferd folgt, anstatt des Zebras, das
wir kaum kennen, und das womöglich zum Pferd keine andere Beziehung hat, als die, ebenfalls
ein Einhufer zu sein?“ Buffon legt infolgedessen seiner Einteilung der belebten und unbelebten
Natur eine „natürliche Ordnung“ zugrunde, die sich im Gegensatz zu der „künstlichen Ordnung“
Linnés streng empirisch ausrichtet an der jeweiligen Umwelt, in der die zu beschreibenden Arten
auftreten. Ihr eigentliches Gliederungs- und Organisationsprinzip aber ist die Nützlichkeit der
verschiedenen natürlichen Arten für den Menschen. Die Histoire naturelle beginnt daher mit
einer Beschreibung des Menschen, der, seiner physischen Konstitution entsprechend, selbst in
den Bereich der animalischen Lebewesen eingegliedert wird, um von ihm, dem „Meisterwerk der
Schöpfung“, überzugehen zu den domestizierten Tieren, zu den wilden Tieren der Alten Welt, zu
den unbekannteren Tierarten der Neuen Welt, zu den Vögeln, zu den Pflanzen und schließlich zu
den Mineralien.
In seiner Bestimmung der Stellung des Menschen innerhalb des Ganzen der Natur entwickelt
Buffon die Leitgedanken, die, teils insgeheim und teils offen, auch sein Urteil über die
außereuropäischen Rassen und Kulturen bestimmen. Bildet die Nützlichkeit der äußeren Natur
für den Menschen das Ordnungsprinzip seiner allgemeinen Naturgeschichte, so wird der
unterschiedliche Grad ihrer Nutzbarmachung durch die Menschen zum Organisationsprinzip des
Tableaus der physischen und kulturellen Varietäten der menschlichen Gattung, das er im Rahmen
der Histoire naturelle entwirft.
2.
Buffons Versuch, den Menschen - wie vor ihm seit Aristoteles erstmals wieder Linné in
seinem Systema Naturae von 1735 - in den Gegenstandsbereich der Naturgeschichte
einzubeziehen, war hinsichtlich der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der ersten Bände der
Histoire naturelle noch dominierenden theologischen Weltauffassung zweifellos ein
provozierendes Unterfangen: Buffon bestimmt den Menschen nicht von Gott, sondern vom Tier
her. Gleichwohl war das Ziel seiner Überlegungen ein eher konventionelles. Auch Buffon geht es
darum, die Überlegenheit und Sonderstellung des Menschen innerhalb der Natur unter Beweis zu
stellen, wenngleich ohne den obligaten Rückgriff auf theologische oder metaphysische
Begründungen.
Die Eigenschaften des Tieres Punkt für Punkt mit denen des Menschen vergleichend, gelangt
Buffon zu dem Schluß, daß es bei aller Ähnlichkeit der äußeren Organe das Denkvermögen sei -
die Fähigkeit nämlich, „Sensationen zu vergleichen und Ideen aus ihnen zu formen“ - das den
Menschen selbst noch vom vollkommensten Tier unterscheide. Diesem einzigartigen Vermögen
verdanke er nicht nur seine Überlegenheit über alle anderen animalischen Lebewesen, sondern
auch seine Macht über die Natur, in der vor allem es sich Ausdruck verschafft:
„Man wird darin übereinstimmen, daß der Dümmste unter den Menschen selbst das klügste aller Tiere zu führen
vermag. Er gebietet ihm und macht es seinen Zwecken nutzbar, und zwar weder durch Gewalt noch
Geschicklichkeit, sondern allein aufgrund seiner natürlichen Überlegenheit, und weil er nach überlegten Entwürfen
verfährt, eine Ordnung in seinen Handlungen beobachtet, und eine ganze Reihe von Mitteln zur Verfügung hat, durch
die er das Tier zum Gehorsam nötigt. Denn noch niemals haben wir gesehen, daß selbst die stärksten und
geschicktesten Tiere anderen Tieren befehlen oder sie zu ihren Zwecken gebrauchen.“
Die Tatsache, daß allein der Mensch kraft seines Denkvermögens über ein
vernunftbegründetes, vorausplanendes und zweckbewußtes Handeln verfügt, während das Tier,
und zwar selbst dort, wo es, wie er hinzufügt, in Gesellschaften lebt, bewußtlos den
mechanischen Gesetzen der Natur unterworfen bleibt, wertet Buffon als das entscheidende Indiz
dafür, daß in seinem Wesen eine „immaterielle Substanz“ enthalten sein müsse, die ihn weit über
alle anderen Lebewesen erhebt. Der neue Weg, den Buffon bei der Bestimmung des Menschen
einzuschlagen versucht hat, erweist sich damit aber als bloßer Umweg. Auch er kommt
letztendlich nicht aus ohne den Rekurs auf die Vorstellung eines dem Menschen immanenten
spirituellen Prinzips. Buffons Bestimmung des Menschen über den Vergleich seiner natürlichen
Anlagen mit denen des Tieres mündet so erneut in eine die Trennung von Geist und Materie
behauptende „dualistische Anthropologie“, die „in ziemlich direkter Nachfolge des orthodoxen
Carteslanismus“ steht.
Diese erste Bestimmung des Menschen von 1749 hat Buffon in den später erschienenen
Bänden der Histoire naturelle jedoch erheblich erweitert und implizit sogar revidiert. So bindet er
bereits in Les Animaux domestiques von 1753 die Entfaltung der spezifischen Fähigkeiten des
Menschen eng an seine Soziabilität, ein Gedanke, den er in den folgenden Jahren, nicht zuletzt in
Reaktion auf die in Rousseaus Zweitem Diskurs entwickelten Hypothesen, bis zur Vorwegnahme
der biologischen Retardationstheorie weiter ausbauen sollte. Ursprünglich war der Mensch - so
nämlich behauptet Buffon jetzt - „vermutlich das wildeste und am wenigsten gefürchtete von
allen Tieren; nackt, ohne Waffen und ohne Schutz, war die Erde ihm eine große Wüste, bevölkert
von Ungeheuern, denen er oft zur Beute fiel […]“. Dieser anfänglichen Ohnmacht des Menschen
wurde erst ein Ende gesetzt durch den freien Zusammenschluß mehrerer Einzelwesen zur
Gesellschaft. Buffon faßt die menschliche Gesellschaft primär als Instrument der
Selbstdomestikation auf, denn in ihr erst konnte der Mensch erlernen, „sich selbst zu befehlen,
sich zu zähmen, sich unterzuordnen und sich Gesetze aufzuerlegen“; erst in der Gesellschaft
gelang es ihm, „seine Vernunft zu vervollkommnen, seinen Geist zu üben und seine Kräfte zu
sammeln“ und somit die Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen, die es ihm erlaubten, sich die
Natur untertan zu machen. Hatte Buffon 1749 die grundsätzliche Überlegenheit des Menschen
allein aus seinem Denkvermögen und seiner Fähigkeit des zielgerichteten Handelns erklärt, so
sieht er 1753 im Leben in der Gesellschaft den, über die Selbstdomestikation vermittelten,
eigentlichen Bedingungsgrund der Herrschaft des Menschen über die Natur. Fünf Jahre später, in
Les Animaux carnassiers, dem 1758 veröffentlichten sechsten Band der Histoire naturelle, geht
Buffon schließlich einen entscheidenden Schritt weiter. War er mit seiner Konzeption von 1753,
insofern sie auf der Vorstellung eines aus freiem Entschluß erfolgten Zusammenschlusses der
ersten Menschen zur Gesellschaft beruhte, den Vertretern naturrechtlicher Vertragstheorien noch
verhältnismäßig nahe gestanden, so distanziert er sich in Les Animaux carnassiers von deren
Position und weist vor allem Rousseaus Auffassung von der Isoliertheit und Sprachlosigkeit des
homme naturel mit Entschiedenheit zurück, indem er nun die Familie ausdrücklich zur
ursprünglichen menschlichen Gesellungsform erklärt:
„Sofern man nicht unterstellen will, daß der menschliche Körper früher von einer anderen Beschaffenheit war als
heute, und daß sein Wachstum einst viel schneller vonstatten ging, kann man unmöglich behaupten, daß der Mensch
je hätte existieren können, ohne Familien zu bilden, da die Kinder ja elend zugrunde gingen, würden sie nicht über
mehrere Jahre hin versorgt und gepflegt werden; dagegen sind neugeborene Tiere auf ihre Mutter höchstens ein paar
Monate angewiesen. Allein diese physische Notwendigkeit beweist bereits hinlänglich, daß die menschliche Gattung
nur mittels der Familie Bestand haben und sich vermehren konnte, daß es natürlich ist, wenn Mütter und Väter sich
zur Aufzucht der Kinder zusammentun, da es einfach notwendig ist […]. Der reine Naturzustand ist infolgedessen
durchaus bekannt: es ist der Zustand des Wilden, der in Familie lebt, der seine Kinder kennt und von ihnen gekannt
wird, der sich seiner Stimme bedient und sich verständlich machen kann.“
Während Buffon 1749 beim Vergleich des Menschen mit dem Tier noch von der menschlichen
Natur in ihrer Individuiertheit ausging, betrachtet er 1758 die Soziabilität als mit zum Wesen des
Menschen gehörig. Der Verweis auf das dem Wesen des Menschen immanente spirituelle Prinzip
kann damit aber in seiner Argumentation als Bedingungsgrund der Überlegenheit des Menschen
zunehmend in den Hintergrund treten. Der neue Begründungszusammenhang, den Buffon in Les
Anzmaux domestiques und in Les Animaux carnassiers entwickelt, bekräftigt seine Überzeugung
von der Sonderstellung des Menschen innerhalb der Natur nur ein weiteres Mal. Für Buffon ist es
nun vor allem das Leben in der Gesellschaft, dem der Mensch seine Macht über die Natur
verdankt. Es besteht daher für ihn kein Anlaß, das Resultat selbst zu revidieren, zu dem er auf
Grund seiner früheren Überlegungen gekommen war. Schreite die Natur auch ansonsten „in kaum
merklichen Stufen und Nuancen“ voran, so gelte dieses Gesetz - so nämlich schrieb er schon
1749 in De la nature de l'homme - doch nicht für das Verhältnis von Mensch und Tier:
„Zwischen dem Vermögen des Menschen und dem des vollkommensten Tieres besteht ein unendlicher Abstand; dies
ist ein deutlicher Beweis dafür, daß der Mensch eine Klasse für sich bildet, von der aus man einen unendlichen Raum
durchmessen und in Stufen herabsteigen muß, bis man zu der Klasse der Tiere angelangt. Denn wenn der Mensch zur
Ordnung der Tiere gehörte, so müßte es eine bestimmte Anzahl von Lebewesen geben, die vollkommener als das Tier
sind und die uns in kaum merklichen Abständen und Abstufungen vom Menschen zum Affen herabsteigen ließen. So
ist es aber nicht. Man tut einen plötzlichen Sprung vom denkenden zum materiellen Wesen, von der Macht des
Verstandes zur mechanischen Kraft, von der Ordnung und der Absicht zur blinden Bewegung, und von der Reflexion
zur Begierde.“
Indem Buffon von einer „unendlichen Distanz“ zwischen dem Menschen und dem Tier auf
seiner obersten Stufe: dem Affen, ausgeht, und damit zugleich die Möglichkeit der Existenz von
Zwischenwesen in Abrede stellt, bricht er zumindest in diesem einen Punkt mit der die
Wissenschaften vom Leben bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts als Leitparadigma
beherrschenden Vorstellung von der „großen Kette des Seins“, derzufolge alle Dinge
kontinuierlich miteinander verbunden sind, in der Natur das Prinzip der Fülle herrscht und der
Aufbau der Natur einer stufenmäßigen Anordnung folgt, die vom niedrigsten bis zum höchsten
Lebewesen reicht . Nach Maßgabe der Notwendigkeit, den in einem ersten Schritt in das
Tierreich eingegliederten Menschen in einem zweiten Schritt von diesem in aller Schärfe zu
trennen, beschränkt Buffon diesen Bruch mit den drei Grundprinziplen der großen Kette des
Seins jedoch auf die Distinktion Mensch-Tier. Gerade die Vorstellung einer kontinuierlich in
Stufen voranschreitenden Ordnung der Natur kehrt wieder in der Darstellung der Varietäten der
menschlichen Gattung, die er im dritten Band der Histoire naturelle gibt. So wenig die Rede von
einer unendlichen Kluft zwischen Mensch und Tier Buffon daran hindert, den homme imbécile,
der „zwar eine Seele hat, und infolgedessen in sich auch das Prinzip der Vernunft besitzt, […]
sich ihrer aber nicht bedient“, dann doch eng in die Nähe des Tieres zu rücken, so wenig hindert
ihn seine Überzeugung vom - durch ebenjene Kluft zureichend verbürgten - monogenetischen
Ursprung der Menschheit daran, innerhalb der Gattung eine Vielzahl von Abstufungen éu
unterscheiden, die zwischen den homme civilisé, wie ihn der Europäer, und den homme sauvage,
wie ihn vorzugsweise der Hottentotte als der „affenähnlichste“ von allen Menschen repräsentiert,
einen fast ebenso immensen, wenn auch von der Gattung als ganzer umfaßten Abstand legen wie
zwischen Mensch und Tier. Dem bewußten, die Tiere, Pflanzen und Mineralien nach ihrer
Nützlichkeit für den Menschen taxierenden Anthropozentrismus der Histoire naturelle entspricht
dort, wo Buffons Augenmerk den menschlichen Rassen und Kulturen gilt, ein nicht weniger
bewußter Eurozentrismus.
3.
Michel Foucault hat die Naturgeschichte des klassischen Zeitalters als eine das Feld der
Erfahrung bewußt einengende Beobachtungsweise beschrieben, die von wenigen auffälligen und
zunächst arbiträr ausgewählten sichtbaren Merkmalen ausgeht, um sie zur Grundlage eines
„Systems von Identitäten und Unterschieden“ zu machen, das erlaubt, „alle natürlichen Wesen
(zu) bezeichnen und […] ein(zu)reihen.“ Damit ist auch das Verfahren treffend charakterisiert,
das Buffon bei seiner Klassifizierung der Varietäten der menschlichen Gattung zunächst
einschlägt.
Buffon unterteilt die menschliche Gattung in verschiedene „Rassen [races]“, „Arten [espices]“
und „Varietäten [variétés]“, die er in erster Linie nach den hervorstechendsten physiologischen
Merkmalen, nach der Farbe der Haut, der Haare und der Augen, nach der Größe und den
Proportionen des Körpers, nach der Schädelform und nach den Gesichtszügen bestimmt.
Gleichgewichtig ist jedoch auch der Platz, den er den ethnischen Besonderheiten, dem, was er
„das Naturell der verschiedenen Völker“ nennt, einräumt: ihren Sitten und Neigungen, ihren
abergläubischen Vorstellungen, ihren Formen der Sexualität, ihrer Ernährungs- und ihrer
Wohnweise. Auch in diesem zweiten Bereich folgt er dem Prinzip, die als am absonderlichsten,
auffälligsten oder kuriosesten erscheinenden Merkmale als Unterscheidungskriterium zu wählen.
Ein drittes und die ersten beiden, häufig in Analogie zueinander gesetzten, vertikal
durchschneidendes Raster bildet der jeweilige Grad an Poliziertheit, den ein bestimmtes Volk
erreicht hat. Es ist dieser zumeist nur beiläufig erwähnte und in den Katalog der Kriterien auch
nicht ausdrücklich aufgenommene dritte Bestimmungsfaktor, der in das ansonsten statische
anthropologische System Buffons ein, wie noch zu zeigen sein wird, dynamisierendes Moment
einfließen läßt.
Buffon ist sich durchaus darüber im klaren, daß sich die Auswahl gerade solcher Kategorien
als tragender Unterscheidungsbegriffe nicht allein an der unmittelbaren sinnlichen
Wahrnehmung, sondern auch an den ästhetischen und moralischen Maßstäben orientiert, die die
eigene Kultur ihm liefert. Zweifelt er an der grundsätzlichen Überlegenheit der eigenen Kultur
auch ebensowenig wie Montesquieu oder Turgot, so ist es doch das Bewußtsein von der relativen
Willkürlichkeit des an ihren Standards ausgerichteten Klassifikationssystems - ein Bewußtsein,
das ihn im übrigen von den biologistischen Rassentheoretikern, die im 19. Jahrhundert seine
Nachfolge antreten sollten, unterscheidet -, das ihn dazu veranlaßt, sich bezüglich der
menschlichen Rassen und Kulturen nicht allein darauf zu beschränken, die Varietäten der Gattung
in ein „System von Identitäten und Unterschieden“ einzuordnen. Buffon geht vielmehr einen
Schritt weiter. Er verläßt den herkömmlichen Rahmen der Naturgeschichte und versucht, seinem
Klassifikationssystem ein Realfundament zu geben, indem er nach den Gründen fragt, die zur
Entstehung der Unterschiede zwischen den menschlichen Rassen geführt haben.
Ähnlich wie Montesquieu sieht auch Buffon in den jeweiligen Umweltbedingungen, unter die
er nicht nur die klimatischen Verhältnisse, sondern auch das Ensemble der übrigen natürlichen
sowie der historisch gewordenen Lebensbedingungen zählt, die Ursachen, „die zusammen die
Varietäten hervorgebracht haben, die wir unter den verschiedenen Völkern der Erde beobachten
können“. So führt er die schwarze Hautfärbung der Afrikaner zwar in erster Linie auf die starke
Sonnenbestrahlung zurück, fügt aber hinzu, daß dieser Effekt sowohl durch die schlechte
Ernährungslage verstärkt werde, als auch durch die unstete Lebensweise der Völker des
afrikanischen Kontinents, die sie den Auswirkungen des Klimas weit stärker aussetzte als die
polizierten Nationen Europas. Und in ähnlicher Weise macht er für die dunkle Komplexion, die
geringe Körpergröße und die, wie er meint, außerordentliche Häßlichkeit der Völker des
nördlichen Polarkreises eine Vielzahl natürlicher und kultureller Ursachen verantwortlich. „Es
gibt“ - so schreibt Buffon in Übereinstimmung mit den meisten Naturhistorikern seiner Zeit
„einen allgemeinen Prototyp in jeder Gattung, nach dem jedes Individuum modelliert ist, der sich
aber, indem er sich realisiert, den Umständen entsprechend abzuwandeln oder zu
vervollkommnen scheint[…]“. Diese Regel, derzufolge die einzelnen Varietäten einer jeden
Gattung entweder als Vervollkommnungen oder als Degenerationen ihres Prototyps angesehen
werden müßten, gelte innerhalb der menschlichen Gattung ebenso wie in der ganzen belebten
Natur. Die dunkle Hautfärbung und die „körperliche Deformiertheit“ der Völker der heißesten
und der kältesten Klimazonen der Erde, die „Roheit“ ihrer Sitten und ihre „abergläubischen
Praktiken, der hohe Grad ihrer Abhängigkeit von der Natur und nicht zuletzt die Beobachtung,
daß die Kinder schwarzer Völker bei der Geburt eine weißliche Hautfärbung aufwiesen, die sich
erst nach einigen Tagen verlierte, gelten Buffon als einschlägige Beweise dafür, daß es sich bei
ihnen nur um „degenerierte“ Abartungen der Gattung handeln könne, die sich unter allen
Varietäten vom gemeinsamen Urbild am weitesten entfernt haben. Für ihn steht daher eindeutig
fest, daß der eigentliche Prototyp der menschlichen Gattung nur dort zu finden sei, wo der
Mensch dem Einfluß des Klimas und der Natur am wenigsten ausgesetzt ist:
„Die gemäßigste Klimazone erstreckt sich vom vierzigsten zum fünfzigsten Breitengrad. Hier trifft man auf die
schönsten und wohlgestaltetsten Menschen; in dieser Klimazone muß man denn auch das Modell oder die Einheit
suchen, auf die sich alle Schattierungen der Farbe und der Schönheit beziehen lassen; denn die beiden Extreme sind
vom Wahren und Schönen gleich weit entfernt. Die gesitteten Länder in diesem Erdstrich sind Georgien, Zirkassien,
die Ukraine, die europäische Türkei, Ungarn, das südliche Deutschland, Italien, die Schweiz, Frankreich und der
nördliche Teil von Spanien. Alle diese Völker machen den schönsten und am besten gebildeten Teil der menschlichen
Gattung aus, der sich auf Erden befindet.“
Liegt dem Aufbau der mit dem Menschen selbst als dem obersten Geschöpf auf der
Stufenleiter der belebten Natur beginnenden Histoire naturelle eine sich von oben nach unten
bewegende Ordnung zugrunde, so folgt das Tableau der Varietäten der menschlichen Gattung, das
Buffon im dritten Band bildhaft entwirft, dem horizontalen Ordnungsprinzip der
Zentralperspektive. Jedes Volk erhält einen fest bestimmten Platz nach Maßgabe der räumlichen
Entfernung, die es vom festgesetzten gemeinsamen Mittelpunkt trennt: dem zivilisierten
Europäer, der von allen Menschen der „schönste und wohlgestalteste“ zugleich ist, der den der
Gattung gemäßen Prototyp am vollkommensten verkörpert und an dem gemessen alle übrigen
Varietäten als bloße, mehr oder weniger degenerierte Abweichungen erscheinen. In
konzentrischen Zirkeln sich bewegend, zeichnet der Diskurs ein Bild, dessen anthropomorphe
Züge unverkennbar sind. Er führt von den Völkern des äußersten Nordens am oberen Rand des
Tableaus, den Lappen, den Samojeden, den Grönländern und den Eskimos, die zusammen eine
Rasse bilden, „da sie sich in ihrer Form, ihrer Größe, ihren Farben, ihren Sitten und selbst in der
Bizarrheit ihrer Bräuche ähnlich sind“, über die Völker des asiatischen Festlandes und der
umliegenden Inseln, die sich gleichfalls nur in Nuancen voneinander unterscheiden und
gemeinsam die „tartarische Rasse“ bilden, zu den Papuas und den Australiern am rechten unteren
Bildrand, „die vielleicht die erbärmlichsten Leute von der Welt sind, und von allen Menschen den
Tieren am nächsten kommen“, um von ihnen über die Einwohner der Insulinde, Indiens,
Arabiens, Ägyptens und Vorderasiens, die alle bereits einen bestimmten unteren Grad an
Poliziertheit erreicht haben, in graduellen Abstufungen aufzusteigen zu den „schönsten, weitesten
und wohlgestaltesten Völkern der Erde […], die sich alle in ungefähr derselben Entfernung vom
Äquator befinden.“ Vom Zentrum des Bildes führt der Weg erneut herab in die südlichen
Regionen. Auf die Beschreibung der „halb-polizierten Äthiopier“ und der übrigen hellhäutigen
Bewohner Nordafrikas folgt die der „schwarzen Rassen“ des afrikanischen Kontinents, um
endlich bei den Kaffern und Hottentotten am linken unteren Bildrand anzugelangen, die auf der
„Skala der menschlichen Gesellschaften“ die gleiche unterste Rangstufe einnehmen wie auf der
gegenüberliegenden Seite die Papuas und die Australier. Der Textur dieses Bildes der Rassen und
Kulturen ist die Gestalt des menschlichen Körpers als Grundmuster eingeschrieben; die wilden
und die halbzivilisierten Völker gruppieren sich um die europäischen Nationen wie die äußeren
Gliedmaßen um Herz und Rumpf.
4.
Auch in Buffons naturhistorischer Anthropogeographie sind es die wilden Völker des
amerikanischen Kontinents, die, ähnlich wie bei Montesquieu, die harmonische Geschlossenheit
eines vornehmlich räumlich konzipierten Ordnungssystems sprengen. Erlaubte die Klimatheorie,
eine ursächliche Beziehung zwischen den Umweltbedingungen und den besonderen körperlichen
und kulturellen Eigenarten der Völker der Alten Welt herzustellen, so versagt sie jedoch, wie
Buffon eingestehen muß, vor der erstaunlichen Uniformität der Völker der Neuen Welt, denn
obwohl der amerikanische Kontinent in seiner nord-südlichen Ausdehnung dieselben
Breitengrade umfaßt wie Europa, Afrika und Asien, gibt es hier „sozusagen nur ein und dieselbe
Rasse von Menschen, die mehr oder weniger bräunlich sind“, und die insofern „anscheinend
tatsächlich völlig verschieden von dem sind, was sie sein müßten, wenn die Entfernung vom Pol
die Hauptursache der Vielfalt wäre, die sich innerhalb der menschlichen Gattung findet“. Von
ähnlicher Uniformität wie die körperlichen Merkmale sei auch die Lebensweise der Einwohner
Amerikas: „Alle natürlichen Amerikaner waren oder sind noch Wilde oder Halbwilde; die
Mexikaner und Peruaner haben sich erst so spät poliziert, daß sie diesbezüglich keine Ausnahme
bilden.“ Glaubte Buffon auch feststellen zu können, daß sich die klimatischen Verhältnisse auf
dem amerikanischen Kontinent aufgrund der besonderen geographischen Gegebenheiten nicht in
demselben Ausmaß voneinander unterscheiden wie etwa die Europas oder Afrikas, so verbot die
Verhältnismäßige Gleichförmigkeit der Völkerschaften der Neuen Welt dennoch die strikte
Anwendung des bei der Darstellung der Völker der Alten Welt eingeschlagenen
Klassifikationsverfahrens, ihr körperliches Erscheinungsbild, ihre Gesellungsform und ihre Sitten
in direkte Entsprechung zum besonderen Charakter der von ihnen bewohnten Klimazonen zu
setzen. Buffon steht sich daher in diesem Fall dazu gezwungen, nach weiteren, und von den
Umweltbedingungen wesentlich unabhängigeren Bestimmungsfaktoren zu suchen. Die Frage
nach dem Ursprung der amerikanischen Völker spielt in der Konstruktion, die er wählt, um dieses
Problem zu lösen, eine ausschlaggebende Rolle.
Wie Lafitau, dessen Migrationstheorie er mit Einschränkungen übernimmt, vertritt auch
Buffon die Auffassung, daß die süd- und nordamerikanischen Indianerstämme von den Völkern
der Alten Welt abstammen, und zwar vor allem von den Tartaren, die über die Beringstraße im
Nordwesten und über Grönland im Nordosten nach Amerika eingewandert sein sollen, eine
Theorie, zu der er allerdings, wie er hinzufügt, „unabhängig von theologischen Überlegungen“
und allein aufgrund der Übereinstimmung der körperlichen Merkmale der entsprechenden Völker
gelangt sei. Die Besiedlung Amerikas wäre zudem - so entwickelt er schließlich das Argument,
das ihm den entscheidenden Schlüssel liefert für die Geschichte der Neuen Welt - nicht nur in
mehreren Schüben erfolgt, sondern könne auch erst verhältnismäßig spät stattgefunden haben.
Denn nur so ließe sich erklären, weshalb man allein in Mexiko und Peru „zivilisierte“ Menschen
habe antreffen können, bei denen es sich zweifellos um die Nachkommen der ältesten
Einwanderer handele, denen es als ersten gelungen sei, „polizierte Gesellschaften“ zu bilden, „die
Gesetzen unterworfen sind und von Königen regiert werden.“ Dagegen seien alle übrigen
Völkerschaften Amerikas bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt über den Zustand der Wildheit nicht
hinausgelangt. Wegen der Weiträumigkeit des ihnen zur Verfügung stehenden Landes und
aufgrund ihrer geringen Zahl hätten diese „lärmenden Haufen barbarischer und unabhängiger
Menschen, die einzig ihren partikulären Leidenschaften folgen“, bisher weder das Bedürfnis noch
die Notwendigkeit verspürt, sich gewohnheitsmäßig zu festen Gesellschaften mit beständigen
Gebräuchen zusammenzuschließen:
„Weit mehr noch als von der Natur hängt die Vermehrung der Menschen von der Gesellschaft ab; und im Vergleich
zu den wilden Tieren sind die Menschen nur deshalb so zahlreich, weil sie sich zu Gesellschaften
zusammengeschlossen haben und sich gegenseitig helfen, beistehen und unterstützen […]. Gleichwie die Menschen
sich ohne gesellschaftlichen Zusammenschluß nicht sonderlich vermehren, so bringt ein Anwuchs ihrer Zahl über
eine bestimmte Menge hinaus fast notwendig die Gesellschaft hervor. Da man aber in diesem Teil Amerikas keine
einzige zivilisierte Nation angetroffen hat, kann man vermuten, daß die Anzahl der Menschen daselbst noch zu klein
und ihr Aufenthalt in diesem Landstrich noch viel zu neu gewesen war, als daß sie bereits die Notwendigkeit oder gar
die Vorteile eines gesellschaftlichen Zusammenschlusses hätten verspüren können. Denn obgleich diese wilden
Nationen gewisse Sitten und Gebräuche aufwiesen, die jeweils einer von ihr eigentümlich waren […], so waren sie
doch alle gleichermaßen dumm, gleichermaßen unwissend und in den Künsten und der Gewerbsamkeit
gleichermaßen unbewandert.“
Indem Buffon den einzigen, dafür aber umso wesentlicheren Unterschied, der sich seiner
Ansicht nach unter den ansonsten gleichförmigen Völkerschaften des amerikanischen Kontinents
finden läßt: den Grad an Poliziertheit nämlich, den die Mexikaner und Peruaner gegenüber allen
übrigen Bewohnern Amerikas bereits erreicht hatten, ausschließlich aus dem vergleichsweise
frühen Zeitpunkt ihrer Ankunft in der Neuen Welt erklärt, verläßt er den bisherigen
Zuordnungsrahmen seiner Naturgeschichte des Menschen und führt einen temporalen Faktor ein,
der das bis dahin streng räumlich ausgerichtete Ordnungssystem in Fluß bringt. Die Entwicklung
der menschlichen Gesellschaft in der Zeit stellt eine eigenständige Größe dar, die den Einflüssen
des Klimas und der Umwelt nur bedingt unterworfen ist. Sie folgt ihren eigenen Gesetzen. Es
sind die des Wachstums. Sobald die Zahl der Menschen eine bestimmte Größenordnung
übersteigt, ergibt sich für sie zwangsläufig die Notwendigkeit, die freie, aber zugleich durch ein
hohes Maß an Abhängigkeit von der Natur gekennzeichnete Lebensweise des Wilden aufzugeben
und sich einer festen gesellschaftlichen Ordnung zu unterwerfen. Das quantitative Wachstum ist
insofern für Buffon Bedingungsmöglichkeit und Indikator des Fortschritts zugleich. Denn
umgekehrt schafft erst der Zusammenschluß der Menschen zu einer konstanten Regeln folgenden
gesellschaftlichen Ordnung die Voraussetzungen, sie, um den Preis der Aufgabe der persönlichen
Freiheit, vom äußeren Naturzwang zu befreien. Unter gleichen Umweltbedingungen ist es daher
nur eine Frage der Zeit, wie es der Hinweis auf die bereits polizierten Mexikaner und Peruaner zu
verstehen gibt, wann dieser Übergang zu einer qualitativ höheren Entwicklungsstufe erfolgt. Die
Herrschaft des Menschen über sich selbst und seine Herrschaft über die Natur bedingen sich
demnach gegenseitig. Ihr beider Medium ist die festgefügte soziale Ordnung. Gerade in den
Ausführungen über die Völkerschaften der Neuen Welt im 1749 veröffentlichten dritten Band der
Histoire naturelle deutet sich also die Modifizierung der um das Prinzip der Soziabilität
erweiterten Bestimmung des Menschen bereits an, zu der Buffon vier Jahre später in Les
Animaux domestiques gelangen sollte.
In Buffons Naturgeschichte des Menschen nehmen die amerikanischen Wilden jedoch noch in
anderer Beziehung eine Schlüsselstellung ein. Erklärt er die Unterschiede im physischen und
kulturellen Erscheinungsbild der Völker der Alten Welt vor allem aus den unterschiedlichen
Naturbedingungen, so erklärt er die Gleichförmigkeit der Völkerschaften der Neuen Welt in erster
Linie daraus, daß sie sich - mit Ausnahme der Peruaner und der Mexikaner, die jedoch wegen des
späten Zeitpunkts ihrer Zivilisierung vernachlässigt werden könnten - alle noch in einem Zustand
befanden, der der Formation fester gesellschaftlicher Ordnungen vorausgeht:
„…alle waren sie wild, oder hatten sich erst neuerlich ein wenig zivilisiert; sie lebten auf dieselbe Art und Weise, wie
sie auch früher schon immer gelebt hatten. Nimmt man an, daß sie alle desselben Ursprungs waren, so mußten sich
die einzelnen Rassen verstreut haben, ohne sich je miteinander zu kreuzen; jede Familie bildete eine Nation für sich,
die sich selbst immer ähnlich, und den anderen fast ähnlich blieb.“
Sieht er in den Völkern der gemäßigten Klimazonen die vervollkommnetesten Ausformungen
des der menschlichen Gattung gemeinsamen Prototyps, in den Völkern der heißesten und
kältesten Klimate aber degenerierte Abartungen, die sich in Anpaßung an die extremen
Bedingungen ihrer Umwelt von ebenienem Prototyp am weitesten entfernt haben, so verkörpern
die amerikanischen Wilden für ihn das zeitlich früheste Stadium der Gattungsgeschichte, da sich
für sie die Alternative noch nicht gestellt hat, sich entweder zu vervollkommnen oder zu
degenerieren:
„Denn da das Klima und die Nahrung sich fast überall ähnlich sind, gab es für sie weder einen Anlaß, zu
degenerieren, noch einen Anlaß, sich zu vervollkommnen. Sie mußten daher immer dieselben bleiben, und fast
überall blieben sie sich auch untereinander gleich.“
Anders als die Lappen, die Afrikaner oder die Australier, die unter klimatischen Bedingungen
lebten, die die Entstehung polizierter Gesellschaften verhinderten, sind sie daher nicht nur Wilde,
sondern unverbildete Primitive, im historischen wie im biologischen Sinn:
„Sie haben sich die Merkmale ihrer Rasse bis heute ohne große Abweichungen erhalten, weil sie alle Wilde
geblieben sind […], und weil sie sich erst neulich in ihren Ländern niedergelassen haben, weshalb denn auch die
Ursachen, die die Varietäten hervorbringen, nicht lange genug auf sie haben einwirken können, um merkliche
Wirkungen hervorzurufen.“
Als eine Rasse von Menschen, die sich weder zu festen Gesellschaften zusammengeschlossen
noch ihre körperlichen Merkmale in einem Prozeß der hereditären Anpassung an die
Bedingungen ihrer natürlichen Lebenswelt modifiziert haben, beweisen sie, durch ihre soziale
und physische Undifferenziertheit, daß die innerhalb der Gattung zu beobachtenden Varietäten
Produkt der Geschichte sind. Wie im Hinblick auf die individuellen Eigenschaften, die den
Menschen vom Tier unterscheiden, kann Buffon daher auch im Hinblick auf die
Unterschiedlichkeit der menschlichen Rassen die Einheit und den monophyletischen Ursprung
der Gattung behaupten, ohne auf theologische Begründungen zurückgreifen zu müssen:
„Es vereinigen sich mithin alle Umstände zu dem Beweis, daß das menschliche Geschlecht sich nicht aus
voneinander wesentlich unterschiedenen Gattungen zusammensetzt, sondern daß es vielmehr ursprünglich nur eine
einzige menschliche Gattung gegeben hat, die nach ihrer Vermehrung und Verbreitung über die Oberfläche der Erde
verschiedene Veränderungen erfahren hat, die durch den Einfluß des Klimas, die unterschiedliche Nahrung, die
unterschiedliche Lebensweise, die epidemischen Krankheiten und ebenso durch die ungemein vielfältige
Vermischung einzelner Menschen, die einander bald mehr und bald weniger ähnlich waren, hervorgerufen wurden.
