Escolar Documentos
Profissional Documentos
Cultura Documentos
"Was wissen wir über die Tausende von Manuskripten der Bibliothek von Alexandria,
die Ptolemäus Soter gründete über jene unersetzlichen und
auf ewig verlorenen Dokumente derantiken Wissenschaft?
Wo ist die Asche der 200 000 Werke der Bibliothek von Pergamon?
Was ist aus den Sammlungen des Peisistratos in Athen geworden, aus der Bibliothek
des Tempels zu Jerusalem und aus der des Heiligtums des Phtah
in Memphis?
Welche Schätze enthielten die unzähligen Bücher, die im Jahre 214 v. Chr.
auf Befehl des Kaisers Shih-Huang-Ti aus rein politischen Gründen
verbrannt wurden?"
Wir stehen heute vor den Werken der Antike wie vor den Ruinen eines
riesigen Tempels, von dem nur einige wenige Steine erhalten sind.
Aber die aufmerksame Untersuchung selbst dieser Fragmente läßt uns
Wahrheiten ahnen, die viel zu tief sind, als daß man sie einzig und allein
der Intuition der Menschen des Altertums zuschreiben könnte.
Das ist ein bekannter Satz, dessen Inhalt durchaus modern wirkt.
Aber wenn wir im zweiten Buch der Metaphysik des Aristoteles
nachschlagen, lesen wir:
"Wer sich bilden will, muß zuerst einmal zu zweifeln verstehen, denn der
Zweifel des Geistes führt zur Entdeckung der Wahrheit."
Es läßt sich übrigens nachweisen, daß Descartes nicht nur diesen einen
wesentlichen Grundsatz von Aristoteles entlehnt hat, sondern ebenso die
Mehrzahl seiner berühmten Regeln zur Lenkung des Geistes, die die
Grundlage der Experimentalmethode bilden.
Damit ist jedenfalls bewiesen, daß Descartes Aristoteles gelesen hat was
sich durchaus nicht von allen modernen Kartesianern behaupten läßt.
Was die einem Beobachter so nötige Skepsis betrifft, so kann man in dieser
Hinsicht wahrhaftig nicht weiter gehen als Demokrit, der als gültig nur die
Erfahrung oder das Experiment ansah, an dem er persönlich teilgenommen
hatte und dessen Ergebnisse durch den Abdruck seines Siegelringes
man bestätigt hatte.
Eine solche Haltung scheint mir in keiner Weise jener Naivität zu entsprechen,
die man der Antike vorwirft.
Gewiß, werden Sie mir entgegenhalten, die Philosophen der Antike verfügten
auf dem Feld des abstrakten Denkens über eine geniale Begabung; aber was wußten
sie tatsächlich auf wissenschaftlichem Gebiet?
Nun, entgegen allen Behauptungen, die heute über diese Fragen aufgestellt werden,
waren es nicht Demokrit, Leukipp und Epikur, die als erste die
Theorien über das Atom fanden und formulierten.
Sextus Empiricus berichtet uns, daß Demokrit seither sie von Moschos dem Phönizier
übernommen habe, welcher und das ist besonders
bemerkenswert erklärt haben soll, daß das Atom teilbar ist.
Man beachte, daß wir hier eine Theorie über die Teilbarkeit der Atome vor
uns haben, die nicht nur älter, sondern auch zutreffender ist als die des
Demokrit und der anderen griechischen Denker.
In diesem besonderen Fall scheint es sich nicht so sehr um neue Entdeckungen
zu handeln als vielmehr um eine ungenaue Übernahme sehr alter Erkenntnisse,
die nicht mehr richtig verstanden wurden.
Und wenn wir uns dem Gebiet der Kosmologie zuwenden, können wir eine
ebenso erstaunliche Erfahrung machen: obgleich die alten Forscher noch
keine Teleskope zur Verfügung hatten, sind ihre astronomischen Angaben
häufig um so zutreffender, je älter sie sind.
So besteht zum Beispiel die Milchstraße laut Thaies und Anaximenes aus
Sternensystemen, deren jedes eine Sonne und Planeten umfaßt, und diese
Welten wiederum befinden sich in einem unendlichen Raum.
Bei Lukrez findet man die Erkenntnis, daß alle Körper im leeren Raum gleich
schnell fallen, und den Begriff eines unendlichen, von einer Unzahl von
Welten erfüllten Raumes.
