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Dieses eBook ist nicht seitenkonkordant zur angegebenen Ausgabe, das
Layout wurde jedoch – sofern dies möglich war – beibehalten. Fußnoten
wurden an ihrer im Original angegebenen Stelle eingefügt. Optimiert
für doppelseitige Anzeige. Vielen Dank an DubSchmitz für die Korrek-
tur. – Bernd, Juni 
edition suhrkamp 
Das Buch von Pierre Bourdieu über das Fernsehen und dessen Wirkungs-
weise war selbst ein Fernsehereignis.
Der Autor hielt zwei Vorlesungen am Collège de France über Struktur und
Wirkung des Fernsehens, die vom Fernsehen ausgestrahlt wurden. In der
ersten Vorlesung stellte er die unsichtbaren Zensurmechanismen heraus, die
auf dem Bildschirm gelten, und deckte damit die Geheimnisse der Kunst-
produkte dieses Mediums auf, ihre Bilder und Formulierungen. In der zwei-
ten Vorlesung erklärte Pierre Bourdieu, in welcher Weise das Fernsehen, das
eine zentrale Stellung innerhalb des Journalismus besetzt, den Charakter
der Diskurse beeinflußt und verändert hat: in der bildenden Kunst, Litera-
tur, Philosophie und Politik, ja selbst in Jurisdiktion und Wissenschaft - und
zwar dadurch, daß auch auf diese Gebiete teilweise die Logik der Einschalt-
quoten übergegriffen und die demagogische Unterwerfung unter die Erfor-
dernisse des kommerziellen Plebiszits stattgefunden hat. Pierre Bourdieu
war Professor am Collège de France. Er verstarb am . Januar . Von
ihm liegen im Suhrkamp Verlag vor: Homo academicus (stw ); Die feinen
Unterschiede (stw ); Rede und Antwort (es ); Die politische Ontologie
Martin Heideggers (es ); Sozialer Raum und »Klassen« (stw ); Sozialer
Sinn (stw ); Soziologische Fragen (es ); Zur Soziologie der symbolischen
Formen (stw ); Praktische Vernunft (es ); Reflexive Anthropologie (zu-
sammen mit Loic J. D. Wacquant).
Pierre Bourdieu
Über das Fernsehen
Aus dem Französischen
von Achim Russer

Suhrkamp
Titel der Originalausgabe:
Sur la télévision.
Das Buch erschien als Band 
der von Pierre Bourdieu herausgegebenen Reihe
»Liber - Raison d‘agir«.

edition suhrkamp 


Erste Auflage  © Liber - Raison d‘agir 
© der deutschen Ausgabe
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen,
auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,
vervielfältigt oder verbreitet werden.
Satz: Jung Satzcentrum, Lahnau
Druck: Nomos Verlagsgesellschaff, Baden-Baden
Umschlag gestaltet nach einem Konzept
von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
Printed in Germany
      -      
Inhalt

Zwei Fernsehvorträge 9

Vorbemerkung 10

Das Fernsehstudio und seine Kulissen 15

Die unsichtbare Struktur und ihre Auswirkungen 51

Angaben zu den beiden Fernsehvorträgen 90

Im Banne des Journalismus 97

Die Olympischen Spiele 115

Nachwort
Journalismus und Politik 121
Zwei Fernsehvorträge
Vorbemerkung1

Um über die übliche Hörerschaft des Collège de France  hin-


aus eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, habe ich mich
entschlossen, die beiden folgenden Vorträge im Fernsehen
zu zeigen. Ich bin nämlich der Auffassung, daß das Fernse-
hen aufgrund der unterschiedlichen Mechanismen, die ich
kurz beschreiben werde – eine vertiefte, systematische Un-
tersuchung hätte viel mehr Zeit erfordert –, für verschiede-
ne Sphären der kulturellen Produktion, für Kunst, Literatur,
Wissenschaft, Philosophie, Recht, eine sehr große Gefahr
bedeutet; ich meine sogar, daß es in Gegensatz zu dem, was
gerade verantwortungsbewußte Journalisten vermutlich in
gutem Glauben denken und sagen, eine nicht weniger gro-
ße Gefahr für das politische und demokratische Leben dar-
stellt. Ich könnte das leicht nachweisen, wenn ich mir die
Behandlung vornähme, die das Fernsehen und in seinem

 Dieser Text stellt die überarbeitete Transkription der Aufzeichnung


zweier Fernsehsendungen dar, die am . März  im Rahmen einer
Reihe vom Collège de France produzierter und vom Privatsender Paris
Premiere im Mai  ausgestrahlter Kurse entstanden (Sur la television
und Le champ journalistique et la télévision, Collège de France – CNRS
audiovisuel). Der anschließende Text (der ursprünglich ein dem Einfluß
des Fernsehens gewidmetes Heft der Actes de la recherche en sciences socia-
les einleitete) resümiert die ematik der Vorträge in stärker begrifflich
orientierter Sprache.
 Das  gegründete Collège de France stellt heute den Gipfel der in-
stitutionalisierten Wissenschaft m Frankreich dar, ein Pantheon von
Nobelpreisträgern (in den Naturwissenschaften) und anderer Leuchten
ihres jeweiligen Faches. Seit  hat Pierre Bourdieu hier den Lehrstuhl
für Soziologie inne. (A. d. Ü.)
Gefolge die Presse um der Steigerung von Einschaltquoten
und Auflagen willen den Urhebern von fremdenfeindlichen
und rassistischen Äußerungen und Taten angedeihen las-
sen, oder die Zugeständnisse aufzeigte, die es tagtäglich
einer national beschränkten, um nicht zu sagen nationalis-
tischen Auffassung von der Politik macht. Für den Fall, daß
ich verdächtigt werde, ausschließlich französische Beson-
derheiten hochzuspielen, möchte ich auf die tausend patho-
logischen Züge des amerikanischen Fernsehens verweisen,
etwa auf die Behandlung des Prozesses gegen O.J. Simpson
in den Medien oder darauf, wie kürzlich eine simpler Fall
von Totschlag zum »Sexualverbrechen« aufgebauscht und
damit eine ganze Reihe unkontrollierbarer juristischer
Konsequenzen ausgelöst wurde. Am besten aber werden die
durch schrankenlosen Wettbewerb um die Einschaltquote
ausgelösten Gefahren von dem Vorfall illustriert, der sich
kürzlich zwischen Griechenland und der Türkei ereignete:
Nachdem ein privater Fernsehsender zur Mobilisierung
für das winzige, unbewohnte Eiland Imia aufgerufen und
entsprechende kriegerische Parolen verlautbart hatte, zogen
die anderen privaten Fernseh- und Rundfunkanstalten in
Griechenland nach und überboten sich, gefolgt von der
Tagespresse, in nationalistischen Delirien; aufgrund dersel-
ben Logik der Schlacht um die Einschaltquote legten sich
daraufhin die türkischen Fernsehanstalten und Zeitungen
ins Zeug. Griechische Soldaten landeten auf dem Inselchen,
Flottenverbände wurden verlagert, ein Krieg mit knapper
Not vermieden. Vielleicht liegt das Neue an den Explosio-
nen von Fremdenhaß und Nationalismus in der Türkei und
in Griechenland, aber auch im ehemaligen Jugoslawien, in
Frankreich und andernorts wesentlich allein in den von
den modernen Kommunikationsmitteln gebotenen Mög-
lichkeiten, diese primitiven Leidenschaften auszubeuten.
Da ich meinen Kurs als Eingriff konzipierte, habe ich
mich bemühen müssen, dem zu entsprechen, was ich mir
vorgenommen hatte, und mich so auszudrücken, daß je-
dermann mich verstehen konnte. Dies hat mich in mehr
als einem Fall zu Vereinfachungen oder approximativen
Ausführungen gezwungen. Um das Wesentliche, das heißt
das gesprochene Wort, in den Vordergrund zu rücken, habe
ich mich im Einvernehmen mit dem Produzenten und im
Unterschied von (oder in Gegensatz zu) dem, was sonst im
Fernsehen gang und gäbe ist, entschlossen, alle formalen
Spielereien bei Bildeinstellung oder Aufnahmetechnik zu
meiden und auch auf Illustrationen – Auszüge aus Sendun-
gen, Faksimiles von Dokumenten, Statistiken usw. – zu
verzichten: Sie hätten nicht nur kostbare Zeit in Anspruch
genommen, sondern womöglich auch die Linie argumen-
tierender Beweisführung verwischt, an die ich mich halten
wollte. Der Kontrast zu dem gewöhnlichen Fernsehen, dem
Gegenstand der Untersuchung, und zwar im Sinne einer
Selbstbehauptung des analytischen und kritischen Dis-
kurses, war gewollt, mochte er auch die pedantischen und
schwerfälligen, didaktischen und dogmatischen Züge einer
professoralen Vorlesung annehmen. Wie es heißt, wird bei
politischen Diskussionen in den Vereinigten Staaten darauf
geachtet, daß die Wortmeldungen sieben Sekunden in der
Regel nicht überschreiten. Angesichts solcher Tendenzen
bleibt die auf Argumenten aufgebaute öffentliche Rede eine
der verläßlichsten Formen des Widerstands gegenüber Ma-
nipulation und ein Ausdruck von Gedankenfreiheit.
Ich weiß wohl, daß die Kritik durch den Diskurs, auf die
ich mich beschränken muß, nichts weiter als ein Notbehelf
ist, ein Substitut, und weniger effizient und unterhaltsam
als eine echte Kritik des Bildes durch das Bild, wie man sie
hier und da findet, von Jean-Luc Godard (in Tout va bien,
Ici et ailleurs oder Comment ça va) bis hin zu Pierre Carles.
Ich weiß auch, daß, was ich tue, die Fortsetzung und Er-
gänzung des Kampfes darstellt, den alle um die »Unabhän-
gigkeit ihres Kommunikationskodes« bemühten Film- und
Fotoproduzenten führen, insbesondere – ich muß ihn noch
einmal zitieren – Jean-Luc Godard, dessen Analyse einer
Fotografie Joseph Krafts und ihrer Verwendung ein Muster
kritischer Reflexion über Bilder darstellt. Und ich könnte
mein eigenes Programm mit den Worten dieses Regisseurs
formulieren: »Die Arbeit bestand darin, sich politisch (ich
würde sagen: soziologisch) mit Bildern und Tönen und
ihren Beziehungen auseinanderzusetzen. Sie bestand darin,
nicht mehr zu sagen: >Das ist ein genaues Bild<, sondern:
>Das ist genau genommen ein Bild<; nicht mehr zu sagen:
>Das ist ein Offizier der Nordstaaten auf einem Pferd<, son-
dern: >Das ist ein Bild eines Pferdes und eines Offiziers<.«
Ohne mich allzu großen Illusionen hinzugeben, möchte
ich wünschen, daß meine Untersuchungen nicht als »An-
griffe« gegen die Journalisten und das Fernsehen aufgefaßt
würden, zu denen mich irgendeine nostalgische Sehnsucht
nach einem Kulturfernsehen im Stil der »Télé Sorbonne« frü-
herer Zeiten triebe, oder auch eine ebenso sterile wie regres-
sive Ablehnungshaltung gegenüber dem, was das Fernsehen
zum Beispiel durch die Ausstrahlung mancher Reportagen
trotz allem zustande bringt. Obwohl ich alle Gründe habe
zu befürchten, daß meine Untersuchungen vor allem die
narzißtische Selbstgefälligkeit eines Journalismus bedienen,
der dazu neigt, sich selbst in pseudokritischer Haltung zu
beäugen, hoffe ich, denen Werkzeuge oder Munition zu
liefern, die in diesem Bereich dafür kämpfen, daß, was ein
hervorragendes Instrument direkter Demokratie hätte wer-
den können, sich nicht endgültig in ein Mittel symbolischer
Unterdrückung verwandle.

Zusatz des Übersetzers

Die in den folgenden Fernsehvorträgen genannten Grö-


ßen der Medienszene kennt in Frankreich jedes Kind; sie
bedurften daher so wenig einer Vorstellung wie etwa ein
Reich-Ranicki oder ein Rudolf Augstein in Deutschland.
Jenseits der Landes-(und Sprach-)Grenzen sind die meisten
von ihnen dafür um so unbekannter. Dem Übersetzer er-
schien es daher angebracht, das Literaturverzeichnis zu den
Vorträgen um ein Personenverzeichnis zu ergänzen, das
den deutschsprachigen Lesern mindestens eine umrißhafte
Vorstellung von den erwähnten Mediengrößen vermittelt:
weniger, weil es um sie als Individuen ginge (das Gegenteil
ist der Fall), als weil ihre publizistische Machtstellung für
die anderer Mediengewaltigen in anderen Ländern stehen
mag. Siehe S. ff.
Erster Vortrag
Das Fernsehstudio und seine Kulissen

Ich möchte hier im Fernsehen eine Reihe von Fragen zum


Fernsehen aufwerfen. Eine etwas paradoxe Absicht, denn
ich glaube nicht, daß man im Fernsehen viel sagen kann,
zumal nicht über das Fernsehen. Wenn es aber wahr ist,
daß man im Fernsehen nichts sagen kann, sollte ich dann
nicht mit vielen der größten Intellektuellen, Künstler und
Schriftsteller daraus den Schluß ziehen, es gar nicht erst zu
versuchen?
Mir scheint, man braucht diese krasse Alternative »alles
oder nichts« nicht hinzunehmen. Ich glaube, es ist wich-
tig, im Fernsehen zu sprechen – aber unter bestimmten
Voraussetzungen. Dank der audiovisuellen Abteilung des
Collège de France verfüge ich heute über ganz außergewöhn-
liche Voraussetzungen: Erstens ist meine Redezeit nicht
begrenzt; zweitens zwingt mir niemand ein ema auf
(ich habe mich selbst dafür entschieden und kann meine
Entscheidung immer noch umstoßen); drittens sitzt nicht,
wie in den üblichen Sendungen, jemand da, der mich im
Namen der Technik, der »Zuschauer-denen-man-erklären-
muß«, der Moral, der Schicklichkeit usw. zur Ordnung
ruft. Also eine ganz ungewöhnliche Situation, besitze
ich doch, um mich altmodisch auszudrücken, eine ganz
unübliche Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel.
Indem ich unterstreiche, was meine Voraussetzungen an
Außergewöhnlichem haben, sage ich schon etwas über die
gewöhnlichen Voraussetzungen, unter denen man sonst im
Fernsehen sprechen muß.
Warum aber, wird man einwenden, wird trotz allem
akzeptiert, unter den gewöhnlichen Voraussetzungen in
Fernsehsendungen aufzutreten? Eine sehr wichtige Frage,
und trotzdem wird sie von der Mehrzahl der Forscher, der
Wissenschaftler, der Schriftsteller, die an solchen Sendun-
gen teilnehmen, nicht gestellt – von den Journalisten ganz
zu schweigen. Daß diese Frage nicht gestellt wird, muß
man, wie mir scheint, unbedingt in Frage stellen. Meines
Erachtens verrät derjenige, der eine solche Teilnahme ak-
zeptiert, ohne sich die Frage zu stellen, ob er überhaupt et-
was wird sagen können, deutlich, daß er nicht kommt, um
etwas zu sagen, sondern aus ganz anderen Gründen, und
zwar: vor allem um sich zu zeigen und gesehen zu werden.
«Sein«, sagt Berkeley, »ist wahrgenommen werden.« Für
manche unserer Philosophen (und unserer Schriftsteller)
ist Sein: im Fernsehen wahrgenommen werden, von den
Journalisten wahrgenommen werden, von ihnen, wie man
so sagt, gern gesehen werden (was zahlreiche Kompromisse
und Kompromittierungen mit sich bringt) – und tatsäch-
lich können sie kaum davon ausgehen, durch ihr Werk auf
Dauer zu existieren, so daß sie sich gezwungen fühlen, so
oft wie möglich auf dem Bildschirm zu erscheinen, also in
regelmäßigen und möglichst kurzen Abständen Schriften
zu publizieren, die, wie Gilles Deleuze bemerkt hat, haupt-
sächlich verfaßt werden, um deshalb Einladungen zu Fern-
sehsendungen zu erhalten,
Diese Präambel erscheint vielleicht ein wenig lang, aber
ich finde es wirklich wünschenswert, daß die Künstler,
Schriftsteller und Wissenschaftler sich ausdrücklich – und
womöglich gemeinsam, damit nicht jeder es nur mit sich
selbst abmachen muß – die Frage stellen, ob man Einla-
dungen zu Fernsehsendungen annimmt oder nicht, ob man
Bedingungen damit verbindet oder nicht, usw. Mir liegt
sehr daran (mag dies auch ein Wunschtraum bleiben), daß
sie dieses Problem angehen, und zwar gemeinsam, daß sie
Verhandlungen mit Fachjournalisten und anderen aufzu-
nehmen versuchen, um zu einer Art vertraglicher Abma-
chung zu gelangen. Selbstverständlich geht es nicht darum,
die Journalisten zu verurteilen oder zu bekämpfen, die unter
den Zwängen, die auszuüben sie genötigt sind, häufig ge-
nug selbst leiden. Ganz im Gegenteil: Es geht darum, sie an
Überlegungen zu beteiligen, die darauf abzielen, Mittel zur
gemeinsamen Überwindung der bedrohlichen Instrumen-
talisierung ausfindig zu machen.
Die schlichte, Weigerung, sich überhaupt im Fernsehen
zu äußern, scheint mir nicht vertretbar. Ich denke sogar,
daß man in bestimmten Fällen förmlich dazu verpflichtet
ist – allerdings müssen vernünftige Voraussetzungen dafür
gegeben sein. Bei der Entscheidung ist das Spezifische des
Instruments Fernsehen in Rechnung zu stellen. Wir haben
es hier mit einem Instrument zu tun, das jedenfalls theore-
tisch die Möglichkeit gibt, jedermann zu erreichen. Daher
sind ein paar Vorfragen zu berücksichtigen: Geht das, was
ich zu sagen habe, jeden an? Bin ich bereit, meine Rede
formal so zu gestalten, daß alle sie verstehen? Verdient sie,
von allen verstanden zu werden? Mehr noch: Soll sie über-
haupt von allen verstanden werden? Eine Aufgabe gerade
der Forscher und Wissenschaftler – und vor allem vielleicht
der Sozialwissenschaftler – besteht darin, die Erträge ih-
rer Forschung allen zugänglich zu machen. Wir sind, wie
Husserl sagte, »Beamte der Menschheit«, vom Staat bezahlt,
um etwas aus dem Bereich der Natur oder der Gesellschaft
ans Licht zu bringen, und es gehört, wie mir scheint, zu
unseren Verpflichtungen, das Entdeckte offenzulegen. Ich
habe mich immer bemüht, die Frage der Teilnahme oder
Nichtteilnahme an einer Sendung von der Beantwortung
dieser Vorfragen abhängig zu machen, und würde mir wün-
schen, daß alle, die vom Fernsehen eingeladen werden, sie
sich stellen oder nach und nach verpflichtet werden, sie sich
zu stellen, weil die Zuschauer und Fernsehkritiker sich fra-
gen, sobald einer von ihnen auf dem Bildschirm erscheint:
Hat er etwas zu sagen? Sind die Voraussetzungen so, daß er
sich verständlich machen kann? Verdient das, was er sagt,
hier geäußert zu werden? Mit einem Wort: Was macht er
da eigentlich?

Eine unsichtbare Zensur

Um auf das Wesentliche zurückzukommen: Ich habe zu


Anfang vorgebracht, daß mit dem Auftritt auf dem Bild-
schirm eine regelrechte Zensur verbunden ist, ein Verlust an
Autonomie, was unter anderem daran liegt, daß das ema
und die Voraussetzungen vorgegeben sind, unter denen
etwas mitgeteilt werden kann, und vor allem, daß die be-
schränkte Redezeit derart einengt, daß sehr wahrscheinlich
gar nichts gesagt werden kann. Man wird von mir erwarten,
daß ich diese Zensur, der nicht nur die Studiogäste unterlie-
gen, sondern auch die Journalisten, die mit dazu beitragen,
daß sie ausgeübt wird, politisch nenne. Tatsächlich gibt es
politische Eingriffe, gibt es politische Kontrolle (nament-
lich vermittels der Besetzung von Führungspositionen);
und gewiß ist vor allem in Zeiten wie der heutigen, in der
eine Reservearmee für die Fernseh- und Rundfunkmetiers
in Bereitschaft steht und eine sehr große Stellenunsicher-
heit herrscht, die Neigung zu politischem Konformismus
groß. Noch bevor man sie zur Ordnung rufen muß, beugen
sich die Menschen, einer bewußten oder unbewußten Form
von Selbstzensur.
Es existieren daneben ökonomische Zensurinstanzen.
Tatsächlich geben letzten Endes ökonomische Zwänge beim
Fernsehen den Ausschlag. Aber man darf sich nicht damit
begnügen zu sagen, daß die Vorgänge bei den Fernsehsen-
dern von den Leuten bestimmt werden, die sie besitzen, von
den Firmen, die dort Werbespots bezahlen, vom Staat, der
Subventionen vergibt. Wenn man von einem Fernsehkanal
nichts wüßte als den Namen des Eigentümers, den Anteil
der unterschiedlichen Werbeeinblendungen am Budget und
die Höhe der Subventionen, verstünde man noch nicht viel.
Dennoch ist es nicht unwichtig, an diese Zusammenhänge
zu erinnern. Es ist nicht belanglos zu wissen, daß NBC der
General Electric gehört (was heißt, daß bei eventuellen Inter-
views mit Anrainern von Atomkraftwerken wahrscheinlich
... und übrigens würde niemand auf die Idee kommen...),
daß CBS Westinghouse gehört, daß ABC Disney gehört und
TF Bouygues gehört, was über eine ganze Reihe von Ver-
mittlungsschritten durchaus seine Folgen hat. Klarerweise
wird eine französische Regierung, die weiß, daß TF für
Bouygues steht, bestimmte Schritte gegen Bouygues nicht
unternehmen. Hinter diesen altbekannten, abgeklapperten
Tatsachen, die noch die primitivste Kritik wahrnimmt, ver-
stecken sich aber anonyme, unsichtbare Mechanismen, über
die auf vielerlei Art eine Zensur ausgeübt wird, die aus dem
Fernsehen ein phantastisches Instrument zur Aufrechter-
haltung der symbolischen Ordnung macht.
Hier muß ich einen Moment innehalten. Soziologische
Analysen rufen oft ein Mißverständnis hervor: Wer selbst
zum Untersuchungsgegenstand gehört – in diesem Fall die
Journalisten -, neigt dazu, das Aussprechen, das Entschlei-
ern von Mechanismen als ein gegen Personen gerichtetes
Denunzieren aufzufassen, als »Angriffe«, wie man so sagt,
als persönliche, ad hominem geführte Attacken (dabei
bräuchte der Soziologe nur ein Zehntel von dem zu zi-
tieren, was er hört, wenn er mit Journalisten spricht, über
die lukrativen Einladungen z. B., die sie ihrer Bekanntheit
verdanken, oder über das zu Recht so genannte »Fabrizie-
ren« von Sendungen, um von denselben Journalisten der
Parteilichkeit und des Mangels an Objektivität bezichtigt
zu werden). Die Menschen mögen es im allgemeinen nicht,
als Objekte aufgefaßt, objektiviert zu werden, und die Jour-
nalisten mögen es weniger als irgendeiner. Sie fühlen sich
als Zielscheibe, aufgespießt, wo doch die Untersuchung
eines Milieus, je weiter sie fortschreitet, die Beteiligten von
ihrer Verantwortlichkeit losspricht – was nicht heißt, daß
man alles entschuldigt; und je besser man versteht, wie es
funktioniert, um so besser versteht man auch, daß die Be-
teiligten manipuliert sind und Manipulatoren zugleich. Sie
manipulieren sogar sehr oft um so besser, wenn sie selbst
manipuliert sind, ohne es zu wissen. Ich hebe diesen Punkt
hervor, obwohl ich weiß, daß, was ich sage, trotz allem als
persönliche Kritik aufgefaßt werden wird – eine Reaktion,
mit der man sich auch eine Analyse vom Leibe halten kann.
Ich glaube sogar, daß das Hochspielen von Skandalen, von
Taten und Untaten dieses oder jenes Moderators oder der
exorbitanten Bezüge bestimmter Fernsehproduzenten in-
sofern dazu beitragen kann, vom Wesentlichen abzulenken,
als die Korruptheit von Personen jene strukturelle Korrupt-
heit maskiert (darf man da aber noch von Korruptheit spre-
chen?), die über Mechanismen wie den Kampf um Markt-
anteile das gesamte Spiel beeinflußt und die ich versuchen
will zu analysieren.
Ich möchte also eine Reihe von Mechanismen ausein-
andernehmen, die dazu führen, daß das Fernsehen eine
besonders schädliche Form symbolischer Gewalt darstellt.
Die symbolische Gewalt ist eine Gewalt, die sich der still-
schweigenden Komplizität derer bedient, die sie erleiden,
und oft auch derjenigen, die sie ausüben, und zwar in dem
Maße, in dem beide Seiten sich dessen nicht bewußt sind,
daß sie sie ausüben oder erleiden. Aufgabe der Soziologie
wie aller Wissenschaften ist es, Verborgenes zu enthüllen;
sie kann daher dazu beitragen, die symbolische Gewalt in-
nerhalb der sozialen Beziehungen zu verringern, und ganz
besonders in den von der Medienkommunikation geprägten
Beziehungen.
Nehmen wir den einfachsten Fall: die sogenannten
»Vermischten Meldungen«, seit jeher der Tummelplatz der
Sensationspresse. Blut und Sex, Tragödien und Verbrechen
haben immer schon Verkaufsziffern in die Höhe getrieben,
und so mußte die Diktatur der Einschaltquote derartige
Ingredienzien an die vorderste Stelle, an den Beginn der
Fernsehnachrichten spülen, die früher ausgeklammert oder
auf die hinteren Ränge verwiesen wurden, weil man sich
bemühte, nach dem Vorbild der seriösen Tagespresse als
respektabel zu erscheinen. Die »Vermischten Meldungen«
sind aber auch die Meldungen, die alles vermischen. Das
Grundprinzip von Zauberern besteht darin, die Aufmerk-
samkeit auf etwas anderes zu lenken als auf das, was sie
gerade tun. Die symbolische Aktion des Fernsehens zum
Beispiel auf der Ebene der Nachrichten besteht darin,
die Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die alle Welt
interessieren, die omnibus – für alle – da sind. Omnibus-
Meldungen sind solche, die, wie es heißt, niemanden
schockieren dürfen, bei denen es um nichts geht, die nicht
spalten, die Konsens herstellen, die alle interessieren, aber
so, daß sie nichts Wichtiges berühren. Die »Vermischte
Meldung« stellt jenen Grundbaustein der Nachrichten
dar, der sehr wichtig, weil für alle von Interesse ist, ohne
zu irgendwelchen Konsequenzen Anlaß zu geben, und der
Zeit beansprucht, Zeit, die dazu verwendet werden könnte,
über andere Dinge zu sprechen. Zeit aber ist im Fernsehen
ein äußerst knappes Gut. Und wenn wertvolle Minuten
verschleudert werden, um derart Unwichtiges zu sagen, so
deswegen, weil diese unwichtigen Dinge in Wirklichkeit
sehr wichtig sind, und zwar insofern, als sie Wichtiges ver-
bergen. Ich hebe dies hervor, weil wir aus anderen Untersu-
chungen wissen, daß weite Teile der Bevölkerung keinerlei
Tageszeitung lesen, daß sie dem Fernsehen als einziger
Informationsquelle völlig ausgeliefert sind. Das Fernsehen
hat eine Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne
eines Großteils der Menschen. Legt das Fernsehen den
Akzent auf die »Vermischten Meldungen«, so füllt es die
Zeit mit Leere, mit nichts oder fast nichts, und klammert
relevante Informationen aus, über die der Staatsbürger zur
Wahrnehmung seiner demokratischen Rechte verfügen
sollte. Damit ist die Tendenz zu einer Spaltung gegeben,
einer Spaltung zwischen denen, die die sogenannte seriöse
Presse lesen können (soweit diese angesichts der Konkur-
renz des Fernsehens seriös bleibt), die zur internationalen
Presse, zu fremdsprachigen Rundfunknachrichten Zugang
haben auf der einen Seite – und auf der anderen Seite denen,
deren ganzes politisches Rüstzeug in den vom Fernsehen
gelieferten Nachrichten, also in fast gar nichts besteht (ab-
gesehen von der Information, die im puren Kennenlernen
der meistgezeigten Männer und Frauen besteht, im Kennen
ihrer Gesichter, ihrer Ausdrucksweisen, Dingen, die noch
die kulturell Hilflosesten entziffern können – wodurch ih-
nen übrigens große Teile des politischen Führungspersonals
suspekt werden).