Es ist ferner klar, daß diese Veränderungen anfänglich nicht so ausgeprägt waren und nur individuelle Varietäten
hervorbrachten; daß sie dann aber zu Varietäten der Gattung geworden sind, weil sie aufgrund der fortgesetzten
Einwirkung immer derselben Ursachen allgemeiner, merklicher und beständiger wurden […]. Da sie nun
ursprünglich nur durch das Zusammenwirken äußerer und zufälliger Ursachen zustande gekommen sind, und da sie
endlich bloß durch die Zeit und die fortgesetzte Wirkung eben derselben Ursachen verfestigt und beständig gemacht
worden sind, so ist es überaus wahrscheinlich, daß sie alle mit der Zeit wieder vergehen oder auch eine ganz andere
Beschaffenheit annehmen würden, sobald ebenjene Ursachen nicht mehr vorhanden wären, oder falls sie sich unter
anderen Umständen und aufgrund des Zusammentreffens anderer Ursachen erneut verändern sollten.“
Das Problem der Zuordnung der ihrem physischen Erscheinungsbild nach gleichförmigen
Bevölkerung des amerikanischen Kontinents in ein primär räumlich konzipiertes und nach dem
Prinzip der Auffälligkeit äußerer Unterschiede strukturiertes anthropogeographisches
Bezugssystem wird für Buffon zum Anlaß, der Geschichtsbestimmtheit der menschlichen Rassen
und Kulturen neben ihrer Bestimmtheit durch die jeweils besondere äußere Natur einen
gleichgewichtigen zweiten Platz einzuräumen. Es scheint jedoch, als sei Buffon vor den
Konsequenzen zurückgeschreckt, die sich aus einer systematischeren Berücksichtigung dieses
zweiten, aus seiner Einsicht in die Differenz zwischen der Naturgeschichte des Menschen und der
Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gesellschaft gewonnenen Bestimmungsfaktors für die
innere Geschlossenheit seines Tableaus der Varietäten der menschlichen Gattung ergeben hätten.
Schwankte er 1749 noch zwischen einem räumlich und einem zeitlich orientierten
Erklärungsmodell, so räumt er 1761 in Animaux communs aux deux continents der
Naturbestimmtheit der menschlichen Rassen erneut den Vorrang ein, wenn er nunmehr die
Eigentümlichkeiten der Völkerschaften Amerikas auf die seiner Ansicht nach für die ganze
belebte Natur des Kontinents charakteristische Tendenz zur Verkleinerung zurückführt und
hieraus schließt, daß auch der amerikanische Wilde „schwach und klein (ist) in seinen
Zeugungsorganen“. Aus diesem Grund müsse man nicht allzu weit gehen, so schreibt er jetzt,
„um die Ursache zu finden für das verstreute Leben der Wilden und ihren Widerwillen gegen die
Gesellschaft; der wertvollste Funke der Natur blieb ihnen versagt; ihnen fehlt die Begierde nach
ihrem Weibchen, und infolgedessen die Liebe für ihresgleichen.“
Ungeachtet dessen, daß für Buffon die Varietäten der menschlichen Gattung, sofern sie sich
allein der „kontinuierlichen Einwirkung“ derselben „äußeren und zufälligen Ursachen“
verdanken, nicht für immer festgeschrieben sind und sich, als bloße Lokalmodifikationen, den
Veränderungen des natürlichen Milieus entsprechend, abwandeln oder eines Tages sogar
vollständig verlieren können, bleibt die Ordnung seines anthropogeographischen Tableaus eine
hierarchische. Sind die Menschen auch ihrem Ursprung nach gleich, so sind es doch nicht die
äußeren Umstände, unter denen sie leben und die sie formen. Die Herrschaft des Menschen über
die Natur als Bestimmungsziel der Gattung setzt schon immer ein bestimmtes Maß an äußerer
Naturfreiheit voraus. Von allen Rassen und Völkern sind die Europas allein deshalb diejenigen,
die den höchsten Grad an Naturbeherrschung erreicht haben und unter denen sich „die schönsten
und wohlgestaltetesten Menschen“ finden lassen, weil sie die der Gattung gemäßen
Eigenschaften unter dem günstigsten Klima der Erde am vollkommensten haben zur Entfaltung
bringen können. Die Freiheit von den Auswirkungen extremer klimatischer Verhältnisse ist
überdies nur eine der Voraussetzungen für die Höherentwicklung eines jeden Volkes. Nicht
weniger wichtige Determinanten stellen die Lebensweise und der bereits erreichte Grad an
Poliziertheit dar, denn „ein poliziertes Volk […], das ein geregeltes, friedliches und ruhiges Leben
führt […], und dem es am Nötigsten nicht mangelt, wird allein deshalb aus schöneren, kräftigeren
und wohlgestalteteren Individuen bestehen als ein wilde und unabhängige Nation, in der jedes
Individuum, da es keine Unterstützung von der Gesellschaft bezieht, dazu gezwungen wird, sich
das Lebensnotwendige selbst zu beschaffen […]“. Diese historisch gewordenen Unterschiede
aber werden selbst dann eine Zeitlang weiterbestehen, wenn sich die äußeren Lebensbedingungen
verändern, könne man doch annehmen, daß, sofern man „diese beiden Völker unter dasselbe
Klima versetzt“, „die Menschen der wilden Nation dennoch dunkler gefärbt, häßlicher, kleiner
und runzliger wären als die der polizierten Nation.“
Die immense Kluft, die den Wilden vom Zivilisierten trennt, und die vielen kleinen
Abstufungen und Nuancen, in denen sich alle anderen Völker voneinander unterscheiden,
verdanken sich mithin nicht allein der Natur, sondern auch der Geschichte. War es aber die
Geschichte, die die Ungleichheiten innerhalb der Gattung in Wechselwirkung mit den jeweiligen
Naturbedingungen hat entstehen lassen, so wird es auch die Geschichte sein, die die Einheit der
Gattung eines Tages auf höherer Stufe wieder herstellt. Indem Buffon die Überlegenheit des
Abendlandes, soweit sie nicht von vorneherein naturgegeben war, sondern durch das
„Zusammenwirken äußerer und zufälliger Ursachen“ zustande kam, als moralische Verpflichtung
für die europäischen Nationen betrachtet, jene immense Kluft zwischen den Wilden und den
Zivilisierten soweit wie möglich zu verringern, wird er zum Fürsprecher eines humanitaristischen
Kolonialismus, als der er einerseits zwar die Exzesse der spanischen Konquista und der
Sklavenwirtschaft verurteilt, anderseits aber in der kolonialen Expansion das historische
Werkzeug sieht, die Wilden auf eine höhere Stufe der Gattungsentwicklung zu heben:
„Den Zweck, aus ihnen gesittete Menschen zu machen, wird man nicht mit Gewalt erreichen, und auch dadurch
nicht, daß man sie in die Sklaverei zu zwingen versucht; die Missionen haben unter diesen barbarischen Nationen
mehr Wilde zu Menschen umgebildet als die siegreichen Armeen der Prinzen, die sie unter das Joch beugten.
Paraguay ist eines der Länder, die auf diese Weise erobert wurden: durch ihre beständige Sanftmut, ihre guten
Beispiele, durch ihre Mildtätigkeit und durch die Ausübung ihrer Tugenden haben die Missionare die Zuneigung der
Wilden gewonnen und ihr Mißtrauen und ihre Unbändigkeit besiegt. Sie sind oft von selbst gekommen und haben die
Missionare gebeten, sie das Gesetz zu lehren, das die Menschen so vollkommen macht. Sie haben sich diesem
Gesetz willig unterworfen und sich zusammen in Gesellschaft vereinigt. Nichts kann der Religion zu größerer Ehre
gereichen, als diese Nationen zivilisiert und mit keinen anderen Waffen als denen der Tugend ein solches Reich
begründet zu haben.“
Im Rahmen seiner allgemeinen Naturgeschichte hat Buffon eines der differenziertesten
anthropologischen Systeme seiner Zeit entworfen, ein System, das dem Einfluß klimatischer
Bedingungen auf die Entstehung der Unterschiede im physischen und kulturellen
Erscheinungsbild der einzelnen Völker ebenso Rechnung zu tragen versucht wie den
Wechselbeziehungen zwischen Umwelt, Lebensweise und Gesellschaftsentwicklung. Buffon hat
damit nicht nur die Philosophen der Aufklärung bis hin zu Kant und Forster entscheidend
beeinflußt, sondern auch Themen antizipiert, die erst im 19. Jahrhundert zu dominierenden
werden sollten. An den wenigen Bruchstellen auch seines anthropologischen Systems, vor allem
aber an der Identität seiner Bestimmung des Verhältnisses Europas zu den Wilden mit den
Schlußfolgerungen, zu denen Montesquieu, Turgot und auch Voltaire bei aller Unterschiedlichkeit
ihrer jeweiligen Ansätze in derselben Frage gelangen, wird indes einmal mehr deutlich, wie dem
immanenten Wissenschaftsfortschritt das materielle Interesse als Sperre entgegensieht: Die
Gleichförmigkeit des Objekts kehrt wieder in der enthistorisierten Subjektivität dessen, der ihm
diese Gleichförmigkeit vindiziert.
Das Maß des Widerstands
Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Voltaire
1.
Unter den Gelehrten und Philosophen der Jahrhundertmitte waren Buffon und Voltaire die
beiden Autoren, die über die umfaßendsten Kenntnisse in der älteren und zeitgenössischen
Reiseliteratur verfügten. Dennoch wäre es ein vergebliches Unterfangen, aus den zahlreichen
kleineren Bemerkungen und verstreuten Äußerungen über die Wilden, die sich in Voltaires
umfangreichem Gesamtwerk finden, ein ähnlich einheitliches Bild des Wilden herauslesen zu
wollen wie bei Buffon. Zwar teilt Voltaire dort, wo er die wilden Gesellschaften zum Gegenstand
geschichtsphilosophischer Betrachtung macht, das abwertende Urteil Buffons und Turgots. Doch
hat ihn dies nicht daran gehindert, in seinem literarischen Werk an die gegenläufige Tradition
Lahontans und seiner Vorgänger anzuknüpfen und den Wilden, als Repräsentanten des
unverdorbenen Naturzustandes, in den Dienst aufklärerischer Religions- und Gesellschaftskritik
zu stellen. Ungeachtet dieser Widersprüchlichkeit im Urteil, an der sich beispielhaft ablesen läßt,
wie jene beiden die anthropologische Diskussion der Aufklärung bestimmenden gegensätzlichen
Tendenzen oft bei ein und demselben Autor unverbunden nebeneinander fortlebten, ergeben
Voltaires wenige im engeren Sinne philosophischen Äußerungen über die Natur des Menschen,
die menschlichen Rassen und den Ursprung der menschlichen Soziabilität ein anthropologisches
System von bemerkenswerter innerer Geschlossenheit. Es besteht aus einigen wenigen
Grundüberzeugungen, die er bereits in seiner ersten systematischen philosophischen Abhandlung,
dem Traité de Métaphysique von 1734, entwickelt hatte, an denen er, unbeirrt von neueren
wissenschaftlichen Entdeckungen, auch späterhin festhielt und die schließlich als konstitutiver
Bestandteil in die Philosophie der Geschichte Eingang fanden, die er über zwanzig Jahre später
mit dem Essai sur les mœurs et l’esprit des nations entwarf, ein Werk, das für die
Geschichtsauffassung des 18. Jahrhunderts von ähnlicher Bedeutung ist wie Montesquieus De
l'Esprit des lois für die politische Theorie der Aufklärung und Buffons Histoire naturelle für die
Wissenschaften vom Leben.
Voltaires Essai sur les mœurs war seiner ursprünglichen Anlage nach als Fortsetzung, seiner
Intention nach aber als Kritik an Bossuets Discours sur l'histoire universelle gedacht, jenes
Meisterwerks der theologischen Geschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts, in dem das
christliche Geschichtsbild ein letztes Mal in geschlossener Form dargelegt worden war. Dem
theologischen Providentialismus Bossuets stellt Voltaire im Essai eine säkulare Philosophie der
Geschichte gegenüber, die die dem historischen Ablauf zugrundeliegenden kausalen
Verkettungen und Gesetzmäßigkeiten nach dem Vorbild der Naturwissenschaften einsichtig zu
machen versucht. Zugleich erweitert Voltaire den engen Gesichtskreis von Bossuets
Universalgeschichte und bezieht die alten Hochkulturen des Orients mit in die Betrachtung ein.
Was der Essai sur les mœurs et l'esprit des nations anstrebte, war eine Universalgeschichte des
menschlichen Geistes, die sich nicht mehr nur auf eine Annalistik der großen politischen
Ereignisse beschränken, sondern stattdessen der Geschichte der Völker selbst gelten sollte, den
Veränderungen ihrer Lebensgewohnheiten und Gesetze, der Entwicklung der Künste, der
Wissenschaften und der Literatur. In ihr sollten die großen Leistungen der orientalischen
Hochkulturen nicht weniger unvoreingenommen gewürdigt werden als die der europäischen
Nationen, denn, so betont Voltaire immer wieder, „wir müssen uns vor unserer Gewohnheit
hüten, alles nach unseren Gebräuchen zu beurteilen“. Diese Bewußtheit der eurozentrischen
Beschränktheiten der eigenen Sehweise fand indes in Voltaires affirmativer Beziehung zur
eigenen Kultur ihre Grenzen. Voltaires Geschichtsphilosophie ist gekennzeichnet durch ein
ausgeprägtes zivilisatorisches Selbstbewußtsein, dem „Glücksgefühl, einer besseren und
vollkommeneren Welt anzugehören“. Im Grunde konnte es gar nicht in seiner Absicht liegen, sich
bei der Beschreibung vergangener und gegenwärtiger Gesellschaften jedes Werturteils zu
enthalten. Voltaires Geschichtsschreibung ist parteiisch. Er stellte sie bewußt in den Dienst der
Aufklärung. Sie ist von derselben sozialen Erfahrung geprägt wie die Geschichtsphilosophie
Turgots, mit dem er denn auch die Überzeugung teilte, daß sich die eigene Epoche von allen
vorangegangenen grundlegend unterscheidet, jene Epoche nämlich, in der das französische
Bürgertum, - dem Voltaire entstammte und dessen Interessen er zeit seines Lebens gegenüber
dem Adel und dem Klerus mit derselben Vehemenz vertrat wie gegenüber den Unterschichten des
Dritten Standes - nicht nur den bisherigen Höhepunkt seiner ökonomischen Machtentfaltung
erfahren hatte, sondern sich seiner historischen Bedeutung auch zunehmend bewußt wurde: Der
„ungeheure Erfolg“ seines Essai sur les mœurs verdankte sich der Tatsache, daß er „der
aufsteigenden Bourgoisie eine historische Rechtfertigung ihrer eigenen Ideale lieferte, durch die
Unterstellung, daß alle Geschichte im 18. Jahrhundert gipfelt“.
Gleichwohl war Voltaire die Vorstellung eines die vergangene und die zukünftige Entwicklung
der Menschheit bestimmenden unaufhaltsamen Fortschritts im Grunde fremd. Ähnlich wie Turgot
sieht zwar auch Voltaire in den großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen Newtons den
sichtbarsten Indikator dafür, welchen Grad der Vervollkommnung der menschliche Geist in
seinem Jahrhundert erreicht hatte. Dennoch stellt die eigene Epoche für ihn nur eine jener
wenigen Perioden der Ruhe und des Glücks dar, die sich im Verlauf der Geschichte immer wieder
abwechseln mit Perioden des Niedergangs und des Rückfalls in die Barbarei. Voltaires
Geschichtsbild ist nicht zielgerichtet und zukunftsbezogen, sondern ausgerichtet am zyklisch-
organischen Modell des Wachstums, der Blüte und des Verfalls. Die Geschichte ist für ihn der Ort
des steten und unausgesetzten Kampfes der Vernunft gegen die Unvernunft. Die dualistische
Grundstruktur seines Geschichtsbildes schließt in sich ein statisches Bild des Menschen ein. Sie
beruht auf der Überzeugung, daß der Mensch „im allgemeinen schon immer das war, was er ist“.
Diese Überzeugung aber steht wiederum in engem Zusammenhang mit Voltaires Deismus, der
insofern sowohl für seine Anthropologie, als auch für seine Geschichtsphilosophie den Schlüssel
liefert.
2.
Während Bossuet noch überzeugt war vom persönlichen Eingreifen Gottes in den Ablauf des
historischen Geschehens, steht für Voltaire Gott gleichsam außerhalb der Geschichte. Als Urheber
der strengen mechanischen Gesetzlichkeit, von der Newton nachgewiesen hatte, daß sie das
ganze Universum beherrscht, wirkt er in ihr nur insofern, als die von ihm in das Wesen aller
Menschen eingeschriebenen und den Geschichtsverlauf bestimmenden Regeln von derselben
Konstanz und Unabänderlichkeit sind wie die Naturgesetze.
Im Hang zur Geselligkeit sowie in den sich gegenseitig die Waage haltenden Kräften der
„Leidenschaft“ und der „universellen Vernunft“ sieht Voltaire daher die „von der Natur in unsere
Herzen eingeprägten“ Eigenschaften, in denen sich alle Völker gleichen, und die, bei allen
äußeren Unterschieden der menschlichen Rassen, die Einheit der Gattung und ihrer Geschichte
verbürgen. Voltaire hat diese seiner Geschichtsphilosophie zugrundegelegte Auffassung nicht erst
im Rahmen des Essai sur les mœurs entwickelt. Sie datiert zeitlich weit früher. Denn schon im
Traité de Métaphysique von 1734 schrieb er über den Ursprung der menschlichen Geselligkeit:
„Sind die Absichten des Schöpfers, der wollte, daß der Mensch in Gesellschaft lebt, denn nicht zureichend erfüllt?
Wenn es irgendein vom Himmel gefallenes Gesetz gäbe, das den Menschen den Willen Gottes voll und klar zu
verstehen geben würde, dann bedeutete Moral doch nicht mehr, als in völliger Übereinstimmung mit diesem Gesetz
zu leben […] Aber da Gott meines Wissens nicht geruhte, sich auf diese Weise in unsere Angelegenheiten
einzumischen, müssen wir uns an die Gaben halten, die er uns geschenkt hat. Diese Gaben sind die Vernunft, die
Eigenliebe, das Wohlwollen für unsere Gattung, die Bedürfnisse und die Leidenschaften, mithin all die Mittel, mit
denen wir die Gesellschaft errichtet haben.“
Verglichen mit dem hohen Reflexionsniveau, auf dem sich der den Menschen allein nach
seiner Stellung innerhalb der Natur bestimmende anthropologische Diskurs bei Buffon bewegt,
vermag Voltaire den Menschen nicht ohne den obligaten Rückgriff auf die Vorstellung Gottes als
des „ewigen Mechanisten“ zu bestimmen, der „die Natur belebt“ und in die Menschen „all die
Mittel, mit denen wir die Gesellschaft errichtet haben“, als „Triebfeder“ eingebaut hat, da „er
wollte, daß der Mensch in Gesellschaft lebt“. In der Ablehnung der von den Vertragstheoretikern
vertretenen Auffassung von der ursprünglichen Ungeselligkeit des Menschen stimmt Voltaire
zwar mit Buffon grundsätzlich überein. Doch während Buffon den Hang zur Geselligkeit aus der
besonderen biologischen Konstitution des Menschen abzuleiten versucht, sei es aus der
Notwendigkeit der langen Abhängigkeit der Kinder von den Eltern, sei es auch aus der
spezifischen Trieborganisation des Menschen, sieht Voltaire in der Soziabilität nur den Ausdruck
der finalen Zielsetzungen des göttlichen Willens.
Die Überzeugung, daß die Welt, so wie sie beschaffen ist und schon immer beschaffen war,
das Werk göttlicher Setzung sei, ist es denn auch, die Voltaire der Anstrengung enthebt, die
Entstehung der Unterschiede zwischen den menschlichen Rassen wie Buffon aus dem Ensemble
der Bedingungen des Jeweiligen natürlichen, sozialen und historischen Milieus zu erklären. Die
Vorstellung einer „unendlichen Kluft“, die den Menschen vom Tierreich trennt, ist ihm fremd.
Für Voltaire steht vielmehr fest, daß die Natur in unmerklichen Nuancen und Abstufungen
voranschreitet, daß „die Lebensorgane“ bei Mensch und Tier die gleichen sind, daß „ihre
körperlichen Operationen von den gleichen Prinzipien ausgehen“ und daß sich das Tier auf seiner
obersten Stufe, dem Affen, vom Menschen auf seiner untersten Stufe, dem Neger, allein durch
„ein paar Ideen und ein paar Kombinationen mehr“ unterscheidet. Voltaire differenziert
infolgedessen nicht zwischen den natürlichen Arten und den Varietäten der menschlichen
Gattung, und verzichtet dementsprechend auch auf ein einheitliches Klassifikationsprinzip zur
Unterscheidung der menschlichen Rassen. Bald sind es die Hautfarbe und der Bartwuchs, bald
aber auch bestimmte körperliche Absonderlichkeiten, wie etwa die sog. Hottentottenschürze, die
für ihn eine jeweils eigene „race“ oder „espèce d'hommes“ konstituieren. Die Frage aber, wie
diese Varietäten zustandegekommen sein könnten, stellt sich ihm erst gar nicht, da für ihn
feststeht, daß die Unterschiede zwischen den natürlichen Arten von Anbeginn an gegeben waren,
wäre es doch traurig gewesen, wie er einmal bemerkt, „hätte es so viele Arten von Affen gegeben
und nur eine einzige von Menschen“. Annehmen zu wollen, daß die Vielfalt der Natur nicht
schon in der Schöpfung selbst angelegt war, hieße für Voltaire an der unbegrenzten Allmacht des
Schöpfers zweifeln: „Gott hat mit unendlichen Mitteln eine unendliche Anzahl von Wesen
geschaffen, weil er selbst unendlich ist.“ Überzeugt vom unveränderlichen und gottgegebenen
Charakter der Ordnung der Natur, weist er daher zugleich mit der Theorie der Veränderbarkeit der
Arten auch die Annahme der Monogenisten zurück, die menschlichen Rassen hätten sich aus
einem einzigen Elternpaar entwickelt:
„Noch nie hat ein einigermaßen gebildeter Mensch sich zu der Behauptung verstiegen, daß Arten degenerieren
könnten, solange sie sich nicht miteinander vermischen […]. Ich glaube daher mit gutem Grund annehmen zu
können, daß es sich mit den Menschen nicht anders als mit den Bäumen verhält: ebensowenig wie die Birnbäume,
die Fichten, die Eichen und die Aprikosenbäume von ein und demselben Baum abstammen, stammen die bärtigen
Weißen, die Gelben mit ihren langen, glatten Haaren und die bartlosen Menschen von ein und demselben Menschen
ab.“
Die psychische Einheit und die physische Mannigfaltigkeit der menschlichen Gattung gründen
für Voltaire allein in Gott. Ebenso wie „die Vernunft, die Eigenliebe, das Wohlwollen für unsere
Art, die Bedürfnisse und die Leidenschaften“, die unterschiedslos in allen Menschen
eingeschrieben sind, verdankt sich auch die Diversität der menschlichen Rassen, da es „mit den
Menschen auch nicht anders sein kann wie mit den Bäumen“, dem göttlichen Schöpfungsplan.
An dieser bereits 1734 entwickelten Überzeugung hat Voltaire auch später standhaft
festgehalten. Selbst zu einem Zeitpunkt, als sich die Anschauungen Buffons in dieser Frage
bereits weitgehend durchgesetzt hatten, weist er daher beharrlich jeden Versuch zurück, die
physischen Varietäten der menschlichen Gattung als Resultat umweltbedingter Einflüsse oder
historischer Entwicklungen zu begreifen. Denn daß das Klima keine Auswirkungen auf die
körperlichen Eigenschaften des Menschen haben könne, sei schon allein dadurch hinlänglich
bewiesen, so nämlich schreibt er noch 1765, „daß Neger und Negerinnen, die man in kältere
Länder gebracht hat, auch dort immer nur Tiere ihrer Art hervorbringen, und daß die Mulatten nur
eine Bastardrasse sind, wie sie entsteht, wenn ein Schwarzer sich mit einer Weißen, oder ein
Weißer sich mit einer Schwarzen zusammentut.“
Voltaire vermeidet zwar in diesem Zusammenhang Buffon direkt anzugreifen, dessen Autorität
auf diesem Gebiet allgemein anerkannt war. Umso heftiger ist dafür die Kritik, die er gegen den
Jesuiten Lafitau und seine, von Buffon freilich weitgehend geteilte, Theorie über die Herkunft der
Bewohner Amerikas vorbringt:
„Ist es denn möglich, daß man sich immer noch fragt, woher die Menschen gekommen sind, die Amerika bevölkert
haben? […] Man hat überall dort Menschen und Tiere gefunden, wo die Erde bewohnbar ist. Und wer hat sie dort
hingesetzt? Man hat es bereits gesagt: kein anderer als der, der auch das Gras auf den Feldern wachsen läßt: und man
sollte sich daher nicht wundern, daß es in Amerika ebenso wie Fliegen auch Menschen gibt. Es ist eher zum Lachen,
wenn derJesuit Lafitau behauptet […], daß nur Atheisten sagen könnten, daß Gott die Amerikaner geschaffen habe.“
Voltaire ist in der Tat alles andere als ein Atheist. Die Gleichförmigkeit der Naturgesetze und
die Gleichförmigkeit der das Verhalten der Menschen überall bestimmenden natürlichen Regeln,
die unendliche Mannigfaltigkeit der Schöpfung, die Vielfalt der menschlichen Rassen und die
Unveränderlichkeit der Arten erklären sich für ihn aus ein und demselben Prinzip: der
unbegrenzten Macht und absoluten Freiheit des Schöpfers. Voltaire unternimmt damit aber im
Grunde nicht mehr, als der traditionellen christlichen Theologie seine eigene deistische Theologie
gegenüberzustellen. Die Vorstellung einer von Anbeginn an gegebenen und unveränderlichen
Ordnung der Natur bildet das theologische Fundament seiner Kritik an Bossuets
Geschichtstheologie. Eine Interpretation der Geschichte, die darauf abzielt, Gottes Existenz durch
sein persönliches Wirken in der Geschichte nachzuweisen, kannVoltaire auch deshalb mit
Entschiedenheit ablehnen, da für ihn die Existenz des in seinen Werken immerwährend präsenten
Schöpfers keines weiteren Beweises bedarf. So dynamisch das Geschichtsbild Voltaires auch
immer erscheinen mag, so statisch ist das metaphysische Naturbild, auf dem es gründet. Weit
mehr noch als das des Naturhistorikers Buffon ist es geprägt von der die klassische
Naturgeschichte lange Zeit beherrschenden Vorstellung von der großen Kette des Seins. Die Idee
einer vom göttlichen Ordnungsplan der Natur unabhängig verlaufenden Entwicklung der Arten,
die sich in Buffons Anthropologie bereits andeutet, findet in Voltaires Bild eines Universums, in
dem nicht nur die Sterne, sondern auch alle Lebewesen unabänderlich den ihnen von der Natur
vorgeschriebenen Gesetzen folgen, keinen Platz: „Der Vogel baut sein Nest, die Sterne ziehen
ihre Bahn, kraft eines Prinzips, das sich niemals ändert. Wie hätte sich denn allein der Mensch
ändern können?“ Im Gegensatz zu der Anthropologie Buffons, deren Maß der Mensch selbst ist,
bildet die Voltaires, wie Michéle Duchet bemerkt, den „integralen Bestandteil einer Theologie
und bleibt unfähig, zwei bis dahin in einem einzigen verschmolzenen Diskurse voneinander zu
trennen - vom Menschen zu reden nicht ohne notwendig auch von Gott zu handeln“.
3.
Noch 1756 hatte Voltaire es nicht der Mühe wert gehalten, die Geschichte der Völker „ohne
Zivilisation“ im Rahmen seines Essai sur les mœurs zu berücksichtigen, da die Philosophie aus
ihr keine Lehren ziehen könne. Apodiktisch heißt es im Vorwort zu seiner Universalgeschichte:
„Man muß die Augen abwenden von jenen wilden Zeiten, die die Schande der Natur sind“ und
„mit einem einzigen Schritt zu den Nationen übergehen, die als erste zivilisiert waren.“ Dagegen
glaubte er fünf Jahre später, nach der Herausforderung zumal, die Rousseaus Zweiter Diskurs für
ihn persönlich bedeutet hatte, dann doch nicht mehr darauf verzichten zu können, in die
Neuauflage seines Geschichtswerkes längere Ausführungen über die wilden Völker Afrikas und
Amerikas einzubauen, um damit auch auf diesem Gebiet „Rousseaus Paradoxen […] eine
'Philosophie der Geschichte' entgegenzustellen“. Zwar bemüht Voltaire sich in den Kapiteln, um
die er seit 1761 den Essai sur les mœurs erweiterte und die von seinem zunehmenden Interese an
den Wilden zeugen, die anthropologischen Thesen des Traité de Métaphysique so wenig wie
möglich zu revidieren. Dennoch beginnt sich unter der Oberfläche jener wenigen und weiterhin
heftig verteidigten Grundüberzeugungen ein zweites anthropologisches System
herauszukristallisieren, in dem gerade im Gefolge und gewissermaßen als Spur seiner
Auseinandersetzung mit Rousseau die Vorstellung einer Geschichtlichkeit auch der Wilden
zunehmend an Gestalt und Bedeutung gewinnt.
Während Voltaire den großen Kulturen des Orients 1756 jeweils eigene Abschnitte widmete
und damit auch formal ihre Eigenständigkeit gegenüber den europäischen Nationen zum
Ausdruck brachte, erfolgt die Beschreibung der amerikanischen und afrikanischen Gesellschaften
in der Auflage von 1761 noch ausschließlich im Rahmen ihrer Entdeckung und Unterwerfung
durch die europäischen Kolonialmächte. So erfährt der Leser des Essaisur les moeurs über die
Eigenarten der Völker der beiden Amerika nur aus den Kapiteln, in denen Voltaire die
Entdeckungsfahrten des Kolumbus, die Eroberungsunternehmen Cortez' und Pizarros, die
Geschichte der europäischen Niederlassungen in Brasilien und Nordamerika, das Wirken der
Jesuiten in Paraguay und die langwährende Diskussion über die Besiedlung Amerikas abhandelt.
Und ebenso werden die physischen Merkmale, die Lebensgewohnheiten, Gesellungs- und
Religionsformen der westafrikanischen Völker, der Kaffern und der Hottentotten in
Zusammenhang mit der Geschichte der portugiesischen Entdeckungsfahrten und des
Sklavenhandels geschildert. Erst in der 1765 als separate Abhandlung entstandenen und dem
Essai sur les mœurs 1769 als neue Einleitung beigefügten Philosophie de l'histoire hat Voltaire
seine Gedanken über die Wilden und den Naturzustand gesondert zusammengefaßt und
systematisch erörtert. Diese formalen Änderungen sind bereits kennzeichnend für das Gewicht,
das diesen Fragen beizumessen er sich im Verlauf der Abfassung seiner Universalgeschichte
gezwungen sah.
Die anfängliche Eingliederung der Naturgeschichte der Wilden in die Darstellung der
europäischen Kolonialgeschichte geschieht nicht ohne Grund. Denn bei aller moralischer
Empörung, mit der Voltaire in den entsprechenden Passagen die Grausamkeiten der
Kolonisatoren und die Unmenschlichkeiten des Sklavenhandels verurteilt, bildet für ihn der
erstaunlich geringe Widerstand, den all diese Völkerschaften ihrer Unterwerfung, Versklavung
und Ausrottung durch die Europäer entgegenzusetzen vermochten, gleichsam den durch die
Geschichte verbürgten Gradmesser dafür, in welchem Ausmaß die dem von Rousseau
gepriesenen Naturzustand noch am nächsten stehenden Gesellschaften den zivilisierten
europäischen tatsächlich unterlegen sind: „Man kauft sie an den Küsten Afrikas wie Vieh, und die
große Zahl Schwarzer, die in unsere amerikanischen Kolonien verpflanzt worden sind, dienen
einer verschwindend kleinen Zahl von Europäern“, so bemerkt er nicht ohne Verwunderung, und
er fügt hinzu: „Die Erfahrung hat ferner gelehrt, welche Superiorität diese Europäer über die
Amerikaner besitzen, welche mühelos überall besiegt worden sind und niemals eine Revolution
wagten, obwohl tausend gegen einen standen.“ Weiß Voltaire auch von der militärischen und
technischen Überlegenheit der Kolonisatoren, so sucht er doch die Hauptursache für die
Vernichtung der indigenen Kulturen bei den Kolonisierten selbst, in der mangelnden Ausbildung
der Verstandeskraft nämlich, die man bei ihnen allgemein habe beobachten können. Denn die
Neger, deren „Intenligenz zwar nicht von anderer Beschaffenheit ist als unser Verstand, aber
dennoch von weit geringerem Rang“ - „sie glauben“, da sie „keiner großen Aufmerksamkeit
fähig sind“ und auch „wenig kombinieren“, „in Guinea geboren zu sein, um an die Weißen
verkauft zu werden und ihnen zu dienen“. Und was die Amerikaner anbelangt, so stimme man
allgemein darin überein, „daß der menschliche Verstand in der Neuen Welt im allgemeinen nicht
so ausgeformt ist wie in der Alten“.
Die wilden Völkerschaften Afrikas und Amerikas unterscheiden sich demnach von den
zivilisierten europäischen Nationen vor allem in einem Punkt: dem Grad an Vervollkommnung,
den die allen Menschen gemeinsame Vernunft bei den letzteren erreicht hat. Für die
vernunftmäßige Inferiorität der Wilden aber hat nach Voltaires Ansicht die koloniale Erfahrung
selbst den universalhistorischen Beweis erbracht. So befanden sich die westafrikanischen
Stammesgesellschaften zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung durch die Portugiesen zum größten Teil
noch im „ersten Stadium der Dumpfheit [premier degré de stupidité]“, das darin besteht, „nur an
die Gegenwart zu denken und an die Bedürfnisse des Körpers“. Sie glichen darin den
Brasilianern, die weder „eine gesicherte Subsistenz“ noch Gesetze oder irgendeinen religiösen
Kult kannten und die „allein der Instinkt“ beherrschte. Die „sanften und unschuldigen Sitten“ der
Hottentotten zeigten dagegen an, daß sie bereits jenen zweiten „Grad der Dumpfheit“ erreicht
hatten, der „eine formlose und auf gemeinsamen Bedürfnissen gegründete Gesellschaft erlaubt“,
wenngleich sie auch „den Gebrauch der Vernunft noch nicht bis zur Erkenntnis eines Höchsten
Wesens vorangetrieben hatten“. „Zwischen diesen beiden Graden der Schwachsinnigkeit
[imbecillité] und der beginnenden Vernunft [raison commencée] hat mehr als nur eine Nation
Jahrhunderte lang gelebt.“ Weiter vorangeschritten als unter den afrikanischen Völkern war der
Gebrauch der Vernunft bei den kanadischen Indianerstämmen, da sie als Bauern und Jäger bereits
in „kleinen befestigten Ansiedlungen [bourgades]“ lebten, und sich von den übrigen Völkern des
amerikanischen Kontinents durch ihren Stolz, ihren Mut und ihren „republikanischen Geist“
unterschieden. Die Peruaner schließlich, die weder die schrecklichen Kriegsbräuche der Kanadier
noch die grausamen Menschenopfer der Mexikaner kannten, die „architektonische Wunderwerke
errichtet und mit erstaunlicher Kunstfertigkeit Skulpturen geformt haben“, sie waren „die
polizierteste und gewerbsamste Nation der Neuen Welt“, ja „vielleicht sogar die sanftmütigste
Nation der Erde“.