Pythagoras hat schon vor Newton das Gesetz aufgestellt, daß bei zwei
Körpern, die sich gegenseitig anziehen, die wirkende Kraft umgekehrt
proportional dem Quadrat des Abstandes der beiden Körper ist.
Plutarch, der den Versuch unternimmt, das Problem der Schwere zu erklären, sucht
seinen Ursprung in einer gegenseitigen Anziehung zwischen allen
Körpern und sieht in dieser Erscheinung den Grund dafür, daß die Erde alle
irdischen Körper anzieht, ebenso wie die Sonne und der Mond alle jene Teile,
die zu ihnen gehören, in Richtung auf ihren Mittelpunkt gravitieren lassen
und vermittels einer Anziehungskraft in ihrer Sphäre festhalten.
Galilei und Newton haben ausdrücklich bekannt, was sie der alten
Wissenschaft verdankten.
Und Kopernikus schreibt in dem an Papst Paul III. gerichteten Vorwort zu
seinen Werken wörtlich, er habe bei seiner Lektüre der antiken Autoren den
Gedanken gefunden, daß die Erde sich bewegt.
Solche Eingeständnisse tun im übrigen dem Ruhm eines Kopernikus, eines Newton und
eines Galilei keinen Abbruch; sie gehörten jener Rasse höherer
Geister an, deren Sachlichkeit und Großzügigkeit ihnen moderne Vorurteile,
wie Autoreneitelkeit und die Sucht nach Originalität um jeden Preis, fremd
erscheinen ließen.
Noch anspruchsloser und doch im tiefsten Grunde ehrlich erscheint mir die Haltung
von Mlle. Bertin, der Putzmacherin Marie Antoinettes.
Als sie mit geschickter Hand einen alten Hut änderte, rief sie:
"Es gibt nichts Neues, nur Dinge, die wir vergessen haben!"
Ein Blick auf die Geschichte der Erfindungen und die der Wissenschaften
genügt, um die Wahrheit dieses Ausspruchs zu beweisen.
Derartige Überlegungen sind es, die den Titel meines Exposés bestimmten.
Ich bin nun zu der Überzeugung gelangt, daß es möglich sein müßte, in
weitem Umfang den Zufall durch den Determinismus und das Risiko der spontanen
Eingebung durch die Sicherheit einer umfassenden historischen
Dokumentation zu ersetzen, die sich selbstverständlich auf
Kontrollexperimente stützen müßte.
Zu diesem Zweck habe ich die Einrichtung eines Forschungsdienstes vorgeschlagen,
der sich allerdings nicht lediglich mit der Überprüfung
früherer Patente befassen dürfte, da hier dieQuellen nicht über das
18. Jahrhundert hinausreichen.
Ich denke an einen technologischen Forschungsdienst, der die früheren
Verfahren studieren und versuchen müßte, sie nötigenfalls den Bedürfnissen unserer
heutigen Industrie anzupassen.
Hätte es früher bereits einen solchen Forschungsdienst gegeben, so würde
dieser zum Beispiel auf ein kleines unbeachtet gebliebenes Buch hingewiesen haben,
das 1618 erschien und den Titel trug:
"Histoire naturelle de la fontaine qui brûle près de Grenoble".
Sein Verfasser war Jean Tardin, ein Arzt aus Tournon.
Wenn dieses Dokument genau studiert worden wäre, hätte man bereits seit
Beginn des 17. Jahrhunderts das Leuchtgas verwenden können.
Jean Tardin nämlich untersuchte nicht nur den natürlichen Gasometer der
Quelle, sondern reproduzierte in seinem Laboratorium die beobachteten
Erscheinungen. Er tat Steinkohle in ein verschlossenes Gefäß, setzte den
Behälter hohen Temperaturen aus und erzielte so jene Flammen, nach deren Ursprung
er suchte.
Er erklärte ganz deutlich, daß die Materie, aus der dieses Feuer sich nährte,
Erdpech sei und daß man es nur in gasförmigen Zustand versetzen müsse,
der dann eine "entzündbare Ausdünstung" ergebe.
Nun meldete aber Philippe Lebon noch vor dem Engländer Winsor
seine "Thermo-Lampe" erst im Jahre VII der Republik zum Patent an.