Verstecken durch Zeigen

Ich habe bisher den Akzent auf das Offensichtlichste ge-


legt. Jetzt möchte ich zu etwas weniger Offensichtlichem
übergehen und darlegen, wie das Fernsehen paradoxerweise
verstecken kann, indem es zeigt, etwas anderes zeigt, als es
zeigen müßte, wenn es täte, was es angeblich tut, nämlich
informieren; oder auch, indem es zeigt, was gezeigt werden
muß, aber so, daß man es nicht zeigt oder bedeutungslos
macht oder so konstruiert, daß es einen Sinn annimmt, der
mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.
Dafür möchte ich zwei Beispiele anführen, die ich Ar-
beiten von Patrick Champagne entnehme. In dem Buch
La misère du monde hat Patrick Champagne ein Kapitel der
publizistischen Verarbeitung der sogenannten Banlieue-
Phänomene gewidmet, dem Bild, das die Medien von den
proletarischen Wohnvierteln am Rand französischer Groß-
städte liefern. Er zeigt, wie Journalisten aufgrund der ihrem
Beruf immanenten Tendenzen, ihrer Weltsicht, ihrer Aus-
bildung, ihrer Einstellungen, aber auch aufgrund der Logik
ihres Gewerbes aus jener besonderen Lebenswirklichkeit in
den Vorstädten in Übereinstimmung mit ihren Wahrneh-
mungskategorien einen ganz besonderen Aspekt auswählen.
Lehrer verwenden zur Erklärung solcher Kategorien – das
heißt der unsichtbaren Strukturen, die das Wahrgenomme-
ne organisieren – am liebsten die Metapher »Brille«. Solche
Kategorien sind Produkt unserer Erziehung, unserer Ge-
schichte usw. Die Journalisten tragen eine spezielle »Brille«,
mit der sie bestimmte Dinge sehen, andere nicht, und mit
der sie die Dinge, die sie sehen, auf bestimmte Weise sehen.
Sie treffen eine Auswahl, und aus dem, was sie ausgewählt
haben, errichten sie ein Konstrukt.
Das Auswahlprinzip ist die Suche nach dem Sensati-
onellen, dem Spektakulären. Das Fernsehen verlangt die
Dramatisierung, und zwar im doppelten Sinn: Es setzt
ein Ereignis in Bilder um, und es übertreibt seine Bedeu-
tung, seinen Stellenwert, seinen dramatischen, tragischen
Charakter. An den Vorstädten sind die Aufruhrszenen von
Interesse. Aufruhr: welch vielsagendes Wort... (Mit den

 Herausgegeben von Pierre Bourdieu, Paris, Editions du Seuil, . Auf


deutsch  unter dem Titel Das Elend der Welt erschienen. (A. d. Ü.)
Worten geschieht dasselbe. Mit Alltagswörtern verblüfft
man weder den »Bourgeois« noch das »Volk«. Die Wörter
müssen schon etwas Besonderes haben. Paradoxerweise
wird das Fernsehen im Grunde vom Wort dominiert. Das
Photo ist nichts ohne seine Legende, die sagt, was man zu
lesen hat – legendum -, das heißt aber oft genug: Legenden,
die Unsinn schwafeln. Benennen heißt bekanntlich sicht-
bar machen, schaffen, ins Leben rufen. Und Benennungen
können unheilvolle Verwirrung stiften: Islam, islamisch, is-
lamistisch – ist der Schleier nun islamisch oder islamistisch?
Und wenn es sich einfach um ein Tuch handelte, mehr
nicht? Manchmal habe ich Lust, jedes Wort der Sprecher
in Frage zu stellen, so oft reden sie leichtfertig daher, ohne
sich im mindesten über Problematik und Bedeutung ihrer
Formulierungen im klaren zu sein und über die Verantwor-
tung, die sie übernehmen, wenn sie sich vor Tausenden von
Zuschauern äußern, ohne zu verstehen, was sie sagen, und
ohne zu verstehen, daß sie es nicht verstehen. Denn solche
Wörter bringen etwas hervor, schaffen Phantasmen, Ängs-
te, Phobien oder schlicht falsche Vorstellungen. Was Jour-
nalisten interessiert, ist, grob gesagt, das Ungewöhnliche,
d. h., was für sie ungewöhnlich ist. Was für andere banal
ist, kann für sie ungewöhnlich sein, und umgekehrt. Sie
interessieren sich für das, was gewöhnlich nicht stattfindet,
für das Nichtalltägliche – die Tagespresse muß täglich das
Nichtalltägliche bringen, keine leichte Arbeit... Daher ihre
Vorliebe für das gewöhnliche Ungewöhnliche, für Feuers-
brünste, Überschwemmungen, Morde, »Vermischte Mel-
dungen«. Das Ungewöhnliche ist aber auch und vor allem
das, was, gemessen an den Nachrichten der anderen Medi-
en, nicht gewöhnlich ist; was anders ist als das Gewöhnli-
che und anders als das, was die anderen vom Gewöhnlichen
melden oder gewöhnlich melden. Ein furchtbarer Druck,
der zur Jagd nach dem Scoop zwingt. Um als erster etwas
zu sehen und zu zeigen, ist man zu fast allem bereit, und da
alle sich gegenseitig in die Karten schauen, um einander zu-
vorzukommen, vor den anderen da zu sein oder es anders als
die anderen zu zeigen, machen alle am Ende dasselbe, und
das Ringen um Exklusivität, das andernorts, in anderen
Berufsfeldern Originalität, Einzigartigkeit hervorbringt,
endet hier in Uniformisierung und Banalisierung.
Diese interessierte, unablässige Jagd nach dem Unge-
wöhnlichen kann ebenso politische Auswirkungen zeitigen
wie direkt politische Anweisungen oder von Furcht diktier-
te Selbstzensur. Über die außerordentliche Macht des vom
Fernsehen ausgestrahlten Bildes können die Journalisten
Wirkungen ohnegleichen hervorrufen. Der Anblick, den
eine Vorstadt täglich bietet, ihre Monotonie, ihre Tristesse
sagt niemandem etwas, interessiert niemanden, und am
wenigsten die Journalisten. Wenn sich die Journalisten
wirklich für sie interessieren, wenn sie sie wirklich zeigen
wollten, wäre das allerdings auch äußerst schwierig. Denn
nichts ist schwieriger, als die Realität in ihrer Banalität
erfahrbar zu machen. Flaubert sprach gerne davon, »das
Mittelmäßige sorgfältig auszumalen«. Darin besteht das
Problem der Soziologen: das Gewöhnliche ungewohnt zu
machen; es so zu schildern, daß sichtbar wird, wie außerge-
wöhnlich es ist.
Die politischen Gefahren, die mit der üblichen Nutzung
des Fernsehens verbunden sind, kommen daher, daß es er-
zeugen kann, was Literaturkritiker den effet du réel nennen,
den Wirklichkeitseffekt: Es kann zeigen und dadurch errei-
chen, daß man glaubt, was man sieht. Diese Macht, etwas
vor Augen zu führen, hat mobilisierende Wirkungen. Sie
kann Gedanken oder Vorstellungen ins Leben rufen, aber
auch Bevölkerungsgruppen konstituieren. Die »Vermisch-
ten Meldungen«, die Zwischenfälle und Unfälle des Alltags
können mit politischen, ethischen usw. Implikationen auf-
geladen werden, die starke und oft negative Gefühle aus-
lösen wie Rassismus, Fremdenhaß, Ausländerfeindlichkeit;
noch der simple Bericht richtet ja, denn er impliziert immer
eine soziale Konstruktion der Wirklichkeit, die sozial mo-
bilisierende (oder demobilisierende) Folgen haben kann.
Das andere Beispiel, das ich Patrick Champagne ent-
lehne, betrifft die Schülerstreiks von . Hier zeigte sich,
wie Journalisten in bestem Glauben, in voller Naivität, ganz
von ihren eigenen Interessen – von dem, was sie interessiert
– geleitet, von ihren Vorannahmen, ihren Wahrnehmungs-
und Bewertungskategorien, ihren unbewußten Erwartun-
gen, Wirklichkeitseffekte und Effekte in der Wirklichkeit
hervorrufen können, die niemand gewollt hat und die in
manchen Fällen katastrophal sein können. Die Journalisten
hatten den Mai  im Kopf und Angst, »ein neues « zu
verpassen. Da man es mit Jugendlichen zu tun hatte, die
nicht sehr politisiert waren und nicht recht wußten, was
sie sagen sollten, baute man Sprecher auf (die man vermut-
lich unter den politisiertesten fand), nahm sie ernst, und
die Sprecher nahmen sich auch ernst. Das eine ergab das
andere, und das Fernsehen, das die Wirklichkeit wieder-
zugeben behauptet, wurde ein Instrument zur Schaffung
von Wirklichkeit; aus dem Beschreiben der sozialen Welt
durch das Fernsehen wird ein Vorschreiben. Das Fernsehen
entscheidet zunehmend darüber, wer und was sozial und
politisch existiert. Nehmen wir an, ich will erreichen, daß
das Rentenalter auf fünfzig Jahre herabgesetzt wird. Vor
ein paar Jahren hätte ich eine Demonstration organisiert,
wir hätten Transparente gemalt, wären durch die Straßen
gezogen und hätten beim Erziehungsministerium eine
Erklärung abgegeben; heute – ich übertreibe nur wenig
– müßte ich mir einen geschickten Werbeberater nehmen.
Für die Medien würden wir ein paar Gags aufziehen, die
bei ihnen ankommen, Verkleidungen, Masken usw., und
über das Fernsehen vielleicht ähnliches erreichen wie durch
eine Demonstration mit  Teilnehmern.
Im Alltäglichen wie auf globaler Ebene geht es in der
Politik unter anderem um die Durchsetzung von Wahrneh-
mungsprinzipien, um die Brillen, mit denen die Menschen
die Welt aufgrund bestimmter Einteilungen sehen (Ju-
gend und alte Leute, Ausländer und Franzosen usw.). Die
Durchsetzung solcher Einteilungen schafft Gruppen, die
sich mobilisieren und es auf diesem Wege schaffen können,
ihre Existenz geltend zu machen, Druck auszuüben und
Vorteile zu erlangen. In solchen Auseinandersetzungen
spielt heute das Fernsehen eine entscheidende Rolle. Wer
heutzutage noch glaubt, daß es ausreicht zu demonstrieren,
ohne an das Fernsehen zu denken, läuft Gefahr, sein Ziel
zu verfehlen: Demonstrationen müssen mehr und mehr für
das Fernsehen produziert, also so gestaltet werden, daß die
Fernsehleute sich aufgrund ihrer Wahrnehmungskategori-
en dafür interessieren, sie aufgreifen, den Adressatenkreis
erweitern und ihnen damit erst zur vollen Wirkung verhel-
fen.
Die zirkuläre Zirkulation der Nachricht

Bisher habe ich so getan, als wäre der Urheber all dieser
Prozesse der Journalist. Aber der Journalist ist ein abstrak-
tes, nichtexistentes Gebilde; was existiert, sind Journalisten,
die sich durch ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre Bildungsstufe,
ihre Zeitung, ihr »Medium« voneinander unterscheiden.
Die Welt der Journalisten ist eine zerrissene Welt, ein Welt
voller Konflikte, Konkurrenz, Feindseligkeiten. Meine
Analyse ist dennoch zutreffend, denn die Produkte der
Journalisten sind, darauf kommt es mir an, letztlich noch
viel homogener, als man glaubt. Noch hinter den deutlichs-
ten Unterschieden – sie haben vor allem mit der politischen
Couleur der Zeitungen zu tun (die übrigens unleugbar
immer mehr jegliche Couleur vermissen lassen...) – stecken
tiefgreifende Ähnlichkeiten, die hauptsächlich auf die von
den Nachrichtenquellen ausgehenden Beschränkungen
zurückzuführen sind und darüber hinaus auf eine ganze
Reihe von Mechanismen, von denen der wichtigste die
Wettbewerbslogik ist. Das liberale Kredo predigt ständig,
daß das Monopol Uniformität und Konkurrenz Vielfalt
hervorbringt. Ich habe natürlich nichts gegen Konkur-
renz, ich stelle nur fest, daß sie sich auf Journalisten und
Journale, die denselben Zwängen, denselben Umfragen,
denselben Anzeigenkunden ausgeliefert sind, homogeni-
sierend auswirkt (man braucht nur daran zu denken, mit
welcher Leichtigkeit Journalisten von einer Zeitung zur
anderen wechseln). Vergleichen Sie bloß die Titelseiten der
Wochenpresse im Vierzehntagerhythmus: Sie finden fast
überall dieselben Aufmacher. Ebenso unterscheiden sich
die Fernseh- oder Radionachrichten der meistverbreiteten
Programme besten- oder schlimmstenfalls in der Reihen-
folge der Meldungen.
Das liegt zum Teil am kollektiven Charakter der Pro-
duktion. Filme zum Beispiel werden von Kollektiven pro-
duziert, der Vorspann führt die Namen auf. Das Kollektiv
aber, das Fernsehsendungen herstellt, besteht nicht nur aus
den Mitgliedern einer Redaktion; es schließt die Gesamt-
heit der Journalisten ein. Immer wieder hört man die Frage:
»Wer ist eigentlich das Subjekt eines Diskurses?« Nie weiß
man wirklich, ob man das Subjekt dessen ist, was man
sagt... Wir sagen viel weniger Originelles, als wir glauben.
Das gilt ganz besonders in Welten, in denen die kollektiven
Zwänge erheblich sind, und vor allem die von der Konkur-
renz ausgehenden Zwänge, insofern sie jeden Produzenten
zu Dingen veranlaßt, die er unterlassen würde, wenn es die
anderen nicht gäbe; Dinge zum Beispiel, die er tut, um vor
den anderen da zu sein. Niemand liest so viele Zeitungen
wie die Journalisten, die im übrigen zu der Ansicht neigen,
daß jedermann sämtliche Zeitungen läse. (Sie vergessen,
daß viele keine Zeitung lesen, und die anderen eine einzige.
Es kommt nicht oft vor, daß man am selben Tag Le Monde,
Le Figaro und Liberation liest, wenn man nicht gerade vom
Fach ist.) Für Journalisten ist Zeitunglesen unerläßlich und
die Presserundschau ein Arbeitsinstrument: Um zu wissen,
was man sagen wird, muß man wissen, was die anderen
gesagt haben. Dies ist einer der Mechanismen, die Homo-
geneität unter den Produkten erzeugen. Wenn Liberation
auf der ersten Seite über ein Ereignis berichtet, muß Le
Monde nachziehen; gleichzeitig wird sich diese Zeitung ein
wenig absetzen, um Distanz an den Tag zu legen und ihrem
Ruf als niveauvolles, seriöses Blatt gerecht zu werden. Aber
diese kleinen Unterschiede, auf die Journalisten subjektiv so
viel Wert legen, verbergen enorme Ähnlichkeiten. In den
Redaktionskonferenzen verbringt man beträchtlich viel
Zeit damit, von anderen Zeitungen zu sprechen, besonders
von dem, »was sie gemacht haben und wir nicht« (»das
haben wir verschlafen!«) und was man – selbstverständlich
– hätte machen müssen, da die anderen es gemacht haben.
Diese wechselseitige Bespiegelung bringt eine schreck-
liche Abkapselung, eine geistige Einzäunung hervor. Ein
anderes Beispiel dieser gegenseitigen Abhängigkeit, die alle
Interviews mit Journalisten bestätigt haben: Den Ablauf der
Mittagsnachrichten im Fernsehen kann man nur gestalten,
wenn man die Nachrichtensendung vom Vorabend gesehen
und die Morgenpresse gelesen hat; Entsprechendes gilt für
die abendlichen Nachrichtensendungen. Das gehört zu den
stillschweigenden Anforderungen des Berufs. Und zwar
gleichzeitig, um auf dem laufenden zu sein und um sich
abheben zu können, und das oft durch verschwindend klei-
ne Unterschiede, denen die Journalisten eine phantastische
Bedeutung beimessen und die vom Fernsehzuschauer völlig
unbemerkt bleiben. (Ein besonders typischer Effekt dieses
Feldes: Man glaubt, den Wünschen des Kunden am besten
zu entsprechen, bezieht sich aber nur auf die Konkurrenz.)
Journalisten sagen zum Beispiel (ich zitiere): »Wir ha-
ben die Nase vorn gehabt«; sie geben damit zu, daß sie in
Konkurrenz stehen und daß ein gut Teil ihrer Bemühungen
der Produktion winziger Unterschiede gilt. »Wir haben
die Nase vorn gehabt«, das heißt: Wir sind ein Sinndiffe-
rential; »sie haben den O-Ton nicht, wir haben ihn«. Vom
Durchschnittszuschauer absolut nicht wahrnehmbare Dif-
ferenzen – er könnte sie nur wahrnehmen, wenn er gleich-
zeitig mehrere Programme verfolgte -, Differenzen also, die
völlig unbemerkt bleiben, sind von den Produzenten aus
gesehen äußerst wichtig, denn wenn sie wahrgenommen
würden – so stellen sich die Produzenten vor -, trügen sie
zu einer höheren Einschaltquote bei, dem verborgenen Gott
dieses Universums, und der Verlust von einem Prozent bei
der Einschaltquote kann schon der Tod der Sendung sein.
Dies ist nur ein Beispiel für die in meinen Augen falschen
Gleichsetzungen zwischen dem Inhalt von Sendungen und
der unterstellten Wirkung.
Die Entscheidungen, die im Fernsehen getroffen werden,
sind gewissermaßen subjektlos. Zum Beleg dieser vielleicht
ein wenig übertriebenen Behauptung möchte ich nur die
Auswirkungen des kurz erwähnten Effekts zirkulärer
Zirkulation anführen: Die Journalisten, die im übrigen
viele Gemeinsamkeiten aufweisen, solche der beruflichen
Voraussetzungen, aber auch der Herkunft und Ausbildung,
lesen einander, sehen einander, begegnen sich bei Debatten,
bei denen man immer auf dieselben Gesichter trifft, und
all das führt zu einer Geschlossenheit des Milieus und
– scheuen wir uns nicht, es auszusprechen – zu einer Zensur,
die ebenso wirksam ist wie die einer zentralen Bürokratie,
eines förmlichen politischen Eingriffs, ja wirksamer noch,
weil unauffälliger. (Um die Undurchlässigkeit dieses Teu-
felskreises zu ermessen, braucht man bloß den Versuch zu
unternehmen, eine nicht ins Schema passende Nachricht
über Algerien, über den Status von Ausländern in Frank-
reich oder dergleichen einzuschleusen, in der Hoffnung,
sie würde in die Öffentlichkeit gelangen: Pressekonferenz,
Presseerklärung – nichts hilft; Analysen gelten als langwei-
lig und kommen als Meldung nicht in Frage, es sei denn,
sie sind von einer Berühmtheit unterzeichnet, deren Name
Aufsehen erregt. Um den Teufelskreis aufzubrechen, muß
man in ihn einbrechen, was aber nur möglich ist, wenn man
sich dabei mediengerecht verhält; man muß einen »Coup«
landen, der die Medien interessiert, oder wenigstens eines
von ihnen, dessen Meldung die anderen aufgrund des Kon-
kurrenzeffekts möglicherweise aufgreifen.)
Wenn man sich die naiv scheinende Frage stellt, wie die
Leute sich eigentlich informieren, deren Aufgabe darin be-
steht, uns zu informieren, zeigt sich, daß sie, grob gesagt,
von anderen Informanten informiert werden. Natürlich, es
gibt die Presseagenturen, offizielle Quellen (Ministerien,
Polizei usw.), mit denen die Journalisten auf komplexe Wei-
se zusammenarbeiten müssen, usw. Das Entscheidende aber
an der Information, jene Information über die Information
nämlich, die zu entscheiden ermöglicht, was wichtig, was
übermittelnswert ist, kommt zum großen Teil von anderen
Informatoren.
Und das führt zu einer Art Nivellierung, einer Homoge-
nisierung der Wichtigkeitshierarchien. Ich erinnere mich an
ein Interview mit einem Programmdirektor, der sich seiner
Sache völlig sicher war. Ich fragte ihn: »Warum plazieren
Sie das an erster und jenes an zweiter Stelle?« Er antwortete:
»Das versteht sich von selbst.« Und wahrscheinlich saß er
ebendeswegen an der Stelle, wo er saß; weil nämlich seine
Wahrnehmungskategorien genau den objektiven Anforde-
rungen entsprachen. (Während ich ihm zuhörte, mußte
ich an eine Äußerung Godards denken: »Verneuil ist im
Vergleich zu dem Direktor von FR ein Zigeuner. Naja, im
Vergleich.«) Gewiß, in demselben journalistischen Milieu
finden unterschiedliche Journalisten auf unterschiedlichen
Posten seine Selbstverständlichkeiten in ungleichem Maße
selbstverständlich. Die Programmdirektoren, denen die
Einschaltquote zur zweiten Natur geworden ist, haben
ein Gespür für das Selbstverständliche, das der kleine An-
fänger unter den Reportern nicht unbedingt teilt, der auf
seinen emenvorschlag zur Antwort erhält: »Völlig unin-
teressant...« Man darf sich das Milieu nicht als homogen
vorstellen: Es gibt die kleinen, die jungen, die subversiven
Mitarbeiter, die Quertreiber, die verzweifelt darum ringen,
kleine Keile in den enormen homogenen Brei zu treiben,
den der (Teufels-)Kreis der zirkulär zirkulierenden Infor-
mation Leuten aufnötigt, die – nicht zu vergessen – mit-
einander gemein haben, der Einschaltquote unterworfen zu
sein, wobei die Führungskräfte selbst nur die ausübenden
Organe der Einschaltquote sind.
Die Einschaltquote ist ein Meßinstrument, mit dessen
Hilfe die verschiedenen Sender feststellen können, wieviel
Zuschauer sie erreichen (einige Sender verfügen bereits über
die Möglichkeit, alle Viertelstunden ihre Einschaltquote zu
ermitteln, und sogar – diese Verfeinerung wurde kürzlich
erst eingeführt – die Schwankungen nach groben sozialen
Kategorien). Man weiß also sehr genau, was ankommt und
was nicht. Dieses Meßinstrument ist für den Journalisten
das göttliche Gericht: bis hin in die autonomsten Refugien
des Journalismus – in der französischen Presse mögen sich
vielleicht gerade noch der Canard Enchaine, Le Monde diplo-
matique und ein paar kleine, von idealistischen »Träumern«
redigierte Avantgardezeitschriften dem entziehen – steckt
die Einschaltquote jetzt in allen Köpfen. In Redaktions-
stuben, in Verlagshäusern, allerorten regiert heutzutage
die »Einschaltquotenmentalität«. Überall ist Maßstab der
Verkaufserfolg. Vor knapp dreißig Jahren noch, und das seit
der Mitte des . Jahrhunderts, seit Baudelaire, Flaubert
usw., war der unmittelbare Verkaufserfolg bei Avantgar-
deschriftstellern – also bei Schriftstellern, die von Schrift-
stellern gelesen, von Schriftstellern anerkannt wurden,
und ebenso bei Künstlern, die von Künstlern anerkannt
wurden – verdächtig: als Anzeichen dafür, daß jemand sich
mit den Zeitläufen, mit dem Geld usw. arrangiert hatte.
Gegenwärtig dagegen gilt der Markt mehr und mehr als
legitime Legitimationsinstanz. Das zeigt eine andere neue
Einrichtung deutlich: die Bestsellerliste. Noch heute mor-
gen hörte ich einen Radiosprecher den letzten Bestseller
gelehrt kommentieren: »Die Philosophie ist dieses Jahr
aktuell, denn Sophies Welt hat   Exemplare erreicht.«
Als unumstößliches Verdikt, als göttliches Urteil zitierte er
Verkaufsziffern. Über die Einschaltquote schlägt die Logik
des Kommerzes auf die Kulturerzeugnisse durch. Man muß
aber wissen, daß historisch gesehen alle Kulturerzeugnisse,
die ich jedenfalls schätze – ich hoffe, ich bin nicht der einzi-
ge – und die auch noch manch anderer zu den höchsten Er-
rungenschaften der Menschheit zählen mag, Mathematik,
Poesie, Literatur, Philosophie -, daß all das gegen das Äqui-
valent der Einschaltquote, gegen die Logik des Kommerzes
entstanden ist. Daß die Einschaltquotenmentalität selbst
bei Avantgardeverlegern Einzug hält, in wissenschaftliche
Institute dringt, die sich jetzt aufs Marketing verlegen, ist
sehr beunruhigend, denn damit geraten die Voraussetzun-
gen für die Herstellung von Werken in Gefahr, die esote-
risch erscheinen mögen, weil sie der Publikumserwartung
nicht entgegenkommen, sich aber, auf Dauer gesehen, ihr
Publikum schaffen.

Die Dringlichkeit und das »Fast-inking«

Im Fernsehen zeitigt die Einschaltquote eine ganz


besondere Wirkung: Sie setzt sich in Zeitdruck um. Die
Konkurrenz zwischen den Zeitungen, zwischen den Zei-
tungen und dem Fernsehen, zwischen den einzelnen Fern-
sehsendern nimmt die Form eines Wettlaufs um den Scoop
an, darum, der erste zu sein. Alain Accardo zeigt in einem
Buch, in dem er eine Reihe von Interviews mit Journalis-
ten veröffentlichte, wie Fernsehjournalisten dazu gebracht
werden, von einer Überschwemmung zu berichten, weil die
Konkurrenz von einer Überschwemmung berichtet hat, und
möglichst etwas darüber zu bringen, was der andere nicht
gebracht hat. Kurzum, es gibt emen, die den Zuschau-
ern aufgedrängt werden, weil sie sich den Produzenten der
Sendung aufdrängen; und sie drängen sich ihnen auf, weil
die Konkurrenzsituation sie ihnen aufdrängt, in der sie sich
gegenüber anderen Produzenten von Sendungen befinden.
Diese Art wechselseitiger Pression bringt eine ganze Reihe
von Konsequenzen hervor, die sich in Entscheidungen für
oder gegen emen niederschlagen.
Zu Beginn sagte ich, daß das Fernsehen die Artikulation
von Gedanken nicht gerade begünstigt. Ich stellte eine Ver-
bindung zwischen Geschwindigkeit und Denken her, und
zwar eine negative. Das ist ein alter Topos des philosophi-
schen Diskurses: Schon Platon unterschied zwischen dem
Philosophen, der Zeit hat, und den Leuten auf der agora, auf
dem öffentlichen Platz, die es eilig haben. Er behauptet in
etwa, daß man nicht denken kann, wenn man es eilig hat.
Das ist eine eindeutig aristokratische Einstellung. Es ist
der Gesichtspunkt des Privilegierten, der Zeit hat und sein
Privileg nicht allzusehr in Frage stellt. Aber hier ist nicht
der Ort, diesen Aspekt zu diskutieren; fest steht jedenfalls,
daß es eine Verbindung zwischen Denken und Zeit gibt.
Und eines der Hauptprobleme des Fernsehens ist die Frage
der Beziehungen zwischen Denken und Geschwindigkeit.
Kann man denken, wenn man es eilig hat? Wenn das Fern-
sehen immer nur Denkern das Wort erteilt, die als beson-
ders reaktionsschnell gelten, muß es sich mit fast-thinkers
abfinden, Denkern, die, wie ein gewisser Westernheld,
schneller schießen als ihr Schatten...
Es fragt sich, warum sie diesen ganz besonderen Um-
ständen gewachsen sind, warum sie es schaffen, unter
Voraussetzungen zu denken, unter denen keiner außer ih-
nen denkt. Die Antwort liegt, scheint mir, darin, daß sie
in »Gemeinplätzen« denken. »Gemeinplätze«, von denen
Flaubert in Bouvard und Pécuchet berichtet, das sind banale,
konventionelle Vorstellungen, wie alle sie haben; es handelt
sich aber auch um Vorstellungen, die jeder versteht, so daß
das Problem ihres Verständnisses sich gar nicht erst stellt.
Nun lautet jedoch die Grundfrage aller Kommunikation,
sei es eine Rede, ein Buch oder eine Fernsehbotschaft, ob
die Voraussetzungen des Verständnisses erfüllt sind: Ver-
fügt der Hörer über den Kode, mit dem er dekodieren kann,
was ich sage? Wenn Sie einen »Gemeinplatz« von sich ge-
ben, ist das Problem von vornherein gelöst. Die Kommuni-
kation gelingt augenblicklich, weil sie in gewisser Hinsicht
gar nicht stattfindet. Oder nur zum Schein. Der Austausch
von Gemeinplätzen ist eine Kommunikation ohne anderen
Inhalt als eben den der Kommunikation. Die »Gemeinplät-
ze«, die im alltäglichen Gespräch eine enorme Rolle spielen,
haben den Vorteil, daß jedermann sie aufnimmt und augen-
blicklich versteht: Aufgrund ihrer Banalität sind sie dem
Sender wie dem Empfänger gemeinsam. Im Gegensatz
dazu ist Denken von vornherein subversiv: Es muß damit
beginnen, die »Gemeinplätze« zu demontieren, und damit
fortfahren, daß es demonstriert, Beweise führt. Wenn
Descartes von Beweisführung spricht, spricht er von
langen Begründungsketten. Das braucht Zeit, eine ganze
Reihe von Aussagen, die mit »also«, »folglich«, »damit«,
»vorausgesetzt, daß« usw. untereinander verkettet sind,
muß aneinandergefügt werden. Diese Entfaltung denken-
den Denkens ist unaufhebbar an Zeit gebunden.
Wenn das Fernsehen bestimmte fast-thinkers bevorzugt,
die geistiges fast-food anbieten, vorgekaute, vorgedachte
geistige Nahrung, so liegt das nicht nur daran; daß man
(was auch zur Unterwerfung unter den Zeitdruck gehört)
sein Adreßbuch hat, in dem immer dieselben Namen stehen
(zu Rußland Herr oder Frau X, zu Deutschland Herr Y);
es gibt obligatorische Interviewpartner, die die Suche nach
jemandem erübrigen, der wirklich etwas zu sagen hätte,
das hieße oft: nach jungen, noch unbekannten Leuten, die
in ihrer Forschungsarbeit stecken und wenig dazu neigen,
Medien zu frequentieren – man müßte sie erst auftreiben,
wo man doch die Medienhirsche bei der Hand hat, die stets
disponibel und bereit sind, ihre schriftliche Stellungnahme
abzusondern oder ihre Interviews zu geben. Es liegt auch
daran, daß man, um unter Voraussetzungen zu denken, un-
ter denen sonst keiner mehr denkt, Denker von einem ganz
besonderen Schlage sein muß.