Jedoch habe man - so faßt Voltaire schließlich seine Ausführungen über die amerikanischen
Völker zusammen und wendet sich, indem er die Thesen des Traité de Métaphysique erneut
aufgreift und in Berufung auf die Berichte der Reisenden und Missionare auch empirisch zu
fundamentieren versucht, explizit gegen Rousseau - „unter so vielen von uns und auch
untereinander verschiedenen Nationen nirgends isolierte und ungesellige Menschen gefunden, die
nach Art der Tiere blind umherirren, sich aufs Geratewohl begatten und ihre Weibchen verlassen,
um allein auf Nahrungssuche zu gehen. Es muß wohl so sein, daß sich die menschliche Natur
nicht mit diesem Zustand verträgt, und daß der Instinkt der Gattung sie zur Gesellschaft ebenso
drängt wie zur Freiheit“.
Gegenüber den im Traité de Métaphysique vertretenen und hier in Kritik an Rousseau erneut
in Kraft gesetzten Positionen zeichnen sich in den Einfügungen von 1761 dennoch bereits
Differenzen ab, die Voltaire den Auffassungen Rousseaus weit näher bringen, als er selbst es sich
einzugestehen vermag. Denn obgleich er weiterhin daran festhält, daß es die von Gott gegebene
Vernunft und der Hang zur Geselligkeit seien, die als invariable Prinzipien die Einheit der
menschlichen Gattung verbergen, so konzertiert Voltaire doch zugleich, daß der Gebrauch der
Verstandeskraft bei den einzelnen Völkern in unterschiedlichem Maße vorangeschritten sei.
Ebenso wie die Soziabilität: der Instinkt, der alle Menschen zur Gesellschaft drängt, ist auch die
unterschiedslos in alle Menschen eingeschriebene Vernunft nur als Anlage vorhanden; sie kommt
erst allmählich zu sich, im Verlauf einer langen historischen Entwicklung. Indem Voltaire die
unterschiedlichen gesellschaftlichen Organisationsformen, Subsistenzweisen, sprachlichen
Ausdrucksmöglichkeiten und religiösen Vorstellungen der Neger, der Brasilianer, der
Hottentotten, der Kanadier, der Mexikaner und der Peruaner zu den aufeinanderfolgenden
Entwicklungsstufen der menschlichen Vernunft in Beziehung setzt, gewinnt er einen neuen
Maßstab, der es ihm ermöglicht, die menschlichen Rassen nicht mehr allein, wie noch im Traité
de Métaphysique, nach Maßgabe ihrer körperlichen Merkmale zu unterscheiden, sondern darüber
hinaus die wilden Gesellschaften Afrikas und Amerikas in einer Rangskala einzuordnen, die vom
„ersten Stadium der Dumpfheit“, auf dem sich noch die Neger und Brasilianer befanden, bis zur
„beginnenden Vernunft“ der kanadischen Indianerstämme reicht. Die in Reflexion der
historischen Erfahrungen der kolonialen Expansion gewonnenen Kategorien werden damit zur
Grundlage eines zweiten subordinativen Klassifikationssystems, das das erste, noch nach den
deskriptiven Kategorien der sinnlichen Wahrnehmung konstruierte anthropologische
Ordnungssystem mehrfach überschneidet und teilweise überlagert. Zugleich mit der Auflösung
des monolithischen Bildes vom Wilden erlaubt es, die aus der Universalgeschichte der
menschlichen Gattung zunächst als vernachläßigbar ausgeschiedenen Wilden in diese als einzelne
wilde Gesellschaften zu reintegrieren. Sie erscheinen in ihr als Repräsentanten der sukzessiven
Stadien der Entwicklung des menschlichen Geistes.
Diese neue Sichtweise, die sich in den verstreuten und noch wenig systematisierten
Erweiterungen von 1761 freilich erst andeutet, wird in der vier Jahre später entstandenen
Philosophie de l'histoire zum Kristallisationspunkt eines neuen Verständnisses der Vorgeschichte
der Zivilisation. Explizit setzt Voltaire nunmehr die einzelnen Etappen der menschlichen
Frühgeschichte in Beziehung zu den unterschiedlichen Entwicklungsstadien, auf denen sich die
Gesellschaften Afrikas und Amerikas zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung durch die Europäer
befanden. Sie dienen ihm als lebende Zeugen dafür, welch ungeheuren Zeitraumes es bedurfte,
bis sich die Menschheit aus dem „tierischen Zustand“ erhob, in welchem sie so lange verharrt
hatte. Denn die Tatsache, daß man auf dem ganzen amerikanischen Kontinent nur zwei
Königreiche habe finden können, während alle übrigen Völkerschaften noch in „kleinen
Gesellschaften“ lebten, „denen die Künste unbekannt waren […] und deren Gewerbsamkeit über
die dringendsten Bedürfnisse nicht hinausging“, zeige, „daß jahrhundertelang günstige Umstände
zusammenwirken müssen, bis sich eine große Gesellschaft von Menschen formiert, die unter
gleichen Gesetzen zusammengeschlossen sind“. Mindestens ebenso vieler Jahrhunderte und
günstiger Umstände habe es bedurft, bis sich aus den Schreien und Gesten, mit denen sich noch
die ersten Menschen verständigten, ausgebildete Sprachen formten, bis die Menschen mit der
Sprache nicht nur ihre unmittelbaren Bedürfnisse, sondern auch ihre Ideen auszudrücken
vermochten und bis sie schließlich zur Erkenntnis eines „göttlichen Schöpfers, Belohners und
Rächers“ gelangten, der „Frucht der ausgebildeten Vernunft“, die indes die Formierung
polizierter Gesellschaften bereits zur Voraussetzung hatte, denn „es mußten zunächst Schmiede,
Zimmerleute, Maurer und Feldarbeiter vorhanden sein, ehe sich ein Mensch finden konnte, der
Muße hatte, zu meditieren. Handarbeiten aller Art mußten der Metaphysik vorausgehen“. Aus
diesen Gründen könne man schließen, daß „alle Völker jahrhundertelang (waren), was heute noch
die Einwohner der südlichen Küsten Afrikas, der meisten Inseln und die Hälfte der Amerikaner
sind“.
Das lebhafte Interesse, das Voltaire hier mit einem Mal an jenen „wilden Zeiten“ bekundet,
von denen es noch 1756 hieß, man müsse von ihnen die Augen abwenden, da sie die „Schande
der Natur“ seien, verdankt sich also zu einem nicht geringem Teil seiner intensiveren
Beschäftigung mit den Lebens-, Gesellungs- und Religionsformen der amerikanischen und der
afrikanischen Völker. Die Ergebnisse dieser Beschäftigung führen ihn zu der Einsicht, daß die
Zeitspanne, die der Ausbildung komplexen Sprachen, der Formierung arbeitstelliger und
zentralisierter Gesellschaftsordnungen und damit der Entstehung der ersten Hochkulturen
vorausging, weit länger gewesen sein mußte, als man bisher in Übereinstimmung mit der
biblischen Chronologie angenommen hatte. Diese neue Einsicht selbst aber hat eine implizite
Revision seines eigenen ursprünglichen Geschichtsbildes zur Folge. Hatte Voltaire die Geschichte
bis dahin als unausgesetzten Kampf der menschlichen Vernunft gegen die menschlichen
Leidenschaften betrachtet, so gelangt er in der Philosophie de l'histoire zu einer veränderten, die
Gattungsgeschichte im Grunde dichotomisierenden Konzeption des Geschichtsverlaufs. Denn
während die schriftlich überlieferte Geschichte für ihn weiterhin der Schauplatz jener an einem
absoluten Höhepunkt orientierten, gleichwohl aber durch den Rückfall in die Barbarei bedrohten
und daher grundsätzlich reversiblen Bewegung bleibt, wird die Vorgeschichte der Zivilisation
jetzt von der „Schande der Natur“ zum eigentlichen Ort des geradlinigen und zielgerichteten
Fortschritts, der sich aus dem anfänglichen Stadium tierischer Roheit über die ersten beiden
Stadien der Vorvernunft zur ausgebildeten Vernunft emporarbeitenden menschlichen Gattung.
Diese neue geschichtsphilosophische Konzeption konnte indes nicht ohne Auswirkungen auf
das Bild des Wilden selbst bleiben. Indem Voltaire die afrikanischen und amerikanischen Wilden
nicht als Repräsentanten des reinen Naturzustandes auffaßt, sondern sie vielmehr den Stadien
jenes gattungsgeschichtlichen Entwicklungsprozesses zuordnet, erkennt er einerseits die
Geschichtlichkeit der, wie er nun immer häufiger schreibt, „vorgeblichen Wilden“ an;
andererseits ermöglicht ihm dieses Verfahren der wechselseitigen Erhellung, „Wildheit“ in
komparativem Sinn als Bezeichnung des Zustandes, in dem sich jene Gesellschaften im Vergleich
zu den zivilisierten Europas befanden, von „Wildheit“ in chronologischem Sinn als Kategorie zur
Bezeichnung des ursprünglichen Zustandes der Menschheit zu unterscheiden: „Alle Nationen
waren einst Wilde, wenn man das Wort in dem Sinn nimmt, der besagt, daß es lange Zeit
Familien gegeben haben wird, die in den Wäldern umherirrten, sich mit anderen Tieren um ihre
Nahrung stritten, sich gegen dieselben mit Steinen und dicken Ästen bewaffneten, sich zunächst
von wilden Früchten aller Art ernährten, und schließlich von den Tieren selbst.“ Die
gegenwärtigen Wilden aber, „die Lappen, die Samojeden, die Einwohner von Kamtschatka, die
Kaffern und die Hottentotten“, sie sind, so heißt es im Artikel Homme seines Dictionnaire
philosophique, „hinsichtlich des Menschen im reinen Naturzustand das, was einst die Höfe des
Cyrus und der Semiramis im Vergleich zu den Einwohnern der Cevennen waren“. Alle noch
existierenden wilden Gesellschaften haben sich demnach aus dem reinen Naturzustand schon
lange entfernt. Jener „schreckliche und der Natur noch so nahe Zustand“, in dem man sie bei
ihrer Entdeckung angetroffen hat, gehört freilich auch für die europäischen Gesellschaften noch
nicht vollständig der Vergangenheit an. Denn es gibt „Wilde in ganz Europa“ - so wendet Voltaire
den Blick schließlich wieder zurück auf die eigene Gesellschaft -, wenn man darunter
„Landleute“ versteht, „die zusammen mit ihren Weibchen und einigen Tieren in Hütten leben,
beständig der Witterung aller Jahreszeiten ausgesetzt sind, nur den Erdboden kennen, der sie
ernährt, und den Markt, auf dem sie ihre Erzeugnisse verkaufen […]; die wenig Ideen haben und
infolgedessen auch wenig Begriffe; die, ohne daß sie wüßten warum, einem Mann mit einem
Federhut untertan sind, dem sie alle Jahre die Hälfte von dem zutragen, was sie im Schweiß ihres
Angesichts verdient haben […]; die bisweilen aus ihrer Hütte kommen, wenn man die Trommel
rührt, um sich in einem fremden Land totschlagen zu lassen und um ihresgleichen zu töten, für
den vierten Teil dessen, was sie daheim mit ihrer Arbeit verdienen“. Der Abstand zwischen den
Wilden und den Zivilisierten ist also geringer, als es zunächst schien. Unter der Oberfläche der
Zivilisation besteht das Stadium der Wildheit weiter fort. Die Zielrichtung der Schilderung der
erbärmlichen Verhältnisse, in denen die leibeigenen ländlichen Bevölkerungsschichten im
eigenen Land zu leben gezwungen waren, ist unverkennbar. Sie gilt der Kritik der überlebten
Strukturen des Feudalismus. Dennoch ist Voltaire weit davon entfernt, sich zum Fürsprecher der
Abschaffung aller bestehenden Ungleichheiten zu machen. Für Voltaire, der wie Turgot die
Entstehung der Wissenschaften und der Künste als das Werk einiger weniger großer Männer
betrachtet, die ihren schöpferischen Geist nur unter der Bedingung ihrer Freisetzung von der
Sorge um den täglichen Lebensunterhalt entfalten konnten, ist die Existenz einer „unendlichen
Anzahl von Menschen, die absolut nichts besitzen“, vielmehr der Preis, den die Zivilisation um
ihrer Selbsterhaltung willen auch weiterhin zu zahlen hat. Zwar geißelt er mit seiner Darstellung
der Lebensverhältnisse jener „europäischen Wilden“ auf eindrucksvolle Weise die kraßesten
Mißstände der spätfeudalistischen französischen Gesellschaftsordnung. Doch entspricht es nur
seinem dezidierten bürgerlichen Standpunkt, wenn sich in das Mitleid für das scheinbar
unabänderliche Schicksal der Ärmsten zugleich ein Stück zynischer Verachtung mengt. Denn in
seinem Vergleich fortfahrend schreibt Voltaire:
„Man muß anerkennen, daß die Völker Kanadas und die Kaffern, die wir Wilde zu nennen beliebten, den unseren
unendlich überlegen sind. Der Hurone, der Algonkin, der Illinois, der Kaffer und der Hottentotte besitzen die
Kunstfertigkeit, all das selbst herzustellen, was sie benötigen, und diese Kunst geht unseren Landleuten ab. Die
Völkerschaften Amerikas und Afrikas sind frei, und unsere Wilden kennen nicht einmal den Begriff der Freiheit. Die
angeblichen Wilden Amerikas sind Souveräne, die Gesandte aus unseren Kolonien empfangen […] . Sie haben einen
Begriff von Ehre, die unsere europäischen Wilden nicht einmal vom Hörensagen her kennen. Sie haben ein
Vaterland, welches sie lieben und verteidigen. Sie schließen Bündnisse, sie kämpfen mit Mut und ihre Reden sind oft
von heroischer Kraft. Gibt es etwa in Plutarchs Lebensgeschichten großer Männer eine schönere Antwort als die
jenes Häuptlings der Kanadier, denen eine europäische Nation zumutete, ihr ihren angestammten Besitz abzutreten?
‘Auf dieser Erde wurden wir geboren; unsere Väter liegen hier begraben; sollen wir zu den Gebeinen unserer Väter
sagen: Steht auf und zieht mit uns in ein fremdes Land?' Diese Kanadier waren Spartaner, wenn man sie mit unseren
Bauern vergleicht, die in unseren Dörfern dahinvegetieren, und mit den Sybariten, die in unseren Städten in
Schwelgerei erschlaffen.“
Diese Passage - im übrigen eine der wenigen, in denen auch bei Voltaire ein
„primitivistischer“ Zug zum Vorschein gelangt, ist in doppelter Hinsicht aufschlußreich. Zum
einen wird an ihr deutlich, daß das zentrale Kriterium seiner Beurteilung der einzelnen wilden
Gesellschaften, der Grad des Widerstands nämlich, den sie ihrer Unterwerfung jeweils
entgegensetzten, auch sein Urteil über die „Wilden“ im eigenen Land bestimmt. Wie die Neger,
die glauben, für die Sklaverei geboren zu sein, stellen für ihn auch die europäischen Wilden ihre
Inferiorität durch die Gefügigkeit unter Beweis, mit der sie ihr Los auf sich nehmen. Nicht ohne
Grund zieht Voltaire zum Vergleich daher vor allem die nordamerikanischen Indianerstämme
heran - die einzigen wilden Gesellschaften, die ihre Unabhängigkeit gegenüber den europäischen
Kolonisatoren erfolgreich hatten verteidigen können. Zum anderen zeigt die Parallelsetzung von
ökonomischer Unabhängigkeit - sie „besitzen die Kunstfertigkeit, all das selbst herzustellen, was
sie benötigen“ -und politischer Unabhängigkeit - „die Völkerschaften Amerikas und Afrikas sind
frei, und unsere Wilden kennen nicht einmal den Begriff der Freiheit“ - wie der Heroismus der
Wilden dort, wo er in den Dienst bürgerlicher Gesellschaftskritik gestellt wird, sein
ursprüngliches Signifikat wechselt und vom Inbegriff aristokratischer Verhaltensnormen zum
Inbegriff bürgerlicher Autonomie wird: Kraft seiner ökonomischen Autarkie setzt sich der Wilde
als selbständiges politisches Subjekt; als Souverän schließt er Verträge ab, liebt sein Vaterland
und kämpft selbstbewußt um seinen Besitz. Mit ihren spartanischen Eigenschaften verkörpern die
kanadischen Indianerstämme bei Voltaire sowohl gegenüber den besitzlosen ländlichen
Unterschichten, „die in unseren Dörfern dahinvegetieren“, als auch gegenüber den parasitären
Oberschichten, „den Sybariten, die in unseren Städten in Schwelgerei erschlaffen“, die Tugenden
des politisch kämpfenden Bürgertums.
4.
In der Schlußfassung des Essai sur les mœurs stehen sich im Grunde zwei konkurrierende
anthropologische Ordnungssysteme gegenüber: ein an den Klassifikationsprinzipien der
Naturgeschichte orientiertes statisches, das die menschlichen Rassen nach Maßgabe ihrer
auffälligsten physischen Merkmale in eine hierarchisch gegliederte Rangordnung einfügt, und ein
an der historischen Erfahrung des Kolonialismus orientiertes dynamisches, das die einzelnen
wilden Gesellschaften mit den aufeinanderfolgenden Stadien der Vernunftentwicklung
gleichsetzt. Die Inkompatibilität dieser beiden Systeme wird an der Schlüsselstellung
offenkundig, die die nordamerikanischen Indianerstämme auch in Voltaires Anthropologie
einnehmen. Denn anzuerkennen, daß die Angehörigen der „bartlosen amerikanischen Rasse“ den
Angehörigen der „bärtigen weißen Rasse“ in irgendeiner Beziehung überlegen sind, müßte
zugleich mit der Aufhebung der streng dichotomischen Unterscheidung zwischen Wilden und
Zivilisierten auch zur Auflösung jenes Bildes einer in der Schöpfung selbst angelegten und daher
unveränderlichen Ordnung der Arten und Rassen führen, das er bereits in seinem Traité de
Métaphysique entworfen und in den Essai sur les mœurs übernommen hatte. Zumindest partiell
war sich auch Voltaire selbst dieser Inkompatibilität bewußt. Noch 1761 hatte er über die Albinos
geschrieben:
„…was die Körperstärke und die Verstandeskraft anbelangt, so stehen sie unter den Negern, und vermutlich hat
ihnen die Natur den Platz zwischen den Negern und Hottentotten über ihnen sowie den Affen unter ihnen als eine der
Stufen zugewiesen, die vom Menschen zum Tier hinabführen.“
Dagegen heißt es sieben Jahre später über die Brasilianer:
„…der Brasilianer ist ein Tier, das die Bestimmung seiner Gattung noch nicht erreicht hat. Er ist ein Vogel, der sein
Federkleid noch erst wird ausbilden müssen, eine Raupe, die sich in ihren Kokon verpuppt hat, und die erst in
einigen Jahrhunderten zum Schmetterling herangereift sein wird. Vielleicht wird er eines Tages einen Newton und
einen Locke hervorbringen, und dann wird er die ganze Spannweite des menschlichen Aufstiegs durchmessen haben,
vorausgesetzt, die Organe des Brasilianers sind kräftig und treschmeidig genug, um zu diesem Ziel zu gelangen,
denn alles hängt von den Organen ab.“
Nicht gewillt, die mit seiner deistischen Metaphysik eng verknüpfte ältere Konzeption
vollständig aufzugeben, versucht Voltaire sie mit seiner neuen universalhistorischen Sichtweise
dadurch zur Deckung zu bringen, daß er nunmehr zwar allen menschlichen Rassen Teilhabe an
den der Gattung gemeinsamen Fortschritten zubilligt, aber zugleich einschränkend hinzufügt, daß
die Entwicklung der Vernunft von der unterschiedlichen Beschaffenheit der „Organe“ der
verschiedenen Rassen abhängt, deren Spiel sich, wie es an anderer Stelle heißt, „erst mit der Zeit
entfaltet. Einerseits unterliegen also alle Rassen demselben universalhistorischen Gesetz, das sie
aus dem reinen Naturzustand herausführt und der Vervollkommnung der Vernunft
entgegenstreben läßt. Andererseits bildet aber jede Rasse eine Einheit für sich, die die
Bestimmung der Gattung, wenn überhaupt, dann nur im Verlauf ihrer eigenen Geschichte zu
erreichen vermag. Zwar kann dieser Konstruktion zufolge nicht ausgeschlossen werden, daß
eines Tages selbst die Brasilianer „die ganze Spannweite des menschlichen Aufstiegs“
durchmessen haben werden. Da aber der Perfektibilität durch die „Kraft“ und die
„Geschmeidigkeit“ der Organe bestimmte Grenzen gesetzt sind, steht eher zu erwarten, daß die
Fortentwicklung der Menschheit in der Zeit nicht zu einer vollständigen Aufliebung der
bestehenden hierarchischen Beziehungsstruktur, sondern bestenfalls zu einer Minimalisierung der
graduellen Abstände führen wird, die die menschlichen Rassen gegenwärtig voneinander trennen.
Indem Voltaire sich weiterhin weigert, die Rückständigkeit der Wilden gegenüber den
Zivilisierten aus anderen als in der Schöpfung selbst angelegten Ursachen zu erklären, und
infolgedessen die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Vernunft, auf denen sich die
einzelnen wilden Gesellschaften zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung durch die Europäer befanden,
zu der noch unvollkommenen Ausbildung ihrer physischen Organe in kausale Beziehung setzt,
wird die Zeit vom dynamischen Faktor, der in der Lage gewesen wäre, die starren Grenzen
zwischen der „weißen bärtigen“, der „schwarzen kraushaarigen“ oder der „bartlosen
amerikanischen“ Rasse in Fluß zu bringen, zum bloßen Element einer weiterhin primär an den
sichtbaren physischen Unterscheidungsmerkmalen orientierten anthropologischen Taxonomie.
Wie die natürlichen Arten stellen auch die menschlichen Rassen voneinander unabhängige
Kontinuen dar, die, wenngleich sie sich auf dasselbe Ziel zu bewegen, die potentiellen
Fähigkeiten der Gattung nur in sich selbst zur Entfaltung bringen können.
Vor die Alternative gestellt, die Vorstellung eines allgemeinen und unterschiedslos alle Rassen
umgreifenden Fortschritts, die sich in den späteren Einfügungen des Essaisur les mœurs
abzeichnet, konsequent zu Ende zu denken, entscheidet Voltaire sich für eine Konstruktion, die
dem Evolutionsbegriff der klassischen Naturgeschichte weit näher steht als seiner eigenen neuen
Geschichtskonzeption. Die Gründe, die ihn dazu veranlassen, schließlich doch dem älteren
Erklärungsmodell den Vorzug zu geben und damit hinter seinen eigenen neugewonnenen
Standpunkt zurückzufallen, liegen jenseits der Strukturlogik seiner beiden antinomisch
aufeinander bezogenen anthropologischen Klassifikationssysteme. Denn die Zeit lediglich als
statische Variable eines konstanten Systems hierarchischer Beziehungen aufzufassen, bedeutet
nichts weniger, als daß sich auch in Zukunft an der Gültigkeit jenes den wohlgeordneten Plan der
Natur durchherrschenden und die Herrschaft Europas begründenden Prinzips nichts ändern wird,
das die Neger von ihrer Natur her dazu bestimmt, allen übrigen Menschen als Sklaven zu dienen:
„Das Unterhautgewebe der Neger, das anerkanntermaßen schwarz und die Ursache ihrer Farbe ist, stellt einen
handgreiflichen Beweis dafür dar, daß es ebenso wie bei den Pflanzen auch bei den Menschen in jeder Gattung ein
Prinzip gibt, das sie voneinander unterscheidet. Von diesem Prinzip hat die Natur jene unterschiedlichen Grade an
geistiger Begabung und jene Volkscharaktere abhängig gemacht, die man sich so selten wandeln sieht. Deshalb auch
sind die Neger die Sklaven aller anderen Menschen.“
5.
Voltaires strikte Ablehnung der Auffassung Rousseaus von der Überlegenheit des
Naturzustandes und anderer Spielarten des zeitgenössischen Primitivismus haben ihn nicht daran
gehindert, sich in seinem zwei Jahre nach der Schlußfassung des Essai sur les mœurs
entstandenen Roman L'ingénu der Figur des Guten Wilden zu bedienen, um sie zum Vehikel
seiner eigenen gesellschaftskritischen Ideen zu machen. Es ist vermutlich ebenfalls ein Resultat
seines gestiegenen Interesses an den wilden Gesellschaften, wie es sich in den Erweiterungen des
Essaivon 1761 und 1765 dokumentiert, wenn er, in Anwendung eines Verfahrens, das er zuvor
schon in den philosophischen Erzählungen Micromégas und Candide eingeschlagen hatte, als
Helden dieses Romans einen jungen Huronen wählt, anhand dessen Abenteuer in Frankreich er
die bornierten Vorurteile seiner Zeit aus der Sicht des von außen kommenden Beobachters
satirisch beleuchtet.
Die Handlung sei hier kurz wiedergegeben. Sie beginnt mit der Ankunft des „unbefangenen
Wilden“ in Frankreich, der, durch Zufall an die bretonische Küste verschlagen, von der
neugierigen Provinzgesellschaft zunächst freundlich aufgenommen wird, seinen unerschrockenen
Mut bei einem Angriff der englischen Flotte unter Beweis stellt und sich in eine junge Adelige
verliebt, durch seinen ungestümen Charakter, seine Offenherzigkeit und seine unverbildete Art,
die Dinge beim Wort zu nehmen, aber bald in Konflikt mit den Moralvorschriften, den
kirchlichen und den staatlichen Instanzen gerät. Als die Liebesaffäre am Einspruch der Kirche zu
scheitern droht, begibt sich das Naturkind nach Paris, um die Heiratserlaubnis einzuholen und
den Lohn für seine Heldentaten in Empfang zu nehmen. In der Hauptstadt wird er jedoch zum
Opfer einer Intrige und landet schließlich als Staatsgefangener in der Bastille. Die Erzählung, die
als Burleske begann, endet in einer Tragigkomödie. Denn während die Geliebte des Helden stirbt,
nachdem es ihr gelungen war, ihn um den Preis ihrer Unschuld aus der Haft zu befreien, tritt das
Naturkind der Armee bei und wird, geläutert durch die philosophischen Studien, die er im
Gefängnis unter der Obhut eines alten Jansenisten betrieben hatte, vom Wilden zum Kriegsmann
und unerschrockenen Philosophen.
Daß Voltaire sich bei der Konzipierung dieser Erzählung von Lahontans Dialogues curieux
und anderen in der gleichen Tradition stehenden zeitgenössischen Schriften maßgeblich hatte
inspirieren lassen, gilt als gesichert. Von der radikalen Gesellschaftskritik Lahontans ist in
Voltaires Roman indes nicht mehr geblieben als das Motiv der den eigenen kulturellen
Standpunkt relativierenden Vertauschung der Perspektiven. Wie Lahontans Adario beruft sich
zwar auch Voltaires Hurone fortlaufend auf das Naturrecht, das er - wie es freilich nicht ohne
Ironie heißt - „trefflich beherrschte“, und entlarvt so die Willkur der Justiz, die Widersprüche der
Moral und die Heucheleien des Klerus. Im Unterschied zu Adario liegt der Vorteil, der das
Naturkind seinen Gesprächspartnern überlegen macht, jedoch weder in seiner Herkunft aus einer
gerechteren Gesellschaftsordnung noch in seiner besonderen Erfahrung, sondern vielmehr in
seiner ungebrochenen Naivität begründet, dem Mangel an falscher Erziehung, den es ihnen
gegenüber aufweist, „denn da er in seiner Kindheit nichts gelernt hatte, faßte er auch keinerlei
Vorurteile […]. Er sah die Dinge, wie sie sind, während die Vorstellungen, die man uns in unserer
Kindheit einprägt, uns zwingen, sie unser Leben lang so zu sehen, wie sie nicht sind“. Wenn auch
ungebildet, erweist sich der „allein von der Natur unterrichtete Ignorant“ doch keineswegs als
bildungsunfähig. Innerhalb kurzer Zeit eignet er sich eine umfaßende Kenntnis der
zeitgenössischen Philosophie an, findet Geschmack an den großen Werken der französischen
Klassik und bewegt kraft seines unverdorbenen Urteils schließlich selbst seinen jansenistischen
Lehrer dazu, sich von seiner unduldsamen Irrlehre abzuwenden. Anders als Adario ist Voltaires
Hurone also ebensowenig wie sein Schöpfer ein „Zivilisationsgegner“, wie Urs Bitterli
hervorhebt: „er tut im Gegenteil alles, um sich zu zivilisieren“. Im Verlauf seines
Gefängnisaufenthalts macht das Naturkind infolgedessen nicht nur „schnelle Fortschritte in allen
Wissenschaften, vor allem in der Anthropologie“, sondern auch in der Einübung zivilisatorischer
Verhaltensweisen: „…er hatte gelernt, all die glücklichen Gaben, die die Natur ihm geschenkt
hatte, mit Zurückhaltung zu verbinden, und seine Selbstbeherrschung fing an, in ihm die
Oberhand zu gewinnen.“ Der zivilisatorische Bildungsprozeß des Wilden mündet so schließlich,
aller anfänglichen Vorbehalte zum Trotz, darin, daß er ohne Einschränkungen anerkennen muß,
daß „die Menschengattung dieses Erdteils hier jeder anderen überlegen zu sein (scheint)“.
Macht Voltaire mit dieser Erzählung den Anhängern der Legende vom Guten Wilden
gegenüber auch gewisse Zugeständnisse, so bleibt er dabei doch auch den Prinzipien seiner
eigenen Anthropologie treu. Denn gleich auf den ersten Seiten erfährt der Leser, daß der
unverbildete Wilde, der die Anpassungsfähigkeit seiner Organe an die Erfordernisse des
Fortschritts durch die „Hast und Kraft“ beweist, mit der sich „sein so lange Zeit unterdrückter
Geist entfaltet“, und der sich so in kürzester Zeit „aus einem Tier in einen Menschen verwandelt“,
gar kein echter Hurone ist, sondern ein von den Wilden adoptiertes Kind französischer Eltern.
Das neue Zentrum
Rousseaus Konstruktion des „homme naturel“
1.
Die anthropologischen Systementwürfe Montesquieus, Turgots, Buffons und Voltaires zeigen,
wie die Leitidee vom Guten, resp. Edlen Wilden in der philosophisch-anthropologischen
Diskussion der Jahrhundertmitte in dem Maß an Bedeutung verliert, in dem im Gefolge der
Differenzierung und Spezifizierung des herkömmlichen Bildes vom Wilden die einzelnen wilden
Gesellschaften in die großen geschichtsphilosophischen Konstruktionen der Aufklärung Eingang
finden als die historischen Vorstufen der zivilisatorischen Gattungsentwicklung. Dieser
Bedeutungsverlust ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem Ende der Idee. Aus dem
wissenschaftlichen Diskurs weitgehend ausgeschlossen, existiert sie dort noch weiter fort, wo sie,
mit wechselnden Signifikaten, gegen den jeweiligen Gegner als ideologisches Kampfmittel
eingesetzt werden kann, sei es gegen die Kirche und den Adel als Repräsentationsmäche des
Feudalismus, sei es gegen die verachteten pauperisierten Unterschichten oder sei es auch gegen
die Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums selbst. Verborgen bestimmt sie in dieser
Funktion indes auch die immanenten logischen Brüche der einzelnen anthropologischen
Ordnungssysteme, bei Montesquieu, für den die nordamerikanischen Indianerstämme die
Eigenschaften der Vorfahren des alten französichen Adels verkörpern, ebenso wie bei Voltaire,
der auf sie mustergültige Verhaltensweisen des politisch bewußten Bürgertums projiziert. Der
gegensätzlichen Beurteilung der Wilden in der Missionars- und Reiseliteratur des 17. und frühen
18. Jahrhunderts entsprechen so in der theoretischen Verarbeitung ethnographischer Daten durch
die Aufklärungsphilosophie zwei entgegengesetzte Interessenrichtungen: eine
gesellschaftskritische, die der von den großen Utopisten und von Montaigne, von den
Jesuitenmissionaren und von Lahontan in Kraft gesetzten Tradition folgend, den
gesellschaftlichen „Naturzustand“ der Wilden - wenn nunmehr auch in vornehmlich polemischer
Absicht -, zum positiven Gegenbild der eigenen Gesellschaftsordnung erklärt, und eine
objektivistische, die sich - in Reflexion der historischen Erfahrung des Kolonialismus und in der
Regel mit dem Ziel seiner ideologischen Legitimierung -, in Anlehnung an den mechanischen
Gesetzesbegriff der Physik oder auch in Anlehnung an die taxonomischen Verfahren der
klassischen Naturgeschichte darum bemüht, Erklärungsmodelle für die Rückständigkeit der
Wilden gegenüber den Zivilisierten zu finden. Mit Ausnahme Turgots, dessen Versuch, die
Überlegenheit der europäischen Gesellschaften aus ihren vorangeschrittenen
Produktionstechniken und naturwissenschaftlichen Kenntnissen zu erklären, sich
wissenschaftshistorisch als der erfolgreichste erweisen sollte, und der sich am rückhaltlosesten
zur optimistischen Vision eines unaufhaltsamen Fortschritts der Gattung zu immer größerer
Vervollkommnung bekennt, stehen sich jene beiden Tendenzen in den Werken der hier
behandelten Autoren mehr oder weniger unverbunden gegenüber, bald offen, wie bei Voltaire,
bald vermittelt, wie bei Montesquieu, und bald in verschlüsselter Form, wie bei Buffon. Ihre
objektive informatorische Grundlage bilden die den Wilden von den europäischen Missionaren
und Reisenden beigelegten positiven und negativen Epitheta, idealisierenden und diffamierenden
Beurteilungen, ihr subjektives Substrat aber die tiefgründenden Ambivalenzen gegenüber dem
zivilisatorischen Prozeß.
Im Blick auf die Aporien des anthropologischen Diskurses der Aufklärung besteht die große
Leistung von Rousseaus Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes
darin, jene beiden die Wiedergabe direkter Beobachtungen ebenso wie ihre theoretische
Verarbeitung bestimmenden widerstreitenden Tendenzen mittels seiner Konstruktion des homme
naturel überwunden zu haben. Als abstrakte hypothetische Fiktion und zugleich als konkrete
Negativsumme eigener und fremder anthropologischer Beobachtungen erlaubt sie einerseits, die
Geschichte der Gattung von einem neuen Zentrum aus zu rekonstruieren, das gewissermaßen als
Nullpunkt jenseits von Geschichte und Gesellschaft liegt, andererseits aber, und im gleichen
Schritt, das Wesen des Menschen nicht nur gegen die ideologischen Fesseln der überlebten
ständischen Gesellschaftsordnung, sondern auch gegen die in Frankreich im Entstehen begriffene
kapitalistische Konkurrenzgesellschaft ins Feld zu führen.
Die Orginalität der radikalen zivilisationskritischen Positionen, die Rousseau in seinen beiden
Diskursen von 1750 und 1755 vertreten hat, ist nicht weniger häufig bestritten worden als man
versucht hat, die enge Verwandtschaft der sie begründenden anthropologischen
Grundauffassungen mit der Idealisierung des Wilden in der älteren und zeitgenössischen
Reiseliteratur herauszustreichen. In der Tat lassen sich viele der aus den Berichten der
kanadischen Rekollekten- und Jesuitenmissionare, aus den großen Reisekompilationen des 18.
Jahrhunderts und aus den Reiseberichten Lahontans, Kolbs und La Condamines bekannten
Stereotypen in Rousseaus Bestimmung des homme naturel wiederfinden. Der äußeren Form nach
gleich, erfahren sie jedoch - wie in einer Analyse der entsprechenden Passagen des Discours sur
l'inégalité zu zeigen sein wird - unter dem neuen synthetisierenden Blickwinkel, den Rousseau in
dieser Schrift entwickelt hat, einen entscheidenden Bedeutungswandel.