Zweihundert Jahre lang also war eine Entdeckung, die gewiß beträchtliche
industrielle und kommerzielle Folgen hätte haben können, vergessen und
somit praktisch verloren, nur weil niemand sich für die alten Texte
interessiert hatte.
Ich möchte noch kurz auf einige wenig bekannte Erfindungen eingehen:
die Taucherglocke findet sich in einem Manuskript des Alexanderromans
im Königlichen Kupferstich-Kabinett zu Berlin; das Titelblatt nennt das
Jahr 1320.
Ein im Jahre 1190 geschriebenes und in der Bibliothek von Stuttgart
aufbewahrtes Manuskript des deutschen Legendenromans
"Salman und Morolf" enthält die Zeichnung eines Unterseeboots.
Wie die Unterschrift besagt, war dieses aus Kupfer gebaute Fahrzeug in der
Lage, alle Stürme zu überstehen.
Als der Erfinder sich eines Tages von Galeeren umringt sah, tauchte er mit
dem Boot unter und lebte vierzehn Tage lang auf dem Grund des Meeres.
Die zum Atmen nötige Luft wurde ihm durch ein schwimmendes Rohr
zugeleitet.
In einer im Jahre 1510 vom Ritter Ludwig von Hartenstein verfaßten Schrift
kann man die Zeichnung eines Taucherhelms sehen, bei dem in Augenhöhe
zwei Öffnungen angebracht und durch eine Art Brillengläser verschlossen
sind. Ein langer auf dem Scheitelpunkt des Helms befestigter Schlauch, an
dessen Ende sich ein Hahn befindet, läßt die Außenluft einströmen.
Rechts und links von dieser Zeichnung sind die nötigen Hilfsgeräte
abgebildet, die dem Taucher den Abstieg und Aufstieg ermöglichen:
Bleisohlen und eine mit Sprossen versehene Stange.
Und noch ein Beispiel: Ein im Jahre 1729 in Montebourg bei Coutances
geborener unbeachtet gebliebener Schriftsteller veröffentlichte eine Arbeit mit
dem Titel "Giphantie"; das Wort ist ein Anagramm des ersten Teils seines
Namens: Tiphaigne de la Roche.
In diesem Werk nun wird nicht nur die Schwarzweiß-, sondern auch die
Farbphotographie beschrieben. "Die Fixierung der Bilder", so schreibt der
Autor, "vollzieht sich im selben Augenblick, in dem sie die Leinwand treffen.
Man nimmt diese sofort weg und legt sie an einen dunklen Ort. Eine Stunde
später ist der Überzug getrocknet, und man hat ein Bild, das um so wertvoller
ist, als keine Kunst eine so naturgetreue Ähnlichkeit hervorzubringen vermag."
Und er fährt fort: "Es ist erforderlich, erstens die Natur des klebrigen Stoffes
zu studieren, der die Strahlen aufhält und bewahrt, zweitens die Möglichkeit,
diesen Stoff zu erzeugen und anzuwenden, drittens die Einwirkung des Lichts
auf denselben."
Bekanntlich wurde die Erfindung Daguerres erst ein Jahrhundert später,
nämlich am 7. Januar 1839, durch Arago der Akademie der Wissenschaften
bekanntgegeben.
Im übrigen weise ich noch darauf hin, daß die Fähigkeit gewisser metallischer
Körper, Bilder festzuhalten, in dem 1566 erschienenen Traktat von Fabricius
"De rebus metallicis" beschrieben wird.
Ein anderes Exempel: die seit undenklichen Zeiten in einer der Veden, der
Saktaya Grantham, beschriebene Impfung.
Am16. Oktober 1826 zitierte Moreau de Jouet in seiner der Akademie der
Wissenschaften vorgelegten "Mémoire sur la variolide" diesen Text:
"Man nehme die Eiterflüssigkeit auf die Spitze einer Lanzette, stoße diese in
den Arm und vermische so die Flüssigkeit mit dem Blut, wodurch das Fieber
hervorgerufen wird; diese Krankheit wird nur sehr leicht auftreten und
keinerlei Anlaß zu Besorgnis geben."
Anschließend findet man eine genaue Beschreibung aller Symptome.
Was das Automobil betrifft, so möchte ich nur kurz erwähnen, daß im
17. Jahrhundert ein Mann namens Johannes Hotsch in Nürnberg einen sogenannten
"Schwungkraft-Wagen" konstruierte.