Echt falsche und falsch echte Debatten

Ich muß auf die Fernsehdiskussionen zurückkommen,


hier kann ich mich kurz fassen, weil die Beweisführung,
wie ich denke, leichter ist. Zunächst einmal gibt es die echt
falschen Debatten, die man sofort als solche erkennt. Wenn
Sie im Fernsehen Alain Mine und Attali, Alain Mine und
Sorman, Ferry und Finkielkraut, Julliard und Imbert sehen,
dürfen Sie davon ausgehen, daß die unter einer Decke ste-
cken. (In den Vereinigten Staaten gibt es Leute, die davon
leben, daß sie im Duo von Universität zu Universität ziehen,
um solche Auftritte zu bestreiten...) Das sind Leute, die sich
kennen, die sich treffen, die zusammen essen gehen. (In sei-
nem Tagebuch L‘annee des dupes, das  bei Seuil erschien,
hat Jacques Julliard erzählt, wie so etwas funktioniert.) Bei
einer Sendung von Durand über die Eliten zum Beispiel, die
ich mir genauer ansah, waren sie alle dabei: Attali, Sarkozy,
Mine ... Einmal wandte Attali sich an Sarkozy und sprach
ihn an mit »Nicolas... Sarkozy«, wobei zwischen Vor- und
Familienname eine kleine Pause entstand. Hätte er nur den
Vornamen genannt, wäre deutlich geworden, daß sich beide
gut kennen, daß sie unter einer Decke stecken, während sie
zum Schein zwei entgegengesetzte Standpunkte einnah-
men. So blieb es bei einem kleinen, kaum merklichen Si-
gnal zwischen Komplizen. Und wirklich ist das Universum
der ständigen Fernsehgäste eine geschlossene Welt, in der
jeder jeden kennt und die einer Logik ständiger Selbstbe-
stätigung lolgt. (Die Debatte zwischen Serge July und Phi-
lippe Alexandre bei Christine Ockrent oder ihre Parodie
bei den Guignols, die das Wesentliche davon zeigt, ist ins
dieser Hinsicht beispielhaft.) Man widerspricht einander,
aber das ist ein abgekartetes Spiel... So sollen Julliard und
Imbert zum Beispiel die Rechte bzw. die Linke vertreten.
Von jemandem, der alles durcheinanderbringt, sagen die
Kabylen: »Er hat mir den Osten in den Westen gesteckt.«
Diese Leute stecken einem die Rechte in die Linke. Ist sich
das Publikum ihrer Komplizenschaft bewußt? Sicher ist das
nicht. Sagen wir: vielleicht. Solche Skepsis äußert sich in
Gestalt einer totalen Ablehnung der Hauptstadt Paris, einer
Ablehnung, die die faschistische Kritik am Parisertum für
ihre Zwecke einzuspannen versucht und die sich anläßlich
der Novemberstreiks  oft mit Worten Luft machte wie:
»Das sind ja alles bloß Pariser Geschichten.« Diese Leute
spüren durchaus, daß da etwas ist, verstehen aber nicht,
bis zu welchem Punkt diese Welt in sich geschlossen, also
gegenüber anderen, gegnüber der schieren Existenz anderer
abgeschlossen ist.
Es gibt auch scheinbar echte, zum Schein echte Debatten.
Eine von ihnen möchte ich kurz untersuchen: diejenige, die
Cavada während der Novemberstreiks organisiert hat. Al-
lem Anschein nach eine demokratische Debatte, die gerade
dadurch ein bezeichnendes Licht auf andere wirft. Wenn

 Les Guignols de l‘Info, eine satirische Sendung des privaten Fernsehpro-


gramms Canal +, die Größen aus der Welt der Politik und der Medien
karikiert. (A. d. Ü.)
man sich nämlich anschaut, was während dieser Debatte
vor sich ging (ich werde wieder mit dem Sichtbarsten an-
fangen und versuchen, zum Verstecktesten vorzudringen),
stellt man eine Reihe von Zensurmaßnahmen fest.
Zunächst einmal: die Rolle des Moderators. Sie frappiert
die Zuschauer immer. Sie sehen genau, daß seine Einwür-
fe die anderen Teilnehmer einengen. Er legt das ema
fest, bestimmt die Fragestellung (die oft, wie in Durands
Sendung »Sollen die Eliten verbrannt werden?«, so absurd
ist, daß alle Antworten, positive wie negative, es gleicher-
maßen sind). Er wacht über die Einhaltung der Spielregeln,
die nicht für alle dieselben sind: für einen Gewerkschaftler
gelten andere als für Herrn Peyrefitte von der Académie
Française. Der Moderator erteilt das Wort, er signalisiert
die Wichtigkeit von Beiträgen. Manche Soziologen ha-
ben versucht, das in verbaler Kommunikation implizierte
Nichtverbale herauszuarbeiten: Mit unseren Blicken, durch
Schweigen, Gesten, Mimik, Augenbewegungen usw. sagen
wir ebensoviel wie mit Worten. Auch mit der Betonung,
mit allem möglichen. Wir geben daher viel mehr von uns,
als wir kontrollieren können (was diejenigen eigentlich
beunruhigen müßte, die dem Spiegel des Narziß fanatisch
ergeben sind). Schon auf der Ebene des Sprechens gibt es
so viele Ausdrucksmöglichkeiten – konzentriert man sich
auf die phonologische Ebene, konzentriert man sich nicht
auf die syntaktische usw. -, daß niemand, nicht einmal der
Kontrollierteste (außer vielleicht, wenn er eine Rolle spielt
oder Parteichinesisch spricht), alles im Griff hat. Auch der
Moderator greift unbewußt ein, durch seine Fragestellung,
seinen Tonfall. Die einen fährt er an: »Antworten Sie, Sie
haben meine Frage nicht beantwortet«, oder »Ich erwarte
Ihre Antwort. Werden Sie den Streik wiederaufnehmen?«
Auch die verschiedenen Weisen, »danke« zu sagen, sind
sehr bezeichnend. »Danke« kann heißen: »Ich danke Ih-
nen, ich bin Ihnen dankbar, ich nehme Ihre Worte mit
Dankbarkeit auf.« Es gibt aber auch eine Art, jemandem
zu danken, die wie eine Entlassung klingt. »Danke« heißt
dann: »O.k., Schluß jetzt. Der nächste bitte.« Das alles äu-
ßert sich in infinitesimaler Weise, in winzigen Nuancen des
Tons, aber der Gesprächspartner registriert es, er registriert
die offenkundige Semantik und die versteckte, er registriert
beide und kann dadurch heillos verwirrt werden.
Der Moderator gibt die Redezeit vor, er gibt den Rede-
ton vor: respektvoll oder herablassend, entgegenkommend
oder ungeduldig. Man kann zum Beispiel auf eine Art
»ja, ja« sagen, die Druck ausübt, die den Gesprächspartner
Ungeduld spüren läßt oder Gleichgültigkeit ... (Wir wissen,
daß es bei den Interviews, die wir machen, sehr wichtig
ist, den Menschen Zustimmung, Interesse zu signalisie-
ren, sonst sinkt ihnen der Mut und sie verstummen. Sie
erwarten nur wenig, ein »ja, ja«, ein Kopfnicken, kleine
Signale des Einverständnisses, wie man so sagt.) Diese
Zeichen des Einverständnisses manipuliert der Moderator,
unbewußt häufiger als bewußt. So wird der Respekt vor
den Größen des Kulturlebens jemanden, der als Autodidakt
gerade einmal in diese Welt hineingeschnuppert hat, zur
Bewunderung falscher Größen bewegen, zur Bewunderung
von Mitgliedern der Académie Française und von Trägern
anderer ehrfurchtgebietender Titel. Eine andere Moderato-
renstrategie besteht darin, den Zeitdruck zu manipulieren,
die Uhr einzusetzen, um das Wort abzuschneiden, unter l
)ruck zu setzen, zu unterbrechen. Und wie alle Moderato-
ren macht auch der unsere sich zum Anwalt des Publikums:
»Ich unterbreche Sie, ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
Er will damit nicht sagen, daß er ein Idiot ist, er will sagen,
daß der Durchschnittszuschauer, der zwangsläufig ein Idiot
ist, nichts versteht und daß er selbst sich zum Sprecher der
»Dummköpfe« macht, um eine intelligente Darbietung zu
unterbrechen. Dabei sind, wie ich feststellen konnte, die
Leute, in deren Namen er sich diese Zensorenrolle heraus-
nimmt, über die Unterbrechungen am aufgebrachtesten.
Das Ergebnis war, daß der Vertreter der Gewerkschaft
CGT in einer zweistündigen Sendung alles in allem genau
fünf Minuten Redezeit hatte, alle Beiträge zusammenge-
nommen (dabei hätte es bekanntlich ohne die CGT keinen
Streik, keine Sendung usw. gegeben). Während gleichzeitig
scheinbar – und insofern war die Sendung Cavadas von
Interesse – alle äußeren Anzeichen formaler Gleichheit
respektiert waren.
Und das stellt unter demokratischem Gesichtspunkt ein
äußerst wichtiges Problem dar: Offenkundig sind nicht alle
Teilnehmer gleichermaßen mit solchen Diskussionsrunden
vertraut. Es gibt die Profis in der Runde, professionelle
Wortführer und Studiogäste, und die Amateure (das können
Streikteilnehmer sein, die, säßen sie in einer gemütlichen
Ecke beisammen...) – eine extrem ungleiche Zusammenset-
zung. Um ein gewisses Gleichgewicht herzustellen, müßte
der Moderator ungleich sein, das heißt den Unbeholfensten
ein wenig nachhelfen, wie wir es bei unseren Erhebungen
für La misère du monde taten. Wenn man will, daß jemand,
der nicht zu den Wortgewaltigen gehört, es schafft, etwas
zu sagen (und oft sagt er dann ganz außerordentliche Dinge,
Dinge, die diejenigen, die ständig das Wort führen, nicht
einmal denken können), muß man ihn beim Sprechen un-
terstützen. Um das ein bißchen edler auszudrücken, könnte
ich sagen: Das ist die sokratische Aufgabe in Reinkultur.
Es geht darum, sich jemandem zur Verfügung zu stellen,
der etwas Wichtiges zu sagen hat und von dem man wissen
will, was er zu sagen hat, was er denkt; es geht darum, ihm
zu helfen, es herauszubringen. Das machen die Fernseh-
moderatoren ganz und gar nicht. Nicht nur helfen sie den
Hilflosen nicht, sie schlagen ihnen sozusagen auch noch die
Krücken weg. Dafür gibt es -zig Methoden: nicht zur rech-
ten Zeit das Wort geben, das Wort geben, wenn nicht mehr
damit gerechnet wird, Ungeduld zeigen usw.
Bisher sind wir auf der Ebene der Erscheinungen. Wir
müssen uns jetzt auf eine zweite Ebene begeben: die der
Zusammensetzung der Diskussionsrunde. Sie ist entschei-
dend. Die Runde selbst ist das Ergebnis einer unsichtbar
bleibenden Arbeit. Da ist zum Beispiel die ganze Arbeit
der Einladung: Manche Leute lädt man gar nicht erst ein;
andere lädt man ein, und sie lehnen ab. Schließlich steht
die Runde, und das Sichtbare verbirgt das Unsichtbare: Ein
konstruiertes Sichtbares zeigt die sozialen Voraussetzungen
seiner Konstruktion nicht.
Darum sagt man sich nicht: »Sieh an, der und der ist
nicht dabei.« Ein Beispiel dieser Manipulationsarbeit
(eines unter tausenden): Während der Streiks gab es zwei
aufeinanderfolgende Sendungen des Cercle de Minuit  iiber
die Intellektuellen und die Streiks. Es existierten, grob
gesagt, zwei Lager unter den Intellektuellen. Bei der ers-
ten Sendung vermittelten die Intellektuellen, die gegen
den Streik waren, im großen ganzen den Eindruck, zum
rechten Spektrum zu gehören. Bei der zweiten Sendung
(die diesen Eindruck korrigieren sollte) änderte man die
Zusammensetzung der Runde, fügte Teilnehmer hinzu, die
noch weiter rechts standen, und eliminierte die Befürwor-
ter des Streiks, womit diejenigen, die in der ersten Sendung
rechts gestanden hatten, als links erschienen. Rechts und
links, das ist nun einmal relativ. In diesem Fall also änderte
eine Zusammensetzung der Diskussionsrunde den Sinn der
Botschaft.
Die Zusammensetzung der Runde ist wichtig, weil sie
den Eindruck demokratischer Ausgewogenheit vermitteln
muß (der Grenzfall ist die Konfrontation von zwei Kontra-
henten: »Ihre dreißig Sekunden sind abgelaufen ...«). Man
demonstriert Gleichheit, und der Moderator geriert sich als
Schiedsrichter. In Cavadas Runde traten zwei Kategorien
auf: Engagierte Akteure, Protagonisten, Streikende; und
dann andere, die auch Protagonisten waren, aber die Positi-
on von Beobachtern einnahmen. Es gab solche, die sich zu
erklären hatten (»Warum machen Sie das, warum bereiten
Sie den Benutzern der öffentlichen Verkehrsmittel Schere-
reien?« usw.), und andere, die da waren, um zu erklären, um
einen Meta-Diskurs zu liefern.
Ein anderer unsichtbarer und doch ganz entscheidender
Faktor: die in Vorbereitungsgesprächen mit den späteren
Teilnehmern festgelegten Spielregeln, die manchmal zu
einer Art Drehbuch mit mehr oder weniger strengen An-
weisungen ausarten können, denen die Fernsehgäste zu

 Um Mitternacht herum (daher der Titel) ausgestrahlte Talkshow mit


kulturellem Schwerpunkt (inzwischen abgesetzt). Pierre Bourdieu stellte
hier mit Hans Haacke ihr gemeinsames Buch Libre-echange vor (deutsch:
Freier Austausch, Frankfurt/M., Fischer Verlag ). (A. d. Ü.)
folgen haben (die Vorbereitung kann in bestimmten Fäl-
len, etwa bei Unterhaltungssendungen, fast die Form einer
Generalprobe annehmen). In diesem von vornherein festge-
legten Drehbuch gibt es praktisch keinen Raum mehr für
Improvisation, für freie, ungezügelte Meinungsäußerung
– sie wäre für den Moderator und seine Sendung zu riskant,
ja gefährlich.
Eine andere unsichtbare Eigenschaft dieses Raumes ist
die Logik des Sprachspiels, wie die Philosophen sagen. Es
gibt stillschweigend anerkannte Regeln für das Spiel, das
ablaufen soll, denn jedes soziale Universum, in dem geredet
wird, verfügt über eine Struktur, die einiges zuläßt und an-
deres nicht. Die erste stillschweigende Voraussetzung dieses
Sprachspiels: Die demokratische Diskussion folgt den Re-
geln des Catch-as-catch; man braucht Konfrontationen, den
Guten, das Biest... Aber dennoch sind nicht alle Schläge er-
laubt. Die Schläge müssen der Logik einer formalen, kunst-
vollen Sprache folgen. Weitere Eigenschaften des Raumes:
die schon erwähnte Komplizität zwischen den Profis, denen,
die ich die fast-thinkers nenne, den Spezialisten des Weg-
werfdenkens; die Fernsehleute nennen sie bons clients, gute
Kunden. Das sind Leute, die man einladen kann, von denen
man weiß, daß sie sich benehmen werden, daß sie keine
Schwierigkeiten verursachen, keine Vorfälle provozieren
und daß sie redselig sind. Es gibt ein Universum solch
»guter Kunden«, die sich hier wohl fühlen wie der Fisch im
Wasser, und andere, die sind wie Fische auf dem Trockenen.
Und ein letztes unsichtbares Element: das Unbewußte der
Diskussionsleiter. Es ist mir sehr oft passiert, und das sogar
mit Journalisten, die mir ausgesprochen wohlwollten, daß
ich alle meine Antworten damit beginnen mußte, die Frage
in Frage zu stellen. Mit ihrer Brille, mit ihren Denkkatego-
rien versehen, formulieren die Journalisten Fragen, die mit
nichts etwas zu tun haben. Zum Beispiel haben sie über die
Probleme der Vorstädte all die Phantasmen im Kopf, von
denen ich vorhin sprach, und man kann nicht darauf ein-
gehen, ohne zuerst höflich zu sagen: »Ihre Frage ist sicher
sehr interessant, aber mir scheint, es gibt noch eine andere,
wichtigere...« Wenn man nicht wenigstens einigermaßen
gut vorbereitet ist, antwortet man auf Fragen, die sich über-
haupt nicht stellen.

Widersprüche und Spannungen

Das Fernsehen verfügt als Kommunikationsinstrument


nur über sehr wenig Autonomie, es ist einer ganzen Reihe
von Zwängen ausgesetzt, die von den sozialen Beziehungen
zwischen den Journalisten herrühren: heftige, unerbittliche,
bis zum Absurden reichende Konkurrenz zwischen ihnen,
aber zugleich auch heimliches Einverständnis und objektive
Komplizenschaft, die auf gemeinsamen Interessen beruhen,
welche ihrerseits mit ihrer Position im Feld der symboli-
schen Produktion und damit zusammenhängen, daß sie
gemeinsame geistige Strukturen, Wahrnehmungs- und
Bewertungskategorien haben, die aus ihrer sozialen Her-
kunft, ihrer Ausbildung (oder Nichtausbildung) resultie-
ren. Woraus hervorgeht, daß dieses scheinbar entfesselte
Kommunikationsinstrument Fernsehen in Wirklichkeit
gefesselt ist. Als das Fernsehen in den sechziger Jahren
aufkam, haben eine Menge »Soziologen« (in ganz großen
Anführungszeichen) vorschnell erklärt, das Fernsehen
als »Massenkommunikationsmittel« werde die Menschen
»vermassen«. Das Fernsehen werde alle Zuschauer nach
und nach nivellieren, homogenisieren. Dabei hat man die
Widerstandskräfte unterschätzt. Und vor allem hat man
die Fähigkeit des Fernsehens unterschätzt, diejenigen um-
zuformen, die es machen, und darüber hinaus die anderen
Journalisten und die Gesamtheit der Kulturproduzenten
(durch die unwiderstehliche Faszination, die es auf man-
che unter ihnen ausübte). Das wichtigste und kaum recht
vorhersehbare Phänomen war der außerordentliche Einfluß
des Fernsehens auf die Gesamtheit der kulturellen Tätig-
keiten, einschließlich der wissenschaftlichen und künstleri-
schen. Heute hat das Fernsehen einen Widerspruch bis zum
Äußersten, bis an seine Grenze getrieben, der alle Bereiche
der Kulturproduktion befällt. Ich meine den Widerspruch
zwischen einerseits den ökonomischen und sozialen Vor-
aussetzungen für die Hervorbringung bestimmter Werke
(ich habe das Beispiel Mathematik genannt, weil es am
einleuchtendsten ist, aber dasselbe gilt für Avantgardedich-
tung, für Philosophie, Soziologie usw.), Werke, die man
»rein« nennt – ein lächerliches Wort, sagen wir: autonom
im Hinblick auf kommerzielle Zwänge -, und andererseits
den sozialen Voraussetzungen für die Verbreitung der un-
ter solchen Voraussetzungen entstandenen Produkte; den
Widerspruch zwischen den Voraussetzungen, die gegeben
sein müssen, um avantgardistische Mathematik, avantgar-
distische Poesie usw. zu machen, und den Voraussetzungen,
die man braucht, um diese Dinge aller Welt bekannt zu
machen. Das Fernsehen treibt diesen Widerspruch zum
Äußersten in dem Maße, in dem es mittels Einschaltquote
mehr als alle anderen Bereiche kultureller Produktion dem
Druck des Kommerziellen unterworfen ist.
Entsprechend stark sind in diesem Mikrokosmos, der
Welt des Journalismus, die Spannungen zwischen denen,
die Werte wie Autonomie, Freiheit gegenüber dem Kom-
merziellen, gegenüber Aufträgen, Chefs usw. verteidigen
möchten, und denen, die sich den Zwängen unterwerfen
und von ihnen dafür belohnt werden... Diese Spannungen
gelangen kaum zum Ausbruch, jedenfalls nicht auf dem
Bildschirm, denn die Voraussetzungen dafür sind selten
gegeben: Ich denke etwa an den Gegensatz zwischen den
großen Stars mit den Rieseneinkünften, die im Rampen-
licht stehen und dafür besonders entlohnt werden, aber
auch besonders unterwürfig sind, und den unsichtbaren
Handlangern der Nachrichtensendungen und Reportagen,
die immer kritischer, weil infolge der Logik des Arbeits-
marktes immer besser ausgebildet sind und dabei immer un-
interessantere, unbedeutendere Dinge zu tun haben. Hinter
den Mikrophonen, den Kameras stehen heute Menschen,
die viel gebildeter sind als ihre Kollegen in den sechziger
Jahren; anders gesagt: Die Spannung zwischen dem, was
beruflich verlangt wird, und den Ansprüchen, die man in
den Journalistenschulen und auf den Universitäten erwirbt,
steigt immer weiter – obwohl, wer wirklich Karriere ma-
chen will, sich schon vorgreifend anpaßt... Ein Journalist
sagte neulich, aus der Krise im Alter von  (mit  ent-
deckte man, daß der Beruf nicht hält, was man sich von
ihm versprochen hatte) werde eine Dreißiger-Krise. Die
Fernsehleute entdecken die fürchterlichen Zwänge ihres
Berufs immer früher, und vor allem die von der Einschalt-
quote ausgehenden Zwänge. Im Journalismus finden sich
mit die meisten Unruhigen, Unzufriedenen, Empörten oder
zynisch Resignierten; unter ihnen (natürlich vor allem am
unteren Ende der Hierarchie) breiten sich Zorn, Ekel oder
Lustlosigkeit gegenüber einer Arbeit aus, die man zugleich
als »anders als die anderen« erlebt oder erleben will. Die
Situation ist jedoch alles andere als eine, in der Mißmut
und Ablehnung die Gestalt echten individuellen oder gar
kollektiven Widerstands annehmen könnten.
Wenn man verstehen will, wovon ich gesprochen habe
und was, obwohl ich mir alle Mühe gab, nicht mißverstan-
den zu werden, doch als individuelle Schuldzuweisung an
Moderatoren und Kommunikatoren aufgefaßt worden sein
wird, muß man sich auf die Ebene der Mechanismen, die
das Ganze steuern, die Ebene der Strukturen begeben. Pla-
ton (um ihn noch einmal zu zitieren) sagte, wir seien Mari-
onetten der Gottheit. Das Fernsehen ist ein Universum, das
den Eindruck vermittelt, daß die Akteure, trotz allem An-
schein von Wichtigkeit, von Freiheit, von Autonomie und
manchmal sogar einer erstaunlichen Aura (man braucht
nur die Fernsehzeitschriften zu lesen), Marionetten eines
Zwangszusammenhanges sind, der zu beschreiben, einer
Struktur, die herauszuarbeiten und ans Licht zu bringen
ist.
Zweiter Vortrag
Die unsichtbare Struktur und ihre Auswirkungen

Um nicht nur, wenn auch noch so penibel, die Vorgänge in


einem Fernsehstudio zu beschreiben, sondern um die Me-
chanismen ausfindig zu machen, die diese erklären, bin ich
gezwungen, einen ein wenig technisch klingenden Begriff
einzuführen: den des journalistischen Feldes. Die Welt des
Journalismus ist ein Mikrokosmos mit eigenen Gesetzen.
Dieser Mikrokosmos ist definiert durch seine Stellung in
einem umfassenden Ganzen und durch die Anziehung und
Abstoßung, die andere Mikrokosmen auf ihn ausüben. Er
ist autonom, folgt seinem eigenen Gesetz, das heißt: Was
in ihm vor sich geht, kann nicht direkt von äußeren Fak-
toren her erschlossen werden. Daher mein Einwand gegen
die bloß ökonomische Erklärung der Entwicklungen im
Journalismus. Was bei TF vor sich geht, kann man zum
Beispiel nicht durch die bloße Tatsache erklären, daß
dieser Kanal Bouygues gehört. Natürlich wäre eine Erklä-
rung unzureichend, die das nicht berücksichtigt, aber eine
Erklärung, die nur das berücksichtigt, wäre nicht weniger
unzureichend. Und sie wäre vielleicht noch unzureichender,
weil sie den Eindruck erwecken würde, zureichend zu sein.
Es gibt einen mit der marxistischen Tradition verbundenen
Materialismus, der zu kurz greift und nichts erklärt, der
anprangert, ohne das geringste aufzuklären.
Marktanteile und Konkurrenz