2.
Rousseaus Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes ist
bekanntlich in Beantwortung einer von der Académie de Dijon 1754 ausgeschriebenen
philosophischen Preisfrage entstanden, die wörtlich lautete: „Quelle est la source de l'inégalité
parmi les hommes, et si elle est autorisée par la loi naturelle?“ Die Ausklammerung des zweiten
Teils der Preisfrage aus dem Titel der Rousseauschen Abhandlung ist signifikativ: Sie beginnt
nicht von ungefähr mit einer Kritik an der methodischen Vorgehensweise der modernen
Naturrechtslehre. Rousseau erkennt den projektiven Charakter der Naturrechtstheorie, aus dem,
wie er urteilt, die Zirkelschlüssel resultieren, in denen sich alle ihre Vertreter bewegten, wenn sie
als „Naturgesetz“ das Ensemble der Regeln definierten, die ihrer Überzeugung nach und ihrer
gesellschaftlichen Erfahrung entsprechend allein ein reibungsloses Zusammenleben garantieren
sollten, um sie dann in der Absicht, ihre jeweilige Theorie der politischen Institutionen auch
historisch zu fundamentieren, umstandslos aus dem Naturzustand abzuleiten. „Die Philosophen,
welche die Grundlagen der Gesellschaft untersuchten, haben alle die Notwendigkeit verspürt,“
schreibt daher Rousseau - „auf den Naturzustand zurückzugehen, aber keiner von ihnen ist“ - so
fährt er einschränkend fort - „dort auch angelangt“, übertrugen sie doch - wie es in Aufnahme
eines in der Reiseliteratut zur Unterstreichung der Authentizität der eigenen Darstellung häufig
verwendeten Topos weiter heißt - „auf den Naturzustand die Vorstellungen [idées], die sie in der
Gesellschaft aufgenommen hatten; sie sprachen vom Wilden [homme sauvage] und zeichneten
den Bürger [homme Civil].
In Kritik an seinen Vorgängern definiert Rousseau zugleich sein eigenes Ziel, denn nicht
anders als sie hält auch er, „um den jetzigen Zustand richtig beurteilen zu können“, an der
Notwendigkeit fest, bis auf den Naturzustand zurückzugehen. Sind die Vertreter der
Naturrechtslehre an dieser Aufgabe gescheitert, da sich ihr interessebestimmter Blick von den
gesellschaftlich vermittelten und historisch gewordenen Beziehungen zwischen den Menschen
nicht zureichend zu lösen vermochte, so versucht er aus diesem Scheitern die Konsequenzen zu
ziehen. Seine Untersuchung soll dem ursprünglichen Menschen gelten, und zwar so, wie er
beschaffen war, bevor die Gesellschaft und die Geschichte ihn veränderten. Der Weg, den
Rousseau einschlägt, um zu diesem Ziel zu gelangen, nämlich „zu entwirren, was an der jetzigen
Natur des Menschen ursprünglich und was natürlich ist, sowie einen Zustand richtig zu erkennen,
den es nicht mehr gibt, vielleicht nie gegeben hat und wahrscheinlich nie geben wird“, ist dem
seiner Vorgänger daher diametral entgegengesetzt. Anstatt das Wesen des Menschen und der
Gesellschaft auf der Ebene abstrakter Reflexion zu bestimmen, versucht er zu den allen
Menschen gemeinsamen Wesenszügen vorzudringen, indem er die Eigenschaften des homme
civil, wie er ihn in seiner eigenen sozialen Umgebung und nicht zuletzt an sich selbst hatte
beobachten können, und die Eigenschaften des homme sauvage, wie er von den Reisenden
beobachtet worden war, miteinander vergleicht und schließlich die Summe dessen zieht, was
nach Abzug aller Besonderheiten an Gemeinsamkeiten bleibt. „Wenn man die Menschen
beobachten will,“ - so hat Rousseau wenige Jahre nach dem Erscheinen des Discours sur
l'inégalité seine eigene Methode beschrieben - „muß man sich in seiner Umgebung umsehen; will
man jedoch den Menschen erforschen, so muß man seinen Blick in die Ferne richten; man muß
zuerst die Unterschiede beobachten, um die allgemeinen Eigenschaften zu erkennen.“
Beobachtung des Eigenen und Beobachtung des Fremden bilden die beiden Komponenten der
Rousseauschen Anthropologie. Ihre Konstituierung vollzieht sich in der Wende zu einer
doppelten Erfahrungswelt; in ihr spielt das von den Reisenden und Missionaren gesammelte
ethnographische Beobachtungsmaterial eine unverzichtbare Rolle. Anders als die Begründer der
modernen Naturrechtslehre, und anders auch als die zeitgenössische Philosophie, betrachtet
Roussesau es nicht mehr nur als ein Arsenal beliebig einsetzbarer Argumentationsfiguren.
Rousseau nimmt es vielmehr ernst in seiner Bedeutung eines potentiellen und weitgehend noch
unausgeschöpften Inventars der Mannigfaltigkeiten der menschlichen Gattung. Durch die Fülle
der ethnographischen Beobachtungen erst wird es möglich, die wesentlichen Merkmale des
„ursprünglichen Menschen“, „so wie er aus den Händen der Natur hervorgegangen sein mußte“,
hinter der Vielfalt zeitlicher und räumlicher Unterschiede zum Vorschein zu bringen. In
Anwendung eines Verfahrens, das sich als ein Prozeß wechselseitiger Aufrechnung und steter
Reduktion beschreiben ließe, gelangt Rousseau so zu einer zunächst freilich noch wesentlich
abstrakten Bestimmung des Menschen. Sie besteht aus zwei, der Sprache, der Geselligkeit und
der Vernunft als erst im Verlauf der Geschichte erworbener Eigenschaften nicht nur
vorangehenden, sondern von ihnen im Sinne einer historischen Entwicklungslogik sogar
unabhängigen Prinzipien: der Eigenliebe (amour de sol) und dem Mitleid (commisération, pitié).
Diese beiden sich komplementär zueinander verhaltenden Prinzipien, von denen das eine „uns
leidenschaftlich um unser Wohlergehen und um unsere Selbsterhaltung besorgt (macht)“,
während das andere „uns einen natürlichen Widerwillen dagegen einflößt, irgendein fehlendes
Wesen, vor allem unseresgleichen umkommen oder leiden zu sehen“, haben ihren heuristischen
Wert jedoch erst noch unter Beweis zu stellen in der sie konkretisierenden und um weitere
Bestimmungen ergänzenden lebensweltlichen Verortung des ursprünglichen Menschen. Auf den
Akt der Dekomposition des anthropologischen Beobachtungsmaterials muß daher notwendig der
Akt seiner Rekomposition erfolgen. Rousseau gruppiert es in aufsteigender chronologischer
Ordnung um ein Zentrum, das als Anfangs- oder reiner Naturzustand nicht mehr identisch ist mit
der beobachtbaren Realität, weder mit der des in festen Gesellschaftsordnungen lebenden homme
civil, noch mit der des ebenfalls bereits in lockeren Vergesellschaftungsformen angetroffenen
zeitgenössischen homme sauvage. Sein Verfahren mündet so in das hypothetische Modell des an
den Anfang der Geschichte gestellten homme naturel. Er ist abstrakter Inbegriff der natürlichen,
vorgesellschaftlichen wie vorgeschichtlichen Eigenschaften des Menschen und konkrete
„historisierende Vergegenwärtigung eines nicht historischen Sachverhalts“ in einem.
3.
Die Bestimmung des homme naturel, die Rousseau im ersten Teil des Discours sur l'inégalité
gibt, folgt der äußeren Form nach der von der cartesianischen Tradition vorgegebenen
Unterscheidung des „physischen“ vom „metaphysischen oder moralischen Menschen“. Ihrem
Inhalt nach aber geht seine Bestimmung des Menschen im reinen Naturzustand über den strengen
Dualismus der cartesianischen Anthropologie weit hinaus.
Räumt Rousseau auch die Möglichkeit ein, daß der menschliche Körperbau im Verlauf der
Zeit bestimmte Veränderungen erfahren haben könne, daß der Mensch sich ursprünglich auf allen
Vieren fortbewegte, sich nur von Pflanzen ernährte und seine Gliedmaßen erst allmählich neuen
Lebensgewohnheiten anpaßte, so sieht er doch von solchen Überlegungen, in denen sich die
Zielrichtung seiner Konstruktion bereits andeutet, zunächst einmal ab, um - sicherlich mehr im
Blick auf die Zensur als rücksichtlich der in dieser Frage „noch allzu unsicheren Beobachtungen“
der Naturforscher - von der Annahme auszugehen, daß der Mensch „zu allen Zeiten so war, wie
ich ihn heute sehe: so wie er auf zwei Füßen geht, sich seiner Hände bedient, wie wir der unsren,
seine Blicke über die ganze Natur schweifen läßt und mit den Augen die weite Ausdehnung des
Himmels mißt.“ Und fortfahrend schreibt er:
„Indem ich dieses so geartete Wesen aller empfangenen übernatürlichen Gaben und aller künstlichen Fähigkeiten, die
es nur im Verlauf langer Fortschritte erwerben konnte entblöße, indem ich es, mit einem Wort, so betrachte, wie es
aus den Händen der Natur hervorgegangen sein mußte, sehe ich ein Tier, weniger stark als die einen, weniger
beweglich als die anderen, aber, alles in allem genommen, am vorteilhaftesten von allen organisiert.“
Wie Buffon nähert Rousseau den Menschen zunächst dem Tier an, um seine Besonderheiten
desto deutlicher hervorheben zu können, und er folgt Buffon sogar noch einen Schritt weiter,
wenn er von ihm die Vorstellung übernimmt, daß der Mensch das am vorteilhaftesten organisierte
von allen Tieren sei. An dieser Stelle beginnen sich beider Bestimmungen des Menschen jedoch
bereits voneinander zu trennen. Denn während Buffon der Vernunftbegabung die Rolle der die
Sonderstellung des Menschen innerhalb der Natur begründenden differentia specifica zumißt, so
entspringt für Rousseau diese Sonderstellung im Grunde aus einem Mangel, aus der Tatsache
nämlich, daß der Mensch als einziges Lebewesen über keinen ihm eigenen Instinkt verfügt. Es ist
nun allerdings gerade dieser Mangel, der ihn alle übrigen Mängel wieder wettmachen läßt, seine
geringere Stärke ebenso wie seine geringere Beweglichkeit, denn er zwingt ihn dazu, die ihn
umgebenden Tiere sorgfältig zu beobachten, sie in ihren Verhaltensweisen nachzuahmen und sich
so allmählich alle ihre besonderen Instinkte anzueignen. Die dem Menschen eigentümliche
Instinktentbundenheit erweist sich damit aber nicht, wie etwa bei Buffon, als Frucht seines
vernunftbegründeten Denkvermögens; für Rousseau ist sie vielmehr der im Urzustand noch
unausgefüllte, mithin bloß negative Ausdruck der menschlichen Freiheit. Sie macht den
Menschen von seiner natürlichen Umwelt unabhängig, ihr verdankt er sein außerordentliches
Nachahmungs- und Anpassungsvermögen, und sie befähigt ihn dazu, „sich gleicherweisen von
dem Großteil der verschiedenen Lebensmittel zu ernähren, in welche die übrigen Tiere sich
teilen“. Als Tier unter Tieren lebend, findet der Mensch im reinen Naturzustand daher kraft seiner
Freiheit von einem ihm allein „eigentümlichen Instinkt“ „leichter als irgendeines von ihnen seine
Subsistenz“: Ohne Waffen, aber geübt durch den täglichen Kampf gegen andere Tiere um
Nahrung und Beute, ohne Bekleidung und Behausung, aber abgehärtet durch die Strenge der
Jahreszeiten und den Wechsel der Witterung, verfügt er nur über ein einziges Werkzeug, seinen
Körper, dessen Kraft er bereits bis zu dem Grad entwickelt hat, dessen „die menschliche Gattung
fähig ist“. Im Gegensatz zum vergesellschafteten Menschen, der aufgrund seiner „welbischen und
verweichlichten Lebensweise“ seine ursprüngliche Robustheit eingebüßt hat und von allen
erdenklichen Krankheiten geplagt wird, die erst auf dem Boden der Gesellschaft entstehen, kennt
der Wilde, den „die Natur genauso behandelt wie das Gesetz von Sparta seine Bürger; sie macht
die Gutgebauten stark und robust und läßt die andern untergehen“ - keine anderen übel als die
natürlichen Gebrechen der Kindheit und des Alters.
Hatte Rousseau den Menschen, „so wie er aus den Händen der Natur hervorgegangen sein
mußte“, eingangs noch als in einem Zustand arkadischer Idylle lebend gezeichnet: „Ich sehe ihn,
wie er sich unter einer Eiche sättigt, im erstbesten Bach seinen Durst löscht, sein Bett zu Füßen
desselben Baumes findet, und damit sind seine Bedürfnisse befriedigt“, So mischen sich in dieses
lichte Bild der Ruhe und der Sorglosigkeit im Fortgang der Beschreibung doch bald schon einige
düstere Züge. Zwar leidet der auf der „ihrer natürlichen Fruchtbarkeit überlassenen Erde“ lebende
homme naturel nirgends Mangel, doch unterliegt er dem strengen Gesetz der Natur, das die
Starken überleben und die Schwachen sterben läßt; er muß mit anderen Tieren um Nahrung
kämpfen und er muß sich gegen Raubtiere verteidigen; allein zwar und müßig, sieht er sich
dennoch ständig von Gefahr umgeben; er ist daher gezwungen, „ständig alle seine Kräfte zur
Verfügung zu halten, jedem Ereignis gewachsen zu sein und sozusagen sich selbst immer mit sich
zu führen“.
Trotz der in die Schilderung des reinen Naturzustandes immer wieder einfließenden und selbst
noch jene negativen Elemente zu Vorzügen stilisierenden Invektiven gegen die Depravierung des
Menschen im Gesellschaftszustand beabsichtigt Rousseau nicht, das tierische Dasein als das für
den Menschen eigentlich erstrebenswerte darzustellen. Wenn Rousseau - im übrigen stets in enger
Anlehnung an die zeitgenössische ethnographische Berichterstattung - die außerordentlich scharf
entwickelten Sinneskräfte, die Körperstärke und die Gewandtheit des Wilden hervorhebt, dann
vor allem, um zu beweisen, daß der Mensch im reinen Naturzustand sich das Lebensnotwendige
allein aufgrund seiner besonderen körperlichen Organisation und der ihm eigentümlichen
Instinktentbundenheit zu verschaffen vermag, und zwar ohne auf die Hilfe der Gesellschaft noch
auf künstliche Hilfsmittel angewiesen zu sein, seien es Waffen oder Werkzeuge, Kleider oder
Behausungen.
Auch die Bestimmung der „metaphysischen oder moralischen Seite“ des Menschen beginnt
mit einem Vergleich seiner Eigenschaften mit denen des Tieres. Der entscheidende Unterschied
zwischen Mensch und Tier kann, so Rousseau, weder im Wahrnehmungsvermögen noch im
Verstand bestehen, denn auch das Tier vermag, da es Sinne hat, Vorstellungen zu entwickeln und
sie, wenn auch nur bis zu einem bestimmten Punkt, miteinander zu verknüpfen. Doch während
das Tier eine „kunstreiche Maschine“ ist, der „die Natur Sinne gegeben hat, um sich selbst wieder
aufzuziehen“, und während das Tier in allem, was es tut, dem ihm von der Natur vorgegebenen
Instinkt folgt, ist allein der Mensch freier Herr („agent libre“) seiner Entscheidungen: „Die Natur
befiehlt jedem Lebewesen, und das Tier gehorcht. Der Mensch fühlt gleichfalls ihr Drängen, aber
er erkennt sich als frei, ihm nachzugeben oder zu widerstehen; und gerade im Bewußtsein dieser
Freiheit zeigt sich die Geistigkeit seiner Seele.“ Rousseau wiederholt im Grunde nur die in der
Bestimmung des „homme physique“ bereits gemachten Ausführungen und spezifiziert sie, wenn
er nunmehr auch die seelischen Besonderheiten des Menschen als Resultat seiner potentiellen
Unabhängigkeit von den starren und gleicherweise in alle Lebewesen eingeschriebenen Regeln
der Natur auffaßt. Obgleich er an der klassischen Trennung von Physis und Psyche weiter
festhält, unterläuft er damit doch de facto den Dualismus der traditionellen cartesianischen
Anthropologie. Leib und Seele sind nicht mehr distinkte und durch ihr beiderseitiges
Vorhandensein den Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier setzende Entitäten. Die
besonderen physischen und psychischen Merkmale des Menschen erklären sich vielmehr aus
einem einheitlichen Prinzip, das nach der ersten Seite als Instinktentbundenheit, nach der zweiten
Seite aber als Willensfreiheit erscheint. Rousseau kreiert zur Bezeichnung dieses Prinzips einen
Neologismus, den der perfectibilité. Sie, die Fähigkeit, sich selbst zu vervollkommnen, ist es, die
seiner Auffassung nach den eigentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier ausmacht. Ihrer
Ableitung aus der Freiheit gemäß kann die Perfektibilität, so wie Rousseau sie definiert, jedoch
nicht als bloßes Gegenstück zur Instinktgebundenheit des Tieres aufgefaßt werden, als ein
mechanisches Gesetz, das den Menschen notwendig, und seiner willentlichen Entscheidungen, in
denen sie doch gründet, ungeachtet, der eigenen Höherentwicklung entgegentreibt. Zwar vermag
sie, als grundlegende Fähigkeit des Menschen, „mit Hilfe der Umstände“ allmählich alle seine
übrigen Fähigkeiten zu entwickeln; umgekehrt kann sie aber auch, als reiner Ausdruck seiner
Freiheit, den Verlust aller erworbenen Fähigkeiten bewirken und den Menschen so,
gattungsgeschichtlich wie individuell, selbst noch unter das Niveau des Tieres herabsinken
lassen. Die Perfektibilität wird damit aber zur Bedingungsmöglichkeit der Geschichtlichkeit des
Menschen. Sie ist Wurzel aller Übel und Quelle aller Fortschritte zugleich. Indem Rousseau den
Begriff der Selbstverkommnungsfähigkeit in seiner Doppeldeutigkeit faßt, setzt er sich in
Widerspruch zu den meisten zeitgenössichen Fortschrittstheorien: Der Geschichte der Gattung ist
kein fester Weg vorgezeichnet. Sie kann im Paradies ebenso enden wie in der Katastrophe.
Rousseaus Discours sur l'inégalité läßt sich in seinen geschichtsphilosophischen Abschnitten als
Versuch lesen, die Geschichte der Zivilisationsentwicklung unter diesem zweiten Aspekt zu
betrachten: als Verfallsgeschichte der Gattung. Die andere Alternative - auch sie deutet sich in
einigen Passagen des Zweiten Diskurs bereits an - hat er dagegen in der politischen Utopie des
sieben Jahre später veröffentlichten Contrat social durchzuspielen versucht. Beide Konzeptionen
beruhen indes auf dem in der Schrift von 1755 entwickelten, von der Konstruktion des
ökonomisch wie gesellschaftlich autarken homme naturel ausgehenden Geschichtsmodell.
Gilt die Untersuchung der physischen Fähigkeiten des natürlichen Menschen dem Nachweis
seiner möglichen ökonomischen Autarkie, so gilt die Untersuchung seiner psychischen
Konstituentien dem Nachweis seiner möglichen Unabhängigkeit von seinesgleichen. Steht im
Mittelpunkt der ersten Untersuchung die Konkretion des abstrakten Prinzips der individuellen
Selbsterhaltung oder Eigenliebe, so steht im Mittelpunkt der zweiten Untersuchung die
Konkretion jenes zweiten, mit dem ersten eng verknüpften und seine Auswirkungen dämpfenden
Prinzips des Mitleids oder der natürlichen Güte des Menschen. Gemeinsam zielen sie auf die
Widerlegung der Vorstellung, daß der Geselligkeitstrieb und damit auch die erst im
Gesellschaftszustand wirksam werdende Ungleichheit zum natürlichen Wesen des Menschen
gehören.
Während der Mensch im reinen Naturzustand von der ihn vor allen anderen Tieren
auszeichnenden Fähigkeit der Selbstvervollkommnung nur insoweit Gebrauch gemacht hat, als er
ihrer zur Ausbildung der seiner Selbsterhaltung dienenden Körperkräfte und Sinnenwerkzeuge
bedurfte, liegen alle seine übrigen im Keim bereits vorhandenen Anlagen noch brach. Er bleibt
vor allem in Bezug auf seine geistigen und moralischen Fähigkeiten auf die „rein animalischen
Funktionen“ beschränkt; wenn auch potentiell vorhanden, sind diese Fähigkeiten doch noch nicht
ausgebildet, denn alles, was er zur Befriedigung seiner geringen Bedürfnisse benötigt, „liegt nahe
bei der Hand“. Da sich die menschliche Vernunft aber, wie Rousseau weiter ausführt, allein über
die „Aktivitäten unserer Leidenschaften vervollkommnet“, die wiederum in den unerfüllten
Bedürfnissen wurzeln, und da die Begierden des isolierten Naturmenschen über seine erfüllbaren
aktuellen Bedürfnisse nicht hinausgehen - „die einzigen Güter, die er im Universum kennt, sind
Nahrung, ein Weibchen und Ruhe“ - befindet er sich noch, wie die Tiere, in einem Zustand
reflexionslosen Glücks. Ungestört von den Verwirrungen der Leidenschaften und unberührt von
der Sorge um den kommenden Tag kann er sich daher ganz der Gegenwart hingeben: „Seine
durch nichts beunruhigte Seele überläßt sich allein dem Gefühl seiner gegenwärtigen Existenz,
ohne irgendeinen Gedanken an die Zukunft, so nahe sie auch sei; und seine Pläne, die ebenso
beschränkt sind wie seine Ansichten, erstrecken sich kaum bis ans Ende des Tages.“
Die Leidenschaftslosigkeit, die Selbstgenügsamkeit und die Seelenruhe des Naturmenschen
aber verdanken sich allein dem Zustand der Ungeselligkeit und der Unabhängigkeit, in dem er
lebt. Noch beschränken sich die Kontakte zu seinesgleichen auf gelegentliche Kämpfe um
Nahrung und Beute, die jedoch beendet sind, sobald der Besiegte das Feld verläßt, denn so gering
die Wahrscheinlichkeit ist, daß sich zwei einsam in den Wäldern umherirrende Einzelwesen
jemals wiederbegegnen, so unbekannt müssen dem Naturmenschen aus ebendiesem Grund
Rachsucht und Haß gewesen sein. Ebenso dem Zufall überlassen bleiben die Begegnungen
zwischen Mann und Frau. Sie begatten sich, wenn die Gelegenheit sich bietet, und sie verlassen
sich wieder mit derselben Leichtigkeit, denn der Naturmensch kennt nur die „physische Liebe“,
die „Moral“ und die „Gefühle der Liebe“ aber, die zusammen mit den Leidenschaften erst in der
Gesellschaft entstehen, sind ihm fremd. Ebensowenig wie der Geschlechtstrieb schafft auch die
Notwendigkeit der Aufzucht der Kinder soziale Beziehungen von Dauer. Die Kinder verlassen
die Mütter, sobald sie kräftig genug sind, um sich ihre Nahrung selbst zu suchen, und Mütter und
Kinder vergessen einander, sobald sie sich aus den Augen verloren haben.
Die isolierten Naturmenschen scheinen so in jeder Hinsicht auf ihre Selbsterhaltung bedacht.
Dennoch wird ihre Vereinzelung bisweilen durchbrochen, durch den vom Schmerz erzeugten
„Schrei der Natur“. Er ist die rudimentärste, aber zugleich auch die „universalste und
kraftvollste“ aller Sprachen. Er ist das einzige Verständigungsmittel, über das der Naturmensch
verfügt, bevor die artikulierten Sprachen sich zu formieren beginnen, deren Herausbildung das
Denken und den gegenseitigen Umgang bereits voraussetzt. Nur selten und in dringenden Fällen
„durch eine Art von Instinkt“ ausgestoßen, „um Hilfe herbeizuflehen in großen Gefahren oder
Linderung bei heftigen Schmerzen“, verweist der an den Ursprung der Sprache gestellte „Schrei
der Natur“ auf das natürliche Mitleid, das zweite der beiden von Rousseau eingangs genannten
abstrakten Bestimmungsprinziplen des Menschen. Der „Schrei der Natur“ hat appellativen
Charakter und stellt, kraft seiner spontanen imperativen Wirkung, Beziehungen her zwischen den
ausschließlich mit der Erhaltung ihrer physischen Existenz befaßten vereinzelten Naturmenschen,
sobald einer von ihnen sich in seiner physischen Existenz bedroht fühlt. Rousseau läßt
weitgehend offen, wie diese Beziehungen beschaffen sind. Eindeutig bleibt dagegen, worauf die
imperative Wirkung des „Schreis der Natur“ beruht und woran sie appelliert. Es kann weder die
Vernunft sein noch die Einbildungskraft, da beides Fähigkeiten sind, über die der Mensch im
reinen Naturzustand noch nicht verfügt. Nicht von ungefähr greift Rousseau daher in diesem
Zusammenhang auf den zunächst ausgeklammerten Begriff des Instinkts zurück. Durch eine „Art
von Instinkt“ ausgestoßen, der der beschädigten Eigenliebe des gefährdeten Individuums
entspricht, kann er nur einer anderen „Art von Instinkt“ gelten, dem natürlichen Mitleid oder dem
(wie es mit deutlichem Bezug auf die instinktresiduale Komponente dieser zweiten menschlichen
Grundeigenschaft nunmehr heißt) „angeborenen Widerwillen, seinesgleichen leiden zu sehen“.
Als erste Sprechhandlung des Menschen und als seine einzige im reinen Naturzustand vermittelt
der „Schrei der Natur“ also zwischen den beiden jeder Reflexion vorangehenden Grundtrieben,
der Eigenliebe und dem natürlichen Mitleid. Anders als die Instinktentbundenheit, die
Willensfreiheit und die Perfektibilität, die, ihrer gemeinsamen Ableitung aus der Freiheit
entsprechend, im Grunde nicht mehr sind als „pure Negation“, erweisen sich diese beiden
positiven Prinzipien als unableitbar. Sich gegenseitig ergänzend, bilden sie das Grundgerüst, auf
dem die Konstruktion des homme naturel beruht. Bringt die Triebkraft der durch keinerlei
natürliche Instinkte gehemmten Eigenliebe all die physischen Fähigkeiten zur Entwicklung, die
der Naturmensch benötigt, um allein und unabhängig zu leben, so mäßigt das natürliche Mitleid
die Wirkungen, die von jener ungebändigten Triebkraft für seinesgleichen ausgehen könnten.
Beide Prinzipien stehen so im Dienst der Selbsterhaltung: Die Selbsterhaltung des Individuums
ist der Zweck der Eigenliebe, die Selbsterhaltung der Gattung aber ist der Zweck des natürlichen
Mitleids. Es nimmt im reinen Naturzustand „die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend
ein, doch mit dem Vorteil, daß keiner versucht ist, nicht auf seine sanfte Stimme zu hören“. Erst
im Gesellschaftszustand beginnen jene beiden auf ein gemeinsames Ziel ausgerichteten
präreflexiven „Regungen der Natur“ auseinanderzutreten. Während an die Stelle der Eigenliebe
(amour de sol) die Selbstsucht (amour propre) tritt, „ein relatives, künstliches und in der
Gesellschaft entsprungenes Gefühl […], das den Menschen all die übel eingibt, die sie sich
antun“, bleibt zwar das natürliche Mitleid auch weiterhin die Wurzel „aller sozialen Tugenden“,
doch verliert es in dem Maße seine mäßigenden Wirkungen, in dem es durch die in den Dienst
der Selbstsucht genommene Reflexion seiner Spontaneität beraubt wird und sich von einer
ursprünglich „lebhaften und dunklen“ Empfindung in ein „entwickeltes, aber schwaches“ Gefühl
verwandelt. Dagegen ist die Eigenliebe im Zustand gegenseitiger Unabhängigkeit ebenso
natürlich und gut wie das Mitleid:
„Da die Menschen in diesem Zustand untereinander weder irgendeine Art moralischer Beziehung noch bewußter
Pflichten hatten, konnten sie anscheinend weder gut noch böse sein, und besaßen weder Laster noch Tugenden; es sei
denn, man nimmt diese Worte in einem physischen Sinn und bezeichnet als Laster diejenigen Eigenschaften eines
Individuums, die seiner Erhaltung schaden, die aber als Tugenden, die zu seiner Erhaltung beitragen können. In
diesem Fall müßte man denjenigen den tugendhaftesten nennen, der den einfachen Antrieben der Natur am
wenigsten widersteht.“
Der homme naturel war also, insofern er sich der Eigenliebe und dem Mitleid, den beiden
einfachsten Antrieben der Natur, nicht widersetzte, gut allein im „physischen Sinn“ - Rousseau
spricht in diesem Zusammenhang auch von der bonté naturelle, der natürlichen Güte des
Menschen - nicht jedoch im moralischen Sinn, da er jenen Antrieben nicht willentlich, sondern
spontan folgte, und da er überdies mangels der erst mit der Gesellschaft sich entwickelnden
Reflexion noch gar nicht zu unterscheiden wußte zwischen Gut und Böse. Seine natürliche Güte
erweist sich damit aber nur als Indifferenz gegenüber moralischen Werten. Rousseaus homme
natuel war daher - wie Arthur Lovejoy bemerkt - „ein nicht-moralisches, aber gutgeartetes Tier“.
Wie der doppeldeutige Begriff der Perfektibilität verweisen auch die beiden im Naturzustand
noch komplementären, im Gesellschaftszustand aber in ein antagonistisches Verhältnis
zueinander eintretenden axiomatischen Prinzipien der in die Selbstsucht umgewandelten
Eigenliebe und des zu einem abgeschwächten Gefühl gewordenen natürlichen Mitleids auf die
beiden möglichen Alternativen der Gattungsentwicklung, die Rousseau in seinen
zivilisationskritischen Diskursen auf der einen Seite und in seinen im Umkreis des Contrat social
entstandenen Verfassungsentwürfen auf der anderen Seite skizziert hat. Beruht der die zivile
Gesellschaft begründende, seinen Untergang indessen bereits in sich tragende und schließlich in
die Katastrophe mündende ungerechte Gesellschaftsvertrag, dessen Entstehungsgeschichte er im
Discours sur l'inégalité rekonstruiert, auf der destruktiven Triebkraft der an die Stelle der
Eigenliebe tretenden Selbstsucht, so kommt dem am Ursprung aller sozialer Tugenden stehenden
und im republikanischen Patriotismus komprimierten Mitleid die Rolle einer der Konstituentien
der gerechten Gesellschaftsordnungen zu, die Rousseau in seinen späteren Schriften zur
Verfassungsreform Korsikas und Polens entwarf. Auch in dieser Hinsicht sind also die möglichen
späteren Entwicklungen der menschlichen Gesellschaft im reinen Naturzustand, so wie Rousseau
ihn konstruiert, bereits angelegt.
Dennoch ist Rousseau kein Entelechetiker etwa im Sinne Buffons, der den zivilisierten
Europäer als das Modell und das vervollkommneteste Exemplar, als das schließlich zu sich selbst
gekommene Urbild seiner Gattung ansah, auf dessen Hervorbringung die Geschichte wie auf ihr
natürliches Ziel zustrebte. Kennzeichnend für Rousseaus Ansatz ist vielmehr das Bemühen, die
Natur des Menschen „nicht teleologisch von der entfalteten geschichtlich-kulturellen Existenz
des Menschen her (zu deuten)“, wie Robert Spaemann schreibt, „sondern durch radikale
Abstraktion von dieser“. So wenig Rousseau die abendländische Zivilisation als entelechlalen
Zielpunkt der Entwicklung der Gattung ansehen wollte stellte sie für ihn doch vielmehr den
Kulminationspunkt ihres Verfalls dar -, so wenig sieht er selbst in der Vernunft, in der Sprache
und in der Gesellschaft Eigenschaften, die der Mensch, obgleich ihre Anlagen im reinen
Naturzustand virtuell vorhanden waren, deshalb auch notwendig hätte zur Entfaltung bringen
müssen. Da Rousseau bestreitet, daß in der Natur des Menschen ein Prinzip existiere, das
imstande wäre, ihn gegen seinen eigenen Willen über sich hinauszutreiben, solange seine äußeren
Lebensbedingungen dieselben bleiben, steht für ihn die Gattungsgeschichte von ihrem Anbeginn
an nicht unter dem Gesetz einer inneren, zielgerichteten Entwicklungslogik, sondern unter dem
Zeichen der Dialektik von menschlicher Freiheit und Naturnotwendigkeit. Erst von einem
bestimmten Punkt des Vergesellschaftungsprozesses an, dort nämlich, wo die durch die
Erzeugung immer neuer Bedürfnisse vermittelte gegenseitige Abhängigkeit unauflösbar
geworden erscheint, beginnt sie sich zu verselbständigen und entwickelt eine Eigendynamik, die
in dem Maße, in dem die Menschen sich ihr nicht mehr zu entziehen vermögen, die Geschichte
der Gattung zur Geschichte ihres Verfalls werden läßt. Dagegen hätte der „ohne Fertigkeiten,
ohne Feindschaft und ohne Freundschaft, ohne Verlangen nach seinesgleichen und ohne jeden
Trieb ihm zu schaden […] in den Wäldern umherirrende Wilde, der fast leidenschaftslos war und
sich selbst genügte […], der nur seine wirklichen Bedürfnisse kannte[…] und dessen Intelligenz
ebensowenig Fortschritte machte wie seine Eitelkeit“ - hätte der unabhängige und ungesellige
Naturmensch denn um ihn „ewig in seiner primitiven Kondition verharren können“, aus diesem
Zustand der Selbstgenügsamkeit und der Indolenz, des Glücks und der Reflexionslosigkeit
herauszureißen und seine potentiellen Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen, bedurfte es erst des
„zufälligen Zusammentreffens mehrerer äußerer Ursachen, das eben so gut auch hätte
unterbleiben können“.
4.
Wirkt das Bild des „wirklichen Naturzustandes“, das Rousseau im ersten Teil des Discours sur
l'inégalité ausbreitet, und das die Grundlage abgibt für den im zweiten Teil erfolgenden Versuch
der Rekonstruktion des Zivilisationsprozesses, seiner inneren Logik nach außerordentlich
geschlossen, so sind die hypothetischen Konstruktionen, die er wählt, um die Herausbildung
erster Vergesellschaftungsformen zu erklären, weit weniger einheitlich und widerspruchsfrei.