Im Jahre 1645 wurde ein derartiges Fahrzeug im Innenhof des Temple in
Paris ausprobiert; soviel mir bekannt ist, konnte die Gesellschaft, die zur
Auswertung dieser Erfindung gegründet wurde, aus irgendwelchen Gründen
nicht in Aktion treten.
Vielleicht ergaben sich hier ähnliche Schwierigkeiten wie seinerzeit für die
erste Pariser Transportgesellschaft, die, wie ich hervorheben möchte, auf
Veranlassung Pascals gegründet wurde und für die einer seiner Freunde, der Herzog
von Roannes, die Schutzherrschaft übernahm und finanzielle Unterstützung gewährte.
Aber auch bei viel bedeutsameren Entdeckungen als den eben genannten übersehen wir
meistens, welchen Einfluß die aus alten Zeiten überlieferten Erkenntnisse auf sie
hatten.
Christoph Kolumbus hat ehrlich bekannt, was er den Gelehrten, Philosophen
und Dichtern der Antike verdankte.
Die wenigsten wissen, daß Kolumbus zweimal den Chor aus dem zweiten Akt
der Medea, einer Tragödie des Seneca, abschrieb, in dem der Verfasser von
einer Welt spricht, deren Entdeckung künftigen Jahrhunderten vorbehalten sei. Man
kann diese Abschrift im Manuskript "Las profecías" sehen, das in der Bibliothek
von Sevilla aufbewahrt wird.
Ebenso erinnert sich Kolumbus an einen Satz des Aristoteles, der in seinem
Traktat "De Caelo" über die Kugelgestalt der Erde spricht.
Hatte Joubert nicht recht, wenn er erklärte, daß "nichts die Geister so
unvorsichtig und töricht macht wie die Unkenntnis der Vergangenheit
und die Verachtung der alten Bücher"?
Dabei hätten schon im Jahre 1737, also mehr als hundert Jahre vor Marshalls
Entdeckung, die Leser der Gazette de Hollande wissen können, wie die Gold-
und Silberminen von Sonora zu erschließen seien, da ihre Zeitung ihnen die genaue
Lage dieser Minen angab.
Etwas später, im Jahre 1767, konnte man in Paris ein Buch mit dem Titel
"Histoire naturelle et civile de la Californie" kaufen, dessen Verfasser, ein
gewisser Buriell, die Goldminen beschrieb und die Berichte verschiedener Seefahrer
anführte, die in jenem Bezirk Goldklumpen gefunden hatten.
Kein Mensch beachtete den erwähnten Zeitungsartikel oder das Buch, niemand
zog einen Schluß aus diesen Tatsachen, die ein Jahrhundert später den
"Goldrausch" entfesselten.
Aber wer liest zum Beispiel heute noch die alten Reiseberichte aus den
arabischen Ländern?
Dabei würde man in ihnen bestimmt für den Bergbau äußerst wertvolle
Hinweise finden.
Es gibt kein Gebiet, das von diesem Fluch des Vergessens verschont geblieben wäre.
Eingehende Forschungen und genaue Nachprüfungen haben mich zu
der Überzeugung gebracht, daß Europa Schätze besitzt, die praktisch nicht
ausgebeutet werden: die alten Dokumente seiner großen Bibliotheken.
Nun sollte sich aber jede industrielle Technik nach drei Faktoren ausrichten:
dem Experiment, der Wissenschaft und der Geschichte.
Es ist ein Zeichen von Überheblichkeit und Naivität, wenn man den letzten
Faktor ausschaltet oder vernachlässigt.
Man beweist damit, daß man sich lieber auf die vage Möglichkeit verläßt,
etwas zu finden, was noch nicht existiert, als daß man sich bemühte, das,
was bereits vorhanden ist, auf vernünftige Weise zu verwerten, um das
erwünschte Ergebnis zu erzielen.
Bevor ein Industrieller kostspielige Investitionen macht, muß er sämtliche
technologischen Einzelheiten eines Problems genau kennen.
Um aber den genauen Stand einer Technik zu einem gegebenen historischen
Zeitpunkt zu ergründen, genügt es selbstverständlich nicht, daß man lediglich
die bisherigen auf diesem Gebiet angemeldeten Patente überprüft.
Die Industrien sind sehr viel älter als die Wissenschaften; darum sollten die
Männer der Industrie genauestens über die Geschichte der ihr Gebiet
betreffenden Produktionsverfahren informiert sein.