Um zu verstehen, was bei TF vor sich geht, muß man alle
Faktoren berücksichtigen, die dazu beitragen, daß TF sich
in einem Universum objektiver Beziehungen zwischen den
verschiedenen Fernsehkanälen befindet, die zueinander
in Konkurrenz stehen, in einer Konkurrenz jedoch, deren
Form, von außen nicht erkennbar, durch Kräfteverhält-
nisse definiert ist, die über Indikatoren wie Marktanteile,
Stellenwert bei den Werbekunden, das von angesehenen
Journalisten verkörperte kollektive Kapital usw. erfaßt
werden können. Anders gesagt, es finden zwischen diesen
Anstalten nicht nur Interaktionen statt, man hat es nicht
nur mit Leuten zu tun, die miteinander sprechen (oder
auch nicht), Leuten, die einander beeinflussen, einander
lesen, all das, was ich bisher erzählt habe; es existieren auch
völlig unsichtbare Kräfteverhältnisse, und das hat zur Folge,
daß, wer verstehen will, was bei TF oder Arte vor sich geht,
die Gesamtheit der objektiven Kräfteverhältnisse berück-
sichtigen muß, aus denen die Struktur des Feldes besteht.
Im Feld der Wirtschaftsunternehmen zum Beispiel kann
ein sehr mächtiges Unternehmen den Wirtschaftsraum
fast völlig umgestalten; es kann die Preise so senken, daß
neue Unternehmen nicht Fuß fassen können, und so eine
Art Zugangsbarriere errichten. Solche Auswirkungen sind
nicht unbedingt gewollt. TF hat die Fernsehlandschaft
einfach dadurch verändert, daß dieser Sender eine Menge
spezifischer Faktoren in sich versammelte, die in diesem
Universum Einfluß haben und sich effektiv in Marktanteile
umsetzen. Diese Struktur wird weder von den Fernsehzu-
schauern noch von den Journalisten wahrgenommen. Sie
nehmen die Auswirkungen wahr, sehen aber nicht, wie
weit der relative Stellenwert der Institution, in der sie sich
befinden, sie selbst, ihre Stellung und ihren Stellenwert
innerhalb der Institution bestimmt. Wenn ein Journalist
verstehen will, was er bewirken kann, muß er sich eine Rei-
he von Parametern bewußt machen: einerseits die Position
seines Unternehmens innerhalb des journalistischen Feldes,
ob er also im Fernsehen oder für eine Tageszeitung arbeitet,
zweitens seine eigene Position im Raum seines Presseor-
gans oder seines Senders.
Ein Feld ist ein strukturierter gesellschaftlicher Raum,
ein Kräftefeld – es gibt Herrscher und Beherrschte, es gibt
konstante, ständige Ungleichheitsbeziehungen in diesem
Raum -, und es ist auch eine Arena, in der um Verände-
rung oder Erhaltung dieses Kräftefeldes gekämpft wird. In
diesem Universum bringt jeder die (relative) Kraft, über
die er verfügt und die seine Position im Feld und folglich
seine Strategien bestimmt, in die Konkurrenz mit den
anderen ein. Die wirtschaftliche Konkurrenz der Sender
oder Zeitungen um Leser oder Zuschauer oder, wie es
auch heißt, um Marktanteile spielt sich konkret in Form
einer Konkurrenz zwischen den Journalisten ab, und diese
Konkurrenz hat ihre eigenen, spezifischen Ziele: den Scoop,
die Exklusivmeldung, das berufliche Ansehen, und sie wird
nicht als rein wirtschaftlicher Kampf um finanzielle Ge-
winne erfahren und verarbeitet, obwohl sie den Zwängen
unterliegt, die mit der Position eines Informationsmediums
innerhalb ökonomischer und symbolischer Kräfteverhält-
nisse verbunden sind. Es gibt heute objektive, unsichtbare
Beziehungen zwischen Leuten, die sich vielleicht niemals
begegnen – zwischen Mitarbeitern von Le Monde Diplo-
matique und TF etwa, um einen Extremfall zu wählen
-, aber gezwungen sind, bei dem, was sie tun, bewußt oder
unbewußt Zwänge oder Einflüsse zu berücksichtigen, die
sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu demselben Universum
geltend machen. Anders gesagt, wenn ich heute wissen will,
was dieser oder jener Journalist denken oder schreiben wird,
was er einleuchtend oder undenkbar, selbstverständlich oder
seiner unwürdig findet, muß ich die Position kennen, die er
in diesem Raum innehat, das heißt den spezifischen Stel-
lenwert des Mediums, für das er arbeitet und das sich unter
anderem ökonomisch bemißt, in Marktanteilen, aber auch,
und das ist schwerer zu quantifizieren, in seinem symboli-
schen Stellenwert. (Wenn man alles erfassen wollte, müßte
man im Grunde auch die Position des inländischen Me-
dienfeldes innerhalb des globalen Feldes einbeziehen und
zum Beispiel die auf ökonomisch-technischer und vor allem
symbolischer Ebene dominierende Stellung des amerikani-
schen Fernsehens berücksichtigen, das für viele Journalisten
ein Vorbild und eine Inspirationsquelle darstellt, aus der sie
ihre Einfalle, Szenarios, Verfahren beziehen.)
Die heutige Form dieser Struktur läßt sich besser verste-
hen, wenn man die Geschichte des Prozesses nachzeichnet,
aus der sie hervorging. In den fünfziger Jahren spielte das
Fernsehen im journalistischen Feld kaum eine Rolle; wer
von Journalismus sprach, dachte kaum an das Fernsehen.
Die Fernsehleute waren doppelt untergeordnet: Weil man
sie im Verdacht hatte, von politischen Instanzen gesteuert
zu werden, waren sie in ihrem Prestige kulturell, symbo-
lisch untergeordnet, und sie waren zugleich wirtschaftlich
untergeordnet, insofern sie von staatlichen Subventionen
abhingen und also weniger effizient, weniger mächtig waren.
Mit den Jahren (der Prozeß wäre im Detail zu beschreiben)
kehrte sich diese Beziehung vollständig um; heute tendiert
das Fernsehen dazu, im journalistischen Feld ökonomisch
und symbolisch zu dominieren. Das macht vor allem die
Pressekrise spürbar: Zeitungen verschwinden, andere
kämpfen unablässig ums Überleben, um die Gewinnung
oder Wiedergewinnung ihrer Leserschaft, wobei jedenfalls
in Frankreich diejenigen am meisten bedroht sind, die vor
allem Vermischtes und Sport boten und einem Fernsehen
nicht viel entgegenzusetzen haben, das sich immer mehr
auf diese emen hin orientiert, und zwar in dem Maße,
in dem es vom seriösen Journalismus nicht mehr dominiert
wird (der nämlich an erster Stelle, auf der ersten Seite,
Nachrichten aus dem Ausland, politische Meldungen, ja
sogar politische Analysen bringt oder brachte und die »Ver-
mischten Meldungen« und den Sport auf die angebrachten
Plätze verwies).
Mit dieser Beschreibung breche ich die Dinge übers
Knie; man müßte ins Detail gehen, eine Sozialgeschichte
(es gibt sie leider nicht) der Entwicklung der Beziehungen
zwischen den verschiedenen Nachrichtenmedien anferti-
gen (und nicht nur die Geschichte eines Mediums). Das
Wichtigste wird auf der Ebene der Strukturgeschichte der
Gesamtheit dieses Universums deutlich. Was in einem Feld
zählt, ist der relative Stellenwert: Eine Zeitung kann völ-
lig identisch bleiben, sie braucht keinen einzigen Leser zu
verlieren, sich in nichts zu ändern und kann sich nichtsdes-
toweniger völlig transformieren, weil ihr Stellenwert und
ihre relative Position im Raum sich transformieren. Zum
Beispiel hört eine Zeitung auf zu dominieren, wenn ihre
Macht, den sie umgebenden Raum zu gestalten, sich ab-
schwächt, wenn sie nicht mehr den Ton angibt. Man kann
sagen, daß Le Monde im Bereich der Presse den Ton angab.
Es existierten bereits ein Feld und der Gegensatz, den alle
Pressehistoriker feststellen, zwischen den Zeitungen, die
news, Nachrichten, Vermischtes liefern, und denen, die
views, Meinungen, Analysen usw. liefern; zwischen Zei-
tungen mit hoher Auflage wie France Soir und solchen mit
relativ niedriger Auflage, die dafür eine quasioffizielle Au-
torität ausüben. Le Monde stand unter beiden Aspekten gut
da: Die Auflage war hoch genug, um für Anzeigenkunden
eine Macht darzustellen, und zugleich verfügte die Zeitung
über genug symbolisches Kapital, um Autorität auszuüben.
Sie versammelte die beiden in diesem Feld ausschlaggeben-
den Machtfaktoren.
Die Meinungspresse ist im . Jahrhundert aufgekom-
men, und zwar in Reaktion auf die auflagenstarken Blätter,
die einem breiten Publikum Sensationen boten, was bei
gebildeten Lesern immer schon Angst oder Abscheu aus-
gelöst hat. Das Fernsehen, dieses Massenmedium schlecht-
hin, ist als Phänomen, abgesehen von seiner Reichweite,
nicht vollkommen neu. Nebenbei gesagt, eines der großen
Probleme der Soziologen besteht darin, nicht auf eine der
beiden symmetrisch einander entsprechenden Illusionen
hereinzufallen: die Illusion des jamais vu, noch nie dage-
wesen (es gibt Soziologen, die das hinreißend finden, und
es wirkt auch sehr schick, vor allem im Fernsehen, unerhört
Neues, Revolutionäres anzukündigen), und die des toujours
ainsi, alles wie gehabt (das findet sich eher bei konservativen
Soziologen: »Nichts Neues unter der Sonne, immer wird es
oben und unten geben, reich und arm...«). Die Gefahr ist
immer sehr groß und um so größer, als der Vergleich zwi-
schen Epochen äußerst schwierig ist: Nur Strukturen lassen
sich miteinander vergleichen, und man läuft ständig Gefahr,
sich zu täuschen und als unerhört zu beschreiben, was banal
ist – einfach aus mangelndem Wissen. Darin liegt einer
der Gründe dafür, daß Journalisten manchmal gefährlich
sind: Da sie nicht immer wirklich gebildet sind, wundern
sie sich über Dinge, die nicht sehr verwunderlich sind, und
über wirklich Staunenswertes wundern sie sich nicht... Die
Geschichte ist für uns Soziologen unerläßlich; leider wissen
wir in vielen Bereichen, vor allem im zeitgeschichtlichen,
noch nicht sehr viel, vor allem über neue Phänomene wie
den Journalismus.

Eine banalisierende Kraft

Um auf die Frage der Konsequenzen zurückzukommen, die


das Auftauchen des Fernsehens mit sich bringt: Zwar hat
der Gegensatz schon früher bestanden, aber nie in dieser
Schärfe (ich wähle einen Mittelweg zwischen »nie dage-
wesen« und »wie gehabt«). Durch seine Reichweite stellt
das Fernsehen den Pressejournalismus und überhaupt die
Welt der Kultur vor ein furchtbares Dilemma. Neben ihm
scheint die Massenpresse ziemlich belanglos, die dereinst
schaudern ließ (Raymond Williams stellte die Hypothese
auf, daß die ganze romantische Dichtung in England von
dem Horror ausgelöst wurde, den das Aufkommen der
Massenpresse den Schriftstellern einflößte). Durch seine
Reichweite und seinen außerordentlichen Stellenwert löst
das Fernsehen Effekte aus, die, obwohl nicht völlig neu,
doch sehr neuartig sind.
Zum Beispiel kann das Fernsehen an einem Abend wäh-
rend der Acht-Uhr-Nachrichten mehr Menschen erreichen
als die ganze französische Morgen- und Abendpresse zu-
sammengenommen. Wenn die von einem solchen Medium
gelieferten Meldungen aseptische, homogenisierte Omni-
bus-Meldungen werden, liegen die möglichen politischen
und kulturellen Auswirkungen auf der Hand. Das Gesetz
ist altbekannt: Je breiter das Publikum ist, auf das ein Pres-
seorgan oder überhaupt ein Kommunikationsmedium zielt,
je stromlinienförmiger muß es sich verhalten; es muß alles
Kontroverse meiden und sich befleißigen, »niemanden zu
schockieren«, wie es heißt, niemals Probleme aufzuwer-
fen, oder höchstens Scheinprobleme. Im täglichen Leben
spricht man oft vom Wetter, weil man bei diesem ema
sicher sein kann, nicht auf Widerspruch zu stoßen – das
Softthema schlechthin, wenn Sie sich nicht gerade als Ur-
lauber mit einem Bauern unterhalten, der auf Regen wartet.
Je breiter das Publikum ist, auf das ein Informationsmedi-
um zielt, desto mehr problemfreie Omnibus-emen stellt
es in den Vordergrund. Das ema wird entsprechend den
Wahrnehmungskategorien des Rezipienten konstruiert.
Deshalb kommt die ganze kollektive Anstrengung um
Homogenisierung und Banalisierung, um »konform« und
»unpolitisch« zu sein, die ich beschrieben habe, perfekt

 Vgl. Raymond Williams, Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien


zur historischen Semantik von >Kultur<, München, Rogner & Bern-.
hard, . (A.d.Ü.)
an, obwohl eigentlich kein Subjekt sie lenkt, obwohl sie
niemals von irgend jemandem so gedacht und gewollt war.
Solche Dinge beobachtet man oft in der sozialen Welt: Es
ereignet sich etwas, das keiner will und das doch ganz den
Anschein haben kann, als sei es gewollt (»Man macht das,
um...«). Hier wird die vereinfachende Kritik gefährlich:
Sie dispensiert von der notwendigen Arbeit, Phänomene
zu verstehen wie etwa dies, daß jenes höchst merkwürdi-
ge Produkt »Fernsehnachrichten« zustande kommt, ohne
daß jemand es wirklich so will, ohne daß die Geldgeber
spürbar einzugreifen hätten – ein Produkt für den Durch-
schnitts-geschmack, das Altbekanntes bestätigt und vor
allem die mentalen Strukturen unangetastet läßt. Gewöhn-
lich spricht man von Revolutionen, wenn die materiellen
Grundlagen einer Gesellschaft angetastet werden (durch
Verstaatlichung von Kircheneigentum z. B.); es gibt aber
auch symbolische Revolutionen, solche, die von Künstlern,
Wissenschaftlern oder auch großen religiösen oder manch-
mal, seltener, von politischen Propheten ausgelöst werden
– Revolutionen, die an die mentalen Strukturen rühren, das
heißt: unsere Sicht- und Denkweisen verändern. Auf dem
Gebiet der Malerei war dies der Fall bei Manet, der einen
grundlegenden Gegensatz erschütterte, eine Struktur, auf
der die ganze akademische Ausbildung beruhte: den Ge-
gensatz zwischen dem Zeitgenössischen und dem Antiken.
Wenn ein so mächtiges Instrument wie das Fernsehen sich
auch nur im geringsten auf eine solche symbolische Revolu-
tion zubewegen würde, es würde, dessen bin ich mir sicher,
sofort gebremst... Aber ohne daß das irgendwer verbieten
müßte, bloß von der Konkurrenz getrieben und den anderen
erwähnten Mechanismen, tut das Fernsehen sowieso nichts
dergleichen. Es ist den mentalen Strukturen des Publi-
kums vollendet angepaßt. Zu dieser Logik zählt auch der
Moralingehalt des Fernsehens, seine »Aktion Sorgenkind«-
Mentalität. »Gute Gefühle«, sagte Gide, »bringen schlechte
Literatur hervor«; aber gute Gefühle bringen hervorragende
Einschaltquoten. Es wäre der Mühe wert, einmal über den
Moralismus der Fernsehleute nachzudenken: Oft genug
Zyniker, sind sie in ihren Äußerungen zu moralischen Fra-
gen doch unwahrscheinlich konformistisch. Unsere Nach-
richtensprecher, Moderatoren, Sportreporter haben sich zu
Moralaposteln entwickelt; mühelos schwingen sie sich zu
Verkündern einer typisch kleinbürgerlichen Moral auf, die
bestimmen, »was zu halten ist« von dem, was sie »die Pro-
bleme der Gesellschaft« nennen, von Aggressionen in den
Vorstädten oder von der Gewalt an den Schulen. Dasselbe
gilt für Kunst oder Literatur: Die sogenannten literarischen
Sendungen, gerade die bekanntesten, fördern die etablier-
ten Werte, den Konformismus und Akademismus oder
auch das, was gerade hoch im Kurs steht, und zwar tun sie
es immer dienstfertiger.
Die Journalisten (genauer gesagt: das journalistische
Feld) verdanken ihre Bedeutung in der sozialen Welt dem
Umstand, daß sie ein faktisches Monopol über die Instru-
mente zur Herstellung und Verbreitung von Informationen
auf nationaler Ebene innehaben, und vermittels dieser In-
strumente ein Monopol über den Zugang einfacher Bürger,
aber auch anderer Kulturproduzenten – Wissenschaftler,
Künstler, Schriftsteller – zu dem, was man manchmal
»Öffentlichkeit« nennt, das heißt zum breiten Publikum.
(Dieses Monopol macht sich störend bemerkbar, sobald
man versucht, als Individuum oder als Mitglied einer Verei-
nigung, irgendeiner Gruppierung, ein breites Publikum zu
informieren.) Obwohl sie eine untergeordnete, dominierte
Stellung in den Feldern der Kulturproduktion einnehmen,
üben sie eine ganz seltene Form von Herrschaft aus: Sie
haben die Verfügungsgewalt über die Mittel, sich öffentlich
zu äußern, öffentlich zu existieren, gekannt zu werden, zu
öffentlicher Bekanntheit zu gelangen (was für Politiker und
für manche Intellektuelle ein entscheidendes Ziel darstellt).
Dies führt dazu, daß sie (jedenfalls die mächtigsten unter
ihnen) ein Ansehen genießen, das zu ihren intellektuellen
Meriten oft in keinerlei Verhältnis steht... Und sie können
einen Teil dieser Macht, Ruhm zu vergeben, zugunsten
ihrer eigenen Person verwenden (daß selbst die anerkann-
testen Journalisten gesellschaftlichen Kategorien, die sie
gelegentlich dominieren können, wie Intellektuellen – zu
denen sie brennend gern gehören würden – und Politikern
strukturell untergeordnet sind, trägt wohl zur Erklärung
ihres konstanten Hangs zum Antiintellektualismus bei).
Vor allem aber verhilft ihnen ihr ständiger Zugang zu öf-
fentlicher Sichtbarkeit, zur Äußerung vor einem breiten Pu-
blikum – etwas, was jedenfalls bis zur Erfindung des Fern-
sehens sogar für hochberühmte Kulturproduzenten ganz
undenkbar war – dazu, daß sie der ganzen Gesellschaft
die Grundlagen ihrer Weltsicht, ihre Problemstellung, ihre
Optik aufnötigen können. Man wird einwenden, daß die
Journalistenwelt uneinheitlich ist, daß sie differenziert und
diversifiziert und also in der Lage ist, alle Meinungen, alle
Gesichtspunkte zu vertreten oder ihnen Gelegenheit zu
geben, sich zu äußern (und tatsächlich kann man die un-
tereinander konkurrierenden Journalisten und Medien bis
zu einem gewissen Punkt gegeneinander ausspielen, sofern
man über ein Minimum an symbolischem Stellenwert ver-
fügt). Aber das journalistische Feld beruht wie die anderen
Felder unweigerlich und jenseits aller Unterschiede von Po-
sition und Meinung auf einer Gesamtheit von allen geteilter
Grundannahmen und Dogmen. Aus diesen Grundannah-
men, die in einem bestimmten System von Denkkategorien
wurzeln, in einer bestimmten Beziehung zur Sprache
– eben in allem, was zum Beispiel ein Urteil wie »kommt gut
beim Zuschauer an« impliziert -, ergibt sich der Ausschnitt,
den Journalisten in der sozialen Wirklichkeit und auch in
der Gesamtheit der symbolischen Produktionen wahrneh-
men. Kein Diskurs (wissenschaftliche Analyse, politisches
Manifest usw.), keine Aktion (Demonstration, Streik usw.),
die nicht, um überhaupt öffentlich diskutierbar zu werden,
die Probe der journalistischen Auswahl bestehen müßten
– das heißt eine erbarmungslose Zensur, die die Journa-
listen ausüben, ohne es überhaupt zu wissen, und bei der
nur durchschlüpft, was in der Lage ist, sie zu interessieren,
ihre »Aufmerksamkeit zu wecken«, das heißt ihren Kate-
gorien, ihrem Wahrnehmungsschema zu entsprechen, und
bei der sie als unbedeutend oder gleichgültig symbolische
Äußerungen zurückweisen, die es verdienen würden, alle
zu erreichen.
Eine weitere, schwieriger zu erfassende Folge des relati-
ven Gewichts des Fernsehens im publizistischen Raum und
des Einflusses kommerzieller Zwänge auf dieses dominie-
rend gewordene Fernsehen ist der Übergang von einer Po-
litik kultureller Aufklärung zu einer Art spontaneistischer
Demagogie (die sich natürlich vor allem im Fernsehen
breitmacht, aber auch die seriöse Presse ergreift, in der
in Form »freier Stellungnahmen«, »offener Aussprachen«
usw. Leserbriefen immer mehr Platz eingeräumt wird).
Das Fernsehen der fünfziger Jahre erhob einen kulturellen
Anspruch und bediente sich seines Monopols in gewisser
Weise, um jedermann Produkte mit kulturellen Intentionen
(Dokumentarfilme, Fernsehbearbeitungen klassischer Wer-
ke, Kulturdebatten usw.) aufzudrängen und den Geschmack
des breiten Publikums zu formen; das Fernsehen der neun-
ziger Jahre will diesen Geschmack nur mehr bedienen und
ausschlachten, um über Rohprodukte die größtmögliche
Zuschauerzahl zu erreichen – paradigmatisch dafür die
Talkshow, die Psychoshow, hüllenlose Erfahrungsberichte
oft extremer Art, die einer Form von Voyeurismus und
Exhibitionismus entgegenkommen (wie übrigens auch die
Unterhaltungssendungen, an denen man sogar als einfacher
Zuschauer brennend gern teilnimmt, um wenigstens einen
Augenblick lang sichtbar zu sein). Indessen teile ich nicht
die Nostalgie mancher nach dem pädagogisch-paternalis-
tischen Fernsehen der Vergangenheit; ich denke, daß es zu
einer wirklich demokratischen Nutzung der Massenmedien
in nicht geringerem Gegensatz steht als der populistische
Spontaneismus und die demagogische Unterwerfung unter
populäre Geschmacksrichtungen.

Von der Einschaltquote entschiedene Kämpfe

Wir müssen nun über den bloßen Anschein hinausgehen,


müssen das, was sich vor der Kamera abspielt, und auch die
Konkurrenz innerhalb des journalistischen Feldes hinter
uns lassen und uns mit dem Kräfteverhältnis zwischen den
verschiedenen Organen beschäftigen insofern, als dieses
Verhältnis selbst die Form der Interaktionen bestimmt. Um
zu verstehen, warum wir heute regelmäßig diese und jene
Debatte zwischen diesem und jenem Journalisten sehen,
müssen wir die Positionen der verschiedenen Presseorgane
einbeziehen, die sie im journalistischen Raum vertreten,
und ihre Position innerhalb dieser Organe. Und auch wenn
wir verstehen wollen, was ein Kommentator in Le Monde
schreiben und was er nicht schreiben kann, müssen wir die-
se beiden Faktoren immer im Kopf haben. Die mit der Posi-
tion verbundenen Zwänge werden als Verbote oder ethische
Anweisungen erfahren: »Das ist mit der Tradition von Le
Monde unvereinbar«, oder: »Das steht dem Geist von Le
Monde entgegen«, »hier kann man das nicht machen«, usw.
Alle diese Erfahrungen, die in Form ethischer Vorschriften
verkündet werden, übersetzen die Struktur des Feldes in
das Verhalten einer Person, die eine bestimmte Position in
diesem Raum einnimmt.
Die verschiedenen Protagonisten in einem Feld haben
oft abwertende Vorstellungen von den anderen Akteuren,
zu denen sie in Konkurrenz stehen, und äußern sich ste-
reotyp und beleidigend über sie (so produziert im Raum
des Sports jede Sportart stereotype Vorstellungen von den
anderen – die Rugbyspieler nennen die Fußballer manchots,
Armamputierte). Bei diesen Vorstellungen handelt es sich
oft um Kampfstrategien, die das bestehende Kräftever-
hältnis verändern oder erhalten sollen. Gegenwärtig ist zu
beobachten, daß Pressejournalisten in dominierter Position
– solche, die bei kleinen Blättern in untergeordneter Stellung
tätig sind – gegenüber dem Fernsehen einen sehr kritischen
Diskurs entwickeln.
Im Grunde genommen sind solche Vorstellungen Stel-
lungnahmen, in denen sich vor allem die Position dessen
niederschlägt, der sie in mehr oder weniger verschleierter
Form artikuliert. Zugleich aber sind dies auch Strategien,
die auf eine Veränderung der Position abzielen. Heutzutage
ist die Auseinandersetzung um das Fernsehen im journalis-
tischen Milieu zentral; das macht die Untersuchung dieses
Gegenstands besonders schwierig. Der Diskurs über das
Fernsehen, der wissenschaftlichen Anspruch erhebt, ist
zum Teil nichts anderes als die Wiedergabe dessen, was
die Fernsehleute über das Fernsehen sagen. (Journalisten
halten einen Soziologen für um so besser, als das, was er
sagt, sich dem annähert, was sie denken. Man darf daher
nicht hoffen – und das ist übrigens auch gut so -, sich bei
Fernsehleuten beliebt zu machen, wenn man die Wahrheit
über das Fernsehen sagt.) Nun gibt es Indizien dafür, daß
der Pressejournalismus gegenüber dem Fernsehen immer
mehr auf dem Rückzug ist: In allen Blättern schwillt die
Fernsehbeilage an, und die Pressejournalisten selbst legen
größten Wert darauf, vom Fernsehen übernommen zu
werden (und natürlich auch darauf, im Fernsehen gesehen
zu werden, was ihren Preis bei der Presse hochtreibt: Ein
Journalist muß seine Fernsehsendung haben, wenn er etwas
gelten will; es kommt sogar vor, daß Fernsehjournalisten
sehr wichtige Positionen bei der Presse erhalten, womit das
Spezifische des Schreibens, des Metiers überhaupt in Frage
gestellt wird: Wenn eine Fernsehjournalistin von einem Tag
auf den anderen die Leitung eines Presseorgans überneh-
men kann, fragt man sich, worin spezifisch journalistische
Kompetenz eigentlich besteht); und schließlich wird dieser
Rückzug auch dadurch indiziert, daß das, was die Amerika-
ner agenda nennen (die emen, über die man zu sprechen,
die man zu kommentieren hat, die wichtigen Probleme),
immer mehr vom Fernsehen vorgegeben wird (in der zir-
kulären Zirkulation der Nachrichten, die ich beschrieben
habe, hat das Fernsehen einen entscheidenden Stellenwert,
und selbst wenn einmal ein ema – eine Affäre, eine
Debatte – von Pressejournalisten lanciert wird, so erlangt
es zentrale Bedeutung doch erst, wenn es vom Fernsehen
aufgegriffen, orchestriert und gleichzeitig damit politisch
relevant gemacht wird). Dadurch wird die Position der
Pressejournalisten bedroht und gleichzeitig die Besonder-
heit ihrer Arbeit in Frage gestellt. Alles, was ich hier sage,
wäre zu präzisieren und zu überprüfen: Ich bilanziere eine
Reihe von Forschungsergebnissen und entwickle zugleich
ein Programm für weitergehende Untersuchungen. Diese
Dinge sind sehr kompliziert, und ihre Kenntnis kann nur
durch aufwendige empirische Arbeiten vorangebracht wer-
den (was einige selbsternannte Päpste einer nichtexistenten
Wissenschaft, der »Mediologie«, nicht hindert, noch vor
jeder Bestandsaufnahme ihre oreiligen Schlußfolgerungen
über den Zustand der Medienwelt zu verkünden).
Das Wichtigste aber ist, daß aufgrund des Anwachsens
der symbolischen Bedeutung des Fernsehens und aufgrund
der Bedeutungszunahme jener Fernsehkanäle, die sich mit
dem größten Zynismus und dem größten Erfolg der Jagd

 Bourdieu spielt auf den Fall der populären Fernsehsprecherin Christine


Ockrent an, die Chefredakteurin des Nachrichtenmagazins L‘Express
wurde. (A.d.Ü.)
 Vgl. Regis Debray, Cours de mediologie generale (Paris, Gallimard, )
und die von ihm seit  herausgegebene Zeitschrift Les Cahiers de
Mediologie. (A. d. Ü.)
nach dem Sensationellen, dem Spektakulären, dem Un-
gewöhnlichen hingeben, sich tendenziell ein bestimmtes
Konzept von Nachricht, wie es bislang der dem Sport und
Vermischten gewidmeten sogenannten Sensationspresse
vorbehalten war, des gesamten journalistischen Feldes
bemächtigt. Und damit prägt gleichzeitig eine bestimmte
Kategorie von Journalisten – diejenigen nämlich, die man
mit Traumhonoraren anwirbt, weil sie es fertigbringen,
sich skrupellos den Erwartungen des anspruchslosesten
Publikums unterzuordnen, also die zynischsten, jedem
Berufsethos und erst recht allen politischen Fragen ge-
genüber unempfindlichsten unter ihnen – tendenziell die
»Werte«, die Vorlieben, die Verhaltens- und Sprechweisen,
das »menschliche Ideal« der Gesamtheit der Journalisten.
Getrieben von der Konkurrenz um Marktanteile, greifen
die Fernsehanstalten mehr und mehr auf die alten Tricks
der Sensationspresse zurück: Was auch immer in der Welt
geschehen sein mag, die Fernsehnachrichten beginnen
immer häufiger mit Fußballergebnissen oder diesem oder
jenem anderen Sportereignis, das eigens programmiert
wurde, um in die Acht-Uhr-Meldungen zu kommen, oder
mit den Anekdotenhaftesten, ritualisiertesten Aspekten
des politischen Lebens (Besuchen ausländischer Staats-
oberhäupter, Besuchen des eigenen Staatsoberhaupts im
Ausland usw.), ganz zu schweigen von Naturkatastrophen,
Unfällen, Feuersbrünsten, kurz allem, was bloß die Neugier
kitzelt und keinerlei spezifische Kompetenz voraussetzt,
vor allem keine politische. Die »Vermischten Meldungen«,
ich habe es schon gesagt, produzieren politische Leere; sie
entpolitisieren und reduzieren die Welt auf Anekdoten und
Klatsch (der überregional oder global sein kann, man denke
an das Leben der Stars, der Königsfamilien usw.), wobei
man die Aufmerksamkeit auf Ereignisse ohne politische
Konsequenzen lenkt und fixiert, die man dramatisiert, um
»Lehren daraus zu ziehen« oder sie in »Probleme unserer
Gesellschaft« zu verwandeln. Hier werden dann oft die
Fernsehphilosophen zu Hilfe gerufen, auf daß sie dem
Sinnlosen Sinn geben, dem Anekdotischen und Beiläufi-
gen, das künstlich in den Vordergrund geschoben und zum
Ereignis stilisiert wird, dem Tragen eines Kopftuchs in der
Schule, dem Angriff auf einen Lehrer oder irgendeinem
anderen »gesellschaftlichen Vorfall«, der geeignet ist, die
pathetische Empörung eines Finkielkraut auszulösen oder
einen Comte-Sponville zu moralisierenden Betrachtungen
zu veranlassen. Dieselbe Bemühung um das Sensationelle,
also um den kommerziellen Erfolg, kann auch zu Meldun-
gen führen, die, den wilden Konstruktionen (spontaner oder
kalkulierter) Demagogie überlassen, durch das Appellieren
an elementare Instinkte und Leidenschaften (man denke an
Kindesentführungen und Empörung auslösende Skandale)
ungeheures Interesse hervorrufen können und Formen rein
sentimentaler undl karitativer Mobilisierung auslösen oder
auch ebenso leidenschaftliche, aber aggressive, dem sym-
bolischen Lynchen verwandte Reaktionen, etwa bei Kin-
desentführungen oder Vorfällen, die mit stigmatisierten
Gruppen in Verbindung gebracht werden.