Einerseits bemüht, die Entstehung der „zivilen Gesellschaft“ als Resultat des Zufalls darzustellen
und dabei zugleich nachzuweisen, daß die Entwicklung der Gattung auch einen ganz anderen
Weg hätte nehmen, ja, daß die Menschheit sogar für immer auf früheren Stadien hätte
stehenbleiben können, andererseits aber überzeugt, daß jener Entwicklung, so wie sie stattfand,
ein bestimmter Grad von Notwendigkeit hatte innewohnen müssen, schwankt Rousseau zwischen
zwei Erklärungsmodellen: einem externen, das den äußeren Ursachen, großen Naturkatastrophen
oder Veränderungen der Erdoberfläche vor allem, die Rolle der den Geschichtsprozeß
auslösenden Faktoren zuschreibt, und einem internen, das ihn die Entfaltung menschlicher
Fähigkeiten als einen weitgehend selbsttätigen Prozeß auffaßen läßt. Rousseau gelingt es
zunächst nur unzureichend, beide Modelle zur Deckung zu bringen. So überwiegt etwa gerade bei
der Erklärung des ersten gattungsgeschichtlichen Umschlagspunktes: des Ausgangs des
Menschen aus dem reinen Naturzustand, noch eindeutig jenes zweite, interne Modell. Denn
eigentlich vermag Rousseau die Behauptung, daß es erst des „zufälligen Zusammentreffens
mehrerer äußeren Ursachen“ bedurfte, um diesen entscheidenden Schritt zu bewirken, nicht
einzulösen, wenn er, nachdem er die Lebensbedingungen des in sich selbst ruhenden und
sorglosen homme naturel nochmals zusammengefaßt hatte, unvermittelt fortfährt:
„Doch bald boten sich Schwierigkeiten. Man mußte lernen, sie zu besiegen. Die Höhe der Bäume, die ihn daran
hinderte, ihre Früchte zu erreichen; der Kampf mit den Tieren, die sich davon zu ernähren suchten; die Wildheit
derer, die ihm ans Leben wollten; alles das zwang ihn dazu, sich der Übung des Körpers zu widmen; er mußte sich
behende, flink im Laufen, kräftig im Kampf machen. Die natürlichen Waffen, wie Baumäste und Steine, befanden
sich bald in seinen Händen. Er lernte, die Hindernisse der Natur zu überwinden, die anderen Tiere, wenn nötig, zu
bekämpfen, selbst mit anderen Menschen um seinen Lebensunterhalt zu streiten oder sich für das zu entschädigen,
was er dem Stärkeren einräumen mußte.“
Hatten sich jene Schwierigkeiten aber nicht schon immer gestellt? War die Natur nicht sich
selbst gleich geblieben? Im Grunde zerstört Rousseau in dieser Passage das eingangs gezeichnete
Bild des in harmonischer Übereinstimmung mit der Natur lebenden Menschen; in ihr zeichnet
sich die Konzipierung eines neuen Naturverhältnisses ab. Von der mütterlichen Spenderin, die
den Menschen mit allem Lebensnotwendigen versorgt, wird die Natur mit einem Mal zur
übelwollenden Macht. Sie legt ihm Hindernisse in den Weg. Er muß lernen, sie zu überwinden.
Und schien die Vervollkommnung der körperlichen Fähigkeiten des Menschen und das Erwachen
erster Verstandesleistungen zunächst noch durch einen tiefen Einschnitt getrennt: das Stadium
otiosen und reflexionslosen Glücks, auf dem der seiner Körper- und Sinneskräfte mächtige
homme naturel für immer hätte verharren können, so vollzieht sich der Übergang vom Gebrauch
des Körpers zum Gebrauch der Waffe, dem ersten Ausdruck seiner Verstandestätigkeit, nunmehr
bruchlos. Mit der abrupten Wendung: „Doch bald boten sich Schwierigkeiten…“ bleibt Rousseau
die Antwort auf die Frage schuldig, welche besonderen und vorher noch nicht vorhandenen
äußeren Ursachen den homme naturel dazu zwangen, seine brachliegenden Anlagen zur
Entfaltung zu bringen. Der Ausgang des Menschen aus dem reinen Naturzustand erscheint
vielmehr als das Produkt des kontinuierlichen Kampfes des Menschen gegen die äußere Natur.
Aus der Kombination jener beiden Erklärungsmuster entwickelt Rousseau dann jedoch eine
Denkfigur, die er vor allem bei der Darstellung des Übergangs zu späteren Entwicklungsstufen
mit Erfolg anwendet: Herausgefordert durch einschneidende Veränderungen ihrer natürlichen
Umwelt, werden die Menschen dazu gezwungen, bis dahin noch schlummernde Fähigkeiten aus
sich hervorzubringen; aus diesem ersten Schritt ergeben sich indessen unvorhergesehene Folgen,
die sie nur durch die Entfaltung weiterer Anlagen zu bewältigen vermögen, mit eben solchen
unvorhergesehenen Folgen. Dennoch stellt sich allmählich ein bestimmtes Gleichgewicht her
zwischen den negativen und den positiven Auswirkungen, die sich aus der Entfaltung der
virtuellen Fähigkeiten des Menschen ergeben, ein Gleichgewicht, das jedoch nur so lange hält,
bis jener Prozeß durch einen weiteren äußeren Anstoß erneut in Gang gebracht wird. Mit Hilfe
dieser dialektischen Denkfigur bestimmt Rousseau die verschiedenen intermediären Etappen, die
dem reinen Naturzustand folgten und der Entstehung der zivilen Gesellschaft vorangingen: das
Stadium der Horde, das Stadium der konjugalen Familie und schließlich das Stadium der
beginnenden Gesellschaft, in dem er das Goldene Zeitalter der Menschheit sieht.
Das „exzessive Bevölkerungswachstum“, das aus der erfolgreichen Überwindung der
„Hindernisse der Natur“ resultiert, setzt der Sorglosigkeit des reinen Naturzustandes ein Ende.
Die Menschen beginnen sich über die Erde zu verbreiten, und „zugleich mit den Menschen
vermehrten sich die Mühen“. Mit neuen Umweltbedingungen konfrontiert und dem harten
Wechsel der Jahreszeiten ausgesetzt, entwickeln sie erste Techniken, erfinden sie Fisch- und
Jagdwerkzeuge, bekleiden sie sich mit den Pelzen erlegter Tiere, erlernen sie den Gebrauch des
Feuers und werden so von Pflanzensammlern zu Fischern und Jägern. Die Notwendigkeit, der
wachsenden Schwierigkeiten durch den Gebrauch der bis dahin brachliegenden geistigen
Fähigkeiten Herr zu werden, hat zur Folge, daß die Menschen die Beziehungen zu ihrer Umwelt
erstmals bewußt wahrnehmen. Einerseits entwickeln sie, sobald sie sich ihrer Überlegenheit über
alle anderen Tiere bewußt werden, erste Regungen des Stolzes, den Keim der zerstörerischen
„amour-propre“, andererseits erlernen sie in jenem ersten Akt der Reflexion aber auch,
ihresgleichen von den übrigen Tieren zu unterscheiden und sich als Gattungswesen zu begreifen.
Infolge der aus der gegenseitigem Beobachtung gewonnenen Erfahrung, „daß die Liebe zum
Wohlbefinden der einzige Beweggrund der menschlichen Handlungen ist“, beginnen sich die bis
dahin noch vereinzelt umherschweifenden Menschen aufgrund gemeinsamer Interessen zur
Horde zusammenzuschließen, „durch eine Art von freier Assoziation, die niemand verpflichtete
und nicht länger dauerte als die vorübergehende Not, die sie gebildet hatte.“
Rousseau nimmt an, daß sich dieses erste auf den reinen Naturzustand folgende
Übergangsstadium über eine Vielzahl von Jahrhunderten erstreckte, solange jedenfalls, bis durch
die Erfindung von Steinäxten und die Erfindung des Hüttenbaus die „Epoche einer ersten großen
Revolution“ eingeleitet wurde. Sie bestand in der durch diese neuen Techniken erst ermöglichten
„Ansiedlung und Absonderung der Familien“, ein entscheidender Schritt, in dessen Gefolge nicht
nur eine „erste Art von Eigentum“ entsteht, sondern sich auch das Gefühlsleben zu entwickeln
beginnt, und mit ihm die Sprache und die Vernunft. Mit der Herausbildung der konjugalen
Familie ist ein Entwicklungsstadium erreicht, in dem sich die aus der Entfaltung menschlicher
Fähigkeiten resultierenden positiven und negativen Auswirkungen noch gegenseitig die Waage
halten. Zwar verlieren die Menschen infolge der sich innerhalb der Familie entwickelnden
Arbeitsteilung und infolge der allmählichen Seßhaftwerdung einen Teil ihrer ursprünglichen
„Wildheit und Kraft“, doch wird dieser Verlust durch die Möglichkeit gegenseitiger Hilfeleistung
aufgewogen. Zwar kommt es bisweilen zu Streitigkeiten um den Besitz der Hütten, doch bleiben
diese Kämpfe folgenlos, solange noch Land im Überfluß zur Verfügung steht. Indes bereiten die
Menschen durch die Erfindung erster Werkzeuge, die zunächst nur der Befriedigung ihrer
„beschränkten Bedürfnisse“ dienen, zunehmend aber auch zur Herstellung von „vielerlei
Bequemlichkeiten, die noch ihren Vätern unbekannt waren“, verwendet werden, ihren
Nachfahren die „erste Quelle der Übel“: „Denn abgesehen davon, daß sie auf diese Weise Körper
und Geist zu verweichlichen fortfuhren, verloren diese Bequemlichkeiten infolge der Gewöhnung
fast alle ihre Annehmlichkeiten. Da sie gleichzeitig zu wahren Bedürfnissen ausgeartet waren,
wurde der Mangel dieser Bequemlichkeiten viel schmerzlicher als ihr Besitz angenehm
empfunden. Man war unglücklich bei ihrem Verlust, ohne bei ihrem Besitz glücklich zu sein.“ Im
Stadium der konjugalen Familie sind mit der Existenz einer Vorform des Eigentums und mit der
Möglichkeit der Erzeugung neuer Bedürfnisse die Keime für alle späteren Entwicklungen also
nicht mehr nur virtuell vorhanden, sondern bereits rudimentär ausgebildet.
Um das relative Gleichgewicht dieses Stadiums zu zerstören und aus den unabhängig
voneinander lebenden Familien, von denen jede „eine Gesellschaft im kleinen“ war, die
„entstehende Gesellschaft“ (société naissante) zu formen, bedurfte es dennoch eines weiteren
Anstoßes von außen. Rousseau sieht in den „großen Überschwemmungen und Erdbeben, die die
bewohnten Gegenden mit Wasser oder Abgründen umgaben“ sowie in den „Umwälzungen des
Erdballs, die Teile des Festlandes lösten und als Inseln abschnitten“, die entscheidenden äußeren
Ursachen, die den Vergesellschaftungsprozeß weiter vorantrieben, indem sie die Menschen dazu
zwangen, auf engerem Raum zusammenzuleben, ihre unstete Lebensweise endgültig aufzugeben,
engere Beziehungen zueinander einzugehen und „in jedem Landstrich eine besondere Nation zu
bilden“. Durch die großen Naturkatastrophen wird der Prozeß der wechselseitigen Entfaltung der
menschlichen Fähigkeiten erneut in Gang gesetzt und beschleunigt. War der Gebrauch des Wortes
bereits in der Familie an die Stelle der unartikulierten Laute und Gesten getreten, mit denen sich
noch die Jäger und Fischer verständigt hatten, so beginnen sich jetzt aus den Worten feste Idiome
zu bilden. Die Beständigkeit des gegenseitigen Verkehrs führt daneben zu einer weiteren
Intensivierung und Differenzierung des Gefühlslebens, wodurch die eingegangenen Bindungen
selbst noch enger werden. Vorlieben und Abneigungen stellen sich her, und zugleich mit dem
„zärtlichen und sanften Gefühl“ der Geschlechterliebe erwacht auch die Eifersucht. Auf den
Festen, zu denen sich die Hüttenbewohner nunmehr periodisch zusammenfinden, kommen die im
reinen Naturzustand noch unbeachteten natürlichen Ungleichheiten erstmals zum Tragen: „Die
öffentliche Achtung bekam Wert. Wer am besten sang oder tanzte, der Schönste, der Stärkste, der
Gewandteste, der Beredsamste wurde am meisten geschätzt. Das aber war der erste Schritt zur
Ungleichheit, und gleichzeitig zum Laster.“ Mit dem wachsenden Bedürfnis nach Anerkennung
und Auszeichnung entstehen Eitelkeit und Verachtung, Scham und Neid, und erzeugen so in ihrer
Vermischung schließlich eine Gärung, die „dem Glück und der Unschuld“ verhängnisvoll werden
sollte. Aus dem Anspruch auf Achtung, den von nun an ein jeder vom anderen fordern zu müssen
glaubt, entspringen die „ersten Pflichten der Höflichkeit“ ebenso wie die Gefühle der Rachsucht.
Da die natürliche Güte sich bald nicht mehr imstande erweist, die entstehenden Leidenschaften
zu zügeln, nimmt „die Einführung der Moral in die menschlichen Handlungen ihren Anfang“:
„Die Strafen mußten in dem Maß strenger werden, als die Gelegenheiten zum Unrechttun
häufiger wurden. Die Furcht vor der Rache vertrat den Zaum der Gesetze.“
Doch auch in diesem Entwicklungsstadium, das, wie Rousseau bemerkt, genau dem Zustand
entsprach, „zu dem die Mehrzahl der uns bekannten wilden Völker vorangeschritten ist“, konnten
sich die negativen und die positiven Folgen des Ausgangs des Menschen aus dem reinen
Naturzustand noch gegenseitig das Gleichgewicht halten. Zwar waren auf der einen Seite das sich
allmählich abschwächende „natürliche Mitleid“ und die sich sukzessiv in die „Selbstsucht“
verwandelnde „Eigenliebe“ bereits auseinandergetreten. Doch waren auf der anderen Seite die
wechselseitige Abhängigkeit und die Bedürfnisentwicklung noch nicht so weit vorangeschritten,
als daß die Selbstsucht ihre zerstörerisehen Wirkungen bereits voll zur Entfaltung hätte bringen
können, denn noch war der Einzelne wirtschaftlich potentiell autark, noch bedurfte er nicht der
Hilfe des anderen und noch vermochte ein jeder die Werkzeuge selbst herzustellen, die er zur
Befriedigung seiner Bedürfnisse benötigte. Zwar haben im Stadium der Vergesellschaftung die
natürlichen Ungleichheiten in dem Maße Bedeutung zu erlangen begonnen, in dem der Einzelne
sich selbst mit seinesgleichen und seinesgleichen mit seinesgleichen zu vergleichen lernte. Doch
gerade in diesem Akt des Vergleichens erwarb der Mensch eine über das Gefühl seiner
gegenwärtigen Existenz hinausgehende höhere Form des Selbstbewußtseins, die ihn sein Glück
und sein Unglück erstmals bewußt wahrnehmen und reflektieren ließ. Nicht das halbtierische
Dasein des dumpf dahinvegetierenden und seiner selbst kaum bewußten homme naturel, sondern
dieses, gewissermaßen die phylogenetische Mitte zwischen dem reinen Naturzustand: der
Kindheit der Gattung, und der Zivilisation: ihrem Greisenalter, bildende Stadium in seiner ganzen
Ambivalenz ist es, mit dem die Menschheit nach Rousseaus Auffassung ihr eigentliches Goldenes
Zeitalter erreicht hatte:
„Obwohl die Menschen bereits weniger ausdauernd geworden waren und das natürliche Mitleid schon einige
Änderungen erlitten hatte, mußte diese Periode der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten, da sie die richtige Mitte
hielt zwischen der Indolenz des primitiven Zustandes und der Aktivität unserer Selbstsucht, die glücklichste und die
dauerhafteste werden. Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr findet man, daß dieser Zustand den Revolutionen
am wenigsten ausgesetzt war, daß er der beste für den Menschen war, und daß er ihn nur infolge eines
verhängnisvollen Zufalls verlassen konnte, der zum Wohl aller niemals hätte eintreten sollen. Das Beispiel der
Wilden, die man fast alle in dieser Lage angetroffen hat, scheint zu bestätigen, daß das menschliche Geschlecht dazu
geschaffen war, für immer darin zu verharren, daß dieser Zustand die wahre Jugend der Welt ist…“
Anders als die Schöpfer der Legende vom Guten Wilden setzt Rousseau den Zustand, in dem
die zeitgenössischen Wilden sich befanden, also keineswegs gleich mit dem ursprünglichen
Zustand des Menschen. Zwar verweist er zum Beleg seiner Ausführungen über den
mutmaßlichen physischen und moralischen Charakter des homme naturel verschiedentlich auf die
Kariben, die Hottentotten und die kanadischen Indianerstämme, doch geschieht dies selten ohne
den einschränkenden Zusatz, daß sich die gegenwärtigen wilden Völker aus dem reinen
Naturzustand bereits lange entfernt haben, wenngleich sie ihm auch näher stehen als die
Europäer. Rousseau erkennt mithin die Geschichtlichkeit auch dieser Völker. Dennoch schließt er
sich den Anhängern der Leitidee vom Guten Wilden insofern an, als auch für ihn die locker
vergesellschafteten Wilden in ihrer noch kaum beschränkten Freiheit und Unabhängigkeit das
Zeitalter repräsentieren, „von dem Du wünschtest, daß Dein Geschlecht bei ihm haltgemacht
hätte“. Denn alle Fortschritte, die den Menschen über diesen Zustand des juste milieu
hinaustrieben, waren „dem Scheine nach ebenso viele Schritte zur Vervollkommnung des
Individuums, in Wirklichkeit aber Schritte zum Verfall der Gattung“.
Rousseau findet in der, wiederum durch das Zusammentreffen verschiedener äußerer Faktoren
ausgelösten, Erfindung der Metallbearbeitung und des Ackerbaus jenen „verhängnisvollen
Zufall“, der der „glücklichsten und dauerhaftesten Epoche“ der Menschheitsgeschichte ein Ende
setzte. Infolge dieser beiden Erfindungen, die „den Wilden Amerikas unbekannt waren, weshalb
sie auch immer Wilde geblieben sind“, entstanden die Arbeitsteilung, das Privateigentum und die
Reichtumsunterschiede. Sie erst ließen die Menschen voneinander abhängig werden, sie erst
führten zur Entwicklung neuer Bedürfnisse, sie erst erzeugten Rivalitäten, Neid und
Unzufriedenheit, und sie erst legten den Boden für die allmähliche Verwandlung der bis dahin
kaum spürbaren natürlichen in gesellschaftliche Unterschiede, deren endgültige Festschreibung
durch den ersten Gesellschaftsvertrag, nach einem Stadium des Krieges aller gegen alle, am
Ursprung der zivilen Gesellschaft stand.
5.
Von den im engeren Sinn philosophischen Überlegungen einmal abgesehen, lassen sich in
Rousseaus Bestimmung des reinen Naturzustandes sowie der auf ihn folgenden und der
Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft vorangehenden Entwicklungsstadien nur wenige
Elemente finden, die nicht schon aus der älteren oder zeitgenössischen Reiseliteratur bekannt
wären. Ebenso wie die Betonung der außerordentlichen Körperstärke, der hochentwickelten
Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane, der Gewandtheit und der Gesundheit der Wilden gehört
auch die mit der Vorstellung eines unschuldigen und sorglosen Lebens inmitten einer exuberanten
Natur häufig verknüpfte Idee ihrer „natürlichen Güte“ mit zu den geläufigsten Topoi der
idealisierenden ethnographischen Berichterstattung. In den umfangreichen Fußnoten des
Discours sur l'inégalité greift Rousseau denn auch in der Tat zur Illustration seiner Thesen immer
wieder auf die entsprechenden Schilderungen in den Berichten der kanadischen
Jesuitenmissionare, in Peter Kolbs Reisebeschreibung vom Kap der Guten Hoffnung und vor
allem in Du Tertres Geschichte der französischen Antillen zurück. Dennoch bezieht er seine
ethnographischen Kenntnisse keineswegs nur von den Autoren, die zur Herausbildung und
Verfestigung des Bildes vom Guten Wilden maßgeblich beigetragen hatten. So folgt er etwa in
der Beschreibung der Umweltbedingungen des homme naturel weitgehend Buffon, dessen
Histoire naturelle eine der wichtigsten Informationsquellen des Zweiten Diskurses darstellt. Und
auch der vermutlich über die großen zeitgenössischen Reisekompilationen vermittelte Einfluß
Lafitaus kommt bisweilen zum Tragen, etwa dort, wo Rousseau die Höflichkeit und die
Rachsucht der Wilden zueinander in Beziehung setzt und sie aus dem gegenseitigem Anspruch
auf Anerkennung ableitet. Dagegen kann nicht einmal als gesichert gelten, ob er das Werk
Lahontans, desjenigen Autors, der ihm von allen Reiseschriftstellern in seinen Ansichten
vielleicht am nächsten stand, aus eigener Lektüre kannte. Eine weitere und in ihrer Bedeutung oft
unterschätzte Quelle des Zweiten Diskurses ist La Condamines Relation abregée d'un voyage fait
à l'intirieur de l'Amérique méridionale. La Condamine aber hatte in seinem Reisebericht ein Bild
der südamerikanischen Indianer entworfen, das dem vom Guten Wilden weitgehend
entgegengesetzt war.
Wenn Rousseau sich in seiner Bestimmung des Naturzustandes auf in ihren Anschauungen so
unterschiedliche Autoren berufen konnte, dann deshalb, weil er mit seiner Methode die das Urteil
über die Wilden bestimmenden positiven wie negativen Stereotypen im Grunde überwand. An
einem Vergleich der Charakterisierung der mittel- und südamerikanischen Indianerstämme bei Du
Tertre und bei La Condamine läßt sich die Besonderheit des von Rousseau bei der Verarbeitung
ethnographischer Beobachtungen eingeschlagenen Verfahrens exemplarisch verdeutlichen. Du
Tertre schreibt in seiner 1667 veröffentlichten Histoire generale des Antilles:
„Sie (sc. die Einwohner der karibischen Inseln) machen sich keinerlei Sorgen, nicht einmal von einer Mahlzeit zur
nächsten, und schon gar nicht um den kommenden Tag, da sie nur das fischen und jagen, was sie gerade zum Essen
brauchen, ohne sich um die Zukunft zu kümmern, und da sie es vorziehen, sich mit wenigem zufrieden zu geben,
statt sich mit einer Menge Arbeit das Vergnügen einer reichgedeckten Tafel zu erkaufen.“
Und ähnlich heißt es in La Condamines Relation abregée von 1745:
„…allein mit dem Gegenwärtigen befaßt, und von ihm vollständig beherrscht; ohne jede Sorge um die Zukunft;
unfähig zur Voraussicht und zur Reflexion sie verbringen ihr Leben ohne zu denken, und sie altern, ohne die
Kindheit, deren Fehler sie alle behalten, je zu verlassen.“
Ebenso wie Du Tertre setzt auch La Condamine die mangelnde Sorge der Wilden um ihre
Zukunft zu ihrer Bedürfnislosigkeit in Beziehung. Beide beurteilen denselben Sachverhalt aber
durchaus unterschiedlich. Denn während Du Tertre hinzufügt, daß die Verstandeskraft der Wilden
nicht weniger gut ausgebildet sei als die aller übrigen Menschen:
„Sie denken durchaus vernünftig, und ihr Verstand ist so scharfsinnig, wie er eben bei Personen sein kann, die in der
Schrift völlig unbewandert sind…“
sieht La Condamine in der Unfähigkeit zur Voraussicht und zur Reflexion einen Beweis für
ihre Empfindungslosigkeit:
„…ich glaubte in allen ein und denselben Grundcharakter zu erkennen. Seine Grundlage bildet die
Empfindungslosigkeit. Ich überlasse die Entscheidung anderen, ob man sie dadurch ehren soll, daß man sie als
Apathie bezeichnet, oder dadurch herabsetzen, daß man sie Dummheit nennt. Sie entsteht womöglich aus der
geringen Zahl ihrer Ideen, die die ihrer Bedürfnisse nicht übersteigt.“
Wertet Du Tertre die Sorglosigkeit der Wilden dementsprechend als Hinweis auf ihre
paradiesische Zufriedenheit:
„…die Wilden dieser Inseln sind die zufriedensten, glücklichsten, am wenigsten lasterhaften, geselligsten, am
wenigsten mißgestalteten und von Krankheiten geplagten Völker der Welt“,
so betrachtet La Condamine sie als Ausdruck ihrer noch halbtierischen Bewußtseinslage:
„…man kann nicht ohne Beschämung sehen, wie wenig der Mensch sich vom Tier unterscheidet, wenn er der
einfachen Natur überlassen und der Erziehung und Gesellschaft beraubt ist.“
Während die Bedürfnislosigkeit und Unbekümmertheit der Wilden Du Tertre zum Anlaß
werden, ihr Leben in den idyllischsten Farben zu schildern, bei La Condamine aber Gefühle der
Erniedrigung hervorrufen, reduziert Rousseau diesen von beiden Autoren als vorherrschenden
herausgestellten Charakterzug auf seinen Beobachtungsinhalt. In dieser Form findet der den
unterschiedlichen Beurteilungen Du Tertres und La Condamines zugrundeliegende gemeinsame
Sachverhalt in seine Anthropologie Eingang, und zwar nicht als das besondere Kennzeichen
dieses oder jenes Volkes, sondern als Bestimmungsmerkmal des an den Anfang der Geschichte
gestellten reflexionslosen, rein körperlichen und in sich selbst ruhenden homme naturel: „Seine
Begierden gehen nicht über seine physischen Bedürfnisse hinaus“; „seine Pläne, die genauso
beschränkt sind wie seine Ansichten, erstrecken sich nicht bis an Ende des Tages.“
An diesem Beispiel, das um viele weitere ergänzt werden könnte, wird das Neue an Rousseaus
anthropologischer Methode deutlich. Indem Rousseau die Vorstellung mit Entscheidenheit
zurückweist, daß die Menschheit auf die Zivilisation wie auf ihr vorherbestimmtes Ziel zustrebe,
ohne dabei jedoch - wie die Anhänger der Legende vom Guten Wilden - die Irreversibilität des
Geschichtsprozesses zu verkennen, der zur Herausbildung der Zivilisation geführt hatte: für
Rousseau mochte es ein „Zurück zur Natur“ geben, aber keine Rückkehr in den Naturzustand des
Menschen (das große Mißverständnis des Rousseauismus und zugleich der Gegner Rousseaus) -,
gelingt es ihm, das ethnographische Beobachtungsmaterial aus seiner Verschränkung mit einem
sei es positivem, sei es negativem Urteil über die jeweils beobachtete fremde Gesellschaft zu
lösen. Damit verliert die eigene Gesellschaft aber in doppelter Hinsicht den Rang eines Modells,
an dem alle übrigen Gesellschaften gemessen werden könnten. An ihre Stelle tritt die
hypothetische und doch zugleich empirisch begründete Konstruktion eines Zustandes, „den es
nicht mehr gibt, den es vielleicht nie gegeben hat, und den es wahrscheinlich nie geben wird, über
den wir aber dennoch rechte Begriffe haben müssen, um den gegenwärtigen Zustand richtig zu
beurteilen“. Das Bild dieses Zustands, das Rousseau gewinnt, indem er die ihm zur Verfügung
stehenden ethnographischen Daten aus ihrem jeweiligen Kontext löst, isoliert, miteinander
vergleicht, auf ihr Wesentliches reduziert und an seiner eigenen gesellschaftlichen Erfahrung
mißt, um sie unter einheitlichen Gesichtspunkten neu zusammenzusetzen, ist indes nicht frei von
Widersprüchen. Sie resultieren aus dem doppelten Zweck, dem das Modell des reinen
Naturzustandes dient, nämlich zum einen die Grundlage zu bilden für eine Rekonstruktion der
Gattungsgeschichte, zum anderen aber die Parameter zu liefern für eine Kritik der gegenwärtigen
Gesellschaft. Aus dieser zweiten Zielsetzung ergibt sich für Rousseau die Notwendigkeit, den
Menschen im Naturzustand tendenziell zu idealisieren, obwohl die der ersten Zielsetzung
entsprechende Objektivität seiner Bestimmung einer solchen Idealisierung im Grunde
entgegensieht. So erklärt sich, daß er einerseits die „natürliche Güte“ des homme naturel in
Überwindung herkömmlicher Anschauungen nicht als paradiesische Unschuld, sondern als bloße
Indifferenz gegenüber moralischen Werten aufzufassen vermag, an anderer Stelle aber wieder
hinter diese Einsicht zurückfällt, wenn er schreibt: „Der Mensch ist von Natur aus gut, wie ich
bewiesen zu haben glaube“; so erklären sich die beiden unterschiedlichen Konzeptionen des
Verhältnisses des homme naturel zu der bald als wohlwollende mütterliche und bald als zu
überwindende feindliche Macht aufgefaßten Natur; und so erklärt sich schließlich auch der
Grundwiderspruch des Discours sur l'inégalité: „…wie nämlich die Reflexion imstande sein soll,
eine Spontaneität zu entdecken, die durch eben diese Reflexion gerade aufgehoben wird.
Lévi-Strauss hat Rousseau als den „Begründer der Wissenschaften vom Menschen“
bezeichnet. Von den weitergehenden Schlußfolgerungen, die Lévi-Strauss mit diesem Urteil
hinsichtlich seines eigenen wissenschaftstheoretischen Standpunkts verknüpft, einmal abgesehen,
erscheint es im Hinblick auf den historischen Kontext berechtigt, in dem die Anthropologie
Rousseaus sich konstituierte. Anders als Montesquieu, als Turgot, als Buffon und auch als
Voltaire emanzipiert Rousseau die Wissenschaft vom Menschen von den Paradigmata der
mechanischen Physik, der klassischen Naturgeschichte und der Theologie. Rousseau entwickelt
die Kategorien seiner Anthropologie aus dem ihm zur Verfügung stehenden anthropologischen
Beobachtungsmaterial. Er begründet damit die Anthropologie als eigene Wissenschaft mit einer
ihr eigenen Methode und einem ihr eigenen Gegenstandsbereich. Die große Leistung Rousseaus
besteht weniger in den Ergebnissen, die er mit Hilfe dieses methodischen Verfahrens erlangt, als
vielmehr in der Entwicklung dieses Verfahrens selbst. Ermöglicht ihm die in Antwort auf die
Zirkelschlüsse der bürgerlichen Naturrechtstheoretiker gewonnene neue Methode auch, das bis
dahin als selbstverständlich Hingenommene: die als naturgegeben aufgefaßte Vernunftbegabtheit,
Sprachlichkeit und Geselligkeit des Menschen, radikal in Frage zu stellen und als Produkt langer
historischer Entwicklungen anzusehen, so bleibt sein Bild des Naturzustandes doch nicht frei von
Projektionen der Art, die auf den Naturzustand übertragen zu haben er den Vertretern der
Naturrechtslehre zum Vorwurf machte. Aus der Zeichnung des vereinzelten und ungeselligen
Naturmenschen lassen sich unschwer die spezifischen gesellschaftlichen Erfahrungen der Epoche
des beginnenden Konkurrenzkapitalismus herauslesen, jener im Entstehen begriffenen neuen
Gesellschaftsform also, deren Kritik der Discours sur l'inégalité nicht zuletzt galt: „In dieser
Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der Einzelne losgelöst von den Naturbanden usw.,
die ihn in früheren Geschichtsepochen zum Zubehör eines bestimmten, begrenzten menschlichen
Konglomerats machen. Den Propheten des 18. Jahrhunderts […] schwebt dieses Individuum des
18. Jahrhunderts - das Produkt einerseits der Auflösung der feudalistischen Gesellschaftsformen,
andrerseits der seit dem 16. Jahrhundert neuentwickelten Produktivkräfte - als Ideal vor, dessen
Existenz eine vergangne sei. Nicht als historisches Resultat, sondern als Ausgangspunkt der
Geschichte.“
Besteht die „rousseauistische Revolution, die die ethnologische Revolution präformiert und
auslöst, […] in der Zurückweisung erzwungener Identifikationen, sei es einer Kultur mit einer
anderen, oder eines Individuums als Angehörigen einer Kultur mit einer bestimmten sozialen
Funktion, in die eben diese Kultur es hineinzwingen will“, so bestehen ihre subjektiven Grenzen
in der aus dem Leidensdruck jener aufgezwungenen Identifikationen resultierenden Fixierung auf
eben diese Identifikationen, die in Rousseaus Anthropologie in dem Maße als Momente der
Introspektion Eingang gefunden zu haben scheinen, in dem er sich ihnen bewußt verweigerte. Die
durch die intrikaten Beschränktheiten des ihm zur Verfügung stehenden ethnographischen
Beobachtungsmaterials vorgegebenen objektiven Grenzen einer allgemeinen Anthropologie hat
Rousseau dagegen weit klarer erkannt als die meisten seiner Zeitgenossen, wenn er in Kritik an
den Voreingenommenheiten der zeitgenössischen Reisenden schreibt:
„Seit den drei oder vier Jahrhunderten, in denen die Bewohner Europas die anderen Weltteile überfluten und
unaufhörlich neue Sammlungen von Reise- und Verkehrsbeschreibungen veröffentlichen, kennen wir nach meiner
Überzeugung nur den Europäer genau. Außerdem scheint jedermann unter dem prunkenden Namen einer Studie über
den Menschen auf Grund der lächerlichen Vorurteile, die selbst unter den Schriftstellern noch nicht ausgestorben
sind, kaum mehr zu liefern als eine Studie über die Menschen seines Landes. Die einzelnen mögen wohl hin- und
herreisen; die Philosophie reist nicht, scheint es. Auch ist die Philosophie eines jeden Volkes für ein anderes wenig
geeignet. Der Grund dafür liegt auf der Hand, jedenfalls für die entfernteren Gegenden: Es gibt kaum mehr als vier
Gruppen von Menschen, die Überseereisen machen, Seeleute, Kaufleute, Soldaten und Missionare. Nun darf man
nicht erwarten, daß die ersten drei Gruppen gute Beobachter darstellen. Und was die vierte betrifft, die von dem
erhabenen Auftrag, der sie beruft, erfüllt ist, so darf man nicht glauben, daß sie sich, selbst wenn sie nicht wie alle
anderen den Standesvorurtellen unterworfen wären, Studien hingeben, die ihnen als reine Neugier vorkommen und
die sie von den wichtigeren Aufgaben abzögen, denen sie sich geweiht haben.“
Die Mängel der ethnographischen Literatur seiner Zeit werden Rousseau daher zum Anlaß,
eine neue Form der wissenschaftlichen Forschungsreise zu fordern, die, anstatt dem Studium der
Steine und Pflanzen, der so lange vernachläßigten Erforschung der Menschen und ihrer Sitten
dienen soll:
„Die ganze Erde ist übersät von Völkern, von denen wir nur die Namen kennen - und wir wagen ein Urteil über das
Menschengeschlecht zu fällen! Nehmen wir an, ein Montesquieu, ein Buffon, ein Diderot, ein Duclos, ein
d'Alembert, ein Condillac oder andere Menschen dieses Schlages würden zur Unterrichtung ihrer Landsleute
beobachtend und beschreibend, wie sie es verstehen, die Türkei, Ägypten, das Berberland, das Reich von Marokko,
Guinea, das Kaffernland, das Innere Afrikas und seine östlichen Küsten, die Malabaren, den Mogul, die Ufer des
Ganges, die Königreiche von Siam, Pegu und Ava, China, die Tartarei und namentlich Japan besuchen; dann in der
anderen Hemisphäre Mexiko, Peru, Chile, die Gebiete an der Magellanstraße, ohne das wahre oder das falsche
Patagonien zu vergessen, Tukuman, Paraguay, wenn möglich Brasilien, schließlich die karibischen Inseln, Florida
und all die wilden Landstriche: diese Reise wäre von allen die wichtigste, und sie müßte mit der größten Sorgfalt
durchgeführt werden. Nehmen wir an, daß diese Männer, jeder ein neuer Herkules, nach der Rückkehr von ihren
bemerkenswerten Fahrten, die Naturgeschichte, Moral und Politik mit dem bereichern würden, was sie gesehen
haben: wir würden dann unter ihrer Feder eine neue Welt entstehen sehen, und wir würden so die unsere
kennenlernen…“
In der Tat sollte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts an die Stelle der Seeleute, der
Kaufleute, der Soldaten und der Missionare eine neue Generation wissenschaftlich vorgebildeter
Forschungsreisender treten, die es sich, zum Teil stimuliert und zum Teil provoziert von
Rousseaus Thesen, zur Aufgabe setzten, jenes anthropologische Forschungsprogramm zu
realisieren, das er hier fordert.
Vierter Teil
Die Entdeckung Tahitis und die Neubelebung der Figur des
Guten Wilden
Imagination und nüchterner Blick
Bougainvilles Reise um die Welt
1.
Obwohl abseits von den gebräuchlichen Seerouten gelegen, war die Gruppe der sog.