Sie sind es jedoch in weit geringerem Maße, als sie annehmen.
Die Alten kamen mit sehr einfachen Mitteln zu Ergebnissen, die wir zwar
reproduzieren, aber trotz all unserer theoretischen Kenntnisse kaum erklären
können. Die hervorstechendste Eigenschaft der antiken Wissenschaft war
ihre Unkompliziertheit.
Gut und schön, werden Sie mir sagen, aber wie steht es, mit der Kernenergie?
Auf diesen Einwand kann Ich Ihnen mit einem Zitat antworten, das uns doch etwas
nachdenklich stimmen sollte. In einem sehr seltenen, selbst vielen Spezialisten
unbekannt gebliebenen Buch, das vor unter dem Titel
"Les Atlantes" erschien, legte ein Autor, der sich unter dem Pseudonym Roisel
verbarg, die Ergebnisse einer sechzigjährigen Forschungsarbeit über die
antike Wissenschaft dar.
Bei der Behandlung der wissenschaftlichen Kenntnisse, die er bei den
Bewohnern von Atlantis vermutet, schreibt Roisel die folgenden für seine
Epoche außergewöhnlichen Zeilen nieder:
"Die Folge dieser unermüdlichen Aktivität ist die Untersuchung der Materie,
jenes anderen Gleichgewichts, dessen Aufhebung unerhörte kosmische Phänomene nach
sich ziehen würde. Wenn aus einem unbekannten
Grunde unser Sonnensystem sich zersetzte, so würden seine nun unabhängig
gewordenen Atome unmittelbar aktiv werden und den Raum mit einem blendenden Licht
erhellen, das in weiten Fernen eine schreckliche Zerstörung
und die Hoffnung auf eine neue Welt ankündigte."
Ich glaube, dieses letzte Beispiel genügt, um die ganze Tiefe des Ausspruchs
von Mlle. Bertin zu verstehen:
"Es gibt nichts Neues, nur Dinge, die wir vergessen haben."
Wenn ich behaupte, daß man sich den alten Dokumenten mit äußerstem
Interesse zuwenden sollte, so befürworte ich damit keineswegs eine reine
Gelehrtenarbeit. Ich erkläre lediglich, daß man dort, wo sich der Industrie ein
konkretes Problem bietet, die alten wissenschaftlichen und technischen
Dokumente überprüfen sollte, um festzustellen, ob in ihnen interessante
Tatsachen oder auch in Vergessenheit geratene Verfahren erwähnt werden,
die sich unmittelbar auf die aufgeworfene Frage beziehen.
Auch auf dem für die gegenwärtige Industrie so wichtigen Gebiet der
Legierungen gibt es wenig wesentliche Tatsachen, die den Menschen der
früheren Zeiten entgangen wären.
So verstanden sie sich nicht allein darauf, aus komplexen Mineralien
Legierungen mit ganz besonderen Eigenschaften herzustellen ein Problem,
dem übrigens die sowjetische Industrie größte Aufmerksamkeit widmet sondern sie
verwendeten auch gewisse Leichtmetallegierungen, wie das sogenannte Elektron, das
wir bisher noch nie ernstlich untersucht haben,
obgleich seine Herstellungsformeln uns bekannt sind.
Die Gebiete der Pharmazeutik und Medizin möchte ich hier nur kurz streifen.
Sie sind in dem von mir erwähnten Sinne noch kaum erforscht und bieten
die allergrößten Möglichkeiten.
Ich verweise nur auf die Bedeutung der Behandlung von Brandwunden, die
heute, wo die Auto- und Flugzeugunfälle uns ununterbrochen vor diese
Fragen stellen, schwerwiegender ist denn je.
Nun hat aber keine Epoche bessere Heilmittel gegen Verbrennungen entdeckt
als das Mittelalter, dessen Städte immer wieder von Feuersbrünsten verwüstet
wurden; die Rezepte jener Zeit jedoch sind heute vergessen.
Man muß in diesem Zusammenhang wissen, daß bestimmte Erzeugnisse der
alten Apothekerkunst nicht allein die Schmerzen linderten, sondern auch die
Narbenbildung verhinderten und eine Regeneration der Zellen bewirkten.
Was schließlich die Farbstoffe und Lacke betrifft, so erübrigt es sich wohl,
auf die außerordentliche Qualität der nach den alten Verfahren hergestellten
Produkte hinzuweisen.