 Die Frage, ob es islamischen Mädchen erlaubt sein soll, auch in den


überkonfessionellen öffentlichen Schulen ihrer Religionszugehörigkeit
durch Anlegen eines Kopftuchs Rechnung zu tragen, spielte in Frank-
reich in den Mitte der neunziger Jahre eine große Rolle. (A. d. Ü.)
Infolgedessen stehen die Pressejournalisten heute vor der
Entscheidung: Sollen sie die Richtung auf das dominieren-
de Modell hin einschlagen, also Zeitungen nach dem Vor-
bild der Fernsehnachrichten machen, oder den Unterschied
betonen und eine Strategie der Produktdifferenzierung
entwickeln? Sollen sie den Wettbewerb aufnehmen und das
Risiko eingehen, auch noch das der kulturellen Botschaft
strikter Observanz verbliebene Publikum zu verlieren, oder
den Unterschied vertiefen? Das Problem stellt sich auch
innerhalb des Fernsehens selbst, das ein Feld für sich und
zugleich ein Unterfeld innerhalb des journalistischen Feldes
ist. Bei dem heutigen Stand meiner Überlegungen denke
ich, daß die Entscheidungsträger Opfer der »Einschaltquo-
tenmentalität« sind und sich unbewußt weigern, wirklich
zu wählen. (Es läßt sich sehr oft beobachten, daß die wich-
tigen gesellschaftlichen Entscheidungen von niemandem
getroffen werden. Wenn der Soziologe immer eine Art Stö-
renfried ist, so deswegen, weil er darauf drängt, sich Dinge
bewußt zu machen, über die man eigentlich lieber im un-
klaren bliebe.) Ich denke, die Haupttendenz bringt die Or-
gane der Kulturproduktion alten Schlages dahin, auf ihren
spezifischen Charakter zu verzichten und sich auf ein Ter-
rain zu begeben, auf dem sie von vornherein verloren sind.
So ist der Kulturkanal Arte von einer Position intransigenter,
ja aggressiver Hermetik sehr rasch auf einen mehr oder we-
niger schmählichen Kompromiß mit den Anforderungen
der Einschaltquote eingeschwenkt; heute kompromittiert
es sich doppelt: leichte Kost zur Prime time, Hermetisches
zu vorgerückten Nachtstunden. Le Monde steht vor einer
ähnlichen Entscheidung. Ich will die Analyse jetzt nicht
weitertreiben; ich habe, glaube ich, hinlänglich gezeigt, wie
man von der Untersuchung unsichtbarer Strukturen – die,
wie die Schwerkraft, zu den Dingen gehören, die keiner
sieht, die man aber voraussetzen muß, um zu verstehen, was
geschieht – zu persönlichen Erfahrungen übergehen kann,
wie unsichtbare Kräfteverhältnisse sich in persönliche Kon-
flikte, in existentielle Entscheidungen umsetzen.
Das Feld des Journalismus hat eine Besonderheit: Es ist
viel stärker von externen Kräften abhängig als alle anderen
Felder der Kulturproduktion, das Feld der Mathematik, das
der Literatur, der Rechtsprechung, der Naturwissenschaf-
ten usw. Es hängt ganz unmittelbar von der Nachfrage
ab, es unterliegt der Sanktion durch den Markt, durch das
Plebiszit, vielleicht mehr noch als das politische Feld. Der
in allen Feldern beobachtbare Gegensatz zwischen dem
»Reinen« und dem »Kommerziellen« (beim eater zum
Beispiel der Gegensatz zwischen Boulevard und Avantgar-
de, ein Gegensatz, der dem zwischen TF und Le Monde
entspricht: gebildeteres Publikum auf der einen Seite, we-
niger gebildetes auf der anderen, mehr Studenten auf der
einen, mehr Geschäftsleute auf der anderen) setzt sich hier
mit besonderer Brutalität durch, und der kommerzielle Pol
ist besonders stark: Noch nie war er so einflußreich, und
auch im Vergleich mit der Rolle, die er zur selben Zeit in
anderen Feldern spielt, ist seine Machtstellung ohne Bei-
spiel. Darüber hinaus existiert in der journalistischen Welt
kein Äquivalent zu der etwa in der wissenschaftlichen Welt
beobachtbaren immanenten Justiz, die Regelverletzungen
ahndet, während derjenige, der sich an die Spielregeln hält,
von seinen Kollegen Beachtung erfährt (die sich zum Bei-
spiel in Verweisen, Zitaten niederschlägt). Wo gibt es im
Journalismus positive, wo negative Sanktionen? Die einzige,
embryonale Form von Kritik stellen satirische Sendungen
wie die Guignols dar. Und was positive Sanktionen angeht,
so ist mehr als die ausdrückliche Übernahme einer Mel-
dung durch ein anderes Informationsorgan kaum auszuma-
chen; und das ist ein seltenes, wenig ins Auge fallendes und
zweideutiges Indiz.

Der Einfluß des Fernsehens

Die Welt des Journalismus ist ein Feld für sich, das jedoch
vermittels der Einschaltquote unter der Fuchtel des öko-
nomischen Feldes steht. Und dieses zutiefst heteronome,
kommerziellen Zwängen sehr stark unterworfene Feld übt
seinerseits strukturell Druck auf andere Felder aus. Dieser
strukturelle, objektive, anonyme, unsichtbare Effekt hat
nichts zu tun mit dem, was man unmittelbar sieht und was
man gewöhnlich denunziert, das heißt mit dem Eingriff
dieser oder jener Person... Man kann, man darf sich nicht
damit begnügen, die Verantwortlichen namhaft zu machen.
Karl Kraus zum Beispiel attackierte eine Person sehr heftig,
deren Funktion mit der des Herausgebers des Nouvel Obser-
vateur von heute zu vergleichen ist: Unablässig denunzierte
er deren kulturzerstörerischen kulturellen Konformismus,
ihre Gefälligkeit gegenüber dürftigen oder erbärmlichen
Skribenten, ihren geheuchelten Pazifismus, der die pazi-
fistischen Ideen diskreditierte... Fast immer richtet Kritik
sich gegen Personen. Wenn man aber Soziologie betreibt,
erfährt man, daß Männer und Frauen gewiß Verantwor-
tung haben, daß sie in dem, was sie tun können und was
nicht, aber weitgehend definiert sind durch die Struktur,
in der sie stecken, und durch die Position, die sie in dieser
Struktur innehaben. Man kann sich also nicht mit der Kri-
tik an diesem oder jenem Journalisten, Philosophen oder
Journalphilosophen zufriedengeben... Jeder hat seine priva-
ten Zielscheiben, auch ich: Bernard-Henri Levy ist eine Art
Symbol des Medienschriftstellers oder Medienphilosophen
für mich geworden. Aber es ist eines Soziologen unwürdig,
über Bernard-Henri Levy zu sprechen... Denn er ist nur
eine Art Epiphänomen einer Struktur, Ausdruck seines
Feldes, ganz wie ein Elektron. Man versteht nichts, wenn
man das Feld nicht versteht, das ihr hervorbringt und ihm
seine schwache Kraft verleiht.
Das ist wichtig, um die Analyse zu entdramatisieren und
um rational zu handeln. Ich bin wirklich der Überzeugung,
daß Untersuchungen wie diese (und daß ich sie im Fernse-
hen vortrage, zeigt es) vielleicht zum Teil dazu beitragen
können, die Dinge zu ändern. Alle Wissenschaften erheben
diesen Anspruch. Auguste Comte sagte: »Aus Wissenschaft
folgt Prognose, aus Prognose folgt Handlung.« Die Sozial-
wissenschaft darf diesen Ehrgeiz ebenso hegen wie alle
anderen. Wenn der Soziologe einen Raum wie den Journa-
lismus beschreibt – wobei er zunächst Instinkte, Gefühle,
Leidenschaften einbringt, Instinkte und Leidenschaften,
die sich durch die Untersuchungsarbeit sublimieren -, dann
hat er eine gewisse Hoffnung darauf, Wirkungen auszulö-
sen. Zum Beispiel kann er, indem er das Bewußtsein der
Mechanismen erhöht, dazu beitragen, Menschen, die von
diesen Mechanismen manipuliert werden, ob Journalisten
oder Fernsehzuschauern, ein wenig mehr Freiheit zu geben.
In Klammern gesagt: Ich denke, daß Journalisten, die sich
hier gewissermaßen »objektiviert« fühlen können, dann,
wenn sie mir gut zuhören, sagen werden – so hoffe ich je-
denfalls -, daß ich, indem ich Dinge durchleuchte, die sie in
etwa erahnen, aber lieber nicht genau wissen wollen, ihnen
Befreiungsinstrumente gebe, mit denen sie diese Mechanis-
men meistern können. In der Tat sind zeitungsübergreifen-
de Allianzen denkbar, die manche der von der Konkurrenz
ausgelösten Effekte auszuschalten in der Lage wären. Wenn
ein Teil dieser unheilvollen Effekte aus Struktureffekten
hervorgeht, die Konkurrenzsituationen erzeugen, die ih-
rerseits den Zeitdruck auslösen, der wiederum zur Jagd
nach dem Scoop zwingt, die dazu führen kann, extrem
gefährliche Meldungen zu lancieren, bloß um einen Kon-
kurrenten außer Gefecht zu setzen, ohne daß das auch nur
ein Zuschauer mitbekommt – wenn das alles so läuft, dann
kann die Tatsache, daß diese Mechanismen bewußt und ex-
plizit gemacht werden, zu einer gegenseitigen Abstimmung
führen mit dem Ziel, die Konkurrenz zu neutralisieren (in
etwa so, wie es in Extremsituationen, bei Kindesentfüh-
rungen zum Beispiel, manchmal geschieht, könnte man
sich vorstellen – oder erträumen -, daß die Journalisten
sich darauf einigen, Politiker, die für – und durch – ihre
fremdenfeindlichen Äußerungen bekannt sind, nicht mehr
einzuladen, bloß weil er die Einschaltquote hochtreibt; was
sehr viel wirksamer wäre als alle scheinheiligen »Proteste«
zusammengenommen). Ich mache hier wirklich in Utopie,
und ich bin mir dessen auch bewußt. Aber denen, die dem
Soziologen immer seinen Determinismus und Pessimismus
vorwerfen, möchte ich nur entgegenhalten, daß ein Be-
wußtsein von den strukturellen Mechanismen, aus denen
unmoralisches Verhalten hervorgeht, es ermöglichen würde,
etwas zu ihrer Kontrolle zu unternehmen. In diesem hoch-
gradig zynischen Universum ist viel von Moral die Rede.
Als Soziologe weiß ich, daß Moral nur effizient ist, wenn
sie sich auf Strukturen, auf Mechanismen stützt, durch die
Menschen an der Moral Interesse gewinnen. Und wenn so
etwas wie moralische Unruhe aufkommen soll, dann muß
sie in dieser Struktur selbst Stützpunkte und Verankerun-
gen, muß sie Anerkennung finden. Diese Anerkennung
könnte auch vom Publikur ausgehen (wenn es aufgeklärter
wäre und sich die Manipulationen bewußt machen würde,
denen es zum Opfer fällt).
Ich denke also, daß gegenwärtig alle Felder der Kultur-
produktion dem strukturellen Druck des journalistischen
Feldes ausgesetzt sind – und nicht diesem oder jenem
Journalisten, diesem oder jenem Programmdirektor, die
selber von den in diesem Feld wirkenden Kräften überrollt
werden. Und dieser Druck übt auf alle Felder sehr ähnliche
Effekte aus. Das journalistische Feld wirkt als Feld auf die
anderen Felder ein. Anders gesagt, ein Feld, das selbst
immer stärker von der kommerziellen Logik dominiert ist,
übt immer mehr Druck auf andere aus. Durch den von der
Einschaltquote ausgehenden Druck wirkt die Wirtschaft
auf das Fernsehen ein und durch die Bedeutung des Fernse-
hens für den Journalismus auf alle Presseerzeugnisse, auch
auf die »reinsten«, und auf die Journalisten, die sich nach
und nach vom Fernsehen die emen vorgeben lassen. Und
in gleicher Weise lastet er durch den Stellenwert, den die
Gesamtheit des journalistischen Feldes innehat, auf allen
Feldern der Kulturproduktion.
In einem Heft der Actes de la recherche en sciences sociales,
das wir dem Journalismus gewidmet haben, ist ein sehr
schöner Artikel von Remi Lenoir erschienen, der zeigt,
wie hohe Justizbeamte, Angehörige des Felds der Recht-
sprechung, die sich den internen Normen ihres Universums
nicht immer sehr verpflichtet fühlen, das Fernsehen dafür
einspannen konnten, das Kräfteverhältnis innerhalb ihres
Feldes zu ändern und die internen Hierarchien auszuschal-
ten. Was in manchen Fällen sehr gut sein, aber auch einen
hart erarbeiteten Stand kollektiver Rationalität gefährden
kann, oder genauer: was von der Autonomie eines Univer-
sums der Rechtsprechung gesicherte und gewährleistete
Errungenschaften in Frage stellen kann – Errungenschaf-
ten eines Universums, das in der Lage ist, dem intuitiven
Gerechtigkeitssinn, dem gesunden Menschenverstand, der
für puren Anschein oder Leidenschaften anfällig ist, seine
eigene Logik entgegenzusetzen. Man hat das Gefühl, daß
der Druck von Journalisten – mögen sie ihre Sicht oder ihre
eigenen Werte formulieren oder in bestem Glauben als
Sprachrohr »in der Bevölkerung verbreiteter Emotionen«
oder der »öffentlichen Meinung« auftreten – die Arbeit der
Richter bisweilen sehr stark beeinflußt. Manche sprachen
schon von einer förmlichen Übertragung der richterli-
chen Gewalt. Parallelen dazu lassen sich bis ins Feld der
Naturwissenschaften verfolgen, wo, wie die von Patrick
Champagne untersuchten »Affären« gezeigt haben, es
ebenfalls vorkommt, daß die Logik der Demagogie – die
der Einschaltquote – sich an die Stelle der Logik interner
Kritik setzt.
Das alles mag sehr abstrakt scheinen; ich werde versu-
chen, es noch einmal und einfacher zu sagen. In jedem Feld,
im Feld der Universitäten, der Historiker usw., dominieren
nach Maßgabe der internen Werte des Feldes einige, andere
werden dominiert. Ein »guter Historiker« ist jemand, von
dem die guten Historiker sagen, daß er ein guter Historiker
ist. Das ist zwangsläufig zirkulär. Die Heteronomie fängt
aber an, wenn einer, der selber nicht Mathematiker ist,
intervenieren kann, um seine Ansicht über Mathematiker
kundzutun, wenn einer, der nicht als Historiker anerkannt
ist (ein Fernsehhistoriker zum Beispiel), seine Ansicht über
Historiker kundtun und Gehör finden kann. Mit der »Au-
torität«, die ihm das Fernsehen verleiht, sagt Herr Cavada
Ihnen, daß der größte französische Philosoph Herr X ist.
Kann man sich vorstellen, daß eine Meinungsverschieden-
heit zwischen zwei Mathematikern, zwei Biologen oder
zwei Physikern durch ein Referendum oder durch eine
Debatte entschieden wird, deren Teilnehmer Herr Cavada
auswählt? Aber die Medien greifen ständig mit ihren Ver-
dikten ein. Die Wochenmagazine lieben das förmlich: das
verflossene Jahrzehnt bilanzieren, die zehn größten »Intel-
lektuellen« des Jahrzehnts designieren, die des Monats, die
der Woche, die »Intellektuellen«, die zählen, die im Kurs
steigen oder fallen... Warum hat das solchen Erfolg? Weil
dies Instrumente sind, mit denen man die intellektuellen
Börsenwerte beeinflussen kann, Instrumente, deren die
Intellektuellen, das heißt die Aktionäre (oft Kleinaktio-
näre, die aber im Journalismus oder im Verlagsgeschäft
Einfluß haben), sich bedienen, um den Kurs ihrer Aktien
hochzutreiben. Auch Nachschlagewerke (über Philosophen,
über Soziologen oder Soziologie, über Intellektuelle usw.)
spielen hier ihre Rolle. Sie sind und waren immer schon
Instrumente der Machtausübung, der Bestätigung einer
Karriere. Nun besteht eine weitverbreitete Strategie darin,
zum Beispiel Personen aufzuführen, die (nach spezifischen
Kriterien) davon ausgeschlossen werden könnten oder
müßten, oder Personen auszuschließen, die aufgenommen
werden könnten oder müßten, oder auch, wie es in einer
dieser »Starparaden« geschieht, Claude Levi-Strauss und
Bernard-Henri Levy, also einen undiskutierbaren Wert und
undiskutierbar diskutierbaren Wert, nebeneinander aufzu-
führen, um so die Bewertungsstruktur zu verändern. Die
Zeitungen greifen aber auch ein, um Probleme zu stellen,
die dann umgehend von Medienintellektuellen aufgegriffen
werden. Der Antiintellektualismus, eine (überaus verständ-
liche) strukturelle Konstante der journalistischen Welt,
treibt die Journalisten zum Beispiel immer wieder dazu, pe-
riodisch nach den Irrtümern der Intellektuellen zu fragen
oder emen aufzuwerfen, die nur Medienintellektuelle
mobilisieren können und die oft nur dazu da sind, diese in
die Lage zu versetzen, sich eine »Marktnische« zu erobern
und in der Medienwelt zu existieren.
Diese Eingriffe von außen sind sehr bedrohlich, und zwar
vor allem, weil sie Uneingeweihte täuschen können, die im-
merhin soweit von Belang sind, als die Kulturproduzenten
Hörer, Zuschauer, Leser brauchen, die zum Verkaufserfolg
der Bücher beitragen, und über den Verkauf auf die Verleger
Einfluß nehmen, und über die Verleger auf die künftigen
Möglichkeiten zu veröffentlichen. Bei der heutigen Ten-
denz der Medien, kommerzielle Produkte zu feiern, die für
die Bestsellerlisten verfertigt wurden, und Seilschaften zwi-
schen Journal-Schriftstellern und Schriftstellerjournalisten
zu etablieren, werden junge Autoren mit Auflagen von 
Exemplaren, ob Poeten, Romanautoren, Soziologen oder
Historiker, immer weniger Publikationschancen haben. (In
Klammern gesagt: Die Soziologie, und ganz besonders die
Intellektuellensoziologie, hat, denke ich, zu dem Stand der
Dinge, den wir heute im intellektuellen Feld Frankreichs
beobachten, paradoxerweise wohl selbst beigetragen. Völlig
ungewollt hat sie zwei entgegengesetzte Lesarten ihrer Er-
gebnisse möglich gemacht: eine zynische, die darin besteht,
daß man die Kenntnis der Gesetze der verschiedenen Sozi-
almilieus dazu einsetzt, um die Effizienz seiner Strategien
zu verbessern, neben der anderen, die man die klinische
nennen könnte und die darin besteht, die Kenntnis von Ge-
setzen oder Tendenzen zu nutzen, um diese zu bekämpfen.
Ich bin der Überzeugung, daß eine Reihe von Zynikern
– Propheten des Regelverstoßes, Fernseh-fast-thinkers und
Medienhistorikern, Autoren von Nachschlagewerken oder
von mit dem Tonbandgerät erstellten Bilanzen zeitgenös-
sischen Denkens – sich bewußt der Soziologie bedienen –
oder dessen, was sie davon verstehen -, um Coups zu landen,
Handstreiche im intellektuellen Feld zu verüben. Ähnlich
sind die möglicherweise wirklich kritischen Elemente im
Denken von Guy Debord zweckentfremdet worden – heute
dient der große Denker der Bildwelt, zu dem er aufgebaut
wurde, einem unechten, zynischen, verharmlosenden Radi-
kalismus als Alibi.)

 Eine Anspielung auf Francois Dosse, Histoire du structuralisme, Paris,


La Dicouverte, . (A. d. Ü.)
Die Kollaboration

Aber die journalistische Manipulation kann auch subtiler


agieren, nämlich mit Hilfe der Logik des Trojanischen
Pferdes, das heißt, indem sie in die autonomen Bereiche
außenstehende Produzenten einschleust, die es mittels
externer Kräfte zu einer Anerkennung bringen, die sie von
ihresgleichen nicht erhalten können. Diese Schriftsteller
für Nichtschriftsteller, Philosophen für Nichtphilosophen
und so fort stehen beim Fernsehen in viel höherem Kurs
und haben einen viel größeren Stellenwert bei der Presse
als in ihrem eigenen, spezifischen Universum. Tatsache ist:
In bestimmten Disziplinen wird die Bestätigung durch die
Medien sogar von Kommissionen des CNRS in Rechnung
gestellt. Wenn dieser oder jener Produzent von Fernseh-
oder Radiosendungen einen Forscher einlädt, erweist er
ihm damit eine Anerkennung, die in der Vergangenheit
eher etwas Abwertendes hatte. Noch vor nicht einmal drei-
ßig Jahren wurden die gewiß unstrittigen akademischen
Qualitäten eines Raymond Aron angezweifelt, weil er als
Mitarbeiter des Figaro Verbindung zu den Medien hatte.
Heute ist die Umkehrung im Kräfteverhältnis zwischen den
Feldern so weit gediehen, daß externe Evaluationskriterien
– eine Einladung bei Pivot, Anerkennung durch Magazine,
Presseporträts – über das Urteil von Kollegen triumphieren.
Hier wären Beispiele aus dem »reinsten« Universum, dem

 Die Kommissionen des CNRS (»Centre National de Recherche Scienti-


fique«, eine den Max-Planck-Instituten in Deutschland vergleichbare
Gruppierung von Forschungsinstitutionen) rekrutieren einen Großteil
des wissenschaftlichen Nachwuchses in Frankreich. (A. d. Ü.)
der »harten« Wissenschaften, anzuführen (mit dem Uni-
versum der Sozialwissenschaften verhält es sich nicht so
einfach, weil die Soziologen von einer Welt sprechen, in der
jedermann seine Zwecke, seine Interessen verfolgt, so daß
aus Gründen, die mit Soziologie nichts zu tun haben, jeder
seine guten und seine schlechten Soziologen hat). Auch in
scheinbar unabhängigeren Disziplinen wie Geschichte und
Anthropologie, Biologie und Physik wachsen die Medien
immer mehr in eine Schiedsrichterrolle hinein, insofern die
Mittelzuweisungen von einem Bekanntheitsgrad abhängen
können, von dem man nicht mehr genau weiß, wieviel er
der Berücksichtigung in den Medien und wieviel der Aner-
kennung durch Fachleute verdankt. Es sieht so aus, als wür-
de ich übertreiben, aber leider könnte ich vielfache Beispiele
für das Eindringen der Macht der Medien, das heißt der
von den Medien dazu ermächtigten ökonomischen Mächte,
in das Universum auch der reinsten Wissenschaft nennen.
Deswegen ist die Frage, ob man im Fernsehen auftritt oder
nicht, ganz zentral, und mir liegt sehr daran, daß die Wis-
senschaftler sich gemeinsam darüber Gedanken machen.
Es wäre nämlich wichtig, daß die Bewußtwerdung all der
Mechanismen, die ich beschrieben habe, zu kollektiven
Anstrengungen führt, gegenüber der wachsenden Macht
des Fernsehens jene Autonomie zu schützen, die Vorausset-
zung wissenschaftlichen Fortschritts ist.
Damit die Medien in Welten wie denen der Wissen-
schaft ihren Einfluß geltend machen können, müssen sie in
dem entsprechenden Feld auf Komplizenschaft treffen. Die
Soziologie hilft, solche Komplizenschaft zu durchschauen.
Journalisten bemerken oft mit großer Befriedigung, daß die
Wissenschaftler sich auf die Medien geradezu stürzen, Be-
richte anregen, Einladungen erbetteln, protestieren, wenn
sie vergessen werden. Angesichts solch erschreckender
Zeugnisse könnte man von tiefen Zweifeln an der subjek-
tiven Autonomie von Schriftstellern, Künstlern, Gelehrten
befallen werden. Man muß diese Abhängigkeit zur Kennt-
nis nehmen und versuchen, die Gründe oder Motive zu
verstehen. Man muß gewissermaßen zu begreifen suchen,
wer kollaboriert. Ich benutze das Wort mit Absicht. Wir
haben in den Actes de la recherche en sciences sociales ein Heft
mit einem Beitrag von Gisele Spiro über das literarische
Feld in Frankreich während der deutschen Besetzung he-
rausgebracht. In dieser sehr schönen Untersuchung geht es
nicht darum, wer Kollaborateur war und wer nicht, und um
nachträgliche Abrechnungen. Es geht darum, ausgehend
von einer gewissen Anzahl an Variablen zu begreifen, war-
um Schriftsteller wann welches Lager gewählt haben. Kurz
zusammengefaßt kann man sagen, daß sie um so mehr zum
Widerstand tendierten, als sie von ihren Kollegen anerkannt
waren, also über spezifisches Kapital verfügten, und daß sie
umgekehrt um so mehr zum Kollaborieren neigten, je he-
teronomer sie in ihrer eigentlich literarischen Produktion
waren, je stärker sie sich am Kommerz orientierten (wie
Claude Farrère, ein Erfolgsschriftsteller, dessengleichen es
auch heute gibt). Ich muß aber genauer erklären, was unter
autonom zu verstehen ist. Ein sehr autonomes Feld, das der
Mathematik zum Beispiel, ist ein Feld, in dem die Produ-
zenten nur ihre Konkurrenten zu Kunden haben, Leute, die
an ihrer Stelle die Entdeckung hätten machen können, die
sie ihnen bekanntgeben. (Mein Traum ist, daß es in der
Soziologie auch so zuginge; leider mischt sich da jeder ein.
Jeder glaubt, etwas davon zu verstehen, und Herr Peyrefitte
will mir Lektionen in Soziologie erteilen. Und warum auch
nicht, werden Sie mir sagen, wo er doch Soziologen und
Historiker findet, die bereit sind, mit ihm zu diskutieren
– im Fernsehen...) Um Autonomie zu erlangen, muß man
jene Art Elfenbeinturm errichten, innerhalb dessen man
einander beurteilt, kritisiert, auch bekämpft, aber in Kennt-
nis der Sache; man rivalisiert, aber mit wissenschaftlichen
Waffen, mit Instrumenten, Techniken, Methoden. Als ich
einmal mit einem Historikerkollegen im Radio diskutierte,
sagte er mir während der Sendung: »Lieber Kollege, ich
habe Ihre Korrespondenzanalyse (eine statistische Un-
tersuchungsmethode) über die Unternehmer noch einmal
gemacht und komme durchaus nicht zu demselben Ergeb-
nis.« Ich dachte: »Wunderbar! Endlich jemand, der mich
wirklich kritisiert.« Es stellte sich heraus, daß er eine andere
Definition des Unternehmertums benutzt und die Bankiers
aus der untersuchten Population herausgenommen hatte.
Man brauchte sie bloß wieder einzuführen (was allerdings
weitreichende theoretische und historische Entscheidungen
einschloß), um zu übereinstimmenden Ergebnissen zu ge-
langen. Erst eine hochgradige Übereinstimmung über das
Gebiet auf dem man nicht übereinstimmt, und über die
Mittel, mit denen ein Meinungsunterschied beizulegen ist,
macht eine echte wissenschaftliche Debatte möglich und
kann zu einer echten wissenschaftlichen Übereinstimmung
oder Nichtübereinstimmung führen. Man staunt manch-
mal, daß die Historiker im Fernsehen untereinander nicht
einig sind. Oft aber sitzen sich bei diesen Diskussionen
Personen gegenüber, die nichts gemeinsam haben und die
nicht miteinander debattieren sollten (so wenig wie ein As-
tronom mit einem Astrologen, ein Chemiker mit einem Al-
chimisten, ein Religionssoziologe mit dem Anführer einer
Sekte usw. – Paarungen, wie sie von schlechten Journalisten
bevorzugt werden).
Im Verhalten der französischen Schriftsteller unter der
Okkupation haben wir einen Fall dessen, was ich das Sh-
danowsche Gesetz nenne: Je autonomer ein Kulturproduzent
ist, je mehr spezifisches Kapital er besitzt und je ausschließ-
licher er den eingeschränkten Markt beliefert, auf dem
man nur seine eigenen Konkurrenten zu Kunden hat, um
so mehr tendiert er zum Widerstand. Je mehr er mit seinen
Produkten hingegen den Markt des breiten Publikums be-
dient (wie Essayisten, Presseschriftsteller, konformistische
Romanschreiber), um so mehr tendiert er dazu, mit exter-
nen Mächten wie Staat, Kirche, Partei, und heutzutage mit
Journalismus und Fernsehen, zu kollaborieren, sich ihren
Anfragen oder ihren Aufträgen zu unterwerfen.
Das ist ein sehr allgemeines Gesetz, das auch für die
Gegenwart gilt. Man wird mir entgegenhalten, mit den
Medien kollaborieren sei ganz und gar nicht dasselbe wie
mit den Nazis kollaborieren. Das ist sicher richtig, und ich
verurteile natürlich nicht a priori jede Form der Zusammen-
arbeit mit den Zeitungen, dem Radio oder dem Fernsehen.
Im Hinblick auf die Faktoren jedoch, die zur Kollaboration
– verstanden als bedingungslose Unterordnung unter Zwän-
ge, die die Normen der autonomen Felder zerstören – ten-
dieren lassen, ist die Übereinstimmung frappant. Wenn die
wissenschaftlichen, politischen, literarischen Felder durch
die Medien bedroht sind, so deswegen, weil es innerhalb
dieser Felder von außen bestimmte, von den spezifischen
Werten des Feldes nicht ganz durchdrungene Personen gibt,
oder, um es in der Alltagssprache zu sagen, »Versager« oder
solche, die im Begriff sind zu versagen. Sie haben Interesse
an Heteronomie, Interesse daran, die Bestätigungen, die sie
innerhalb des Feldes nicht erlangten, außerhalb (und in vor-
eiliger, verfrühter und schnell vorübergehender Form) zu
finden. Bei den Journalisten aber sind sie sehr gern gesehen,
denn sie machen ihnen (im Unterschied zu autonomeren
Autoren) keine Angst und sind bereit, ihre Forderungen
zu erfüllen. Wenn es mir unerläßlich scheint, diese hetero-
nomen Intellektuellen zu bekämpfen, so deswegen, weil sie
das Trojanische Pferd sind, durch das die Heteronomie, das
heißt die Gesetze des Kommerzes, der Ökonomie, in das
Feld Einzug halten.
Ich möchte ganz kurz das Beispiel Politik streifen. Das
politische Feld selbst hat eine gewisse Autonomie. Das
Parlament etwa ist eine Art Arena, in der eine Reihe von
Streitfällen zwischen Leuten mit divergierenden oder auch
antagonistischen Interessen durch Aussprache und Ab-
stimmung nach bestimmten Regeln ausgetragen werden
soll. Das Fernsehen produziert hier analoge Effekte wie
in jedem anderen Feld, insbesondere dem der Rechtspre-
chung: Es stellt das Recht auf Autonomie in Frage. Um das
zu zeigen, werde ich rasch eine Geschichte erzählen, die
in der schon erwähnten Nummer der Actes de la recherche en
sciences sociales berichtet wurde: die Affäre der kleinen Kari-
ne, eines Mädchens aus Südfrankreich, das ermordet wurde.
Das Lokalblatt gibt die Tatsachen wieder, berichtet über die
empörten Proteste des Vaters, des Bruders des Vaters, der
eine kleine Demonstration im Ort organisiert, die von einer
kleinen Zeitung aufgegriffen wird, dann von einer weiteren.
Stimmen werden laut: »Wie gräßlich, ein Kind! Die To-
desstrafe muß wieder her!« Politiker aus dem Wahlbezirk
mischen sich ein, besonders aktiv sind die Parteigänger des
Front National. Ein etwas gewissenhafterer Journalist aus
Toulouse versucht zu warnen: »Vorsicht, das läuft auf Lyn-
chen hinaus, nichts überhasten!« Anwaltsvereine mischen
sich ihrerseits ein und warnen vor der Versuchung, zur
Selbstjustiz zu greifen... Der Druck steigt, und am Ende
steht die Wiedereinführung der lebenslangen Haftstrafe.
In diesem Zeitraffer wird sichtbar, wie über Medien, die als
Instrument mobilisierender Information agieren, eine per-
verse Form direkter Demokratie um sich greifen kann. Sie
schafft die Distanz zum Zeitdruck, zum Druck kollektiver,
nicht unbedingt demokratischer Leidenschaften ab, den
die relativ autonome Logik des politischen Feldes norma-
lerweise garantiert. Es zeigt sich, wie eine Logik der Rache
wiederersteht, gegen die die gesamte juristische und auch
die politische Logik aufgebaut worden sind. So werden aus
Journalisten, die die zum Nachdenken notwendige Distanz
nicht wahren, Brandstifter. Sie können zur Schaffung eines
Ereignisses beitragen, indem sie eine »Vermischte Mel-
dung« aufbauschen (die Ermordung eines jungen Franzosen
durch einen anderen, der aber »afrikanischer Herkunft« ist),
um anschließend die anzuklagen, die Öl in das von ihnen
selbst entzündete Feuer gießen, die Parteigänger des Front
National nämlich, die die »durch den Vorfall geweckte
Emotion« ausschlachten oder auszuschlachten versuchen
– einen Vorfall, den die Journalisten selbst geschaffen haben,
indem sie ihn auf die erste Seite setzten, ihn zu Beginn der
Fernsehnachrichten wiederkäuten, um sich als schöne hu-
manistische Seelen anschließend noch einen Tugendpreis
dafür zu sichern, daß sie lauthals moralisierend die rassisti-
sche Intervention einer Partei verurteilen, die sie überhaupt
erst zu dem gemacht haben, was sie ist, und der sie immer
| wieder ihre schönsten Manipulationsinstrumente zur Ver-
fügung stellen.