Gesellschaftsinseln vermutlich schon während der portugiesischen und spanischen
Weltumsegelungen des ersten Entdeckungszeitalters verschiedentlich berührt worden. So weisen
Fleurieu und Dalrymple, zwei bedeutende Reisekompilatoren des 18. Jahrhunderts, darauf hin,
daß die Insel, vor der Pedro Fernandez de Quirós am 10. Februar des Jahres 1606 vor Anker ging,
wohl mit Tahiti gleichzusetzen sei. Doch erst gegen Mitte des 18. Jahrhunderts war die
Verbesserung der Navigationstechniken so weit vorangeschritten, daß es erstmals möglich wurde,
auch abgelegenere Punkte des Globus exakt zu verorten. Den Ruhm, Tahiti der europäischen
Seefahrt durch genaue nautische Angaben erschlossen zu haben, konnte daher der britische
Kapitän Wallis für sich in Anspruch nehmen, dessen Fregatte Dolphin die Insel am 16. Juni 1767
erreichte. Im übrigen ein durchaus zweifelhafter Ruhm: nicht nur, daß gleich in den ersten Tagen
seines Aufenthalts fünfzehn Tahitianer ihrer „Entdeckung“ durch die Europäer zum Opfer fielen,
als sie sich gegen die Inbesitznahme ihres Landes durch die Repräsentanten der britischen Krone
zur Wehr setzten, sondern auch, weil es vermutlich die Besatzung dieses Schiffes war, die durch
die Verbreitung der Syphilis, den ersten Keim für den raschen Rückgang der Bevölkerungszahl
der Insel in den folgenden Jahrzehnten legte. 1857, also genau achtzig Jahre nach der
verhängnisvollen ersten Begegnung mit Vertretern der europäischen Kultur, war die
Einwohnerzahl Tahitis infolge der von den Engländern und Franzosen eingeschleppten Seuchen
und Geschlechtskrankheiten sowie infolge der durch ihre Ankunft ausgelösten und bald mit Hilfe
der eingeführten Feuerwaffen ausgefochtenen Kriege von ca. 32.000 auf 7.200 Personen
gesunken.
Bougainville, der die Insel knapp neun Monate nach der Abfahrt der Dolphin erreichte, war
zwar nicht der erste Europäer, der den Boden Tahitis betrat, doch blieb es ihm und seinen
Reisegefährten vorbehalten, der Insel den Charakter jenes unberührten glückseligen
Südseeparadieses zu verleihen, als dessen Inbegriff es in die europäische Literatur und Kunst
Eingang fand, ein Mythos, der sich - angefangen mit Diderots Supplément au voyage de
Bougainville über die eskapistischen Südseeträume der deutschen Romantik, die
Abenteuerromane des 19. Jahrhunderts und die symbolistischen Bilderwelten Gauguins, bis hin
zu den Produkten der modernen Trivialliteratur und Filmindustrie - als weit zählebiger erweisen
sollte als die von britischen und französischen Seefahrern, Händlern und Missionaren im Verlauf
von wenigen Dezennien zerstörte Kultur, der er sein Entstehen verdankte.
2.
„Aus diesem Mann werde ich nicht klug“ - so schreibt Diderot im Eingangsdialog seines
Supplément au voyage de Bougainville - „Das Studium der Mathematik, das eine geruhsame,
sitzende Lebensweise voraussetzt, hat seine Jugendzeit ausgefüllt, und plötzlich geht er von
einem zurückgezogenen und nachdenklichen Dasein zu dem tätigen, mühsamen, unsteten und
gedankenlosen Beruf eines Reisenden über. Und in Anspielung auf Bougainvilles Herkunft und
aristokratischen Lebensstil fügt er hinzu: „Eine weitere offensichtliche Ungereimtheit ist der
Widerspruch zwischen dem Charakter dieses Mannes und seinem Unternehmen. Bougainville hat
eine gewisse Vorliebe für gesellschaftliche Zerstreuungen; er liebt die Frauen, das Theater,
delikate Mahlzeiten; er überläßt sich dem Strudel der Welt ebenso bereitwillig wie der
Unbeständigkeit des Elements, auf dem er sich hat hin und her werfen lassen.“ Louis-Antoine de
Bougainvilles Biographie weist in der Tat einige Unstimmigkeiten auf, die Diderots
Verwunderung verständlich werden lassen, schien er in seiner Person doch die Züge des
zeitgenössischen aristokratischen mit denen des bürgerlichen „Idealbildes vom Menschen“ zu
vereinen: sowohl die Lebensgepflogenheiten des galant homme, der seine Zerstreuungen bald in
der höfischen Gesellschaft und bald auf dem Schlachtfeld suchte, als auch die Verhaltensweisen
des philosophe, jener Identifikationsfigur des aufsteigenden Bürgertums, dessen bevorzugtes
Wirkungsfeld nicht der Hof, sondern der literarische Salon war, dessen Interesse den
Wissenschaften galt und der, wie Diderot an anderer Stelle formuliert, seine Ehre darein zu setzen
hatte, „kein unnützes oder störendes Mitglied der Gesellschaft zu sein.“
1729 in Paris geboren, entstammte Bougainville einer jener unter dem ancien régime zu Macht
und Einfluß gelangten reichen Bürgerfamilien, aus denen sich die sei es durch Ämterkauf oder sei
es durch Einheiratung in den Adel aufgestiegene noblesse de robe zusammensetzte. Dank der
Hilfe einflußreicher Verwandter, hatte er schon in jungen Jahren als Mitglied des Gardekorps der
Mousquetaires noirs Zugang zum Königshof gefunden, besuchte aber während der gleichen Zeit,
zu der er seinen Dienst bei Hof versah, die literarischen Zirkel der Aufklärer, ließ sich von
d'Alembert in Philosophie unterrichten und studierte Mathematik bei Clairaut. Ebensowenig
hinderten ihn einige Jahre später sein Eintritt in den Militärdienst und seine Teilnahme am
Siebenjährigen Krieg daran, eine umfangreiche Abhandlung über Probleme der Integralrechnung
abzufassen, die er 1755 veröffentlichte und der er seine Aufnahme in die britische Royal Society
verdankte.
Nach den Forschungen des französischen Kolonialhistorikers Martin-Allanic ging
Bougainvilles lebhaftes Interesse an den Wissenschaften auf den Einfluß seines älteren Bruders
Jean-Pierre zurück. Jean-Pierre de Bougainville, der in den französischen Gelehrtenkreisen als
Herausgeber antiker Reisebeschreibungen bekannt geworden war, hatte Martin-Allanic zufolge
die Erziehung seines Bruders von vorneherein daraufhin angelegt, in ihm den Mann
heranzuziehen, der sowohl aufgrund seiner wissenschaftlichen Ausbildung als auch aufgrund der
für solche Unternehmen notwendigen Beziehungen zum Königshof in der Lage sein sollte, die
beiden dringendsten geographischen Probleme seiner Zeit zu lösen: Es waren dies die Erkundung
der legendären Nord-West-Passage und die Entdeckung des nicht weniger sagenumwobenen
Südkontinents. Die Diderots Verwunderung auslösende und dem bürgerlichen Selbstverständnis
offensichtlich so wenig entgegenkommende Verbindung von höfischen Allüren, Abenteuerlust
und wissenschaftlichem Geist in einer Person erklärt sich aus der Zielstrebigkeit, mit der
Bougainville sich die Pläne seines Bruders zu eigen gemacht hatte.
Im Verlauf einer erfolgreichen diplomatischen und militärischen Karriere, die ihn vom Hof in
Versailles über eine kurze Zwischenstation als Botschaftssekretär in London bis nach Kanada
führte, wo er sich während des britisch-französichen Kolonialkrieges als Adjutant des Generals
Montcalm auszeichnete, hatte Bougainville immer wieder Vorstöße unternommen, jene beiden
ehrgeizigen Vorhaben zu verwirklichen, von denen der Parlamentspräsident de Brosses 1756
geschrieben hatte, daß sie in ihrer historischen Bedeutung nur mit der heroischen Tat des
Kolumbus zu vergleichen seien. Doch der noch während seines Aufenthalts in Kanada gefaßte
Plan einer Forschungsreise in die arktischen Zonen Nordamerikas schlug ebenso fehl wie sein
wenige Jahre später unternommener Versuch, durch die Gründung einer ständigen französischen
Niederlassung auf den Falklandinseln die Ausgangsbasis für eine große Schiffsexpedition in die
noch unbekannten Regionen der südlichen Hemisphäre zu schaffen.
Die Reise um die Welt, zu der Bougainville am 15. November 1766 mit den Schiffen La
goudeuse und L'Etoile von Nantes aus aufbrach, stand in engem Zusammenhang mit dem
Scheitern jenes zweiten Unternehmens. Ihr offizielles Ziel war die vom französichen Hof nach
langwierigen diplomatischen Verwicklungen beschlossene Rückgabe der Falklandinseln an
Spanien. Das geheime Memorandum des Königs, das Bougainville selbst mit ausgearbeitet hatte,
enthielt jedoch ein weit umfangreicheres Programm. Neben vielfältigen militärstrategischen,
navigatorischen und naturwissenschaftlichen Aufgaben sollte die Reise vor allem der Suche nach
dem Südkontinent dienen . An ihrer Vorbereitung waren daher namhafte Gelehrte wie der
Astronom Lalande, der königliche Leibarzt Poissonier und indirekt auch Buffon und de Brosses
beteiligt worden. Das eigentlich Neue an der Reise aber war, daß die beiden französischen
Kriegsschiffe erstmals ausgebildete Naturwissenschaftler mit sich führten, den Hydrographen,
Mathematiker und Astronomen Pierre-Antoine Véron, den Naturalisten Phillbert Commerson und
den zu seiner Unterstützung angestellten Zeichner Jossigny, die ausdrücklich mit nautischen
Vermessungsarbeiten und botanischen Aufgaben betraut waren. Die auf Bougainvilles Initiative
hin zustandegekommene erste französische Weltumsegelung war insofern zugleich auch die erste
vornehmlich wissenschaftlichen Zielsetzungen dienende und planmäßig durchgeführte
Seeforschungsexpedition im 18. Jahrhundert. Von einigen neugewonnenen navigatorischen und
schiffstechnischen Kenntnissen abgesehen, sollte ihr wissenschaftlicher Ertrag allerdings
vergleichsweise gering bleiben. Vor allem die in das Unternehmen gesetzte Erwartung, im
Südmeer jene neuen Landstriche zu finden, an deren Vorhandensein keiner der an der
Vorbereitung der Reise beteiligten Wissenschaftler gezweifelt hatte, ging nicht in Erfüllung.
Neben der exakten geographischen Verortung einiger bereits früher berührter oder bis dahin
unbekannter kleiner Inselgruppen im Südpazifik blieb die Entdeckung Tahitis ihr einziges
spektakuläres Ergebnis.
Ganz im Gegensatz zu seiner Selbststilisierung als einfacher Gewährsmann: „Ich bin
Reisender und Seemann, das heißt ein Lügner und Dummkopf in den Augen jener Klasse
bequemer und anmaßender Schriftsteller, die im Schatten ihres Arbeitszimmers über die Welt und
ihre Bewohner philosophieren…“ -, war Bougainville mit den naturwissenschaftlichen,
geographischen und anthropologischen Theorien seiner Zeit sehr gut vertraut, ja, er entsprach
seiner Ausbildung und seinen Interessenlagen nach sogar in jeder Beziehung jenem neuen Typus
des philosophischen Reisenden, wie Rousseau ihn gefordert hatte. Bougainvilles Schilderung der
Bewohner Tahitis eignet sich daher in exemplarischer Weise dazu, am Beispiel eines Mannes, der
nicht nur auf der Höhe der wissenschaftlichen Diskussion seiner Zeit stand, sondern im Verlauf
seiner Weltumsegelung auch die bekanntesten „wilden“ Völker kennengelernt hatte, der Frage
nachzugehen, inwieweit die von den Philosophen der Jahrhundertmitte entwickelten
anthropologischen Theorien die Sichtweise und das Urteil eines gebildeten ethnographischen
Beobachters bestimmten, und inwieweit sie dort, wo sie bald mit der beobachteten fremden
Realität, bald aber auch mit seinen persönlichen Interessen und Erwartungen in Konflikt gerieten,
die Ergebnisse seiner Beobachtungstätigkeit verzerrten. Eine solche Untersuchung ist umso
aufschlußreicher, als im Gefolge der Berichte über die Entdeckung Tahitis die Figur des Guten
Wilden, wie sie nun in Gestalt des Südseeinsulaners die europäische Szene betreten sollte, eine
unerwartete Wiederbelebung erfuhr.
3.
Bougainville hatte bereits während seines Aufenthalts in Kanada Gelegenheit erhalten, die
Lebensformen „wilder“ Gesellschaften aus eigener Anschauung kennenzulernen. Noch erfüllt
von der Lektüre Rousseaus, hatte er anfänglich die „glückliche Einfalt- der kanadischen Indianer
bewundert und sie in seinem Tagebuch mit den Heroen des homerischen Griechenlands
verglichen. Wie damals viele Offiziere, ließ auch er sich von einem der auf seiten Frankreichs
kämpfenden Indianerstämme adoptieren. An seinen Tagebucheintragungen läßt sich indes
verfolgen, wie er dieses erste, vornehmlich aus seinen Kenntnissen der zeitgenössischen Literatur
bezogene schwärmerische Bild, das allerdings seinem entschiedenen Eintreten für eine expansive
französische Kolonialpolitik schon damals kaum Abbruch getan hatte, unter dem Eindruck seiner
Kriegserlebnisse allmählich revidierte. Hatte er anfangs die kriegerischen Tugenden der
kanadischen Wilden gerühmt, so wurde ihm später gerade ihre, an den verinnerlichten
zivilisatorischen Standards gemessen als ungezügelt erscheinende, spontane Aggressionslust zum
Anlaß des Abscheus und Ekels. So notierte er, nachdem er unfreiwillig zum Zeugen eines
blutigen Massakers geworden war, das die indianischen Verbündeten der Franzosen unter der
Besatzung eines britischen Forts angerichtet hatten, in sein Kriegstagebuch:
„Die Grausamkeiten und die Anmaßung dieser Barbaren versetzen einen in Schrecken und bedrucken das Gemüt. Es
ist abscheulich, den Krieg auf diese Art zu führen; die Vergeltungsmaßnahmen sind grauenerregend, und was die
Gewöhnung und die Gefühllosigkeit anbelangt, scheint die Luft, die man hier atmet, ansteckend zu sein.“
Eine gewisse innere Zwiespältigkeit ist auch für seine unterschiedlichen Beurteilungen der
Eingeborenengesellschaften kennzeichnend, die näher zu beobachten er im Verlauf seiner
Weltumsegelung Gelegenheit erhielt. So erweist er sich erneut ganz als Schüler Rousseaus, wenn
er an den hochgewachsenen Patagoniern den Grad an physischer Vervollkommenheit bewundert,
den nur ein im reinen Naturzustand lebendes und sich selbst überlassenes Volk zu erreichen
imstande sei. Gleichlautende idealisierende Stereotypen sucht man in seiner Darstellung der dem
europäischen Machtbereich bereits eingegliederten Naturvölker jedoch vergebens.
Diese Tendenz, den kolonisierten Völkern ebenjene ursprungsnahen Qualitäten abzusprechen,
tritt in seiner Charakterisierung der in die Reduktionen der spanischen Jesuitenpatres
gezwungenen paraguyanischen Indios besonders deutlich zutage. Ganz anders als bei den
Patagoniern, ist hier vornehmlich von der Trägheit, der Unbeständigkeit und der kindiichen
Einfalt jener „ungeselligen Bewohner der Wälder“ die Rede, die, wie er in diesem Fall Buffon
und Voltaire folgend schreibt, von den Jesuiten „mit dem Mut von Märtyrern und einer wahrhaft
engelsgleichen Geduld“ aus einer „barbarischen Nation ohne Sitten und Religion“ in ein
„sanftmütiges, poliziertes, die christlichen Zeremonien genau beachtendes Volk“ verwandelt
worden seien. Gleichwohl war Bougainville ein zu sorgfältiger Beobachter, als daß er es bei
diesem Lob allein hätte bewenden lassen. Unter Berufung auf die Berichte mehrerer
Augenzeugen, die er während seines Aufenthaltes in Montevideo über das Wesen des
Jesuitenstaates befragt hatte, gibt er in seiner Reisebeschreibung eine eindrucksvolle Schilderung
des luxuriösen Lebens, das sich die Patres auf Kosten ihrer Schutzbefohlenen leisteten, der
strengen kirchlichen Zuchtmaßnahmen und der schweren Strafen, die sie den Indios selbst bei
den geringfügigsten Vergehen auferlegten, und vor allem der Eintönigkeit des nur aus harter
Arbeit und Gottesdiensten bestehenden Lebens, das zu führen die Jesuiten die einst frei durch die
Wälder streifenden Indios zwangen. Würde er sich, so schreibt Bougainville daher, nur auf das
verlassen haben, was man in Europa allenthalben über die scheinbar allein auf „geistige Waffen“
gegründete Regierung geschrieben habe, so hätte er sie in der Tat für das „Modell einer
Administration“ gehalten, „die dazu geschaffen war, den Menschen Glück und Weisheit zu
gewähren.“ Die ganz anders lautenden Berichte seiner Gewährsleute hätten ihn jedoch davon
überzeugt, daß auch in diesem Fall „die Theorie von den wirklichen Ausführungen unterschieden
ist“.
An den genannten Beispielen wird insgesamt deutlich, daß Bougainville keineswegs der
unkritische Anhänger der Auffassung von der Überlegenheit des Naturzustandes war, als der er
immer wieder dargestellt worden ist. Umso erstaunlicher bleibt indes die Schilderung Tahitis, die
im Mittelpunkt seiner Reisebeschreibung steht, eine Schilderung nämlich, in der dem ersten
Anschein nach ein Großteil der idealisierenden Stereotypen wiederbelebt wird, die dem
Menschen im Naturzustand von den Begründern der Legende vom Guten Wilden beigelegt
worden waren.
4.
Fast alle europäischen Reisenden, die Tahiti im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts besuchten,
stimmen darin überein, daß die Insel an landschaftlicher Schönheit von keiner anderen des
Südpazifik übertroffen wird28a . Bestehend aus zwei unterschiedlich großen, durch eine schmale
Landbrücke miteinander verbundenen, kegelförmigen Massiven, und gekrönt von bald schroff ins
Meer abfallenden, bald in sanften bewaldeten Hügeln auslaufenden Vulkanbergen, die sich bis zu
einer Höhe von 2000 Metern über den Meeresspiegel erheben, bot die Insel schon von weitem
einen imposanten Anblick. Aus den Aufzeichnungen der Besatzungsmitglieder der beiden Schiffe
Bougainvilles geht hervor, welch freudige Stimmung sich breitmachte, als am Morgen des 3.
April 1768, nach einer dreimonatigen entbehrungsreichen Fahrt durch die eintönigen
Wasserwüsten des Südpazifik, am Horizont die Umrisse jener großen und auf keiner der
mitgeführten Karten eingezeichneten Insel sichtbar wurden. Sich dieser Stimmung zu entziehen,
gab es auch für Bougainville, nach dem Scheitern der monatelangen Suche nach dem
Südkontinent zumal, kaum Anlaß. Bezeichnend für seine Erwartungshaltung erscheint indes, daß
schon jene erste Euphorie in seinem Bordtagebuch in wiederholten Reminiszensen an
Vorstellungsmuster Niederschlag findet, die er seiner Kenntnis der Werke antiker Autoren
entnahm - eine Form des ästhetischen Genusses, die allerdings die Entlastung vom Druck der
unmittelbaren Bedürfnisse voraussetzt, denn nicht zufällig vergleicht er die Form der Insel, wie
sie sich am Morgen jenes Tages aus der Ferne darbot, mit der eines antiken Amphitheaters,
während der Seeoffizier Charles-Pierre Fesche, der wie alle übrigen Mitglieder der Mannschaft
unter dem Mangel an Lebensmittel und Trinkwasser weit mehr zu leiden gehabt hatte als der
Kapitän, in ihr in Projektion seiner momentanen und weit profaneren Erwartungen ein riesiges
Zuckerbrot zu erkennen glaubt.
Bougainville fühlte sich auch späterhin auf Tahiti geradezu buchstäblich in die Antike
zurückversetzt. Es scheint sogar, als habe er anfänglich tatsächlich geglaubt, die Insel der
Glückseligen der griechischen Sage wiedergefunden zu haben. Zunächst war es vor allem die
üppige tropische Vegetation, die diese Empfindung bei ihm auslöste:
„Wir glaubten kaum unseren Augen zu trauen, als wir mitten im südlichen Teil der Insel eine sehr hohe, freistellende
Bergspitze entdeckten, die bis oben mit Bäumen besetzt war und unter den anderen Bergen hervorragte. Sie schien
unten kaum dreißig Klafter im Durchmesser zu haben und nahm an Umfang allmählich ab. Von weitem sah sie aus
wie eine Pyramide von erstaunlicher Höhe, welche die Hand eines begabten Dekorateurs mit Blättergirlanden geziert
hatte. Das weniger hoch gelegene Land ist in Wiesen und kleine Wälder aufgeteilt, und längs der ganzen Küste
erstreckt sich am Fuße des höheren Landes ein flacher Landstrich, der mit Pflanzungen bedeckt ist. Hier sahen wir,
inmitten von Bananenstauden, Kokosbäumen und anderen mit Früchten überladenen Bäumen die Häuser der
Inselbewohner.“
In Wiedergabe seiner ersten, noch aus der Ferne gewonnenen Eindrücke entwirft Bougainville
hier das Bild eines harmonischen Einklangs von Mensch und Natur, eine Vorstellung, die noch
verstärkt wird, als sich ihm wenige Tage später die Gelegenheit bietet, das Innere der Insel zu
besuchen:
„Ich glaubte mich in den Garten Eden versetzt. Wir durchquerten eine weite Rasenebene mit den herrlichsten
Fruchtbäumen besetzt und von kleinen Flüssen durchschnitten, welche allenthalben eine köstliche Frische verbreiten,
ohne die Unannehmlichkeiten, welche die Feuchtigkeit sonst mit sich bringt. Ein zahlreiches Volk erfreut sich hier
der Schätze, die die Natur mit vollen Händen verteilt. Wir fanden Gruppen von Weibern und Männern im Schatten
der Fruchtbäume sitzen, welche uns freundschaftlich begrüßten […]. Allenthalben herrschte Gastfreiheit, Ruhe,
sanfte Freude, und dem Anschein nach waren die Einwohner sehr glücklich.“
In dem Maße, in dem die Natur den Anschein erweckt, von Menschen geschaffen zu sein, in
eben dem Maße erscheinen die Behausungen der Menschen selbst als Produkte der Natur. Natur
und Kultur sind noch nicht auseinander getreten. Scheinbar ohne größere Anstrengungen können
sich die Einwohner der Insel der Gaben erfreuen, die eine freigebige Natur ihnen im Überfluß
gewährt. In Bougainvilles Beschreibung Tahitis als einer paradiesischen Gartenlandschaft
verschmitzt die Vorstellung der Rousseauisten von der Glückseligkeit jenes Urzustandes, in dem
die Menschen noch in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Natur lebten, mit der antiken
Tradition des locus amoenus: „Man glaubt sich“ - so faßt er rückblickend nochmals die Gefühle
zusammen, die die tropische Üppigkeit der Insel in ihm erweckte - „auf den eleusischen
Gefilden.“
Die für Bougainvilles Sehweise chrakteristische Tendenz zur Antikisierung tritt in seiner
Schilderung der Verhaltensweisen, der Sitten und vor allem der körperlichen Erscheinungsform
der Tahitianer noch deutlicher hervor. So glaubt er schon anläßlich der ersten Kontaktaufnahme
in den von den Inselbewohnern zum Zeichen der Freundschaft überreichten Blättern der
Bananenstaude den Ölzweig, das antike Symbol des Friedens wiederzuerkennen. Und als sich
kurze Zeit später eine Tahitianerin den Blicken der Schiffsbesatzung nackt darbietet, fühlt er sich
an die Episode der Ilias erinnert, in der Homer beschreibt, wie die Liebesgöttin sich dem
trojanischen Prinzen zeigt. Die Insel erscheint ihm auch noch während seiner späteren Besuche
von griechischen Götter- und Heroengestalten geradezu bevölkert. Noch nie habe er
wohlgestaltetere Körper gefunden. Um Herkules und Mars zu zeichnen, ließen sich nirgends auf
der Welt schönere Modelle finden. Und an anderer Stelle vergleicht er die Tätowierungen der
Tahitianer mit den Körperbemalungen der Gallier, ihre Liedspiele aber mit anakreontischen
Gesängen.
Gehörte die Gleichsetzung bestimmter Stammesgesellschaften mit den Völkern der Antike
auch im 18. Jahrhundert mit zu den geläufigsten Ordnungsmodellen bei der Verarbeitung
ethnographischen Materials, so bedarf Bougainvilles Antikisierung gerade der Tahitianer doch
zusätzlicher Erklärungen, denn zum einen fehlt eine ähnliche Metaphorik fast duchgängig in
seinen Beschreibungen anderer Völker, auf die er während seiner Weltumsegelung traf, zum
anderen aber geht aus seinem Bordtagebuch hervor, daß es sich bei den hier angeführten
Identifizierungen und Vergleichen nicht um nachträglich in die Reisebeschreibung
aufgenommene und der allgemeinen Konvention entgegenkommende Ausschmückungen handelt,
sondern um mehr oder weniger spontan zustande gekommene und auch im nachhinein kaum
systematisch überarbeitete Assoziationen.
Nach Norbert Elias setzte in Europa seit dem 16. Jahrhundert, noch entschiedener aber im 17.
und 18. Jahrhundert, ein Prozeß der Erotisierung der bildenden Kunst ein, die in dem Maß
„Traumbild und Wunscherfüllung“ wurde, in dem die Unbefangenheit gegenüber dem nackten
menschlichen Körper schwand und die allgemeine Schamschwelle weiter vorrückte. Die bildliche
und plastische Vergegenwärtigung der griechisch-römischen Mythologie und ihrer erotischen
Sujets hatte sich der Kunst der Neuzeit seit jeher als bevorzugtes Gebiet zur Darstellung
unterdrückter sexueller Wunschphantasien angeboten, eine Tendenz, die umso stärker
hervortreten mußte, je mehr die Sexualität aus der Öffentlichkeit verbannt und je bedeutsamer
dementsprechend auch der Schutz wurde, den der unbestritten in Geltung stehende
Vorbildcharakter der Antike und ihrer Kunstauffassung vor der äußeren und inneren Zensur
gewährte. Auf Tahiti konnte sich Bougainville einem verinnerlichten Triebregungen zwar
weniger streng unterworfenen, aber partiell doch bereits erotisiertem Verhältnis zum nackten
Körper und zur Sexualität gegenübersehen, wie es ihm in dieser besonderen Form wohl vor allem
aus den Darstellungen mythologischer Motive in der zeitgenössischen Kunst bekannt war. Dieser
Eindruck mußte dadurch noch verstärkt werden, daß die polynesische Einwohnerschaft Tahitis im
Unterschied etwa zu den afrikanischen, südamerikanischen und melanesischen Völkerschaften -
ihrer Hautfarbe, ihrer Körperstatur und ihrer Physiognomie nach dem klassischen europäischen
Schönheitsideal weitgehend entsprach. Es entbehrte also insofern keineswegs einer durch seine
Bildung vermittelten bildlich-imaginativen Erfahrungsgrundlage, wenn Bougainville sich gerade
auf Tahiti in die Welt der Antike zurückversetzt fühlte. Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich
seine Neigung, eine ihm fremde soziale Umgebung mit den Phantasiegestalten der antiken
Sagenwelt anzufallen und auf diese Weise das Unbekannte in das Vertraute mit einzubeziehen, als
eine im Grunde klassenspezifische kulturelle Reaktionsweise zur Verarbeitung einer Fülle neuer
Eindrücke. Sie indiziert darüber hinaus einen bestimmten Grad an sublimierter Genußfähigkeit,
birgt in sich aber zugleich das Bemühen um reflektive Distanz.
Beides wird deutlich an seiner Schilderung einer Szene, die sich wenige Tage nach der
Ankunft vor Tahiti abspielte, als sich die Inselbewohner den beiden Schiffen erneut näherten, um
dieses Mal nicht mehr nur Lebensmittel, sondern auch die Liebesdienste ihrer Frauen zum Tausch
gegen Eisennägel und andere europäische Waren anzubieten:
„In den Pirogen fanden sich viele Weiber, die den Europäerinnen in Ansehung ihres schönen Wuchses den Vorrang
streitig machen konnten. Die meisten dieser Nymphen waren nackend, weil die Männer und alten Weiber, die sich
bei ihnen fanden, ihnen ihren Schurz, den sie gemeiniglich tragen, weggenommen hatten; sie machten allerlei
freundliche Mienen gegen uns, beobachteten aber bei aller Naivität eine gewisse Art von Schamhaftigkeit; sei es, daß
die Natur das andere Geschlecht allenthalben durch eine gewisse ihm eingeborene Scheu verschönert hat, sei es, daß
sogar in einem Land, wo noch die Freizügigkeit des Goldenen Zeitalters herrscht, die Frauen das zu verhehlen
wissen, was sie am meisten begehren. Die Männer handelten freier und offener; sie suchten uns, eine Frau zu wählen,
mit ihr an Land zu gehen, und durch unzweideutige Gesten gaben sie zu verstehen, auf welche Art wir uns mit ihnen
beschäftigen sollten. Man kann sich vorstellen, wie schwer es angesichts eines solchen Schauspiels war, 400 junge
französische Seeleute, die zudem sechs Monate lang keine Frauensperson mehr gesehen hatten, zur Arbeit
anzuhalten. Trotz aller unserer Vorsichtsmaßnahmen kam ein junges Mädchen auf das hintere Verdeck und stellte
sich an eine der Luken über dem Gangspill. Diese Luke stand offen, damit die Leute am Spill frische Luft bekamen.
Sie ließ ungeniert ihre Bekleidung fallen und stand vor den Augen aller da wie Venus, als sie sich dem phrygischen
Hirten zu erkennen gab: sie besaß deren göttliche Gestalt. Matrosen und Soldaten drängten sich zur Luke, und
vielleicht ist niemals so fleißig an einem Spill gearbeitet worden. Durch unsere Sorgfalt gelang es indes, die
verzauberte Mannschaft zurückzuhalten, wobei es nicht weniger schwer fiel, sich selbst zu beherrschen.“
Anders als später etwa James Cook in ähnlichen Situationen, bekennt Bougainville sich mit
überraschender Freimütigkeit zu den Triebregungen, die der hier beschriebene Vorgang bei ihm
auslöste. Während er die sexuellen Wünsche seiner Matrosen und Soldaten mehr oder weniger
offen benennt, vermag er seine eigenen freilich nur unter der Bedingung zur Sprache zu bringen,
daß er die ihn umgebende Wirklichkeit zuvor in das Reich der normativen Imagination
transportiert, die Freizügigkeit des Goldenen Zeitalters beschwört, die Tahitianerinnen mit
Nymphen vergleicht und sich selbst in die Rolle des phrygischen Hirten versetzt, dem Venus sich
offenbart. Scheinen die unmittelbare Triebbefriedigung signalisierenden „unzweideutigen
Gesten“ der tahitischen Männer den Matrosen zu gelten, so gewinnt er selbst erst Genuß aus
dieser Szene, indem er sich auf ihre zweideutigen erotischen Komponenten konzentriert: das
Wechselspiel von Verhüllen und Entblößen, die natürliche Scheu der Frauen und ihr, wie er
meint, hinter jener Schamhaftigkeit sich verbergendes Begehren. Gerade mit dieser Erklärung des
Verhaltens der Tahitianerinnen aber verdeckt er das auch von ihm wahrgenommene, seinem
eigenen Wunschbild einer von äußeren Zwängen befreiten Sexualität aber offensichtlich
zuwiderlaufende und daher unterdrückte eigentlich Anstößige des Vorgangs, daß es sich bei ihm
nämlich um nichts anderes handelte als um eine den Frauen von den Männern aufgezwungene
Form der Prostitution, deren Ziel es war, in den Besitz der begehrten europäischen Waren zu
gelangen.
Wie in der Schilderung dieser Szene kommt auch in Bougainvilles Beschreibung
vergleichbarer Situationen, die zu beobachten er während seines Aufenthalts auf der Insel noch
häufig Gelegenheit fand und die in den Bordtagebüchern seiner Mitreisenden oft weit drastischer
wiedergegeben werden, ein Verhältnis zur Sexualität zum Ausdruck, das einerseits als Versuch,
den aus solchen Szenen bezogenen Genuß mit Hilfe der Vorstellungskraft zu steigern, von seiner
höfischen Erfahrungswelt geprägt scheint, das ihm andererseits und im selben Schritt aber auch
ermöglicht, sich auf die voyeuristische Position zurückzuziehen und damit die seinem
Selbstverständnis und seinem Rang innerhalb der Bordhierarchie gemäße Distanz zu wahren.
Dieser Einstellung entspricht sein ausgeprägter Hang zur Antikisierung, der sich nicht von
ungefähr bei der Darstellung eben jener verfänglichen Situationen am deutlichsten manifestiert
und sie, um den Preis der Extirpation des sie erst konstituierenden Tauschverhältnisses, geradezu
regelmäßig zu arkadischen Idyllen gerinnen läßt:
„Unsere Leute gingen täglich einzeln oder in kleinen Gruppen auf der Insel umher. Man lud sie in die Häuser ein und
gab ihnen zu essen; doch die Höflichkeit der Hausherrn beschränkt sich hier nicht allein auf die Bewirtung; sie boten
ihnen auch junge Mädchen an. Das Haus füllte sich sogleich mit Männern und Weibern, welche neugierig einen
Kreis um den Gast und das junge Opfer der Gastfreundschaft bildeten. Man streute ein Lager aus Laub und Blumen,
und die Musikanten bliesen dazu auf ihrer Flöte ein Hymenslied. Venus ist hier zugleich die Göttin der
Gastfreundschaft, ihr Kult erlaubt keine Geheimnisse und jeder Sinnenrausch ist ein Fest für das ganze Volk. Die
Wilden wunderten sich über die Verlegenheit, welche wir bezeugten; unsre Sitten haben eine solche Öffentlichkeit
verboten. Dennoch möchte ich mich nicht dafür verbürgen, daß keiner seinen Widerstand aufgegeben und sich nach
dem Landesbrauch bequemt hat.“
In unverkennbarer Anlehnung an die Darstellungen bukolischer Motive in der
zeitgenössischen Kunst, die fite galante und die fite champitre, wie sie von Malern wie Watteau,
Boucher oder Fragonard zur Meisterschaft gebracht worden waren, komponiert Bougainville hier
ein Tableau, das die Vorstellung einer von den Fesseln der Konvention freien Beziehung
zwischen den Geschlechtern suggeriert. Die doppelsinnige Funktion seiner antikisierenden
Sehweise wird an ihm einmal mehr deutlich. Als sublimatorische Phantasietätigkeit entlastet sie
ihn nicht nur vom unmittelbaren Druck seiner eigenen Triebwünsche, sondern gestattet ihm
darüber hinaus, gerade indem sie die Wirklichkeit in ein imaginäres Arkadien verwandelt, die von
ihm beobachteten Liebesszenen mit einem verhältnismäßig hohen Grad an Unbefangenheit
wiederzugeben. In poetischer Verklärung von Erlebnissen dieser Art, hat Bougainville Tahiti auf
den Namen La Nouvelle Cythère getauft, eine Namensgebung, bei der vermutlich die Erinnerung
an Watteaus berühmtestes Bild Pate stand.