Die Rezepte jener wunderbaren von den Malern des Mittelalters benutzten
Farben sind nicht etwa verloren, wie man allgemein annimmt; ich kenne
zumindest ein Manuskript, in dem ihre Zusammensetzung angegeben wird.
Aber es ist noch niemand auf den Gedanken gekommen, diese Verfahren zu übernehmen
und nachzuprüfen. Leider.
Wenn jedoch unsere heutigen Maler in hundert Jahren noch am Leben wären, würden
sie ihre Bilder nicht mehr wiedererkennen, da die von ihnen benutzten Farben
diesen Zeitraum nicht überstehen.
Im übrigen haben, wie es scheint, auch die Gelbtöne van Goghs schon jetzt
jene außerordentliche Leuchtkraft, die sie seinerzeit charakterisierte, eingebüßt.
Wir haben hier ein bezeichnendes Beispiel für jene Erscheinung, die mir die
wichtigste in der heutigen Geschichte der Technik zu sein scheint:
das Zusammenwirken verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, aus dem
sich immer wieder neue Synthesen ergeben.
Nennen wir rasch noch einige andere Gebiete der Forschung und der
industriellen Verwertung.
So haben die Menschen früherer Zeiten zum Beispiel ausgezeichnete
Düngemittel hergestellt, über die wir heute fast nichts mehr wissen.
Ich denke da vor allem an die sogenannte "Fruchtbarkeitsessenz", eine
Mischung bestimmter Salze mit Dung.
Auch über die Glasfabrikation der Alten ist uns recht wenig bekannt.
Dabei wissen wir, daß die Römer bereits Glasfußböden hatten.
Ich bin überzeugt, daß ein gründliches Studium der alten Techniken uns bei
der Lösung ultramoderner Probleme wertvolle Hilfe leisten würde.
Wir könnten zum Beispiel erfahren, wie man seltene Erden und Palladium
dem Glas beimischt und auf diese Weise in schwarzem Licht fluoreszierende
Röhren herstellt.
Was die Textilindustrie betrifft, so sollte diese sich trotz des Triumphs der
Kunststoffe oder aber gerade deswegen für die Herstellung besonders
hochqualifizierter Gewebe interessieren, die man vielleicht nach antiken
Rezepten einfärben könnte und die sicherlich auch auf dem heutigen
Luxusmarkt Absatz fänden.
Oder man könnte auch versuchen, jenen einzigartigen, unter .dem Namen
Pilema bekannten Stoff herzustellen, ein mit besonderen Säuren behandeltes Leinen-
oder Wollgewebe, das, wie es heißt, der Schneide eines
Eiseninstrumentes wie der Einwirkung des Feuers widerstand.
Übrigens sollen auch die Gallier dieses Verfahren gekannt und bei der
Herstellung von Rüstungen angewandt haben.
Die Möbelindustrie könnte, vor allem im Hinblick auf den noch sehr hohen
Preis der heutigen Kunststoffverkleidungen, erheblichen Nutzen aus der Übernahme
bestimmter früherer Verfahren ziehen, durch die in einer Art Härtungsprozeß die
Widerstandsfähigkeit des Holzes gegen verschiedene
physikalische und chemische Einwirkungen beträchtlich erhöht würde.
Die Firmen für Hoch- und Straßenbau sollten sich einmal mit den
Zementsorten befassen, deren Zusammensetzung in Werken des 15. und 16.
Jahrhunderts angegeben wird und die in mancher Hinsicht dem heute
verwendeten Zement weit überlegen waren.
Die sowjetische Industrie bedient sich in letzter Zeit bei der Fabrikation von
Schneidewerkzeugen einer keramischen Masse, die härter ist als Metall.
Auch diese Härtung ließe sich im Lichte früherer Herstellungsweisen genauer
untersuchen.
Ohne näher auf dieses Problem eingehen zu wollen, möchte ich schließlich
noch ein Spezialgebiet der physikalischen Forschung nennen, auf den das
Studium der früheren Ergebnisse weitgehende Folgen haben könnte.
Ich spreche von den Arbeiten über den Erdmagnetismus.
Auf diesem Gebiet liegen sehr alte Beobachtungen vor, die trotz ihres
unbestreitbaren Interesses noch nie ernstlich nachgeprüft worden sind."