Der Eintrittspreis und die Pflicht zur Äußerung

Ich möchte jetzt noch ein paar Worte über die Frage der
Beziehungen zwischen Hermetik und Elitismus sagen. Ein
Problem, mit dem sich alle Denker seit dem . Jahrhundert
abgemüht und in dem sie sich manchmal verfangen haben.
Mallarme zum Beispiel, das Symbol des hermetischen,
reinen Dichters schlechthin, der nur für wenige schreibt
in einer Sprache, die der gemeine Sterbliche nicht versteht,
hat sich sein Leben lang gefragt, wie er die Entdeckungen
bei seiner schriftstellerischen Arbeit allen zugänglich ma-
chen könne. Hätte es die heutigen Medien gegeben, hätte
er sich die Frage gestellt: »Soll ich im Fernsehen auftreten?
Wie kann ich den jeder wissenschaftlichen oder überhaupt
geistigen Tätigkeit immanenten Anspruch auf >Reinheit<
vereinbaren mit der demokratischen Bemühung darum,
die Ergebnisse möglichst vielen zugänglich zu machen?«
Ich habe darauf hingewiesen, daß das Fernsehen zweierlei
Effekte produziert. Es senkt den Eintrittspreis in einer ge-
wissen Reihe von Feldern, der Philosophie, Juristerei usw.:
Es kann zu Soziologen, Schriftstellern, Philosophen usw.
Leute ernennen, die unter dem Gesichtspunkt der internen
Definition der Zunft den Eintrittspreis nicht bezahlt haben.
Andererseits ist es in der Lage, das breitestmögliche Publi-
kum zu erreichen. Schwer zu rechtfertigen scheint mir aber,
daß man sich auf die große Reichweite beruft, um den Ein-
trittspreis in dem entsprechenden Feld zu senken. Man wird
mir vorwerfen, daß ich hier elitäre Dinge von mir gebe, daß
ich die belagerte Zitadelle der Wissenschaft und der Hoch-
kultur verteidige oder sogar dem Volk den Zugang verbiete
(indem ich versuche, den Zugang zum Fernsehen denen zu
verbieten, die sich trotz ihrer phantastischen Honorare und
ihrer luxuriösen Lebenshaltung manchmal zu Sprechern
der Bevölkerung ernennen, nur weil sie es fertigbringen,
sich ihr verständlich zu machen, sich von der Einschaltquo-
te akklamieren zu lassen). In Wirklichkeit verteidige ich die
notwendigen Voraussetzungen zur Produktion und Vertei-
lung der höchsten Schöpfungen der Menschheit. Will man
der Alternative zwischen elitärer Haltung und Demagogie
entkommen, muß man für die Beibehaltung, ja Erhöhung
des Eintrittspreises zu den Produktionsfeldern eintreten
– wie ich gerade gesagt habe, wäre es mir lieb, wenn dies mit
der Soziologie geschehen würde, deren Unglück überwie-
gend daher kommt, daß der Eintrittspreis hier zu niedrig
ist – und gleichzeitig die Verpflichtung unterstreichen, sich
zu äußern sowie für eine Verbesserung der Voraussetzungen
und Mittel dazu einzutreten.
Man beschwört die drohende Nivellierung (ein immer
wiederkehrendes ema des reaktionären Denkens, das sich
vor allem bei Heidegger findet). In Wirklichkeit kann sie
aus dem Eindringen der Forderung nach medienadäquater
Präsentation in das Feld kultureller Produktion resultieren.
Es gilt, sowohl für die jedem Avantgardismus (zwangs-
läufig) immanente Hermetik einzutreten, als auch für die
Notwendigkeit, das Hermetische aufzubrechen und dafür
zu kämpfen, daß die entsprechenden Mittel zur Verfügung
stehen. Anders gesagt, man muß dafür kämpfen, daß die
zur Förderung des Universellen notwendigen Produkti-
onsbedingungen bereitgestellt werden, und gleichzeitig
an der Verallgemeinerung der Zugangsbedingungen zum
Universellen arbeiten, damit immer mehr Menschen die
Voraussetzungen erfüllen, sich das Universelle anzueignen.
Je komplexer ein Gedanke ist, weil er in einem autonomen
Universum erzeugt wurde, um so schwieriger ist seine Wei-
tergabe. Um diese Schwierigkeit zu überwinden, müssen
die Produzenten aus ihrer kleinen Zitadelle ausbrechen und
um gute Verbreitungsmittel, um das Eigentum an ihren
Verbreitungsmitteln kämpfen, und zwar kollektiv; und in
Verbindung mit Lehrern, Gewerkschaften, Verbänden usw.
auch darum kämpfen, daß die Adressaten so ausgebildet
werden, daß ihre Kompetenz steigt. Man vergißt oft, daß
die Gründer der Französischen Republik im . Jahrhundert
das Ziel der Schulbildung nicht nur darin sahen, daß man
lesen, schreiben, rechnen lernt, um ein guter Arbeiter zu
werden, sondern auch darin, daß man die Voraussetzungen
erwirbt, ein guter Staatsbürger zu sein, die Gesetze zu
verstehen, seine Rechte zu verstehen und zu verteidigen,
gewerkschaftliche Vereinigungen ins Leben zu rufen... Es
gilt, an der Universalisierung der Zugangsbedingungen
zum Universellen zu arbeiten.
Man kann und muß im Namen der Demokratie gegen
die Einschaltquote kämpfen. Das scheint sehr paradox,
denn die Parteigänger der Einschaltquote behaupten, daß
es nichts Demokratischeres gebe (das Lieblingsargument
der zynischsten unter den Anzeigenkunden und Werbe-
agenturen, das einige Soziologen übernehmen, ganz zu
schweigen von gedankenarmen Essayisten, die die Kritik
an Umfragen – und an Einschaltquoten – mit der Kritik am
allgemeinen Stimmrecht gleichsetzen), daß man den Leu-
ten die Freiheit lassen müsse, zu urteilen, zu wählen (»Bloß
eure elitär intellektuellen Vorurteile lassen euch all das als
verächtlich erscheinen«). Die Einschaltquote ist die Sank-
tion des Marktes, der Wirtschaft, das heißt einer externen
und rein kommerziellen Legalität, und die Unterwerfung
unter die Anforderungen dieses Marketinginstruments ist
im Bereich der Kultur genau dasselbe wie die von Mei-
nungsumfragen geleitete Demagogie in der Politik. Das
unter der Herrschaft der Einschaltquote stehende Fernse-
hen trägt dazu bei, den als frei und aufgeklärt unterstellten
Konsumenten Marktzwängen auszusetzen, die, anders als
zynische Demagogen glauben machen wollen, mit dem
demokratischen Ausdruck einer aufgeklärten, vernünftigen
öffentlichen Meinung, einer öffentlichen Vernunft, nichts
zu tun haben. Die kritischen Denker und die Organisati-
onen zur Wahrnehmung der Interessen der Dominierten
sind noch weit davon entfernt, dieses Problem klar zu sehen.
Was nicht wenig dazu beiträgt, all die Mechanismen zu
verstärken, die zu beschreiben ich versucht habe.
Angaben zu den beiden Fernsehvorträgen

Literatur

ACCARDO (Alain), mit G. Abou, G. Balastre, D. Marine, Journa-


listes au quotidien. Outils pour une socioanalyse des pratiques journa-
listiques, Bordeaux, Le Mascaret, .
ACCARDO (Alain), »Le destin scolaire«, in: P. Bourdieu, La misere
du monde, Paris, Editions du Seuil, , .-.
BOURDIEU (Pierre), »L‘emprise du journalisme«, Actes de la recber-
cbe en sciences sociales, -, März , S. -. In diesem Band
S. -.
– (mit Wacquant, Loic), Reponses, Paris, Èditions du Seuil, .
CHAMPAGNE (Patrick), »La construction mediatique des >malai-
ses sociaux<«, Actes de la recherche en sciences sociales, , Dezember
, .-.
– »La vision mediatique«, in: La misere du monde, op. dt., S.-
– »La loi des grands nombres. Mesure de l‘audience et represen-ta-
tion politique du public«, Actes de la recherche en sciences sociales,
-, März , S. -.
DELEUZE (Gilles), A propos des nouveaux philosophes et d‘un Proble-
me plus general, Paris, Editions de Minuit, .
GODARD (Jean-Luc), Godard par Godard. Des annees Mao aux an-
nees , Paris, Flammarion, .
LENOIR (Remi), »La parole est aux juges. Crise de la magistrature
et champ journalistique«, Actes de la recherche en sciences sociales, -
, März , S. -.
SAPIRO (Gisele), »La raison litteraire. Le champ litteraire français
sous l‘Occupation (-)«, Actes de la recherche en sciences so-
ciales, -, März , S. -.
– »Salut litteraire et litterature du salut. Deux trajectoires de ro-
manciers catholiques: Franc, ois Maunac et Henry Bordeaux«,
Actes de la recherche en sciences sociales, -, März , S. -.
Personenverzeichnis

ALEXANDRE, Philippe (geb. ), Presse- und Rundfunkjourna-


list, ständiger Mitarbeiter u.a. bei Combat (-), Paris-Match (
-), Le Parisien (-), bei dem Rundfunksender RTL (-),
heute bei BFM (s. Ockrent), bei den staatlichen Fernsehsendern TF
(-) und FR (seit ), regelmäßiger Gast von Talkshows, in
denen er zusammen mit Serge July (s. d.) das politische Geschehen
der Woche kommentiert, Verfasser politischer Romane und Sachbü-
cher (Man livre de cuisine politique, ).

ATTALI, Jacques (geb. ), Wirtschaftsprofessor, Mitglied der


Sozialistischen Partei, Berater des Präsidenten Mitterrand, -
Direktor der europäischen Entwicklungsbank BERD, seither vor
allem als Polygraph tätig: neben vier Bestsellerromanen u. a. drei
Bände Erinnerungen an Mitterrand (Verbatim,  -), historische,
medizinische, musikologische usw. Abhandlungen; publizistische
Interventionen vor allem über den Nouvel Observateur.

BOUYGUES, Martin (geb. ), Sohn des Firmengründers Francis


Bouygues, Generaldirektor des gleichnamigen führenden französi-
schen Baukonzerns, dem insgesamt  Gesellschaften in aller Welt
zugeordnet werden (DAFSA ), seit  im Besitz der Aktien-
mehrheit des hinsichtlich Werbebudget wie Einschaltquote (um )
führenden Ersten französischen Fernsehprogramms (TF), dessen
Werbesparte seine Schwester Corinne Bouygues leitet; besitzt außer-
dem das Nachrichtenfernsehen LCI (La Chaîne Info).

CAVADA, Jean-Marie (geb. ), seit  Mitarbeit an diversen


Rundfunk- und Fernsehsendern (France Inter, Antenne , TF), seit
 Mitproduzent und Moderator der Informationssendungen La
marche du siede (FR, Mi. .-. Uhr) und Etats d‘urgence, -
 Generaldirektor des Schul- und Bildungsprogramms La Cinquieme
(das seit  mit arte liiert ist), seit Februar  Generaldirektor des
staatlichen Rundfunk- und Fernsehprogramms RFO (Radio-televisi-
on francaise d‘Outre-mer).
COMTE-SPONVILLE, André (geb. ), Dozent an der Univer-
sität Paris , Verfasser zahlreicher, überwiegend moralphilosophischer
Abhandlungen (Petit traite des grands vertus, ), ständiger Mitar-
beiter der Wochenzeitschrift L‘Express.

DEBORD, Guy (-), avantgardistischer Kunsttheoretiker,


Gründer der Internationale Situationniste () und Herausgeber der
gleichnamigen Zeitschrift. La Societe du Spectacle (), der Versuch
einer Neufassung der marxistischen Entfremdungskritik unter Ein-
beziehung der von den Medien produzierten Bilderwelt, ist seit seiner
Veröffentlichung der Klassiker der Medienkritik in Frankreich.

DURAND, Guillaume (geb. ), Fernsehjournalist und Moderator,


seit  Mitarbeiter von TF und Paris-Match, seit  bei LCI (La
Chaine Info, das Nachrichtenfernsehen des Bouygues-Konzerns) und
Canal +, wo er seit Herbst  die tägliche Talkshow produziert und
moderiert (Nulle part ailleurs, Mo.-Fr. .-. Uhr).

FERRY, Luc (geb. ), Philosophieprofessor und Publizist, seit


 regelmäßiger Mitarbeiter der Wochenzeitschrift L‘Express, seit
 Kolumnist bei Le Point, Mitglied der Fondation Saint-Simon (s.
Minc), Kritiker des »er Denkens«, zu dem für ihn u. a. Bourdieu,
Derrida und Foucault zählen (La Pensée , ), und des ihm ebenso
unheimlichen ökologischen Denkens (Le Nouvel Ordre ecologique,
); Herausgeber einer philosophischen Buchreihe (bei Grasset),
seit  Vorsitzender der für die Schulprogramme verantwortlichen
Kommission des Erziehungsministeriums.

FINKIELKRAUT, Alain (geb. ), Philosoph und Publizist,


Verfasser allgemein zeitkritischer (La Defaite de la pensée, ) und
aktuell politischer Werke (Comment peut-on être croate?, ), Mitar-
beiter des staatlichen Rundfunkprogramms France Culture (ständige
Sendung: Repliques, samstags .-. Uhr).

IMBERT, Claude (geb. ), seit den fünfziger Jahren vorwiegend


als Pressejournalist tätig (Reporter bei AFP, L‘Express, Paris-Match),
 Gründer und seither Herausgeber des Nachrichten-
magazins Le Point, seit  Mitarbeiter bei Europe , Autor eines
seinerzeit vielbeachteten kulturkritischen Resümees der modernen
Welt (Ce queje crois, ).

JULLIARD, Jacques (geb. ), Zeithistoriker, Dozent an der


EHESS (Ecole des HaMes Etudes en Sciences Sociales), Mitglied der
Redaktionsleitung und Kolumnist des Nouvel Observateur, Mitglied
der Fondation Saint-Simon (s. Minc), zahlreiche Schriften zur Zeitge-
schichte und zur aktuellen Politik (Pour la Bosnie, ).

JULY, Serge (geb. ), ehemaliger Studentenfunktionär, ab 


führendes Mitglied der  verbotenen Gauche Proletarienne, 
Mitgründer und Chefredakteur der Tageszeitung Liberation (die er
seit  als Herausgeber leitet), Mitglied der Fondation Saint-Simon
(s. Minc), zusammen mit Ph. Alexandre (s. d.) regelmäßiger Gast der
Fernsehsendungen Ch. Ockrents (s. d.).

LEVY, Bernard-Henri (geb. ), Philosoph, Dozent, Essayist (La


Barbarie a visage humaine, ), Roman- und eaterautor, Filmpro-
duzent und -regisseur (Bosna!, ; Le Jour et la nuit, ), literari-
scher Berater des Verlags Grasset (seit ), Gründer und Herausge-
ber der Vierteljahresschrift La regle du jeu (seit ), Kolumnist der
Wochenzeitschrift Le Point (seit ), Vorsitzender des Aufsichtsra-
tes der Fernsehproduktionsgesellschaft La Sept/Arte (seit ).

MINC, Alain (geb. ), Politologe, seit  Mitarbeiter von


L‘Express und Le Debat, Industriemanager (Direktor des Chemiekon-
zerns Saint-Gobain -) und Unternehmensberater, führendes
Mitglied der Fondation Saint-Simon (ein  gegründeter Club, der
Wirtschaftsführer mit Wissenschaftlern und Mediengewaltigen
zusammenbringen soll; Mitgl. u. a.: Ferry, Julliard, July, s. d.), ein-
flußreiche Position bei der Tageszeitung Le Monde (»President de la
Societe des Lecteurs du Monde«); zahlreiche Schriften zu Fragen der
französischen und europäischen Politik (La Grande Illusion, ; La
Vengeance des nations, ).
OCKRENT, Christine (geb. ), Presse- und Fernsehjournalis-
tin, langjährige Nachrichtenredakteurin und -Sprecherin bei dem
staatlichen Fernsehsender Antenne  und bei RTL, - Redak-
tionsleitung des L‘Express, seit  Mitproduzentin und Moderatorin
des politischen Wochenmagazins Dimanche Soir (FR), seit 
Leitung der Holding FCC (Finance Communication et compagnie), der
der private Rundfunksender BFM (Spezialität: Meldungen aus der
Wirtschaft) gehört; dort regelmäßige Wochenchronik (samstags .,
., ., . Uhr); offizielle Lebensgefährtin des Gründers der
»Medecins du Monde« und Staatskretärs für Gesundheitsfragen (seit
) Bernard Kouchner.

PEYREFITTE, Alain (geb. ), Jurist, Diplomat (Botschaftssek-


retär in Bonn -), gaullistischer Abgeordneter (-, -),
mehrfach Regierungsmitglied in wechselnden Ressorts (-,
-), Mitglied der Academie Francaise (seit ), Vorsitzender des
Herausgeberkomitees der konservativen Tageszeitung Le Figaro (seit
), Senator der Französischen Republik (seit ); Autor vielgele-
sener politischer und zeitgeschichtlicher Veröffentlichungen (Quand
la Chine s‘eveillera, ; Le Mal francais, ).

PIVOT, Bernard (geb. ), Fernsehjournalist, bekannt geworden


durch seine Sendung Apostrophes (-), mit der er das Genre der
literarischen Talkshow in Frankreich begründete; seit  Bouillon de
Culture (France , freitags .-. Uhr), seit  Redaktionsleiter,
seit  Herausgeber der Monatszeitschrift Lire, seit  Kolumnist
des Journal du Dimanche.

SARKOZY, Nicolas (geb. ), Jurist, gaullistischer Abgeordneter


(- und seit ), Finanzminister der Regierung Balladur (-
), Mitherausgeber parteipolitischer Periodika (Initiatives, Pour
la reforme), Mitglied des Politischen Büros und (seit Sommer )
Sprecher der gaullistischen Partei RPR.

SORMAN, Guy (geb. ),. Politologe, Verlagsgründer (Editions


Sorman, ) und Verleger (vor allem kommunalpolitischer Zeit-
schriften: La lettre du maire usw.), Propagandist wirtschaftlicher Li-
beralisierung und Globalisierung (La solution liberale, ; Le monde
est ma tribu, ), Mitarbeit bei Le Figaro, L‘Express, gaullistischer
Parlamentskandidat, Berater des ehemaligen Premierministers Juppe
(-).
Im Banne des Journalismus1

Es geht hier nicht um die »Macht der Journalisten« und


noch weniger um den Journalismus als »vierte Macht« -,
sondern um den Einfluß, den die Mechanismen eines den
Anforderungen des Marktes (der Leser und der Anzei-
genkunden) immer stärker unterworfenen journalistischen
Feldes ausüben, einen Einfluß, der sich zunächst auf die
Journalisten (und die als Journalisten arbeitenden Intel-
lektuellen) selbst auswirkt und anschließend, und zum
Teil durch ihre Vermittlung, auf die verschiedenen Felder
der Kulturproduktion, das juristische, das literarische, das
künstlerische, das wissenschaftliche. Es handelt sich also
darum, zu prüfen, wie tief der von diesem – selbst von den
Zwängen des Marktes dominierten – Feld ausgehende
strukturelle Zwang die Kräfteverhältnisse innerhalb der
verschiedenen Felder modifiziert, wie weit er beeinflußt,
was man dort macht und was dort geschieht, und wie in
diesen auf der Erscheinungsebene sehr unterschiedlichen
Welten sehr ähnliche Effekte hervorgerufen werden. Wobei
keiner der beiden entgegengesetzten Fehler begangen wer-
den soll: weder der, an ein ganz neues Phänomen zu glau-
ben, noch der, nur das Immergleiche am Werk zu sehen.

 Ich hielt es für nützlich, diesen bereits in den Actes de la rechercbe en sci-
ences sociales veröffentlichten Text hier einzurücken, da er die meisten der
oben in einer zugänglicheren Version behandelten emen auf striktere,
kontrolliertere Weise resümiert.
Der Einfluß des journalistischen Feldes, und durch es
der Marktlogik, auch noch auf die Felder der autonoms-
ten Kulturproduktion hat nichts umwerfend Neues: Mit
Texten von Schriftstellern des vergangenen Jahrhunderts
ließe sich mühelos ein durchaus realistisches Bild der ge-
nerellsten Effekte zusammenstellen, die er innerhalb dieser
geschützten Welten heute hervorbringt. Man sollte den
spezifischen Charakter der gegenwärtigen Situation aber
nicht übersehen, die über solche aus homologen Effekten
hervorgehende Übereinstimmungen hinaus praktisch nie
dagewesene Merkmale zeitigen. Die von der Entwicklung
des Fernsehens im journalistischen Feld ausgelösten Konse-
quenzen, die dieses Feld in alle anderen Felder der Kultur-
produktion weiterträgt, sind an Intensität und Reichweite
ungleich nachhaltiger als diejenigen, die das Auftreten der
industrialisierten Literatur (der Massenpresse und des Fort-
setzungsromans) hervorrief und die bei den Schriftstellern

 Davon überzeugt das Werk von Jean-Marie Goulemot und Daniel Oster,
Gens de lettres. Ecrivains et Bohemes, das überaus zahlreiche Beispiele von
Beobachtungen und Bemerkungen enthält, aus denen sich jene spontane
Soziologie des literarischen Milieus zusammensetzt, zu der die Autoren
gelangen, ohne indes ihres Prinzips innezuwerden, vor allem nicht, wenn
sie sich bemühen, ihre Gegner oder die Gesamtheit dessen zu objekti-
vieren, was ihnen in der literarischen Welt nicht gefällt (vgl J.-M. Gou-
lemot und D. Oster, Gens de lettres. Ecrivains et Bohemes, Minerve, ).
Aber der intuitive Sinn für Homologien kann auch zwischen den Zeilen
einer Untersuchung des literarischen Feldes in . Jahrhundert eine
Beschreibung des versteckten Funktionierens des heutigen literarischen
Feldes erkennen (wie bei Philippe Murray geschehen, »Des regles de l‘art
aux coulisses de sa misère«, Art Press, , Juni ,S.-).
zu jenen entrüsteten, empörten Reaktionen führten, aus de-
nen Raymond Williams zufolge die modernen Definitionen
von «Kultur» hervorgingen.
Das journalistische Feld erzeugt in den verschiedenen
Feldern kultureller Produktion eine Menge von Effekten,
die in Form wie Durchschlagskraft an seine eigene Struktur
gebunden sind, das heißt an den Stellenwert der verschie-
denen Presseorgane und Journalisten nach Maßgabe ihrer
Autonomie gegenüber externen Kräften, denen des Leser-
und denen des Anzeigenmarktes. Die Autonomie eines
Presseorgans läßt sich gewiß daran messen, wie weit es von
Werbung und Staatssubventionen (in Form von Anzeigen
oder Geldzuweisungen) unabhängig ist, und auch an der
Konzentration der Anzeigenkunden. Was die Autonomie
eines einzelnen Journalisten angeht, so hängt sie zunächst
einmal vom Konzentrationsgrad der Presse ab (bei Verrin-
gerung der Anzahl potentieller Arbeitgeber steigt die Unsi-
cherheit des Arbeitsplatzes); sodann von der Position seines
Periodikums im Raum der Presse, das heißt, ob näher am
»intellektuellen« oder am »kommerziellen« Pol; ferner von
seiner Position bei dem Presseorgan (Angestellter, freier
Mitarbeiter usw.), die für die verschiedenen (vorwiegend
an Bekanntheit gebundenen) ihm zur Verfügung stehenden
Statusgarantien entscheidend ist, auch für seine Entlohnung
(ein Faktor, der für die sanften Formen von Öffentlichkeits-
arbeit weniger zugänglich machen kann und unabhängiger
von bloß dem Broterwerb dienenden, bestellten Arbeiten
– ein Einfallstor für externe Auftraggeber); schließlich
seine Fähigkeit zur autonomen Erzeugung von Informa-
tion (Journalisten aus den Bereichen Populärwissenschaft
oder Wirtschaft zur Beispiel arbeiten unter besonders
heteronomen Bedingungen). Klar ist, daß verschiedene In-
stitutionen, und besonders die der Regierungen, nicht nur
ökonomischen Druck einsetzen, sondern auch alle mög-
lichen anderer Pressionen, die ihr Monopol an legitimer
Information – durch offizielle Quellen vor allem – zuläßt;
dieses Monopol liefert zunächst den Regierungs- und Ver-
waltungsbehörden, der Polizei zum Beispiel, aber auch den
juristischen, wissenschaftlichen usw. Einrichtungen Waf-
fen für den Kampf mit den Journalisten, einen Kampf, bei
dem sie versuchen, Informationen oder Übermittler von In-
formationen zu manipulieren, während die Presse ihrerseits
versucht, die Besitzer von Informationen zu manipulieren,
um sich in deren Besitz zu bringen und sich die exklusive
Verfügung darüber zu sichern. Wobei die außerordentliche
symbolische Macht nicht vergessen werden sollte, die darin
besteht, daß die obersten staatlichen Behörden in der Lage
sind, durch ihre Aktionen, ihre Entscheidungen und ihre
Interventionen im journalistischen Feld (Interviews, Pres-
sekonferenzen usw.) die Tagesordnung und die Hierarchie
von Ereignissen zu bestimmen, denen sich die Presse nicht
entziehen kann.