Trotz der anfänglichen gegenseitigem Freundschaftsbekundungen verlief der Aufenthalt der
beiden französischen Schiffe vor Tahiti keineswegs reibungslos. Zwar hatte Bougainville von
Anfang an Vorkehrungen treffen lassen, um größere Zwischenfälle zu verhindern, doch scheint
es, als ob gerade die zum Zweck der Abschreckung durchgeführten Schießdemonstrationen das
Mißtrauen der Inselbewohner schürten, die sich nur noch allzu gut an das Gemetzel erinnerten,
das knapp zehn Monate zuvor von der Mannschaft der Dolphin unter ihnen angerichtet worden
war. Auf seiten der Franzosen trugen dagegen die ständigen kleinen Diebereien der Tahitianer
dazu bei, das Verhältnis zu verschlechtern. Die Opfer blieben denn auch nicht aus. Zum Teil
infolge der Provokation durch die sich häufenden Diebstähle, zum Teil aber auch ohne jedes
erkennbare äußere Motiv, wurden in den nur neun Tagen des Aufenthalts auf der Insel vier ihrer
Bewohner von den Mitgliedern der Besatzung der beiden Schiffe erschlagen. Als sich die
Spannungen weiter verschärften, beschloß Bougainville daher, weit früher aufzubrechen als
ursprünglich geplant. Nachdem die Insel in einem zeremoniellen Akt zum Eigentum der
französischen Krone erklärt worden war, verlassen die Boudeuse und die Etoile am Morgen des
15. April Tahiti.
Als sich die beiden Schiffe wieder auf hoher See befinden, nimmt Bougainville die
Gelegenheit wahr, die ersten Eindrücke in seinem Bordtagebuch nochmals zusammenzufassen.
Des unglücklichen Verlaufs des Aufenthalts ungeachtet, erscheint ihm Tahiti auch noch im
Rückblick als das wiedergefundene Paradies:
„Ich kann diese glückselige Insel nicht verlassen, ohne hier das Lob noch einmal zu wiederholen, das ich ihr bereits
gezollt habe. Die Natur hat ihr einen Platz unter dem schönsten Klima der Erde zugewiesen, sie hat ihr ein herrliches
Aussehen verliehen, sie mit allen ihren Gaben geschmückt und sie mit schönen, großen und kräftigen Einwohnern
versehen. Sie selbst hat ihnen die Gesetze diktiert. Sie befolgen sie in Frieden und bilden die glücklichste
Gesellschaft auf diesem Erdball. Gesetzgeber und Philosophen, kommt und seht hier die Verwirklichung dessen, was
selbst euere Phantasie sich nicht hätte erträumen lassen. Ein zahlreiches Volk, das aus schönen Männern und
hübschen Frauen besteht, das in Überfluß und Gesundheit lebt, bei dem sich alle Zeichen größter Eintracht finden
lassen, das den Unterschied zwischen Mein und Dein bereits so gut kennt, daß es die für eine gute Ordnung
erforderlichen Rangunterschiede gibt, das ihn aber noch nicht so gut kennt, als daß es bereits Arme und Betrüger
gäbe; […] das jene Grundkenntnisse in den Künsten besitzt, die dem Menschen, der dem Naturzustand noch nahe ist,
genügen; das wenig arbeitet und sich an allen Vergnügungen der Gesellschaft erfreut, am Tanz, an der Musik, an der
Unterhaltung und endlich an der Liebe, die, so glaube ich, die einzige Gottheit ist, der dieses Volk opfert […]. In
ihrem Kult gibt es keine Mysterien oder verborgene Zeremonien; man zelebriert ihn in aller Öffentlichkeit, und es
läßt sich die Freude kaum beschreiben, die dieses Volk jedesmal empfindet, wenn es den leidenschaftlichen
Umarmungen eines Paares beiwohnt, dessen Seufzer die einzige Opfergabe sind, die ihrer Gottheit angenehm ist.
Jede Sinneslust ist ein Fest für die Nation. Um das angemessen wiederzugeben, was wir gesehen haben, bedürfte es
der Feder eines Fénélon, oder des charmanten Pinsels eines Albani oder eines Boucher.“
Idealisierende Züge, die der in der Tradition der Legende vom Guten Wilden stehenden älteren
Reiseliteratur entnommen sind, vermengen sich in dieser noch von der unmittelbaren Erfahrung
geprägten Schilderung Tahitis mit klimatheoretischen Erklärungsmodellen und Elementen der
rousseauistischen Kulturkritik. In der Wohlgestaltetheit, der Gesundheit und der Fruchtbarkeit der
Inselbewohner, in ihrem sorglosen und friedfertigen Lebensstil spiegeln sich die Einflüsse des
„schönsten Klimas der Welt“ wider, in das eine freigiebig gewährende Natur die Insel gesetzt hat.
In allem den Gesetzen der Natur folgend, scheinen die Tahitianer, die „glücklichste Nation auf
diesem Erdball“, ene berühmte gattungsgeschichtliche Balance zwischen der „Indolenz des
primitiven Zustandes und der ungebändigten Aktivität unserer Eigenliebe“ zu halten, in der für
immer zu verharren nach Rousseau für die Menschheit am besten gewesen wäre. Zwar folgt
Bougainville Rousseau darin, daß auch er jenen glücklichen Gleichgewichtszustand am Grad der
Entwicklung der Künste und des Eigentums mißt, doch erhält er bei ihm zugleich auch ein an
Montesquieus Theorie der idealen Gesellschaftsverfassung erinnerndes spezifisch aristokratisches
Gepräge, wenn er feststellt, daß die Tahitianer in der Unterscheidung zwischen Mein und Dein
bereits weit genug fortgeschritten seien, um die für die Aufrechterhaltung einer „guten Ordnung“
notwendigen Rangunterschiede hervorgebracht zu haben, ohne deshalb bereits die negativen
Auswirkungen des Vergesellschaftungsprozesses und der Reichtumsunterschiede: die Armut und
die Unmoral, in Kauf nehmen zu müssen. Ohne die Nachteile der Gesellschaft zu verspüren,
vermögen sie daher noch unbekümmert alle Freuden der Geselligkeit zu genießen, den Tanz, die
Musik, die Unterhaltung und vor allem die Liebe.
In Bougainvilles Darstellung der „glückseligen Insel“ als konkrete lebensweltliche Verortung
des um seine über sich selbst hinaustreibenden Züge freilich bereinigten juste milieu der
Gattungsgeschichte, dessen Fortdauer indes nur in den Regionen der Erde möglich erscheint, die
die Natur mit allen ihren Gaben aufs reichlichste versehen hat, ersteht so die Figur des Guten
Wilden, wie sie Rousseau mit seiner dialektischen Anthropologie bereits überwunden zu haben
schien, in neuer Form wieder auf: in der Gestalt des von seiner natürlichen Umwelt geprägten
glücklichen Inselbewohners. Durch die Herausstreichung der ungetrübten Sinnenfreude der
Tahitianer verleiht Bougainville ihr allerdings einen qualitativ neuen Aspekt, der ihn von
Rousseaus Auffassung ebenso weit entfernt wie von der Montesquieus.
Bougainville, der während seines Aufenthalts in Kanada sowie im Verlauf seiner
Weltumsegelung all die wilden Gesellschaften aus eigener Anschauung kennengelernt hatte, die
der Philosophie der Aufklärung als Gradmesser für die Authentizität der eigenen
Gesellschaftsordnung dienten, den aber die von Montesquieu gerühmten kriegerischen Tugenden
der Irokesen nicht weniger abgeschreckt hatten als die von Rousseau als Ausdruck
reflexionslosen Glücks gewertete Apathie, die an den paraguayanischen Indianerstämmen
beobachten zu können er geglaubt hatte, er schien auf Tahiti ein „Naturvolk“ entdeckt zu haben,
dessen Lebensart seinen persönlichen Neigungen und Wunschvorstellungen am meisten
entgegenkam. Repräsentierten die amerikanischen Wilden für Montesquieu den Freiheitsdrang
und den Mut der alten germanischen Eroberervölker, für Rousseau dagegen die Unabhängigkeit
von den Zwängen des fortgeschrittenen Vergesellschaftsprozesses überhaupt, so wird der
tahitische Wilde für Bougainville zum Symbol des freien und uneingeschränkten Sinnengenusses.
Ähnlich wie bei Montesquieu ist dieses Projektionsmoment, mit dem Bougainville den
Grundstein legte für die eskapistischen Südseeträume des Bürgertums im 19. Jahrhundert,
aristokratischer Prägung. Er verweist, und zwar gerade im Blick auf Montesquieus noch
durchgängig „hard-primitivistische“ Konzeption, auf den Wandel der Verhaltensweisen der
aristokratischen Oberschichten in den letzten Jahrzehnten des ancien régime.
Noch Montesquieu war einer Fraktion innerhalb der französischen Aristokratie nahegestanden,
die nicht gewillt war, ihre durch die Herrschaft des Absolutismus bedrohten politischen Vorrechte
kampflos aufzugeben und sie daher im Bündnis mit Teilen des Bürgertums erneut in Kraft zu
setzen versuchte. Anders als der Provinz- und der zum Teil aus dem Bürgertum selbst
hervorgegangene Amtsadel hatte sich die Hofaristokratie mit ihrer wirtschaftlich zwar weiterhin
priviligierten, politisch aber bedeutungslos gewordenen Position schon länger abgefunden. Der
absolutistische Königshof wurde zum alleinigen Zentrum der Macht. Während der Adel sich dem
komplizierten Hofzeremoniell unterwarf und der Wettstreit um die Gunst des Königs an die Stelle
der einstigen politischen Ambitionen trat, wurden die Staatsgeschäfte von Beamten der Krone
geführt, die zumeist bürgerlicher Herkunft waren. Obgleich diese Entwicklung mit dem Ende der
Regierungszeit Ludwig XIV. ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte und obgleich sich unter
Ludwig XV. die starre Etikette merklich zu lockern begann, blieb das Leben bei Hof weiterhin
geprägt von der eifersüchtigen Intrige und dem gegenseitigem Kampf um Auszeichnung, denn
wie sehr die Hofaristokratie sich dem absolutistischen Herrschaftsmechanismus bereits angepaßt
hatte und wie wenig sie noch in der Lage war, politische Ämter und Aufgaben wahrzunehmen,
hatte schon das gescheiterte Experiment Philippe von Orléans’ erwiesen, den Hochadel erneut in
seine alten Rechte einzusetzen. Die Jagd nach dem Vergnügen wurde so für den zur Untätigkeit
gezwungenen Hofadel zum bevorzugten Mittel, seiner Langeweile Herr zu werden, wie sie
gerade durch die Lockerung der Etikette noch unerträglicher geworden zu sein schien. Der für
den Hofstaat Ludwig XV. kennzeichnende Hang zum Hedonismus, den man mit dem Schein der
Natürlichkeit und Ungezwungenheit zu umgeben liebte, der sich zunehmend am Genuß
orientierende und deutliche Fluchtmotive aufweisende Lebensstil der Hofaristokratie unter dem
ancien regime also, erklärt sich aus der Resignation, mit der sich der Adel mit jener Entwicklung
schließlich abgefunden hatte, die ihn nicht nur zur politischen Ohnmacht verdammte, sondern ihn
auch in immer stärkerem Maße dem Rollenspiel und der komplizierten hierarchischen Ordnung
der geschlossenen höfischen Gesellschaft unterwarf.
Es war dies die scheinbar freizügige, in Wirklichkeit aber streng regulierte Scheinwelt der
galanten Schäferspiele und frivolen ländlichen Feste, die Bougainville in seiner Jugend
kennengelernt hatte, und es war dies auch die Welt die er, all ihrer Künstlichkeit, ihrer
Maskeraden und ihrer äußeren Zwänge entkleidet, auf Tahiti, dem Land der freien Liebe, als
natürliche und ursprünglich wiedergefunden zu haben glaubte. Die Eintragung in sein
Bordtagebuch schließt mit der Furcht, daß er selbst dazu beigetragen haben könnte, dieses „wahre
Eutopia“ zu zerstören:
„Im übrigen bleibt den Einwohnern nur zu wünschen, die Natur möge ihnen die Gegenstände vorbehalten haben, die
die Begierde der Europäer wecken. Sie brauchen nicht mehr als die Früchte, die die Natur hier im Überfluß
hervorbringt, ohne daß es des Ackerbaus bedarf. Alles übrige, das uns anzieht, zöge ihnen nur die Übel des Eisernen
Zeitalters zu. Adieu, du weises und glückliches Volk; möget ihr immer das bleiben, was ihr seid. Nicht ohne Freuden
werde ich mich an die wenigen Augenblicke erinnern, die ich bei euch verbracht habe, und solange ich lebe, werde
ich die glückliche Insel Kythera rühmen: sie ist das wahre Eutopia.“
5.
Einerseits geprägt von der höfischen Lebenswelt und ihren eskapistischen Sehnsüchten, stand
Bougainville andererseits zu sehr in der kritischen Tradition der Aufklärung, als daß er nicht
versucht hätte, sich über das Zustandekommen seiner subjektiven Empfindungen Rechenschaft
abzulegen und sie mit nüchternem Blick an der Wirklichkeit zu messen. Ähnliche, vom
Gefühlsüberschwang getragene Töne wie in seinem Bordtagebuch klingen zwar auch in seinem
offiziellen Reisebericht immer wieder an, so vor allem in den Passagen, in denen er die
landschaftlichen Schönheiten der Insel, die Wohlgestaltetheit ihrer Bewohner und die erotische
Atmosphäre ihres Alltagslebens schildert. Doch gerade seine anfängliche Begeisterung für die
Friedfertigkeit, die Sanftheit der Sitten und das scheinbar durch nichts getrübte Glück der
Tahitianer ist in seiner Reisebeschreibung einem weit distanzierterem Urteil gewichen.
Bougainville verdankte diese nachträgliche Ernüchterung den Auskünften, die er im weiteren
Verlauf der Reise von Aotourou erhielt, einem jungen Tahitianer, der sich der Schiffsexpedition
kurz vor der Abfahrt aus freien Stücken angeschlossen hatte. Diese Auskünfte ließen ihn die
tahitische Gesellschaft in einem ganz anderen Licht sehen. Bougainville mußte im nachhinein
feststellen, daß ihn die flüchtigen ersten Eindrücke in dem Maße getrogen hatten, in dem er
seinen eigenen Erwarungen und Wunschvorstellungen aufgesessen war, konnte er den Berichten
Aotourous doch entnehmen, wie wenig das Bild Tahitis, das er während seines kurzen
Aufenthalts gewonnen hatte, der Wirklichkeit tatsächlich entsprach. Bougainville hat der Einsicht
in den projektionsbestimmten Charakter seines auf oberflächlichen Beobachtungen beruhenden
ersten Urteils offen Rechnung zu tragen versucht. Sie bestimmt den Aufbau seines Berichts über
Tahiti.
In Anlehnung an seine Tagebuchaufzeichnungen gibt Bougainville in unverkürzter Form
zunächst seine unmittelbaren Eindrücke wieder und beschreibt die tahitische Gesellschaft so, wie
er und seine Reisebegleitung anfangs glaubten, daß sie beschaffen sei:
„Der Charakter der Nation schien uns sanft und guttätig zu sein. Es schien auf der Insel nirgends innere Kriege zu
geben, keinen besonderen Haß […]. Es hatte den Anschein, als ob die zum Leben unentbehrlichen Dinge allen
gehören und keiner etwas sein eigen nennt.“
Diesem idealisierten Bild Tahitis, das der Perspektive des von außen kommenden Beobachters
entsprang, stellt er dann aber das Bild der tahitischen Gesellschaft entgegen, das er aus den ganz
anders lautenden Berichten seines eingeborenen Informanten gewann. Von Aotourou nämlich
habe er später erfahren, daß der Krieg bei den Tahitianern keineswegs unbekannt sei, ja, daß sie
ihn sogar auf äußerst grausame Art führten, ihre Kriegsgefangenen töteten und ihre abgezogenen
Häute als Kriegstrophäen aufbewahrten. Auch die Institution des Eigentums sei ihnen durchaus
bekannt, denn dafür zeuge schon allein ihr Brauch, Diebe an den Bäumen aufzuhängen. Selbst
die sexuelle Freiheit unterliege bei ihnen bestimmten Grenzen. Vor allem die Frauen müßten in
der Ehe die Vorschriften einer strengen Moral beachten und hätten keineswegs gleiche Rechte,
sondern seien in allen Dingen ihren Männern unterworfen. Und was die Religion anbelangt, so
sei er gewiß, daß auch auf Tahiti der Aberglaube herrsche, daß man die Gestirne anbete und ihnen
sogar regelmäßig Menschenopfer darbringe. Am meisten aber habe er sich getäuscht, als er
anfangs glaubte, die Tahitianer seien untereinander fast gleich und ihre Freiheit werde nur durch
solche Gesetze eingeschränkt, die dem Glück aller dienten. Aotourous Berichte bezeugten das
Gegenteil:
„…der Unterschied zwischen den Ständen ist stark ausgeprägt auf Tahiti, und das Mißverhältnis grausam. Die
Könige und Vornehmen haben über das Leben ihrer Sklaven und Knechte völlige Gewalt. Ich vermute sogar, daß sie
dieses barbarische Recht selbst über den Mann des einfachen Volkes haben, den sie tataeinou nennen: daß heißt
gemeiner Mensch; wenigstens ist es gewiß, daß man zu den Menschenopfern allezeit welche aus dieser
unglücklichen Klasse nimmt. Fleisch und Fisch sind nur eine Speise der Vornehmen, die übrigen müssen sich mit
Hülsenfrüchten und Obst behelfen. Der Unterschied der Stände äußert sich sogar in der Beleuchtung bei der Nacht:
der gemeine Mann brennt zu diesem Zweck eine andere Art von Holz als die Vornehmen.“
Bougainville bedient sich in seinem Bericht über Tahiti derselben Desillusionierungstechnik,
die er schon bei seiner Untersuchung der Körpergröße der Patagonier, bei seiner Darstellung der
paraguyanischen Jesuitenreduktionen und bei seiner Kritik an den Mutmaßungen der Gelehrten
über die Existenz des Südkontinents angewandt hatte: den vorgefaßten Meinungen der
Stubengelehrten werden die Beobachtungen des nüchternen Reisenden gegenübergestellt, dessen
Urteil allein auf der Erfahrung beruht. Es ist in diesem Fall aber zugleich auch eine Technik der
Selbstkritik. Bougainville selber ist es, der sich im nachhinein als einen jener Systembildner
erkennen muß, die „die Natur gebieterisch ihren Imaginationen unterwerfen“, während der Wilde
die Rolle des Empirikers und einfachen Gewährsmannes übernimmt. In Aotourou findet
Bougainville sein alter ego. Seine Auskünfte erlauben ihm, die tahitische Gesellschaft in einem
doppelten Licht erscheinen zu lassen, von innen und außen, aus der Nähe und aus der Distanz.
Dennoch werden sie Bougainville nicht zum Anlaß, sein eigenes Urteil vollständig zu revidieren.
Er läßt es vielmehr bei der bloßen Gegenüberstellung bewenden. Ist der eine Aspekt nicht ebenso
real wie der andere? Bougainville versucht sich daher gar nicht erst in einer Erklärung der
Ursachen, die den Widersprüchen der tahitischen Gesellschaft zugrunde liegen könnten: „Wir
sahen das Land als einen Freund an, den man mit allen seinen Fehlern liebt.“ Was hätte es auch
genutzt, die Klassenverhältnisse der tahitischen Gesellschaft zu kritisieren? Nicht die Identitäten
zählen, sondern die Unterschiede. So groß die Fehler der fremden Gesellschaft auch immer sein
mögen, so repräsentiert sie in ihren Vorzügen doch all das, was der eigenen Gesellschaft fehlt:
„Die Luft, die man atmet, das Singen, das Tanzen und die dabei üblichen wollüstigen Gebärden -
all das erinnert an die Süße der Liebe und ruft zur Hingabe.“ Bougainville beharrt auf diesen
Differenzen. Ihnen gilt sein Augenmerk, und nicht der Unterdrückung des „gemeinen Mannes“.
Sie verleihen der fremden Gesellschaft den Reiz. Sie stellen das dar, was in der eigenen
Gesellschaft unterdrückt, verdrängt wird. Gleichwohl ist die fremde Gesellschaft von innen her
besehen nicht besser als die eigene. Der Kolonialismus zerstört, doch was er zerstört, sind keine
unberührten Paradiese. Das „wahre Eutopia“ gibt es nicht. Für Bougainville wird so die
Erfahrung Tahitis in letzter Instanz zu einer Erfahrung der Desillusionierung. Die Exotisierung
der Insel aber, an der er trotz allem festhält, erweist sich in dieser Hinsicht als das Bemühen, den
gebrochenen Zauber des ersten Eindrucks festzuhalten.
Von der Utopie zur Uchronie
1.
Bougainvilles Bericht über Tahiti sollte in der zeitgenössischen Rezeption ein ähnliches
Geschick widerfahren wie Rousseaus Discours sur l'inégalité. Das breite Publikum bezog sich
vor allem auf die Passagen, die als eine Verherrlichung des Lebens des Menschen im
Naturzustand gelesen werden konnten und insofern die Theorien Rousseaus, so wie man sie
verstanden hatte, nachträglich zu bestätigen schienen, ließ dabei aber die jenes idealisierte erste
Bild als illusionär zurückweisenden kritischen Anmerkungen Bougainvilles weitgehend außer
Acht. Eine solche Form der Interpretation war freilich schon im Aufbau des Berichts selbst
angelegt, dessen die Erfahrung des Autors getreu reproduzierende antinomische Struktur es leicht
machte, seine eigentlichen Absichten mißzuverstehen; sie entsprach überdies dem allgemeinen
Stimmungsumschwung, der sich in den anderthalb Jahrzehnten seit der Veröffentlichung von
Rousseaus Discours sur l'inégalité in den Schichten abzuzeichnen begonnen hatte, aus denen sich
die geistigen Wortführer der Aufklärungsbewegung rekrutierten. Arnold Hauser zufolge sind die
Ursachen, die dazu führten, daß der „ehemalige bürgerliche Optimismus“ seit der
Jahrhundertmitte zunehmend dem „Hang zur Melancholie, zu elegischen Stimmungen, ja zu
einem entschiedenen Pessimismus“ hatte weichen müssen, in den sozialen Verschiebungen der
Zeit zu suchen, denn „es sind niedrigere Schichten, die jetzt zu Wort kommen, solche, die mit der
Aristokratie in keiner geistigen Berührung mehr stehen und zum Optimismus weniger Grund
haben als die Bourgeoisie, die zu den wirtschaftlich privilegierten Klassen gehört. Die veränderte
Einstellung zur Wirklichkeit fand nicht zuletzt im Sentimentalismus und in der ausgeprägten
Natursehnsucht der zeitgenössischen bürgerlichen Literatur Ausdruck, die nach der
Jahrhundertmitte „auf einmal aus lauter Fluchtversuchen besteht, dem Versuch vor allem, aus der
strengen Vernünftigkeit und Bewußtheit in die unverantwortliche Emotionalität, aus der Kultur
und Zivilisation in den unverbindiichen Naturzustand zu fliehen“.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung wird die große Resonanz erst verständlich, mit der
nicht nur die breitere Öffentlichkeit, sondern auch die französische Gelehrtenwelt die Berichte
von der Entdeckung eines scheinbar glückseligen Inselvolks inmitten der noch immer von
Legenden umwobenen Südsee aufnahm. Sie führten zu einer, im Blick auf den hohen
Reflexionsstand der anthropologischen Diskussion noch um die Jahrhundertmitte unerwarteten,
Wiederbelebung des Mythos vom Guten Wilden. Es war dies zunächst allerdings weniger die
Schuld Bougainvilles. Während er seinen offiziellen Reisebericht nach langen Querelen mit dem
Marineministerium erst 1771 veröffentlichen konnte, war bereits im November 1769 im Mercure
de France das Postskriptum eines Briefes abgedruckt worden, den sein wissenschaftlicher
Reisebegleiter, der Naturforscher Philibert Commerson, von Mauritius aus an den Astronomen
Lalande von der Acadimie royale des sciences geschrieben hatte.
Commerson gibt in diesem Brief eine Schilderung Tahitis, die ihn als überzeugten
Rousseauisten ausweist und die in ihrem überschwenglichen Gefühlspathos den
Tagebucheintragungen Bougainvilles gleicht. Doch während Bougainville sich nach Maßgabe der
Distanz, die er durch die Auskünfte Aotourous seinen eigenen Empfindungen gegenüber gewann,
vor übereilten Verallgemeinerungen hütet, wertet Commerson seine flüchtigen ersten Eindrücke
umstandslos als Beweis für die Richtigkeit der von Rousseau vertretenen Auffassungen. Für ihn
repräsentiert der „gute Tahitianer“, der „unaufhörlich genießt - entweder das Gefühl seiner
eigenen Wonnen oder das Schauspiel der Sinneslust der anderen“, den „Zustand des
Naturmenschen, der wesentlich gut ist und von Vorurteilen frei, und der den süßen Antrieben
eines stets sicheren Instinkts folgt, weil er noch nicht zur Vernunft degeneriert ist“. Ungebrochen
von der eigenen Erfahrung, taucht in Commersons Bericht über Tahiti ein Großteil der
Stereotypen wieder auf, die aus der Geschichte der Legende vom Guten Wilden hinlänglich
bekannt sind, der Überfluß, in dem die Inselbewohner leben, ihre Brüderlichkeit und
Friedfertigkeit, die Einfachheit ihrer Sprache und ihrer Sitten, vor allem aber die Nichtexistenz
konventioneller Eigentumsbegriffe, aus der er die auch von ihm nicht bestrittene Neigung der
Tahitianer zum Diebstahl erklärt. „Hier also findet man, noch auf unserem Erdball lebend, den
Naturmenschen, so wie Rousseau ihn erträumen konnte…“, so behauptet Commerson und zeigt
damit zugleich, wie gründlich auch er Rousseau mißverstanden hat. Gleichwohl bleibt zu
bestreiten, ob Commerson tatsächlich den, wie Urs Bitterli schreibt, „wendigen Journalisten und
raffinierten Zuträgern des Zeitgeschmacks“ zugerechnet werden darf, die die Wirklichkeit der
Südsee beschönigten und verharmlosten, um „den modischen Erwartungen einer großen
Leserschaft zu entsprechen“. Wenn Commerson in Verkennung der Wirklichkeit die Sanftheit und
Friedfertigkeit der Tahitianer rühmt, über ihre Kriege, ihre Menschenopfer und den
Klassencharakter der tahitischen Gesellschaft aber schweigt, dann nicht nur deshalb, weil diese
eher düsteren Züge nicht in das vorgefaßte Bild des Rousseauschen Naturmenschen paßten,
sondern auch, weil sich ihm im Unterschied zu Bougainville nachträglich nicht die Gelegenheit
bot, die flüchtigen Beobachtungen seines kurzen Aufenthalts anhand er Informationen eines
Mitglieds dieser Gesellschaft zu überprüfen. Distanzlos überläßt Commerson sich ganz der
Unmittelbarkeit seiner ersten Eindrücke. Weniger der in sich gebrochene und letztlich die eigenen
Imaginationen desavouierende Bericht Bougainvilles, sondern Commersons schwärmerische
Beschreibung Tahitis erscheint als charakteristisch für die Reaktionsweisen eines gebildeten
europäischen Reisenden des 18. Jahrhunderts auf die Inselkultur Polynesiens. Weit eher als um
einen „raffinierten Zuträger“ des Zeitgeschmacks handelt es sich bei Commerson um einen seiner
maßgeblichen Repräsentanten.
Die mündlichen Berichte Bougainvilles und seiner Reisebegleiter über die neuentdeckte
paradiesische Südseeinsel waren in den Gelehrtenkreisen der französischen Hauptstadt zunächst
mit Skepsis aufgenommen worden. Durch die Veröffentlichung des Briefes Commersons, dessen
wissenschaftlicher Ruf und dessen Glaubwürdigkeit außer Frage standen, wurden die ersten
Zweifel jedoch bald ausgeräumt. Als Repräsentant jenes Südseeparadieses war Aotourou, für
dessen Betreuung Bougainville selbst Sorge trug, im Verlauf von wenigen Wochen zum
Tagesgespräch der Pariser Salons geworden. Während Bougainville Aotourou durch die Stadt
führte und ihn bei Hof vorstellte, bemühten sich die namhaftesten Gelehrten um eine
Unterredung mit ihm. Der Naturforscher La Condamine und Pereire, ein durch seine
Forschungen über die Taubstummheit bekannt gewordener Dolmetscher des Königs, untersuchten
in mehreren Sitzungen die Sprachorgane, den Geruchssinn und das gestische Ausdrucksvermögen
des Südseeinsulaners, unterwarfen seine Auffassungsgabe und sein Kombinationsvermögen
verschiedenen Tests und ließen sich dabei von Bougainville über die Sprache und die Sitten
Tahitis unterrichten. Gemeinsam mit Aotourou besuchte Bougainville Buffon im Jardin du Rot
und stellte ihn in den großen Salons d'Alembert, de Brosses, Helvétius und d'Holbach vor. Auch
Diderot machte vermutlich auf diese Weise die Bekanntschaft Bougainvilles und seines
Schützlings.
Aotourou hielt sich in Frankreich insgesamt elf Monate auf. Bougainville, der sich den ihm
gegenüber erhobenen Vorwurf, den Tahitianer seiner sorglosen Umwelt entrissen zu haben,
offensichtlich zueigen gemacht hatte, opferte schließlich einen Teil seines Vermögens, um
Aotourou die Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen. Im März 1770 segelte Aotourou von La
Rochelle aus nach Mauritius ab, von wo aus er mit Hilfe zweier französischer Expeditionsschiffe
nach Tahiti zurückgebracht werden sollte.
Paris stand indes noch ganz im Bann des Besuchs des Südseeinsulaners, der in der
zeitgenössischen Literatur denn auch unmittelbar Niederschlag fand. So fühlte sich Jacques
Delille, einer der Wegbereiter der französischen Frühromantik, durch Aotourous kurzen Besuch
im Jardin du Roi zu einer sentimentalistischen Ode angeregt, in der er das Heimweh des
Tahitianers nach den glückseligen Gefilden seiner Insel schildert und der eskapistischen
Natursehnsucht seiner Zeit nicht weniger deutlich Ausdruck verleiht als ihrem pathetischen
Gefühlsüberschwang. Auch die tahitische Version der Lettres Persanes ließ nicht lange auf sich
warten. Aotourou hatte Frankreich erst wenige Monate verlassen, als in Paris eine kleine
anonyme Schrift mit dem Titel Le Sauvage de Taïti aux Français; avec un envoi au philosophe
ami des sauvages erschien. Diese von Bricaire de la Dixmérie verfaßte Abschiedsrede Aotourous
an die Franzosen ist insofern bemerkenswert, als ihr Autor erstmals den bei Bougainville sorgsam
ausgesparten und auch bei Commerson nur in rhetorischen Wendungen anklingenden Vergleich
der sozialen Verhältnisse Frankreichs mit denen Tahitis wagt. Das vermeintliche Mißfallen des
Tahitianers an der Verschwendungssucht, den prätentiösen Umgangsformen und den modischen
Allüren der Reichen nimmt Bricaire de la Dixmérie zum Anlaß einer scharfen Anklage der
zeitgenössischen sozialen Mißstände, vor allem der Ausbeutung und Verelendung der breiten
bäuerlichen Bevölkerungsschichten. Gerade im Blick auf die Sozialkritik eines Gueudeville zeigt
diese Schrift jedoch, in welchem Grad das Bewußtsein von der tiefen ökonomischen und
technologischen Kluft zwischen der eigenen Gesellschaftsform und der der Wilden seit Beginn
des 18. Jahrhunderts gestiegen war. Denn obgleich Bricaire de la Dixmérie wiederholt auf das
Beispiel der Wilden verweist, bleibt er doch weit davon entfernt, eine Reform der französischen
Standesgesellschaft nach dem Vorbild ihrer natürlicheren und gerechteren gesellschaftlichen
Ordnung fordern zu wollen. Bricaire de la Dixmérie beantwortet die Frage nach dem Glück der
Tahitianer in Rekurs auf die Klimatheorie: Tahiti sei nicht Frankreich - nichts wäre daher
falscher, als alle sozialen Unterschiede abschaffen, die Städe veröden und die Gleichheit der
Tahitianer unter den Franzosen einfuhren zu wollen, seien die Industrie und die Künste, die
Arbeitsteilung und infolgedessen auch die gesellschaftlichen Ungleichheiten den Bewohnern
Europas doch notwendig, um ihnen all das zu ersetzen, was die Natur den Bewohnern Tahitis von
sich aus und im Überfluß zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse gewährt.
Stellt Bricaire de la Dixmérie auch weniger die hedonistische Sinnenlust der Tahitianer, als
vielmehr ihre Freiheit von aller Naturnotwendigkeit in den Mittelpunkt seiner Ausführungen - für
ihn ist Tahiti das Land in dem Milch und Honig fließt -, so zeichnet sich bei ihm, bei aller
Unterschiedlichkeit der Interessenlagen, dennoch eine ähnliche Tendenz ab wie in Bougainvilles
Bordtagebucheintragungen und in Commersons schwärmerischer Schilderung Tahitis. Von einer
hier und jetzt potentiell verwirklichbaren Utopie wird die glückliche Insel zum Fluchtort
eskapistischer Sehnsüchte, zu einem geographisch zwar konkret verortbaren, gleichwohl aber in
um so weitere Ferne gereckten Eutopia, das sich, da es an bestimmte natürliche und klimatische
Gegebenheiten gebunden ist, letztlich als mit der eigenen Wirklichkeit inkommensurabel erweist.
2.
Das auch heute noch bekannteste Dokument der Südseebegeisterung des späten 18.
Jahrhunderts stellt zweifellos Diderots Supplément au voyage de BougainviIle dar. Zwischen
1772 und 1776 entstanden, aber erst 1796 veröffentlicht, ging der Supplément aus einer
Rezension von Bougainvilles Reisebeschreibung hervor, die Diderot ursprünglich für Grimms
Correspondance littéraire angefertigt hatte. Diderot mußte zum Zeitpunkt der Abfassung dieser
Schrift die desillusionierenden Züge aus Bougainvilles Bericht über Tahiti also bereits gekannt
haben, Züge, die jedoch in seiner eigenen Darstellung vollständig fehlen und die er durch andere
ersetzt, von denen weder Bougainville noch die anderen Reiseteilnehmer berichtet hatten. Das
Bild der tahitischen Gesellschaft, das Diderot im Supplément entwirft, ist mithin zu einem nicht
geringen Teil Produkt seiner eigenen Phantasie. Dennoch ist auch für seine Darstellung insgesamt
eine Abkehr von jener Form des naiven Utopismus kennzeichnend, wie er zuletzt von Lahontan
und Gueudeville mit der Legende vom Guten Wilden verknüpft worden zwar. Zwar fließen im
Supplément dem ersten Anschein nach ein weiteres Mal die aus der älteren Reiseliteratur
überkommenen Mythologeme zusammen und verschmelzen mit den neuen Zügen, die sie durch
die Berichte über die Entdeckung Tahitis erhalten hatten, sie werden dann aber durch die
komplizierte Architektonik dieser Schrift mehrfach gebrochen und geben in dieser komplexen
neuen Form schließlich die Grundlage ab für eine, wenn auch immer noch um die Gegenwelt der
Wilden zentrierte, so doch ihrer Grundtendenz nicht mehr regressive Zivilisationskritik. Auf der
Ebene der philosophischen Reflexion reproduziert der Aufbau des Supplément in seiner
vielschichtigen Textur bis hin zur halbherzigen Schlußlösung die Grundstruktur des
Bougainvilleschen Erfahrungsberichts.