Einige Eigenschaften des journalistischen Feldes

Will man verstehen, auf welche Weise das journalistische


Feld dazu beiträgt, in allen Feldern das »Kommerzielle« zu-
ungunsten des »Reinen« zu stärken, die den Versuchungen
durch ökonomische und politische Mächte zugänglichsten
Produzenten gegenüber denjenigen, die den Grundsätzen
und Werten ihres »Metiers« am stärksten verhaftet sind,
dann muß man sowohl davon ausgehen, daß es homolog
zu den anderen Feldern strukturiert ist, als auch davon, daß
das »Kommerzielle« hier einen viel größeren Stellenwert
einnimmt.
Das journalistische Feld hat sich als solches im . Jahr-
hundert um folgenden Gegensatz herum konstituiert: auf
der einen Seite Zeitungen, die vor allem »Neuigkeiten«
boten, vorzugsweise »sensationelle«, oder besser: »Sensa-
tionen auslösende«; auf der anderen Seite Zeitungen, die
Analysen und »Kommentare« boten und darauf achteten,
ihren Unterschied von den ersteren durch Betonung der
Werte der »Objektivität« hervorzuheben. Zwei Logiken
und zwei Legitimationsprinzipien treten einander hier ge-
genüber: die Anerkennung, die den am vollständigsten den
internen »Werten« oder Grundsätzen Verpflichteten durch
ihresgleichen zuteil wird, und die Anerkennung durch die

 Im amerikanischen Journalismus tauchte der Gedanke der »Objekti-


vität« als Ergebnis der Bemühung um ihre Respektabilität besorgter
Zeitungen auf, die Information von der schlichten Erzählung in der
populären Presse zu unterscheiden (vgl. M. Schudson, Discovering the
news, New York, Basic Books, ). In Frankreich hat der Gegensatz
zwischen dem literarischen Feld zugewandten, um ihren Stil bemühten
Journalisten und denen, die dem politischen Feld nahe standen, zu die-
sem Differenzierungsprozeß und zur Erfindung eines eigenen »Metiers«
(und der Gestalt des Reporters) beigetragen (vgl. T. Ferenczi, L‘invention
du journalisme en France: naissance de la presse moderne à la fin du XIX‘
siécle, Paris, Plon, ). Zu der Form, die dieser Gegensatz im Feld der
französischen Presse annimmt, und zur Beziehung zwischen den un-
terschiedlichen Kategorien von Lektüren und Lesern vgl. P. Bourdieu,
La distinction. Critique sociale du judgement, Paris, Ed. de Minuit, ,
.- (deutsch: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen
Urteilskraft, Frankfurt/M., Suhrkamp, stw, , S.  -).
Menge, wie sie sich in der Anzahl von verkauften Eintritts-
karten, von Lesern, Hörern oder Zuschauern, also von
Verkaufszahlen (best-sellers), und im finanziellen Gewinn
niederschlägt, wobei die Sanktion durch das Publikum hier
unlösbar mit dem Verdikt des Marktes verbunden ist.
Wie das literarische Feld oder das künstlerische ist daher
auch das journalistische Feld der Ort einer spezifischen,
durchaus kulturellen Logik, die sich den Journalisten durch
Zwänge und wechselseitige Kontrollen aufnötigt und deren
Respektierung (bisweilen als Berufsethos bezeichnet) die
Reputation beruflicher Ehrbarkeit einbringt. Allerdings
gibt es über Zitate aus erschienenen Artikeln hinaus – Ver-
weise, deren Wert und Bedeutung ganz von der Position der
Zitierenden und der Zitierten im Felde abhängen – wenig
an einigermaßen unbestrittenen positiven Sanktionen; und
die negativen – gegenüber denen zum Beispiel, die verges-
sen, ihre Quellen anzugeben – sind nahezu inexistent, so
daß journalistische Quellen, zumal wenn es sich um ein
weniger wichtiges Organ handelt, fast nur zitiert werden,
um sich einer Formalität zu entledigen.
Aber ähnlich wie das politische und das ökonomische
Feld und viel stärker als das wissenschaftliche, künstleri-
sche oder literarische oder auch das juristische Feld ist das
journalistische Feld über die direkte Sanktion durch die
Kunden oder die indirekte durch die Einschaltquote per-
manent dem Verdikt des Marktes unterworfen (selbst dann,
wenn staatliche Subvention eine gewisse Unabhängigkeit
von unmittelbaren Marktzwängen gewährleisten kann).
Und die Journalisten neigen wohl um so stärker dazu, das
»Kriterium Einschaltquote« in ihrer Produktion (»einfach
darstellen«, »sich kurz fassen« usw.) oder in der Bewer-
tung von Produkten und sogar Produzenten (»kommt gut
an«, »verkauft sich gut« usw.) zu berücksichtigen, je höher
ihre Position ist (Programmdirektor, Chefredakteur usw.)
und je unmittelbarer vom Markt abhängig ihr Medium
(ein kommerzieller Fernsehsender im Vergleich zu einem
kulturellen usw.), während die jüngsten und am wenigsten
etablierten Journalisten hingegen am meisten dazu neigen,
den sei‘s realistischeren, sei‘s zynischeren Anforderungen
der »alten Hasen« Grundsätze und Werte des »Metiers«
entgegenzuhalten.
In der spezifischen Logik eines auf die Produktion des
leichtverderblichen Produkts Neuigkeiten ausgerichteten
Feldes tendiert die Konkurrenz um den Kunden dazu, die
Form einer Konkurrenz um das Allerneueste (den Scoop)
anzunehmen – und dies natürlich um so mehr, je mehr wir
uns dem kommerziellen Pol nähern. Der Markt übt seinen
Druck nur über den Feldeffekt aus, und viele Scoops, die
als Trümpfe bei der Eroberung der Kundschaft gesucht und
geschätzt sind, bleiben Lesern oder Zuschauern tatsächlich

 Wie im literarischen Feld, so stellt auch hier die Rangfolge nach dem
externen Kriterium, dem des Verkaufserfolgs, ungefähr die Umkehrung
der Rangfolge dar, die sich bei Anwendung des internen Kriteriums
ergibt, des journalistisch »Seriösen«. Und die Komplexität der aus dieser
chiastischen Struktur (die auch die des literarischen, künstlerischen oder
juristischen Feldes ist) sich ergebenden Verteilung wird dadurch noch
verdoppelt, daß sich innerhalb jedes Presseorgans, jedes Rundfunk- oder
Fernsehprogramms, die selbst alle wie Unter-Felder funktionieren, der
Gegensatz zwischen einem »kulturellen« und einem »kommerziellen«
Pol als Organisationsprinzip herausstellt, so daß man mit einer Serie
ineinander verschachtelter Strukturen (des Typs a:b:b:b) zu tun
hat..- (deutsch: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaft-
lichen Urteilskraft, Frankfurt/M., Suhrkamp, stw, , S.  -).
verborgen und werden überhaupt nur von den Konkur-
renten wahrgenommen (da die Journalisten die einzigen
sind, die sämtliche Zeitungen lesen...). In der Struktur
und den Mechanismen des Feldes verankert, erfordert und
begünstigt die Konkurrenz um den Zeitvorsprung Akteure,
deren berufliche Einstellung sie dazu prädisponiert, alle
journalistische Praxis unter das Gebot der Geschwindig-
keit (oder Übereilung) und der permanenten Innovation
zu stellen – Dispositionen, die die Zeitgebundenheit der
journalistischen Praxis selbst unaufhörlich verstärken. Die-
se Praxis verpflichtet nämlich dazu, ständig von der Hand
in den Mund zu leben und zu denken und eine Nachricht
auf ihre Aktualität hin zu bewerten (der »Aufmacher« bei
den Fernsehnachrichten), und begünstigt damit eine Art
permanenter Amnesie, die Kehrseite der Begeisterung für
das Neue, und auch eine Neigung dazu, die Beurteilung von
Produzenten und Produkten nach dem Gegensatzschema
»neu – überholt« vorzunehmen.
Ein anderer, völlig paradoxer, der Ausübung kollektiver
oder individueller Autonomie entgegenstehender Effekt des
Feldes: Die Konkurrenz verleitet dazu, die Tätigkeit der

 Über den oft willkürlich verhängten Zeitdruck wirkt sich die strukturelle
Zensur auf die Äußerungen von Studiogästen im Fernsehen praktisch
unerkannt aus.
 Wenn die Behauptung »das ist überholt« heute so oft und weit über
die Grenzen des journalistischen Feldes hinaus alles kritische Argu-
mentieren ersetzen kann, so auch deshalb, weil eilige Nachrücker ein
ganz natürliches Interesse an der Geltung dieses Bewertungsprinzips
haben, das dem zuletzt Gekommenen, das heißt dem Jüngsten, einen
unbestreitbaren Vorteil einräumt und, da es in etwa auf das nahezu leere
Gegensatzpaar vorher – nachher hinausläuft, ihnen die Mühe abnimmt,
ihre Fähigkeiten erst einmal unter Beweis zu stellen.
Konkurrenten permanent zu überwachen (was bis zu ge-
genseitigem Ausspionieren gehen kann), um ihr Scheitern
zu nutzen, ihre Fehler zu vermeiden, ihre Erfolge zu kon-
terkarieren, wobei versucht wird, die Instrumente zu ent-
lehnen, von denen angenommen wird, daß sie zum Erfolg
führten: emen von Sondernummern, die zu übernehmen
man sich verpflichtet fühlt, von anderen besprochene Bü-
cher, »über die man sprechen muß«, Interviewpartner, die
man einzuladen hat, Gegenstände, über die zu berichten
ist, weil andere sie entdeckt haben, und sogar Journalisten,
die man sich streitig macht, nicht nur, um sie wirklich zu
haben, sondern ebensosehr, damit die Konkurrenz sie nicht
bekommt. Auf diesem Gebiet wie auf anderen tendiert
Konkurrenz – die keineswegs automatisch Originalität
und Abwechslung hervorbringt – oft zur Uniformisierung
des Angebots, wovon sich leicht überzeugen kann, wer den
Inhalt der großen Wochenzeitschriften oder der an ein
breites Publikum gerichteten Radio- oder Fernsehsendun-
gen miteinander vergleicht. Dieser Wirkungsmechanismus
führt aber auch dazu, der Gesamtheit des Feldes unmerk-
lich die »Entscheidungen« der den Verdikten des Marktes
am unmittelbarsten und vollständigsten unterworfenen
Medien, etwa des Fernsehens, aufzunötigen, was dazu bei-
trägt, die ganze Produktion auf die Bewahrung etablierter
Werte auszurichten, wie zum Beispiel deutlich wird, wenn
die periodisch erscheinenden Empfehlungslisten, über
die Medienintellektuelle versuchen, ihre Sicht des Feldes
(und die Anerkennung von ihresgleichen – in Erwartung
einer Gegenleistung ...) durchzusetzen, fast immer Autoren
hochverderblicher Kulturprodukte, die sich dank solcher
Unterstützung ein paar Wochen lang in den Bestsellerlisten
halten, neben anerkannten Schriftstellern aufführen, die als
»Klassiker« geeignet sind, den guten Geschmack derer zu
bestätigen, die sie ausgewählt haben, und überdies selbst zu
den Longsellern zählen. Womit gesagt ist, daß die Mecha-
nismen, denen das journalistische Feld unterliegt, und die
Effekte, die sie in anderen Feldern auslösen, in ihrer Inten-
sität und Richtung durch die Struktur bestimmt sind, die es
kennzeichnet, mögen sich jene Effekte auch fast immer nur
durch das Handeln einzelner vollziehen.

Die Intrusionseffekte

Die Ausstrahlungskraft des journalistischen Feldes stärkt


tendenziell in jedem Feld die Akteure und Institutionen,
die dem Pol am nächsten stehen, der dem Effekt der Menge
und des Marktes am stärksten unterworfen ist; und dieser
Effekt wirkt sich um so nachhaltiger aus, je direkter die ent-
sprechenden Felder strukturell dieser Logik gehorchen und
das journalistische Feld, von dem er seinen Ausgang nimmt,
selbst wiederum zyklisch externen Zwängen ausgesetzt ist,
die es strukturell stärker infizieren als andere Felder kultu-
reller Produktion. Heute ist zum Beispiel festzustellen, daß
interne Sanktionen ihre symbolische Macht tendenziell
verlieren und die »seriösen« Journalisten und Presseorgane
ihre Aura einbüßen und genötigt sind, der von dem kom-
merziellen Fernsehen eingeführten Logik des Marktes und
des Marketing und dem neuen Prinzip der Legitimierung
durch die Anzahl und die »Medientauglichkeit« Konzes-
sionen zu machen, wodurch bestimmten (kulturellen oder
auch politischen) Produkten oder bestimmten »Produzen-
ten« der scheinbar demokratische Ersatz für spezifische,
von speziellen Feldern ausgehende Sanktionen verliehen
wird. Manche »Analysen« des Fernsehens verdankten ihren
Erfolg bei Journalisten, und zwar vor allem bei den dem
Einschaltquoteneffekt ergebensten, dem Umstand, daß sie
der kommerziellen Logik eine demokratische Legitimität
verliehen, indem sie sich damit begnügten, ein Problem kul-
tureller Produktion und Verbreitung als ein solches der Po-
litik, und also plebiszitärer Entscheidung, zu formulieren.
So tendiert der zunehmende Einfluß eines der direkten
oder indirekten Herrschaft der kommerziellen Logik im-
mer stärker ausgesetzten journalistischen Feldes dazu, die
Autonomie der verschiedenen Felder kultureller Produktion
zu bedrohen, indem er innerhalb eines jeden die Akteure
oder Unternehmen stärkt, die am ehesten der Versuchung
»externer« Gewinne nachgeben, weil sie über weniger
spezifisches (wissenschaftliches, literarisches usw.) Kapital
verfügen und der spezifischen Gewinne, die ihnen das Feld
sofort oder in mehr oder weniger ferner Zukunft gewährt,
weniger sicher sind.

 Es reicht dazu aus, Probleme eines Journalisten (wie die Wahl zwischen
TF und Arte) in einer journalistisch klingenden Sprache zu formulie-
ren: »Kultur und Fernsehen: zwischen Kohabitation und Apartheid« (D.
Wolton, Eloge du grand public, Paris, Flammarion, , S. ). Es mag
erlaubt sein, im Vorbeigehen darauf hinzuweisen, wie unumgänglich
notwendig der Bruch mit den Vorformulierungen und Voraussetzungen
der gewöhnlichen Sprache, und insbesondere der journalistischen, ist,
wenn der Gegenstand wissenschaftlich adäquat konstruiert werden soll.
Soviel zur Rechtfertigung der möglicherweise schwierigen, ja schwerfäl-
ligen Züge des vorliegenden Textes.
Das journalistische Feld gewinnt in den Feldern kulturel-
ler (vor allem philosophischer und sozialwissenschaftlicher)
Produktion hauptsächlich durch den Eingriff kultureller
Produzenten an Boden, die zwischen dem journalistischen
Feld und den spezialisierten (literarischen, philosophischen
usw.) Feldern zu situieren sind – wo genau, ist schwer zu sa-
gen. Diese »Medienintellektuellen«, die sich ihrer Doppel-
zugehörigkeit bedienen, um den spezifischen Anforderun-
gen beider Welten aus dem Weg zu gehen und in jede ihren
in der anderen mehr oder weniger wohlerworbenen Status
einzubringen, sind in der Lage, zweierlei Effekte hervorzu-
rufen: zum einen die Einführung neuer Formen kultureller
Produktion irgendwo auf halbem Wege zwischen den eso-
terisch-universitären und den exoterisch-journalistischen
Erzeugnissen; zum zweiten die Durchsetzung anderer Be-
wertungsprinzipien kultureller Produkte dadurch, daß sie,
die »Medienintellektuellen«, den Sanktionen des Marktes
namentlich durch ihre kritischen Urteile einen Schein
intellektueller Autorität verleihen und somit die spontane
Neigung bestimmter Verbraucherkategorien zur Allodo-
xia verstärken, was den Einfluß der Einschaltquoten und
Bestsellerlisten auf die Rezeption kultureller Produkte und,
indirekt und auf Dauer gesehen, auch auf deren Produk-

 Innerhalb dieser nicht scharf zu fassenden Kategorie wären diejenigen


gesondert aufzuführen, die einer mit der »Industrialisierung« der kul-
turellen Produktion aufgekommenen Tradition folgend einen journa-
listischen Beruf ausüben, um Existenz- und nicht um Machtmittel zu
erwerben, zumal nicht, um in den spezialisierten Feldern Kontroll- oder
Sanktionsfunktionen auszuüben (Shdanow-Effekt).
tion zu verstärken tendiert und die Entscheidungen (von
Verlegern zum Beispiel) auf weniger anspruchsvolle, besser
verkäufliche Produkte lenkt.
Und sie können mit der Unterstützung all derer rechnen,
die, Objektivität mit einer Art allseitiger Verträglichkeit
und eklektischer Neutralität gegenüber allen Beteiligten
in eins setzend, Erzeugnisse mittlerer Kultur für Avant-
gardewerke halten oder die künstlerische Avantgarde (und
nicht nur die künstlerische) im Namen des gesunden Men-
schenverstands kritisieren; letztere wiederum dürfen auf
die Zustimmung oder das heimliche Einverständnis all der
Konsumenten zählen, die wie sie aufgrund ihrer Entfer-
nung von den »kulturellen Brennpunkten« und ihrer inter-
essierten Neigung, die Grenzen ihrer Aneignungsfähigkeit
nicht wahrzunehmen, zur Allodoxia neigen – einer Logik
der self deception folgend, die von Lesern populärwissen-
schaftlicher Magazine häufig so formuliert wird: »Dies ist
eine wissenschaftliche Zeitschrift von sehr hohem Niveau
und jedermann zugänglich.«
So können Errungenschaften in Gefahr geraten, die von
der Autonomie des Feldes und seiner Fähigkeit zum Wi-
derstand gegenüber Ansprüchen der Außenwelt ermöglicht
wurden – Ansprüchen, wie sie heute von der Einschalt-
quote symbolisiert werden und gegen die sich schon die
Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts ausdrücklich
verwahrten, wenn sie sich über die Vorstellung empörten,

 Viele neuere Proteste gegen die moderne Kunst unterscheiden sich


allenfalls durch die Prätention ihrer Motive von Verdikten, wie sie sich
aus einem Plebiszit über Avantgardekunst – oder, was auf dasselbe hin-
ausläuft, aus Meinungsumfragen – ermitteln ließen.
die Kunst (und dasselbe ließe sich von der Wissenschaft
sagen) könnte dem Verdikt des allgemeinen Stimmrechts
ausgeliefert werden. Zwei Strategien können gegen diese
Gefahr verfolgt werden, und sie werden je nach den Fel-
dern und ihrem Grad an Autonomie verschieden häufig
eingesetzt: die Grenzen des Feldes deutlich markieren und
sie gegenüber dem drohenden Eindringen journalistischer
Denk- und Verhaltensweisen wiederherstellen und befesti-
gen, oder aber (nach dem von Zola inaugurierten Modell)
den Elfenbeinturm verlassen, um draußen die Werte zur
Geltung zu bringen, die innerhalb seiner gewonnen wurden,
und sich in den spezialisierten Feldern und außerhalb ihrer,
bis hin zum journalistischen Feld, aller verfügbaren Mittel
in der Absicht zu bedienen, den von der Autonomie mög-
lich gemachten Ergebnissen und Entdeckungen andernorts
Geltung zu verschaffen.
Um zu einem aufgeklärten wissenschaftlichen Urteil zu
gelangen, bedarf es ökonomischer und kultureller Voraus-
setzungen, und man wird vom allgemeinen Stimmrecht
(oder der Meinungsumfrage) nicht erwarten können, über
Probleme der Wissenschaft zu entscheiden (obwohl man
es manchmal indirekt und unbewußt tut), wenn man
nicht die eigentlichen Voraussetzungen wissenschaftlicher
Produktion außer Kraft setzen will, das heißt die Barriere,
die den Zugang zur Wissenschaft (oder zur Kunst) gegen
das zerstörerische Eindringen externer, also ungeeigneter
und deplazierter Produktions- und Evaluationsprinzipien
schützt. Daraus folgt jedoch nicht, daß die Barriere nicht
in entgegengesetzter Richtung überschritten werden kann
und es schlechthin unmöglich wäre, an der demokratischen
Weitergabe durch Autonomie ermöglichter Ergebnisse zu
arbeiten. Dies allerdings unter der Voraussetzung, daß man
sich darüber im klaren ist, daß jeder Versuch, die höchst
raren Errungenschaften wissenschaftlichen oder künstle-
rischen Experimentierens zu popularisieren, die Infrage-
stellung des Monopols der Verbreitungsinstrumente dieser
(wissenschaftlichen oder künstlerischen) Information vor-
aussetzt, welches das journalistische Feld faktisch innehat,
und auch die Kritik an der Darstellung der Erwartungen
der Mehrheit der Menschen – einer Darstellung, wie sie
die kommerzielle Demagogie derer hervorbringt, welche
über die Mittel verfügen, sich zwischen die kulturellen
Produzenten (unter die in diesem Fall die Politiker gezählt
werden können) und die große Masse der Konsumenten zu
drängen.
Der Abstand zwischen professionellen Produzenten
(oder ihren Produkten) und einfachen Konsumenten
(Lesern, Hörern, Zuschauern, auch Wählern), der in der
Autonomie der spezialisierten Felder seine Grundlage hat,
ist je nach Feld mehr oder weniger groß, mehr oder weni-
ger schwer zu überwinden und unter dem Gesichtspunkt
des Prinzips Demokratie mehr oder weniger inakzeptabel.
Und entgegen dem Anschein ist er auch in der Politik zu
bemerken, zu deren erklärten Grundsätzen er in Gegen-
satz steht. Obwohl die Akteure des journalistischen und
des politischen Feldes miteinander konkurrieren und sich
ständig bekämpfen und das journalistische Feld in gewisser
Weise in das politische einbezogen ist, innerhalb dessen es
sehr starke Effekte ausübt, haben beide Felder doch dies
gemeinsam, sehr direkt von der Sanktion des Marktes
und des Plebiszits betroffen zu sein. Daraus folgt, daß der
Einfluß des journalistischen Feldes bei den im politischen
Feld Agierenden die Tendenzen verstärkt, sich dem Druck
der manchmal unreflektierten und von Leidenschaft ge-
steuerten, oft von der Presse überhaupt erst zu politischen
Losungen umgeformten Erwartungen und Ansprüchen der
Menge zu beugen.
Wenn der Journalismus sich nicht der Freiheiten und der
Macht der Kritik bedient, die seine Autonomie ihm erlaubt,
agiert er, und vor allem sein (kommerzieller) Ableger, das
Fernsehen, wie die Meinungsumfrage, mit der er selbst zu
rechnen hat. Die Umfrage als Instrument rational gesteuer-
ter Demagogie bewirkt zwar tendenziell einen verstärkten
Selbstbezug des politischen Feldes. Sie stellt aber auch eine
unmittelbare, unvermittelte Beziehung zu den Wählern her,
eine Beziehung, die alle gesellschaftlich mit der Erarbeitung
und Vertretung einmal gebildeter Meinungen beauftragten
individuellen oder kollektiven Akteure (wie Parteien und
Gewerkschaften) aus dem Spiel drängt; alle Mandatsträger
und alle politischen Repräsentanten verlieren ihren gemein-
samen Anspruch (den einst auch große Zeitungsherausge-
ber erhoben) auf das Monopol zur legitimen Äußerung
der öffentlichen Meinung und gleichzeitig damit auf ihre
Befähigung, bei der kritischen (und manchmal, wie in den
gesetzgebenden Körperschaften, kollektiven) Herausar-
beitung der wirklichen oder unterstellten Meinungen ihrer
Auftraggeber mitzuwirken.
All dies bewirkt, daß der unaufhörlich zunehmende
Einfluß eines selbst einem wachsenden Einfluß der kom-
merziellen Logik unterliegenden journalistischen Feldes
auf ein der ständigen Versuchung zur Demagogie (und
ganz besonders dann, wenn die Umfrage sie in rationaler
Version praktizierbar macht) ausgesetztes politisches Feld
dazu beiträgt, die Autonomie dieses politischen Feldes zu
schwächen und mit ihr zugleich die den (politischen oder
sonstigen) Repräsentanten zuerkannte Befugnis, sich auf
ihre Kompetenz als Experten oder auf ihre Autorität als
Hüter kollektiver Werte zu berufen.
Unvermeidlich drängt sich abschließend der Fall der
Juristen auf, die nur um den Preis einer »frommen Heuche-
lei« immer noch glauben können, daß ihre Verdikte nicht
auf äußeren, namentlich ökonomischen Zwängen beruhen,
sondern in transzendenten Normen gründen, zu deren Hü-
tern sie bestellt sind. Das Feld der Rechtsprechung ist nicht,
was es zu sein glaubt, nämlich ein von allen Kompromissen
mit den politischen oder wirtschaftlichen Notwendigkeiten
befreites Universum. Daß es ihm aber gelingt, als solches
anerkannt zu werden, trägt zur Produktion vollkommen
realer sozialer Effekte bei, und zwar zunächst einmal bei
denen, deren Beruf es ist, Recht zu sprechen. Was aber
wird aus den Juristen, diesen mehr oder weniger aufrech-
ten Inkarnationen der kollektiven Heuchelei, wenn einmal
allgemein bekannt wird, daß sie, weit davon entfernt, tran-
szendentalen und universellen Werten zu gehorchen, ganz
wie alle anderen gesellschaftlichen Akteure Zwängen aus-
geliefert sind – Zwängen wie denen, die ohne jeden Respekt
vor Prozeduren oder Hierarchien der Druck ökonomischer
Notwendigkeiten oder die Versuchung durch journalisti-
sche Erfolge ausübt?
Kleines normatives Postskriptum

Die verborgenen Zwänge enthüllen, die auf den Journalisten


lasten und die sie ihrerseits an alle kulturellen Produzenten wei-
tergeben, heißt nicht – muß es eigens betont werden? – Verant-
wortliche anprangern, mit dem Finger auf Schuldige zeigen Es
heißt, den einen wie den anderen eine Chance geben, sich durch
Bewußtwerdung von dem Bann zu lösen, der von diesen Mecha-
nismen ausgeht, und vielleicht das Programm einer konzertier-
ten Aktion zwischen Künstlern, Schriftstellern, Wissenschaft-
lern und Journalisten (als Inhabern des Quasi-Monopols an den
Verbreitungsmitteln) entwerfen. Nur eine solche Zusammenar-
beit würde es möglich machen, effizient die Popularisierung der
universellsten Forschungsergebnisse zu fördern und auch, zum
Teil wenigstens, zur praktischen Universalisierung des Zugangs
zum Universellen beizutragen.

 Um den Effekt des »Aufspießen« oder »Karikieren« zu vermeiden, der


leicht entsteht, wenn aufgenommene Äußerungen oder gedruckte Tex-
te umstandslos zitiert werden, haben wir manches Mal auf die Wieder-
gabe von Dokumenten verzichten müssen, die der Beweisführung noch
mehr Nachdruck verliehen hätten und durch den entbanalisierenden
Effekt, den die Sprengung des vertrauten Zusammenhangs auslöst,
den Leser darüber hinaus an all die gleichgearteten Besipiele hätten
erinnern können, die dem routinierten Blick gewöhnlich verborgen
bleiben.
Ein Untersuchungsprogramm
Die Olympischen Spiele1

Was meinen wir genau, wenn wir von Olympischen Spie-


len sprechen? Der offenkundige Referent ist die »wirkliche«
Veranstaltung, also eine Sportveranstaltung im eigentlichen
Sinne, die Begegnung von Athleten aus aller Welt im Zei-
chen universalistischer Ideale, und ein Ritual mit nationa-
lem, ja nationalistischem Beigeschmack, der Aufmarsch
von Nationalmannschaften, die Medaillenverleihung mit
Fahnen und Nationalhymnen. Der verborgene Referent
aber ist die Gesamtheit der von den Fernsehgesellschaften
aufgenommenen und verbreiteten Bilder dieser Veranstal-
tung, die jeweils eine nationale Auswahl aus dem national
scheinbar nicht differenzierten (die Wettkämpfe sind ja in-
ternational), im Stadion dargebotenen Material vornehmen.
Ein doppelt verborgenes Objekt, da niemand es in seiner
Gänze sieht und niemand sieht, daß es nicht gesehen wird,
so daß jeder Fernsehzuschauer die Illusion hegen kann, er
sehe wahrhaft die Olympiade.
Da die Fernsehsender aus den verschiedenen Ländern ei-
nem Athleten oder einer sportlichen Disziplin um so mehr
Platz einräumen, je mehr Aussichten sie haben, nationalen
oder nationalistischen Stolz zu befriedigen, verwandelt das
Fernsehbild, mag es auch den Anschein einer bloßen Wie-

 Dieser Text ist die Kurzfassung eines bei der Jahresversammlung der
Philosopbical Society for the Study of Sport am . Oktober  in Berlin
gehaltenen Vortrags.
dergabe besitzen, den sportlichen Wettkampf unter Athle-
ten aus aller Welt in eine Konfrontation von Vorkämpfern
(im Sinne ordnungsgemäß beauftragter Protagonisten) ver-
schiedener Nationen.
Wollte man diesen Prozeß symbolischer Transmutation
verstehen, wäre zunächst einmal die soziale Konstruktion
des olympischen Schauspiels zu untersuchen, die der Wett-
bewerbe selbst, aber auch all der Kundgebungen, die sie
einrahmen, wie der Eröffnungsaufmarsch und die Schluß-
zeremonie. Sodann wäre die Produktion der Bilder zu un-
tersuchen, die das Fernsehen von diesem Schauspiel liefert
– Bilder, welche, da von Werbespots unterbrochen, zu einem
kommerziellen, der Marktlogik gehorchenden Produkt
werden und daher so konzipiert werden müssen, daß sie das
breiteste Publikum erreichen und seine Aufmerksamkeit so
lange wie möglich fesseln: Nicht nur müssen sie in den öko-
nomisch dominierenden Ländern zu den Hauptsendezeiten
geliefert werden, sie müssen sich auch Publikumserwar-
tungen unterwerfen und den Präferenzen von Zuschauern
unterschiedlicher Nationen für diesen oder jenen Sport und
sogar ihren nationalen oder nationalistischen Hoffnungen
entgegenkommen, was voraussetzt, daß eine umsichtige
Auswahl unter den Sportarten und Wettkämpfen Erfolge
für die Mitglieder ihrer jeweiligen Nationalmannschaft
und damit die Befriedigung nationalistischer Gefühle
garantiert. Daraus folgt zum Beispiel, daß der relative
Stellenwert der verschiedenen Sportarten bei den internati-
onalen Sportveranstaltungen immer mehr von ihrem Fern-
seherfolg und den entsprechenden ökonomischen Profiten
abhängt. Die mit den Fernsehübertragungen verbundenen
Zwänge beeinflussen auch mehr und mehr die Auswahl
der olympischen Sportarten, der Ausstragungsorte und des
Zeitpunkts, und sogar den Verlauf der Wettkämpfe und
der Zeremonien. So wurden bei den Spielen in Seoul die
Abschlußwettkämpfe in der Leichtathletik (nach Verhand-
lungen, bei denen es um enorme Finanzzusagen ging) so
gelegt, daß sie in den Vereinigten Staaten am frühen Abend
gesehen werden konnten, wenn die meisten Zuschauer zu
erwarten waren.
Gegenstand der Untersuchung müßte daher das gesamte
Feld der Produktion der Olympischen Spiele als Fernseh-
veranstaltung (oder besser, nämlich in der Marketingspra-
che: als »Kommunikationsinstrument«) werden, das heißt
die Gesamtheit der objektiven Beziehungen zwischen
Akteuren und Institutionen, die um die Produktion und
Kommerzialisierung der Bilder und Diskurse zu den Spie-
len konkurrieren: das Internationale Olympische Komitee
(IOK), das, dominiert von einer kleinen Kamarilla von
Sportfunktionären und Vertretern großer Industrieunter-
nehmen (Adidas, Coca-Cola usw.), die den Verkauf der
Übertragungsrechte (für Barcelona auf  Milliarden
Dollar geschätzt) und der Sponsorenrechte sowie auch die
Wahl der Austragungsorte kontrolliert, sich nach und nach
in ein kommerzielles Großunternehmen mit einem Jahres-
budget von  Millionen Dollar verwandelt hat; die großen
Fernsehgesellschaften (vor allem die amerikanischen), die
(auf nach Staaten oder Sprachräumen unterschiedener
Ebene) um die Übertragungsrechte konkurrieren; die
multinationalen Unternehmen (Coca-Cola, Kodak, Ricoh,
Philips usw.), die um die Exklusivrechte konkurrieren, ihre
Produkte (als »offizielle Lieferanten«) mit den Olympischen
Spielen in Verbindung bringen zu dürfen  und schließlich
die Produzenten von Bildern und Kommentaren für Fern-
sehen, Rundfunk und Presse ( ooo waren es in Barcelona),
die in Konkurrenzbeziehungen untereinander stehen, die
ihre individuelle und kollektive Arbeit an der Konstrukti-
on der Darstellung der Spiele – Auswahl, Einstellung und
Montage der Bilder, Ausarbeitung des Kommentars – aus-
richten. Und schließlich wären die vom Fernsehen über die
Planetarisierung des olympischen Schauspiels ausgehenden
Auswirkungen auf die Intensivierung des Wettbewerbs
unter den Nationen zu untersuchen, etwa die Entstehung
einer auf internationale Erfolge ausgerichteten Sportpolitik
der Staaten, die symbolische und ökonomische Ausnutzung
der Spiele und die Industrialisierung der Sportproduktion
mit ihrem Rückgriff auf Doping und autoritäre Trainings-
formen.

 Den Sponsoren wurde ein »komplettes Kommunikationspaket« ange-


boten, das »auf der Exklusivität in der Produktkategorie und der Kon-
tinuität der Botschaft über vier Jahre hinweg aufbaut. Das Programm
für jedes der  Sportereignisse schloß die Stadionwerbung, den Titel
>offizieller Lieferant<, die Benutzung von Maskottchen und Emblemen
ebenso wie Franchisemöglichkeiten ein.« Für  Millionen Francs hatte
jeder Sponsor  die Möglichkeit, am »weltgrößten Fernsehereignis«
teilzuhaben und über ein »einmaliges, jeden anderen Sport überbieten-
des Schaufenster« zu verfügen (V. Simson und A. Jennings, Mains basses
sur les JO, Paris, Flammanon, , S. ).
 Der Wettkampfsport setzt mehr und mehr eine industrielle Technologie
ins Werk, die den menschlichen Körper durch den Beitrag verschiedener
biologischer und psychologischer Wissenschaften in eine leistungsfähi-
ge, unermüdliche Maschine verwandeln soll. Die Logik der Konkurrenz
unter den Nationalmannschaften und den Staaten macht den Rückgriff
auf verbotene Stimulantien und zweifelhafte Trainingsmethoden immer
unvermeidlicher (vgl J. Hoberman, Mortal Engines. Tbe Science of Per-
formance and the Deshumanization of Sport, New York, e Free Press,
).
Ganz wie in der künstlerischen Produktion die un-
mittelbar sichtbare Tätigkeit des Künstlers das Wirken
all der Agenten, Kritiker, Galeristen, Konservatoren usw.
kaschiert, die miteinander konkurrierend dazu beitragen,
Sinn und Wert des Kunstwerks und, grundsätzlicher noch,
jenen Glauben an den Wert der Kunst und des Künstlers zu
produzieren, auf dem das ganze Kunstspiel aufbaut, so ist
auch im Sport der Champion, der Hundertmeterläufer oder
Zehnkämpfer nur das scheinbare Subjekt eines Schauspiels,
das in gewisser Weise zweimal produziert wird  ein erstes
Mal für eine Gesamtheit von Akteuren, zu denen Athleten,
Trainer, Ärzte, Organisatoren, Kampfrichter, Zeitnehmer
und Regisseure des ganzen Zeremoniells gehören, die am
Ablauf der Wettkämpfe im Stadion mitwirken; ein zweites
Mal für alle die, welche die Reproduktion dieses Schau-
spiels in Bildern und Worten produzieren, meist unter dem
Druck der Konkurrenz und des ganzen Systems von Zwän-
gen, die das sie umschließende Netz objektiver Bedingun-
gen auf sie ausübt.
Die Teilnehmer des globalen Ereignisses, das wir meinen,
wenn wir von »Olympischen Spielen« sprechen, könnten
die Mechanismen, die das Handeln der bei dieser zweistu-
figen sozialen Konstruktion Mitwirkenden bestimmen und
deren Effekte jeder verspürt und die er zugleich anderen zu
spüren gibt, kollektiv meistern, wenn sie sich diese durch

 Vgl. Pierre Bourdieu, Les regles de l‘art, Paris, Editions du Seuil, .
 Ein brutaler Indikator für den realen Wert der verschiedenen Akteure
des olympischen »Showbusineß« waren die von den koreanischen Be-
hörden verteilten Geschenke: von  Dollar für die Athleten bis zu 
Dollar für die lOK-Mitglieder (vgl. V. Simson und A. Jennings, Mains
basses sur les JO, op, dt., S. ).
Untersuchung und Reflexion bewußt machten. Damit trü-
gen sie auch zur Entfaltung der in den Olympischen Spielen
angelegten, heute vom Verschwinden bedrohten Potentiale
des Universalismus bei.

 Man könnte zum Beispiel an eine Olympische Charta denken, in der die
Grundsätze zu definieren wären, auf die sich die mit der Produktion der
Veranstaltungen und ihrer Wiedergabe befaßten Akteure zu verpflich-
ten hätten (angefangen natürlich bei den Leitern des Olympischen
Komitees, die als erste von der Überschreitung des Gebots materieller
Interesselosigkeit profitieren, dessen Einhaltung sie überwachen sollen),
oder an einen Olympischen Eid, der nicht nur die Athleten in die Pflicht
nehmen würde (indem er ihnen zum Beispiel nationalistische Schaustel-
lungen verböte wie die, sich bei der Ehrenrunde in ihre Nationalfahne
zu hüllen), sondern auch diejenigen, die die Bilder ihrer Leistungen
produzieren und kommentieren.
Nachwort

Journalismus und Politik

Wie ist die außerordentliche Heftigkeit zu erklären, die die


vorstehende Untersuchung bei den bekanntesten französi-
schen Journalisten auslöste?
Sie kann nicht nur daher rühren, daß jedenfalls diejeni-
gen unter ihnen, die direkt oder indirekt, vermittels ihnen
Nahestehender oder Gleichender, zitiert wurden, sich trotz
meiner vorsorglichen Dementis persönlich angegriffen
fühlten. Die moralinschwere Empörung, die sie an den Tag
legten, ist wohl zum Teil auf die Transkription zurückzu-
führen, die unvermeidlicherweise das Ungeschriebene, den
Tonfall, die Gesten, die Mimik verschwinden läßt – das
heißt alles, was für jeden gutwilligen Zuschauer den Unter-
schied zwischen der um Erklären und Überzeugen bemüh-
ten Rede und dem polemischen Pamphlet ausmacht, das die
meisten Journalisten darin gesehen haben. Sie erklärt sich
aber vor allem durch einige der typischsten Eigenschaften
des journalistischen Blicks (der sie noch vor kurzem für
mein Buch Das Elend der Welt einnahm): die Neigung etwa,
das Neue mit sogenannten »Enthüllungen« zu identifizie-
ren, oder den Hang, den sichtbarsten Aspekt der sozialen

 Sur la télévision – die Buchveröffentlichung der beiden einleitenden


Fernsehvorträge – war Gegenstand einer breiten Kontroverse, in die alle
Berühmtheiten der französischen Tages- und Wochenpresse wie auch
des Fernsehens über Monate hinweg – solange das Buch an der Spitze
der Bestsellerlisten lag – eingriffen.
Welt in den Vordergrund zu stellen, die Individuen nämlich,
ihre Taten und vor allem ihre Untaten, und zwar in einer oft
denunziatorischen, anklagenden Perspektive und auf Kos-
ten jener unsichtbaren Strukturen und Mechanismen (hier
derjenigen des journalistischen Feldes), die Handeln und
Denken bestimmen und deren Kenntnis eher verständnis-
volle Nachsicht fördert als empörte Verurteilung; oder auch
die Tendenz, sich mehr für die (unterstellten) »Schlußfol-
gerungen« zu interessieren als für den Weg, auf dem man
zu ihnen gelangt. Ich erinnere mich eines Journalisten, der
mich nach dem Erscheinen meines Buchs La noblesse d‘Etat,
der Bilanz zehnjähriger Forschungen, zu einer Debatte über
die Grandes Écoles einlud, wobei der Vorsitzende des Vereins
ehemaliger Studierender dieser Elitehochschulen »pro« und
ich »contra« sprechen sollte, und er verstand nicht, daß ich
es ausschlagen konnte. Genauso haben die »berühmten Fe-
dern«, die mein Buch angriffen, die Methode, die ich dort
anwandte (insbesondere die Untersuchung der journalisti-
schen Welt als Feld), schlicht und einfach ausgeklammert
und es, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu werden, da-
mit auf eine Reihe banaler, mit einigen polemischen Spitzen
gespickter Meinungsäußerungen reduziert.
Ebendiese Methode möchte ich erneut illustrieren und,
sei es auch auf die Gefahr neuer Mißverständnisse hin, zu
zeigen versuchen, wie das journalistische Feld eine ganz
besondere Sicht des politischen Feldes produziert und
durchsetzt, eine Optik, die ihr Prinzip in der Struktur des
journalistischen Feldes und in den spezifischen Interessen
der Journalisten findet, die es hervorbringt.
In einem Universum, das von der Furcht beherrscht ist, zu
langweilen, und von der Bemühung, um jeden Preis unter-
haltsam zu sein, muß die Politik als undankbares ema er-
scheinen, das man zu den Hauptsendezeiten nach Möglich-
keit meidet – ein wenig aufregendes, ja deprimierendes und
schwer zu vermittelndes Schauspiel, das doch interessant
gemacht werden soll. Daher die in den Vereinigten Staaten
wie in Europa beobachtbare Tendenz, den Kommentator
und den recherchierenden Reporter durch den Spaßmacher
zu ersetzen, Information, Analyse, vertiefte Diskussion,
Expertenrunde, Reportage durch reine Unterhaltung, und
insbesondere durch das bedeutungslose Geschwätz der
Talkshows mit ihren immer wiederkehrenden und unterein-
ander austauschbaren Teilnehmern (als Beispiel zitierte ich
einige Namen, ein unverzeihlicher Fauxpas). Um wirklich
zu verstehen, was bei diesem fiktiven Austausch gesagt wird
und vor allem, was nicht gesagt werden darf, müßte man im
einzelnen die Bedingungen untersuchen, nach denen die in
den Vereinigten Staaten so genannten panelists ausgewählt
werden: stets disponibel sein, das heißt allzeit zur Teilnah-
me bereit und auch dazu, die Spielregeln zu akzeptieren und
auf alle Fragen der Journalisten einzugehen, auch auf die
albernsten und schockierendsten (genau das definiert den
tuttologo); zu vielem, das heißt auch zu allen Konzessionen
(hinsichtlich des emas, der anderen Teilnehmer usw.) be-
reit sein, zu allen Kompromissen und Kompromittierungen
nur um dabei zu sein und sich damit die direkten und indi-
rekten Profite der »Medienbekanntheit« zu sichern, Prestige
bei der Presse, Einladungen zu lukrativen Vorträgen usw.;
bei den Vorinterviews, von denen manche Produzenten in
den Vereinigten Staaten und zunehmend auch in Europa
die Auswahl ihrer panelists abhängig machen, einfache
Standpunkte deutlich und brillant formulieren und vermei-
den, sich mit komplexem Wissen zu belasten (der Maxime
folgend: »e less you know, the better off you are«).
Die Journalisten, die diese Politik demagogischer Ver-
einfachungen (in allem der Gegensatz zu der demokrati-
schen Intention, zu informieren oder auf unterhaltsame
Weise zu bilden) mit der Berufung auf die Erwartunger
des Publikums rechtfertigen, tun nichts anderes, als ihre
eigenen Neigungen, ihre eigene Optik auf dieses zu pro-
jizieren; und zwar ganz besonders dann, wenn ihre Angst
zu langweilen sie dazu treibt, den Streit der Debatte, die
Polemik der Dialektik vorzuziehen und alles daranzusetzen,
daß die Konfrontation von Personen (namentlich Politi-
kern) gegenüber der Konfrontierung ihrer Argumente die
Oberhand gewinnt – gegenüber dem also, worum es dabei
eigentlich geht, sei es das Haushaltsdefizit, die Steuersen-
kung oder die Auslandsverschuldung. Da ihre Kenntnis der
politischen Welt im wesentlichen mehr auf persönlichen
Kontakten und vertraulichen Mitteilungen (ja Gerüchten
und Klatsch) beruht als auf durch Beobachtungen oder
Recherchen erworbener Sachkenntnis, tendieren sie näm-
lich dazu, alles auf die eine Ebene zu bringen, auf der sie
sich auskennen. Und so interessieren sie sich weit mehr für
das Spiel und für die Spieler als für den Einsatz, mehr für
rein taktische Fragen als für die Substanz der Auseinan-
dersetzungen, mehr für den Effekt, den Äußerungen in der
Logik des politischen Feldes (der Logik von Koalitionen,
Bündnissen oder Konflikten zwischen Personen) auslösen,
als für ihren Inhalt (wenn sie nicht so weit gehen, völlig
künstliche emen zu erfinden und zu popularisieren, wie
bei der letzten Parlamentswahl in Frankreich die Frage, ob
die Debatte zwischen der Linken und der Rechten von zwei
– Jospin, dem Oppositionsführer, und Juppe, dem rechten
Premierminister – oder von vier Diskutanten auszutragen
wäre – von Jospin und Hue, seinem kommunistischen
Verbündeten, auf der einen, Juppe und Leotard, seinem
zentristischen Verbündeten, auf der anderen Seite – eine
Frage, die unter dem Anschein der Neutralität auf eine
politische Intervention hinauslief, die die konservativen
Parteien durch das Hochspielen möglicher Divergenzen
innerhalb der Linken begünstigen sollte). Aufgrund ihrer
zweideutigen Stellung in der politischen Welt, wo sie als
Akteure großen Einfluß haben, ohne doch ganz dazuzu-
gehören, und in der Lage sind, den Politikern unerläßliche
symbolische Dienste zu leisten, die diese sich selbst nicht
verschaffen können (außer heute als Buchautoren, die sich
gegenseitig die Stange halten), tendieren sie zur Optik eines
ersites und zu einer spontanen Form des generalisierten
Verdachts, die sie dazu treibt, die Gründe auch noch der
interesselosesten Stellungnahmen und der aufrichtigsten
Überzeugungen in Interessen zu suchen, die mit Positionen
im politischen Feld (wie Rivalitäten innerhalb einer Partei
oder einer »Strömung«) verflochten sind.
All das führt sie dazu, in der Begründung ihrer Kom-
mentare oder der Fragestellung ihrer Interviews eine
zynische Sicht der politischen Welt zu produzieren und
anzubieten: den Blick auf eine Arena, in der Ehrgeizlinge
ohne jede Überzeugung Manöver durchführen, bei denen
sie sich von konkurrenzbedingten Interessen leiten lassen.
(In dieser Sichtweise werden sie allerdings, nebenbei gesagt,
von all den Ratgebern und Experten bestärkt, die Politiker
bei jener Art von ausdrücklich kalkuliertem, wenn auch
nicht notwendig zynischem politischem Marketing unter-
stützen, das für einen die Anforderungen des journalisti-
schen Feldes berücksichtigenden politischen Erfolg immer
notwendiger wird – ein wahrer Caucus, der die Politiker
und ihren Ruf zunehmend »macht«.) Die ausschließlich
auf den politischen »Mikrokosmos« und auf die von ihm
ausgehenden Fakten und Effekte gerichtete Aufmerksam-
keit produziert tendenziell einen Bruch mit der Sichtweise
der Öffentlichkeit oder jedenfalls ihrer um die wirklichen
Folgen politischer Stellungnahmen für ihre Existenz und
für die soziale Welt am meisten besorgten Fraktionen. Ein
Bruch, den zumal bei den Fernsehstars die mit dem ökono-
mischen und sozialen Privileg verbundene Distanz verstärkt
und steigert. Bekanntlich verfügen die Medienstars in den
Vereinigten Staaten und den meisten Ländern Europas seit
den sechziger Jahren nicht nur über äußerst erhebliche
Gehälter – in der Größenordnung von   Dollar
und mehr in Europa, von mehreren Millionen Dollar in
Amerika -, sie beziehen außerdem oft horrende Honorare
für ihre Teilnahme in Talkshows, an Vortragstourneen, für
regelmäßige Mitarbeit bei der Presse, für die Übernahme
der Moderation vor allem bei Versammlungen von Berufs-
verbänden (auf diese Weise wächst die unterschiedliche
Verteilung von Macht und Privilegien im journalistischen
Feld in dem Maße, in dem neben kapitalistischen Kleinun-
ternehmern, die ihr symbolisches Kapital durch eine Politik
permanenter Präsenz im Fernsehen – die zur Pflege ihres
Kurses auf dem Markt der Vorträge und Moderationen nö-
tig ist – wahren und mehren, sich ein breites Subproletariat
entwickelt, das seine prekäre Lage zu einer Art Selbstzen-
sur verurteilt).
Damit nicht genug: Zu diesen Effekten treten die bereits
erwähnten, von der Konkurrenz innerhalb des journalis-
tischen Feldes hervorgerufenen hinzu, etwa die Jagd nach
dem Scoop und die selbstverständliche Bevorzugung der
neuesten und am schwierigsten zu beschaffenden Meldung
oder auch das gegenseitige Überbieten bei der Konkur-
renz um die subtilste und paradoxeste, das heißt sehr oft:
zynischste Interpretation, oder auch jene von Amnesie
geschlagenen Vorhersagen in bezug auf weitere Entwick-
lungen, Pro- und Diagnosen, die (ähnlich wie Sportwetten)
wenig kosten und sogar völlig straflos bleiben, weil das
von der fast vollständigen Diskontinuität journalistischen
Berichtens und dem rapiden Rotieren sukzessiver Konfor-
mismen erzeugte Vergessen sie deckt (man erinnere sich
beispielshalber daran, wie Journalisten aller Länder nach
 innerhalb weniger Monate von schwärmerischer Be-
geisterung für das glorreiche Auftauchen neuer Demokra-
tien zur unerbittlichen Verurteilung gräßlicher ethnischer
Kriege übergehen konnten).
Alle diese Effekte tragen dazu bei, daß sich ein Gesamt-
effekt der Entpolitisierung oder genauer: politischer Des-
illusioniertheit ergibt. Das Bemühen um Unterhaltsamkeit
tendiert dazu, immer dann, wenn sich ein wichtiges, aber
scheinbar langweiliges politisches Problem einstellt, die

 Vgl. James Fallows, Breaking the News. How Media Undermine American
Democracy, New York, Vintage Books, .
 Vgl. Patrick Champagne, »Le journalisme entre precarite et concurrence«,
Liber , Dezember .
Aufmerksamkeit auf ein spektakuläres Ereignis (oder einen
Skandal) umzulenken, ohne daß dies explizit gewollt sein
muß – oder, subtiler noch, die sogenannte »Aktualität« auf
eine Abfolge unterhaltsamer Ereignisse zu reduzieren, die
oft, wie beispielhaft bei dem Prozeß gegen O.J. Simpson,
auf halbem Weg zwischen der »Vermischten Meldung« und
der Show liegen; auf eine ungereimte Abfolge von Ereignis-
sen, die nichts miteinander zu tun haben und bloß von den
Zufällen chronologischer Koinzidenz zusammengebracht
werden, ein Erdbeben in der Türkei und die Vorstellung
von Kürzungen im Staatshaushalt, ein Sieg im Sport und
ein Sensationsprozeß, und die man dadurch vollends ad ab-
surdum führt, daß man sie auf das herunterbringt, was sie
augenblicklich, aktuell vorstellen, und sie von ihrer ganzen
Vorgeschichte wie von ihren Konsequenzen abschneidet.
Daß jedes Interesse für unmerkliche Veränderungen fehlt
– für alle Prozesse nämlich, die, wie das Auseinanderdriften
der Kontinente, lange unbemerkt bleiben und ihre Aus-
wirkungen erst mit der Zeit ganz offenbaren -, vermehrt
die Effekte der strukturellen Amnesie, der die Logik eines
Denkens Vorschub leistet, das nur von einem Tag zum
anderen reicht, und die Konkurrenz, die dazu zwingt, das
Wichtige mit dem Neuen (dem Scoop) zu identifizieren,
und die Journalisten, diese Tagelöhner des Alltäglichen,
zur Produktion einer Wiedergabe der Welt verurteilt, die
sie als diskontinuierliche Abfolge von Momentaufnahmen
erscheinen läßt. Aus Mangel an Zeit und vor allem an In-
teresse und Information (sie informieren sich meist nur an-
hand zu demselben ema bereits erschienener Pressearti-
kel) können sie die Ereignisse (zum Beispiel eine Gewalttat
in einer Schule) nicht wirklich verständlich machen, wozu
es ja erforderlich wäre, sie in das System von Beziehungen
zu stellen, in das sie gehören (etwa die Familienstruktur,
die mit dem Arbeitsmarkt zusammenhängt, der wiederum
mit der Steuerpolitik zu tun hat usw.) – worin sie gewiß
durch die Tendenz der Politiker bestärkt werden (vor allem
der Regierungsmitglieder, die sie ihrerseits wiederum be-
stärken), bei ihren Entscheidungen und deren Bekanntgabe
die kurzfristigen Aktionen herauszustreichen, ein »Ankün-
digungseffekt«, dem meist nicht viel folgt, und Unterneh-
mungen ohne sofort sichtbaren Effekt zu vernachlässigen.
Dieser enthistorisierte und enthistorisierende, atomisier-
te und atomisierende Blick findet seinen paradigmatischen
Ausdruck in dem Bild, das die Fernsehnachrichten von der
Welt geben: eine Abfolge scheinbar absurder Geschichten,
die sich schließlich alle ähneln, ununterbrochene Aufmär-
sche dem Elend anheimgegebener Völker, eine Reihenfolge
von Ereignissen, die, unerklärt aufgetaucht, ungelöst ver-
schwinden werden, heute der Kongo, gestern Biafra, mor-
gen der Sudan, und die, jeder politischen Zwangsläufigkeit
enthoben, allenfalls ein vages humanitäres Interesse auszu-
lösen vermögen. Diese zusammenhanglosen Tragödien, die
einander ablösen, ohne je historisch eingeordnet zu werden,
unterscheiden sich eigentlich nicht von Naturkatastrophen,
Tornados, Waldbränden, Überschwemmungen, die eben-
falls in den Fernsehmeldungen einen wichtigen Stellenwert
einnehmen, sind es doch traditionelle journalistische e-
men, um nicht zu sagen rituelle, und vor allem: es ist leicht,
darüber zu berichten, und kostet nicht viel. Die Opfer
sind, kaum anders als von Zugentgleisungen und anderen
Unfällen Betroffene, nicht geeignet, politische Solidarität
oder Empörung hervorzurufen. Somit liegt es durchaus in
der Logik des journalistischen Feldes, namentlich durch die
besondere Form, die hier die Konkurrenz annimmt, und die
Routinen und Denkgewohnheiten, die es unausgesprochen
durchsetzt, eine Vorstellung von der Welt zu produzieren,
in der Geschichte als absurde Serie von unverständlichen
und unbeeinflußbaren Desastern erscheint. Diese von eth-
nischen Kriegen und rassistischem Haß, von Gewalt und
Verbrechen überfüllte Welt ist derart unbegreiflich und
angsteinflößend, daß man sich vor ihr nur zurückziehen
und in Sicherheit bringen kann. Und das durch den Jour-
nalismus vermittelte Weltbild ist um so weniger geeignet,
zu mobilisieren und zu politisieren, wenn es (wie dies im
Zusammenhang mit Afrika oder der banlieue oft geschieht)
mit ethnozentrischer oder offen rassistischer Verachtung
einhergeht – im Gegenteil: Es werden xenophobe Ängste
geschürt, ganz wie der trügerische Eindruck, Verbrechen
und Gewalt nähmen ständig zu, die Beklemmungen und
Phobien bestärkt, von denen sich das Sicherheitsdenken
nährt. Das Gefühl, die Welt, wie das Fernsehen sie zeigt,
biete dem gewöhnlichen Sterblichen keine Handhabe,
verbindet sich mit dem Eindruck, daß das politische Spiel
ähnlich wie der Hochleistungssport mit seiner scharfen
Trennung zwischen Praktizierenden und Zuschauern eine
Sache für Profis ist, und bestärkt vor allem bei wenig Po-
litisierten die fatalistische Ablehnung jeden Engagements,
die natürlich der Konservierung der bestehenden Verhält-
nisse dient. Man muß schon ein sehr zähes Vertrauen in
das (unleugbare, aber doch begrenzte) Potential des Volkes
zum »Widerstand« haben, um mit einer gewissen »postmo-
dernen Kulturkritik« davon auszugehen, der Zynismus der
Fernsehproduzenten, die sich in ihren Arbeitsbedingungen,
ihren Zielen (dem Ringen um maximale Vermehrung des
Publikums, um das »gewisse Plus«, das ausmacht, daß
etwas »sich besser verkauft«) und ihrer ganzen Denkweise
immer mehr den Werbeagenten nähern, fände seine Grenze
oder sein Gegengift in dem aktiven Zynismus der Zuschau-
er (den vor allem das zapping illustriert): Die Fähigkeit, bei
strategischen Spielen des Typs »Ich weiß, daß du weißt, daß
ich weiß« reflexiv und kritisch mitzuhalten und die vom
manipulatorischen Zynismus der Fernseh- und Werbe-
produzenten angebotenen »ironischen und metatextuellen«
Botschaften auf einer dritten und vierten Verstehensebene
zu überbieten, als universell gegeben voraussetzen, heißt
nämlich, einer der perversesten Formen der scholastischen
Illusion in ihrer populistischen Fassung aufsitzen.
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