Diderots Schrift beginnt mit einem Rahmendialog zwischen zwei Gesprächspartnern A. und
B., die gemeinsam Bougainvilles Reise um die Welt verfolgen, sich ihre einzelnen Episoden
vergegenwärtigen und über die Bedeutung seines Unternehmens zunächst durchaus wohlwollend
urteilen:
„Soweit ich sie nach einer ziemlich oberflächlichen Lektüre beurteilen kann, möchte ich ihre Vorteile in drei
Hauptpunkten zusammenfassen: eine bessere Kenntnis unserer alten Wohnstätte und ihrer Bewohner, mehr
Sicherheit auf den Meeren, die er mit dem Lot in der Hand durchsegelt hat, und mehr Genauigkeit auf unseren
geographischen Karten. Bougainville brach mit den notwendigen Kenntnissen [lumières] und mit den für solche
Zwecke geeigneten Fähigkeiten auf: philosophische Anschauungsweise, Mut, Wahrhaftigkeit […].“
Dieses erste Urteil wird freilich bald relativiert. Bougainvilles Entdeckungsfahrten erscheinen
den beiden Philosophen nach der gemeinsamen Lektüre zweier bisher angeblich der
Öffentlichkeit vorenthaltener Aufzeichnungen, dem eigentlichen „Nachtrag zu Bougainvilles
Reise“, in einem ganz anderen Licht. Es handelt sich bei diesen beiden Dokumenten um die
Abschiedsrede eines tahitischen Greises an den europäischen Entdecker sowie um die
Niederschrift eines Dialogs, den der Schiffskaplan Bougainvilles mit einem Tahitianer namens
Orou geführt haben soll. In der Abschiedsrede des Greises - ihr liegt eine bei Bougainville kurz
erwähnte Episode zugrunde - verkehrt Diderot nun radikal die Perspektiven. Der positiven
Bewertung der Reise Bougainvilles durch die beiden Philosophen werden in dieser Rede in aller
Schärfe die Folgen gegenübergestellt, die sich aus seinem Entdeckungsunternehmen für ein bis
dahin sich selbst überlassenes Naturvolk ergeben sollten:
„Weint Tahitianer, weint ruhig“, so läßt Diderot den tahitischen Greis ausrufen, - „aber weint über die Ankunft und
nicht über die Abfahrt dieser bösen und ehrgeizigen Menschen. Eines Tages werden sie wiederkehren, in der einen
Hand das Holzstück, das ihr am Gürtel dieses Mannes dort befestigt seht, und in der anderen Hand das Eisen, das an
der Hüfte des anderen dort hängt, um euch in Ketten zu legen, euch abzuschlachten oder euch ihren
Ausschweifungen und Lastern zu unterwerfen. Eines Tages werdet ihr ihnen dienen, ebenso verdorben, niedrig und
unglücklich wie sie.“
Was aus der Sicht Europas als Erweiterung der Kenntnisse über die Natur die Erde und ihre
Bewohner erscheint, erweist sich aus der Sicht des „entdeckten“ Naturvolks als der Keim zurb
Zerstörung seiner ehemals sorglosen und glücklichen Lebenswelt. Durch die Entgegenstellung
beider Standpunkte gibt Diderot in aller Deutlichkeit zu verstehen, daß sich hinter jenen
scheinbar uneigennützigen wissenschaftlichen Interessen in Wahrheit kolonialistische
Eroberungs- und Ausbeutungsbestrebungen verbergen. Diderot hatte Bougainvilles wiederholte
Plädoyers für eine expansive Kolonialpolitik keineswegs überlesen. In den Augen Diderots
erweist sich daher auch der aufgeklärte Reisende Bougainville als ein Handlanger jenes
verhängnisvollen Zerstörungswerkes:
„Dann wandte er sich an Bougainville und fügte hinzu: Und du, Häuptling jener Räuber, die dir gehorchen, entferne
dich mit deinem Schiff schnell von unseren Gestaden. Wir sind unschuldig, wir sind glücklich, und du kannst
unserem Glück nur schaden. Wir folgen dem reinen Trieb der Natur [au pur instinct de la nature]; du aber hast
versucht, seine Eigenart in unseren Gemütern auszulöschen. Hier gehört alles allen; du aber hast uns irgendeinen
Unterschied von Mein und Dein - ich weiß nicht welchen - gepredigt. Unsere Töchter und Frauen sind uns allen
gemein; du hast dieses Vorrecht mit uns geteilt, hast in ihnen aber fremde Leidenschaften entfacht, rasende
Leidenschaften. Sie wurden in deinen Armen toll, du wurdest in ihren Armen grausam. Sie fingen an, sich
gegenseitig zu hassen; ihr brachtet euch ihretwegen um, und sie kehrten zu uns zurück, aber mit eurem Blut befleckt.
Wir sind frei, aber du hast in unserem Boden den Anspruch für unsere zukünftige Versklavung vergraben. Du bist
weder ein Gott noch ein Dämon. Wer gibt dir also das Recht, andere zu Sklaven zu machen? […] Wenn eines Tages
ein Tahitianer an eurer Küste landete und in einen eurer Felsen oder in die Rinde eines eurer Bäume ritzte: Dieses
Land gehört den Bewohnern von Tahiti - was würdest du davon halten? […] Derjenige, den du in Besitz nehmen
willst, der Tahitianer, ist dein Bruder. Beide seid ihr Söhne der Natur.“
Der Supplément au voyage de Bougainville enthält den bis dahin vielleicht schärfsten Angriff,
der von einem Vertreter der Aufklärung gegen den europäischen Kolonialismus vorgetragen
worden war. Diderot kritisiert mit einer für einen Mann seines Jahrhunderts erstaunlichen
Entschiedenheit die Verschränkung von wissenschaftlichen und kolonialpolitischen Interessen; er
erkennt darüber hinaus die destruktiven Auswirkungen, die sich selbst aus anfänglich friedlichen
Kontakten für das innere Gefüge der von den Europäern entdeckten Gesellschaften ergeben
sollten, und er durchschaut selbst die unterschwelligen erotischen und in Konfliktsituationen
häufig zu sadistischen Exzessen ausartenden motivationellen Komponenten der Entdecker und
Kolonisatoren. Gerade über dem grellen Kontrast zwisehen dem Verhalten der Entdeckten und
dem ihrer Entdecker gerät die heftige antikolonialistische Tirade des Greises zugleich aber auch
zu einer euphemistischen Selbstdarstellung der fremden Kultur, in der einerseits die aus der „soft-
primitivistischen“ Tradition der älteren Reiseliteratur bezogenen idealisierenden Attribute eine
Wiederbelebung erfahren, während in ihr andererseits von den bei Bougainville erwähnten
Schattenseiten: den grausamen Kriegsbräuchen, den Menschenopfern, der Priesterherrschaft und
vor allem den ausgeprägten Klassengegensätzen, nirgends die Rede ist. Das Fehlen dieser Züge
nur als Versuch der Beschönigung deuten zu wollen, hieße indes die ausgeklügelte formale
Struktur des Supplément verkennen. Denn anders als Bricaire de la Dixmérie legt Diderot dem
Repräsentanten der fremden Kultur nicht allein seine eigenen Auffassungen in den Mund,
sondern läßt den tahitischen Greis - wie es aus dem Kommentar hervorgeht, den A. im Anschluß
an dessen Rede gibt - die tahitische Kultur so beschreiben, wie sie einem europäischen
Beobachter zunächst erscheinen mußte: „Mir scheint diese Rede sehr ungestüm“, so bemerkt A.,
„doch unter irgendetwas unbegreiflich Schroffem und Wildem entdecke ich, so scheint mir,
europäische Ideen und Redewendungen.“ In der verkehrten Perspektive werden also die
Perspektiven ein zweites Mal vertauscht. Diderot distanziert sich damit aber ironisch von einem
Teil der soeben scheinbar noch von ihm selbst vertretenen Positionen. Ein entscheidender erster
Bruch zeichnet sich an dieser Stelle ab. Die Kritik am Kolonialismus bleibt. Doch das in der
Abschiedsrede des tahitischen Greises entworfene Bild Tahitis erweist sich hier bereits als
europäisches Wunschbild.
Ein in seinen Grundzügen ähnliches Konstruktionsprinzip liegt auch dem Dialog zwischen
Orou und dem Schiffskaplan zugrunde. Konfrontierte Diderot in der „Abschiedsrede des Greises“
die Friedfertigkeit der natürlichen Tahitianer mit der Aggressivität ihrer zivilisierten Entdecker, so
bildet nunmehr die den freizügigen Liebesbräuchen Tahitis gegenübergestellte zwanghafte
christliche Sexualmoral den Hauptangriffspunkt. Auch in diesem Abschnitt des Supplément
entwirft Diderot zunächst ein idealisiertes Bild Tahitis, um es sodann Zug für Zug wieder
aufzulösen. All die künstlichen Schranken der Moral, die in Europa so viele Verbrechen und übel
hervorrufen, seien den Tahitianern unbekannt - so hebt Orou seinem europäischen
Gesprächspartner gegenüber immer wieder hervor; auf dieser natürlichen und triebgerechten
Ordnung beruhe das harmonische, glückliche und friedfertige Zusammenleben des Inselvolkes.
Die Tahitianer, die sich „unter freiem Himmel und am hellen Tag fortpflanzen“, kennten kein
falsches Schamgefühl. Und auch jene Form der Ehe, die zwei Menschen für ewig aneinander
fesselt, sei ihnen unbekannt. Bei ihnen bestehe die Ehe lediglich aus dem gemeinsamen
Einverständnis, „dieselbe Hütte zu bewohnen und in demselben Bett zu schlafen, solange man
sich darin wohlbefindet“, und könne mit der gleichen Leichtigkeit, mit der sie eingegangen
worden sei, auch wieder aufgelöst werden. Die Frauen und die Mädchen gehörten bei den
Tahitianern ausnahmslos allen; selbst der Inzest stelle auf Tahiti nichts Skandalöses oder gar
Verbotenes dar. Tahiti sei mithin völlig frei von jenem „Despotismus der Liebe“, wie er in Europa
so viele Leidenschaften und Verwirrungen erzeugte.
Anders als in der „Abschiedsrede des Greises“ läßt es Diderot in diesem Teil des Supplément
bei der Konfrontation der unterschiedlichen kulturellen Verhaltensweisen und Standpunkte allein
nicht mehr bewenden. Schienen die Sichtweisen der Vertreter beider Kulturen, wie sie im ersten
Teil in der gegensätzlichen Beurteilung des Unternehmens Bougainvilles durch die beiden
Philosophen auf der einen und durch den tahitischen Greis auf der anderen Seite zum Ausdruck
kamen, noch unvereinbar miteinander, so nähern sie sich im Verlauf des Dialogs zwischen Orou
und dem Schiffskaplan allmählich einander an und kreisen schließlich gemeinsam um die Frage
nach einer gesellschaftlichen Ordnung, die den Triebansprüchen des Einzelnen ebenso gerecht
wird wie den Ansprüchen der Gemeinschaft.
Gegenüber der anfänglich geäußerten Behauptung, daß die ideale Gesellschaftsordnung der
Tahitianer allein auf natürlichen Grundlagen beruhe und keine künstlichen Schranken kenne,
vollzieht Diderot in diesem Zusammenhang eine weitere signifikative Kehrtwendung. Denn je
weniger sich der Schiffskaplan in der Lage sieht, seinen eigenen Standpunkt gegen die
vernunftgemäßen Argumente zu verteidigen, die Orou gegen die naturwidrigen christlichen
Moralvorschriften vorbringt, desto deutlichere Konturen gewinnt in seiner Darstellung zugleich
die tahitische Gesellschaft. Erschien sie zunächst noch in allem, was die Beziehungen zwischen
den Geschlechtern anbelangt, durch eine durch nichts begrenzte Freizügigkeit gekennzeichnet, so
ergibt sich nun, daß ihre Mitglieder gerade in diesem Bereich strengen Regulierungen
unterliegen. Auch die Tahitianer, von denen es eingangs noch hieß, sie folgten allein „dem reinen
Trieb der Natur“, leben den Ausführungen Orous zufolge in einer gesellschaftlich gesetzten
Ordnung. Sie richtet sich nach den Prinzipien des „allgemeinen Wohls und des besonderen
Nutzens“. Auch die Tahitianer kennen daher Gebote und Verbote. Sie beziehen sich insbesondere
auf die Sexualität. In ihrer scheinbaren Ungehemmtheit dient sie auf Tahiti nur einem einzigen
Ziel: dem der Bevölkerungsvermehrung. Jede sexuelle Betätigung aber, die sich diesem Ziel nicht
unterordnet, gilt ihnen als unzüchtig. So verbieten sie den Geschlechtsverkehr mit Frauen, die
sich in der Menstruation befinden oder wegen ihres vorgerückten Alters unfruchtbar sind, ebenso
wie den Geschlechtsverkehr zwischen Jungen und Mädchen, die die volle
Fortpflanzungsfähigkeit noch nicht erreicht haben. Auch auf Diderots Tahiti gibt es daher
Verbrechen und Strafen. Sie treffen jene Männer und Frauen, die gegen das eine große Gebot der
Vermehrung verstoßen haben und deshalb verbannt oder versklavt werden. Die Unterordnung der
Sexualität unter das Ziel des Bevölkerungswachstums bestimmt selbst noch die ästhetischen
Maßstäbe der Tahitianer:
„Die Frau, an der alle Blicke hängen, ist hier diejenige, die viele Kinder verspricht […]: tüchtige, gescheite, mutige,
gesunde und kräftige Kinder. Es gibt kaum etwas Gemeinsames zwischen der Venus von Athen und der von Tahiti;
die eine ist eine buhlende Venus, die andere ist eine fruchtbare Venus.“
Und auch die erstaunliche Gastfreundschaft der Tahitianer gegenüber den Europäern erhält auf
diese Weise eine Erklärung. Sie erweist sich unter dem gleichen Gesichtspunkt nur als kühles
bevölkerungspolltisches und eugenisches Kalkül:
„Soll ich dir ein Geheimnis enthüllen?“ - so wendet Orou sich an den Schiffskaplan: „Ihr kommt zu uns: wir
überlassen euch unsere Frauen und Töchter; ihr wundert euch darüber; ihr bezeugt uns dafür eine Dankbarkeit, die
uns zum Lachen bringt; ihr dankt uns dafür, obwohl wir dir und deinen Gefährten die höchste Aufgabe auferlegen.
Wir verlangten von dir kein Geld, wir stürzten uns nicht auf deine Waren, wir verachteten deine Erzeugnisse; aber
unsere Frauen und Töchter kamen zu dir und entzogen deinen Adern Blut. Wenn du eines Tages fortgehst, wirst du
uns Kinder hinterlassen. Ist diese Abgabe, die von deiner Person, von deiner eigenen Substanz erhoben wurde, deiner
Ansicht nach nicht ebensoviel wert wie eine andere? […] Obwohl wir kräftiger und gesünder sind als ihr, haben wir
doch bemerkt, daß ihr uns an Intelligenz übertrefft, und so haben wir einige unserer schönsten Frauen und Töchter
dazu bestimmt, den Samen einer Rasse zu empfangen, die besser ist als die unsere.“
In dieser in der Tat „eigenartigen Modifikation“, die das Idealbild der naturgemäßen und
triebgerechten Ordnung Tahitis hier mit einem Mal erfährt, meldet sich der bürgerliche Ökonom
Diderot zu Wort. Indem er die Sexualität bei den Tahitianern als auf ihre bloße
Fortpflanzungsfunktion reduziert erscheinen läßt, gibt er dem aus der aristokratischen Sicht
Bougainvilles noch als Selbstzweck aufgefaßten zügellosen Sinnengenuß der Tahitianer eine
überraschende nationalökonomische Wende. In dieser zweckgebundenen Form erweist sich die
Geschlechtstätigkeit der Inselbewohner in den Dienst einer vorbildlichen Bevölkerungspolitik
gestellt, deren Propagierung Diderot selbst als den Parteigänger einer zwischen den
entsprechenden Auffassungen der Merkantilisten und der Physiokraten oszillierenden
populationistischen Wirtschaftstheorie ausweist.
Hans Hinterhäuser hat in seiner detaillierten Untersuchung des Supplément darauf
hingewiesen, daß sich der breite Raum, den die Erörterung des Bevölkerungsprinzips in dieser
Schrift Diderots einnimmt, nicht zuletzt aus der langwierigen Auseinandersetzung zwischen den
Anhängern jener beiden im 18. Jahrhundert in Frankreich dominierenden Wirtschaftstheorien
über die nationalökonomische Bedeutung des Bevölkerungswachstums erklärt, eine Debatte, in
der Diderot auch schon in seinen früheren Schriften mehrfach Stellung bezogen hatte, ohne sich
jedoch für eine der beiden Parteien endgültig zu entscheiden. Während die Merkantilisten
entsprechend der Grundannahme ihrer Theorie, daß eine Steigerung des nationalen Reichtums
nur durch eine Verstärkung der industriellen Produktion und durch eine Erhöhung des
Außenhandelsvolumens zu erreichen sei, für staatliche Maßnahmen zur Erhöhung der
Bevölkerungszahl eintraten, um auf diese Weise ein starkes Angebot an Arbeitskräften zu sichern,
standen die Vertreter der physiokratischen Schule einer solchen künstlich forcierten
Bevölkerungspolitik zum Teil indifferent und zum Teil ablehnend gegenüber. Zunächst ein
Anhänger der merkantilistischen Theorie, hatte Diderot später die Ansichten der Physiokraten
übernommen, sich dann aber um 1768 unter dem Einfluß einer starken antiphysiokratischen
Fraktion innerhalb des engeren Kreises der Enzyklopädisten seinen alten populationistischen
Ansichten erneut zugewandt. Die entsprechenden Ausführungen des Supplément zeigen nun
allerdings, daß er spätestens zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Schrift von der
Wirtschaftstheorie des Merkantilismus bereits ebenso weit abgerückt war wie von der
Gegenposition der Physiokraten, scheint sich doch hinter der großen Bedeutung, die er den
Tahitianern dem nationalen Bevölkerungsreichtum zumessen läßt, die Einsicht zu verbergen, daß
weder die Waren- und Geldzirkulation noch, wie die Physiokraten meinten, der Ackerbau die
Quelle des Reichtums einer Nation bildet, sondern daß die menschliche Arbeitskraft selbst, und
zwar ihres jeweiligen Tätigkeitsbereichs ungeachtet, wertschöpfend sei. Diderots Tahitianer
nämlich erblicken in jedem Neugeborenen einen zukünftigen „Bauern, einen Fischer, einen Jäger,
einen Gatten, einen Vater“. Die Geburt eines jeden Kindes bedeutet für sie daher „Zuwachs an
Wohlstand für die Hütte, mehr Arme und Hände für Tahiti.“ Kinder sind aus diesem Grund die
einzige Mitgift, die eine Frau in die Ehe einbringt; trennen sich aber zwei Ehepartner, so werden
die während des gemeinsamen Zusammenlebens geborenen Kinder gerecht unter sie aufgeteilt;
darüber hinaus hat jeder Mann auf jedes vierte außerhalb der eigenen Ehe gezeugte Kind einen
Eigentumsanspruch, denn da die gesamte Inselbevölkerung ein Sechstel der Produkte des Landes
für den Unterhalt der Kinder und Alten aufbringt, ist „die Familie des Tahitianers umso reicher, je
zahlreicher sie ist“. Wie der menschliche Samen den Tribut, den Fremdlinge an die Tahitianer zu
entrichten haben, so bildet für sie das Kind Kapital und Tauschäquivalent in einem. Es ist daher
auf Tahiti „für sich selbst ein Gegenstand des Interesses und des Reichtums“. „Bei uns ist eine
Zirkulation von Männern, Frauen und Kindern, von Armen jedes Alters und Berufs entstanden,“ -
so steigert Diderot sich schließlich immer mehr in die Vorstellung einer sozialen Ordnung, deren
gesellschaftliche Synthesis allein der Austausch menschlicher Arbeitskraft verbürgt - „die eine
ganz andere Bedeutung hat als die Zirkulation eurer Waren, die ja nur das Produkt dieser Arme
sind.“
Die ökonomischen und gesellschaftlichen Transformationen einer Epoche, in der sich die alten
feudalen Abhängigkeitsverhältnisse in dem Maß auflösten, in dem mit der allmählichen
Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse der Austausch von Waren den
gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu bestimmen begann, haben beim Entwurf dieser
seltsamen utopischen Phantasmagorie unverkennbar Pate gestanden. Diderots Tahiti repräsentiert
eine Gesellschaftsform, deren Synthesis einerseits bereits der allgemeine Tausch bildet, in der
aber andererseits die noch den Feudalismus kennzeichnenden, auf der Naturalform der Arbeit und
auf der Abgabe von Naturalleistungen beruhenden persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse auf
egalitärer Grundlage insofern positiv aufgehoben erscheinen, als Subjekt und Objekt der
Zirkulation eines sind: Gegenstand des allgemeinen Tausches sind nicht die Produkte, sondern
die Produzenten selbst.
So wenig dieses seiner eigenen Imagination entsprungene und von der gesellschaftlichen
Erfahrung seiner Zeit geprägte Bild der tahitischen Gesellschaft der Wirklichkeit entsprach, so
modern mutet das Moment an kulturrelativistischer Reflexion an, das sich hinter Diderots
Zeichnung einer fremden Kultur verbirgt: Dem ersten Anschein nach eine „natürliche Ordnung“,
erweist sich die gesellschaftliche Ordnung Tahitis, sobald man sie aus der Nähe betrachtet, als
ebensowenig naturgegeben wie die Europas. Beide Gesellschaftsformen stellen vielmehr den im
einen Fall gelungenen, im anderen Fall gescheiterten Versuch dar, das zentrale Problem zu lösen,
das sich ausnahmslos allen menschlichen Gesellschaften im Verlauf der Geschichte stellte,
nämlich dem „allgemeinen Nutzen“ ebenso gerecht zu werden wie dem „besonderen Wohl“.
Diderot hat diese Einsicht, die in der Lage gewesen wäre, dem Verständnis fremder Kulturen
einen neuen Weg zu bahnen, jedoch nicht weiter verfolgt, ja, er fällt sogar wieder hinter sie
zurück, wenn er in Anlehnung an die beiden die anthropologische Diskussion seiner Zeit
bestimmenden Erklärungsmodelle die Tahitianer als ein Volk charakterisiert, „das weise genug
war, sich mit der Mittelmäßigkeit zu begnügen, oder glücklich genug, ein Klima zu bewohnen,
dessen Fruchtbarkeit ihm eine lange Periode des Schlummers gewährte, rege genug [assez actif],
um für die unbedingt lebensnotwendigen Bedürfnisse zu sorgen, und gleichzeitig träge genug
[assez indolent], als daß seine Unschuld, seine Ruhe und seine Glückseligkeit einen allzu
schnellen Fortschritt seiner Kenntnisse zu befürchten hätten“.
Mit diesem den abschließenden Rahmendialog zwischen A. und B. einleitenden Kommentar
verweist Diderot zugleich mit dem in der „Abschiedsrede des Greises“ entworfenen und unter
Verwendung herkömmlicher Vorstellungsmuster konstruierten ersten auch sein eigenes - im
Dialog zwischen Orou und dem Schiffskaplan gezeichnetes - zweites Wunschbild Tahitis in eine
ebenso weite räumliche wie zeitliche Ferne. Denn selbst wenn ein solches Volk, dessen Sitten,
wie A. überdies auch in diesem Fall mit ironischer Wendung anmerkt, „etwas zurechtgemacht,
etwas europäisiert erscheinen“, noch irgendwo auf der Erde existieren sollte, so gibt es doch für
den fortgeschritteneren Teil der Menschheit kein Zurück mehr, denn „sobald irgendwelche
äußeren Ursachen, wie zum Beispiel die Notwendigkeit, die Unfruchtbarkeit des Bodens zu
überwinden, den Scharfsinn des Menschen angeregt haben, führt ihn diese Anregung weit über
das Ziel hinaus, und sobald die Grenze des Bedürfnisses überschritten ist, wird man auf dem
grenzenlosen Ozean der Hirngespinste hinausgetrieben, dem man sich nicht mehr zu entziehen
vermag“. Anfänglich ein positives Gegenbild zur eigenen Gesellschaft, wird Tahiti für die beiden
Philosophen daher nur noch zum Anlaß einer allgemeinen Reflexion über den Widerspruch
zwischen der Natur des Menschen und der Natur der Gesellschaft, über die Unvereinbarkeit
zwischen dem Natur-, dem Staats- und dem Religionsgesetz sowie insbesondere über die - wie es
im Untertitel des Supplément bereits programmatisch hieß - „Unsitte, moralische Ideen an
gewisse physische Handlungen zu knüpfen, zu denen sie nicht passen“. Den seine Ausführungen
eingangs noch bestimmenden starren Oppositionsrahmen Schritt für Schritt auflösend, entwirft
Diderot im Verlauf dieses Gesprächs eine Theorie des zivilisatorischen Prozesses, in der Tahiti
und Europa nicht mehr als Repräsentanten zweier in Antwort auf dieselben Herausforderungen
entstandener alternativen Gesellschaftsformen erscheinen, sondern vielmehr einstehen für die
aufeinanderfolgenden Etappen der Gattungsgeschichte. So scharf auch die Angriffe sind, die
Diderot in diesem Zusammenhang gegen die „zivilisierte Gesellschaft“ vorbringt, gegen jene
„Gesellschaft genannte Maschine“, deren im Naturzustand noch „verstreute und isolierte
Triebfedern“ derart angeordnet wurden, „daß sie ständig gespannt blieben, unaufhörlich
Wirkungen und Gegenwirkungen ausübten, so daß unter der Herrschaft des Gesetzes an einem
einzigen Tag mehr Federn zerbrechen, als unter der Anarchie der Natur in hundert Jahren“, so
erweist sich die von beiden Philosophen immer wieder aufgeworfene Frage, welchem der beiden
Zustände der Vorzug zu geben sei, der „Anarchie der Natur“ oder dem „Joch“ der staatlichen
Ordnung, dem des Tahitianers, „der dem Anfang der Welt“ oder dem des Europäers, „der ihrem
Greisenalter so nahe steht“, letztlich doch als illusorisch. Diderot hatte die Antwort bereits
gegeben: Die harmonische Gesellschaftsordnung Tahitis ist an bestimmte klimatische
Voraussetzungen und natürliche Gegebenenheiten gebunden; sie steht überdies ein für ein
Stadium der Gattungsgeschichte, das Europa längst hinter sich gelassen hat. Und selbst wenn eine
Rückkehr in den Naturzustand möglich wäre, dann bliebe immer noch zu fragen, ob sie
überhaupt erstrebenswert sei, denn „mir ist schon der Gedanke gekommen“, so mutmaßt A., „daß
die Summe des Guten und des Schlechten zwar von Individuum zu Individuum schwanke, das
Glück oder Unglück einer jeden Tierart aber bestimmte Grenzen habe, die sie nicht überschreiten
kann“. Doch auch dieser, das vielbeschworene Glück der Tahitianer im Grunde in Frage
stellenden Überlegung ungeachtet, steht fest, daß sich die Ordnung Tahitis nicht auf Europa
übertragen läßt. Der einmal in Gang gesetzte und aus der Notwendigkeit geborene
Geschichtsprozeß ist irreversibel. „Was sollen wir also tun?“, fragt A., und Diderots endgültige
Antwort läßt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig:
„Wir werden gegen die unsinnigen Gesetze so lange reden, bis man sie reformiert, und in der Zwischenzeit werden
wir uns ihnen unterwerfen. Wer eigenmächtig ein schlechtes Gesetz übertritt, ermächtigt jeden anderen, auch gute
Gesetze zu übertreten. Ist man mit den Verrückten verrückt, so bringt dies weniger Unannehmlichkeiten ein als wenn
man ganz allein vernünftig ist […]. Ahmen wir also den guten Kaplan nach, der in Frankreich Mönch, in Taihiti
dagegen Wilder war.“
Und A. fügt zustimmend hinzu:
„Man ziehe den Rock des Landes an, das man besucht, und bewahre den Rock des Landes auf, aus dem man
stammt.“
So überraschend der Konformismus dieser Schlußwendung im Blick auf das zuvor Gesagte
auch erscheinen mag - Diderot spricht mit ihr nur die Schlußfolgerung offen aus, die auch schon
am Ende von Bougainvilles Bericht über Tahiti stand. Für den Einzelnen mag es zwar zeitweilig
die Möglichkeit einer Flucht geben, für Europa insgesamt aber liegt das „wahre Eutopia“ nicht in
diesem oder jenem entlegenen Winkel der Erde. In Anbetracht der Unumkehrbarkeit des
Geschichtsprozesses wird sogar die Frage gleichgültig, ob Tahiti für sich selbst das „wahre
Eutopia“ sei oder nicht. Die Realität der fremden Gesellschaft ist im Grunde gar nicht von
Interesse. Von Interesse ist lediglich die Vorstellung einer besseren Gesellschaftsordnung, die sie
aufgrund ihrer Andersartigkeit zu liefern vermag. Diderot kann daher über ihre Schattenseiten
getrost hinwegsehen, denn nicht ihre Widersprüche, sondern die der eigenen Gesellschaft sind es,
denen das Augenmerk zu gelten hat. Für ihre Kritik gibt die fremde Gesellschaft lediglich die
Folie ab. Da aber eine Rückkehr in die paradiesischen Urzustände nicht möglich ist, wird es
unwichtig, ob sie irgendwo auf der Erde noch existieren. Dennoch bedarf es der Vorstellung
solcher Zustände - und damit schließt Diderot sich Rousseau an -, um die Gegenwart richtig
beurteilen zu können. Wenn es die gerechte Ordnung tatsächlich gibt, so ist sie für Europa weder
in der Vergangenheit noch im Raum zu suchen. Sie liegt in der Zukunft.
Der nüchterne Realitätssinn siegt so über den exotischen Wunschtraum, der sich dabei aber
zugleich als das erweist, was er tatsächlich ist: als bloßer Wunschtraum, nicht aber als eine hier
und jetzt zu verwirklichende Alternative. Dennoch vermag die Realität den Wunschtraum nicht
vollständig zu zerstören. In der Gegenwart negiert, erscheint er in der Zukunft aufgehoben. Bei
aller Skepsis gegenüber dem zivilisatorlschen Prozeß, tritt damit aber auch bei Diderot die Idee
des Fortschritts an die Stelle des rückwärtsgewandten Primitivismus. In seinem Kernteil eine der
letzten großen Utopien des Raumes enthaltend, mündet der Supplément mit jener überraschenden
Schlußlösung in eine konsequente Absage an den räumlichen Utopismus überhaupt. Dem ersten
Anschein nach ein weiterer Verherrlicher des Guten Wilden, verweist Diderot die Legende vom
Guten Wilden damit endgültig in das Reich der Imagination.
In seiner inneren Gebrochenheit dokumentiert der Supplément au voyage de Bougainville so
den Umschlag von der Utopie in die Uchronie des späten 18. und des 19. Jahrhunderts.
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PersonenregisterAcosta, J.
Adorno, Th. W.
Agrippa v. Nettesheim
d'Alembert, J.
Alexandre, N.
Anghiera, P. M. v.
Aotourou f.
Ariés, P.
Aristoteles
Atkinson, G.
Bachofen, J. J.
Baltimore, G. C.
Banks, J.
Bayle, P.
Beaglehole, J. C.
Behn, A.
Bergerac, C. de
Bernard, J. F.
Bering, V.
Bitterli, U.Boas, G.
Bonnet, C.
Bossuet, J. -B.
Boucher, F.
Bougainville, J. P. de
Bougainville, L. -A. de
Boulainvilliers, H. de
Brant, S.
Bricaire de la Dixmérie, N.
Brosses, C. de
Buchan, J.
Buffier, C.
Buffon, G. L. de
Byron, J.
Campanella, T.
Cartier, J.
Cato
Chardin, J.
Charievoix, F. X.
Chinard, G.
Cicero
Clairaut, A. C.
Colbert, J. B. de
Commerson, Ph.
Conrad, J.
Cook, J.
Cooper, J. F.
Coréal, F.
Cornwallis
Dalrymple, A.
Defoe, D.
Delille, J.
Demosthenes
Derrida, J.
Descartes, R.
Diderot, D.
Drake, Fr.
Dryden, J.
Dubois, G.
Du Bos, J. -B.
Duchet, M.
Duerr, H. P.
Du Fresne, M.
Dufresny
Du Tertre, J. B.
Eccles, J. W.
Egede, H.
Elias, N. ,
Engel
Erasmus v. Rotterdam
Fairchild, H. N.
Fénélon
Fenton, W. N.
Ferdinand II. v. Aragon
Ferguson, A.
Fesche, Ch. -P.
Fetscher, .
Fleurieu, Ch. -P. de
Foigny, G. de
Fontenelle, B. de
Forster, G.
Forster, J. R.
Foucault, M.
Fragonard, J. H.
Freud, S.
Friederici, G.
Frontenac, L. de
Garnier, J.
Gauguin, P.
Gehlen, A.
Gennep, A. van
Giraldi, G.
Gómara, L.
Graffigny, M. de
Grimm, F. M. v.
Grotius, H.
Gueudeville, N.
Harrison, J.
Hauser, A.
Hawkesworth, J.
Hegel, G. W. F.
Heinrich IV. v. Frankreich
Heinrich VIII. v. England
Helvétius, C. A.
Herakleides Ponticus
Herder, G.
Herodot , ff., f.
Hinterhäuser, H.
Hobbes, Th.
d'Holbach, P. H.
Homer
Isabella v. Kastilien
Jossigny
Kälin, K.
Kalm, P.
Kant, I.
Karl IX. v. Frankreich
Kippenberg, H. G.
Kolb, P.
Kolumbus, Ch. f.
Kondiaronk
Krader, L.
La Condamine, Ch. M. de
La Créquiniére
Lafitau, J. F.
Lafitau, P. F.
Lahontan, L. A. de
Lalande
Landi
Lang, A.
La Pérouse, J. F. de
Las Casas, B. de f.
Le Beau
Leclerc, G.
Leibniz, G. W.
Lejeune, P.
Le Loutre
Le Maire, J.
Lé, J. de
Lescarbot, M.
Lévi-Strauss, Cl.
Linné, C. v.
Locke, J.
Long, J.
Lovejoy, A.
Ludwig XIV. v. Frankreich
Ludwig XV. v. Frankreich
Ludwig XVI. v. Frankreich
Marana, J. P.
Magellan, F.
Martin-Allanic, J. -E.
Marx, K.
Maupertuis, L. M. de
Mather, C.
Meek, R. L.
Meinecke, Fr.
Mittelstraß, J.
Moebus, J.
Montaigne
Montesquieu, Ch. L. de
Morgan, L.
Morus, Th.
Mühlmann, W. E.
Müller, W.
Nassau-Siegen, Ch. v.
Newton
Nicolaus Damascenus
Orléans, Louis d'
Orléans, Philippe, d’
Penn, W.
Pereire, I.
Pigafetta, A.
Platon
Pocahontas
Poirier, J.
Poissonier
Prévost, A. -F.
Purchas, S.
Quirös, P. F. de
Raleigh, W.
Raynal, G. F. T.
Roggeven, J.
Rolfe, J.
Rosseau, J. J.
Sade, D. A. F. de
Sagard, G.
Saint-Simon, L. de
Schmidt, W.
Schröter, J. F.
Shorter, E.
Sinclair, A.
Smith, A.
Smith, J.
Spaemann, R.
Starobinski, J.
Steuart, G.
Strabon
Strauss, L.
Swift, J.
Tacitus
Tavernier, J. B.
Tersen, E.
Thevet, A.
Turgot, A. R. J.
Tylor, E. B.
Upfield, A.
Vairasse d'Allais, D.
Véron, P. A.
Vespucci, A.
Villegagnon, N. D. de
Voltaire, F. M. A.
Wallis, S.
Watteau, A.
Wissler, C.
Xenophon
Zilsel, E.
Zinser, H.

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