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Stichwort Kreuz

von Thomas Noack

D as Kreuz ist zum Symbol des Christentums geworden.


Im Kreuz verdichtet sich der Sinngehalt dieser weltum-
spannenden Erlösungsreligion. Doch die Deutung des Todes
Jesu ist keineswegs eindeutig. Die mittelalterliche Vorstellung
vom Zorn Gottes, der die Sünder mit dem Tod bestraft und
dieses Strafgericht stellvertretend an seinem Sohn vollzieht,
der dadurch Genugtuung erwirkt, – diese Vorstellung ist als
falsch erkannt worden. Gott ist nicht ein Gott des Zornes,
sondern der Liebe. Menschen können sich doch auch unter-
einander durch ein liebendes Wort Versöhnung und Freund-
schaft zusprechen. Sollte dem großen Gott das nicht mög-
lich sein? Musste er die Versöhnung so blutig inszenieren?
Swedenborg hat die folgende Deutung des Todes Jesu
anzubieten. Das Kreuz war demnach die letzte Versuchung
Jesu. Er hatte sein Leben lang die schwersten, inneren
Kämpfe zu bestehen. Als Menschen wollen wir zwar meist
das Gute, gleichzeitig zeigt sich aber, dass es Mächte und
Zwänge gibt, die diese guten Vorsätze verderben lassen.
Theologisch gesprochen bedeutet das, der Mensch wird von
der Sünde beherrscht. Er ist nicht frei zum Guten. Indem nun
Gott selbst in Jesus ein menschliches Schicksal auf sich nahm,
setzte er sich der Weltmacht der Sünde aus. Gott selbst wur-
de versuchbar, musste kämpfen und konnte siegen oder
verlieren. Diesen Kampf kämpfte Gott in Jesus, und zwar
nicht nur am Kreuz, sondern von der Krippe bis zum Kreuz.
Das Kreuz war aber der Höhepunkt der lebenslangen Ver-
suchungskämpfe Jesu. Das Kreuz war die letzte Versuchung,
denn dort wurde die Liebe Gottes zu den Menschen auf die
schwerste Probe gestellt. Jesus musste sich fragen, ob es sich
wirklich lohne angesichts des hasserfüllten Schreies nach
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seiner Kreuzigung den guten Kampf weiter zu kämpfen. ihm und sind mit einer engeren Geistverbundenheit begabt,
Würde die Liebe Gottes auch diesen letzten Angriff auf ihre weshalb er mit ihnen offener vom Vater in ihm sprechen, und
guten Absichten siegreich überstehen? Oder würde Jesus mit ihnen die Kraft des Heiligen Geistes teilen kann.
angesichts des Kreuzes den einfacheren Weg wählen? Jesus In unserem Text offenbart der Herr den Jüngern ein
entschied sich für das Kreuz, er lieferte sich dem Hass der anderes Lebensgeheimnis, eine neue Wahrheit, die ihm
Welt aus. Einen kurzen Moment lang konnte diese glauben, erlaubt, sich noch mehr mit ihnen zu verbinden, wenn sie
sie habe Gott verschlungen. Doch am Ostermorgen war das es wünschten, und mit ihnen die Liebe zum menschlichen
Grab schon wieder leer. Die Gottesmacht der Liebe hatte sich Geschlecht und unaussprechliche Freude zu teilen. Dieses
als mächtiger erwiesen als die kalte Fessel des Todes. Tod, wo neue Geheimnis ist, dass sie nicht mehr Knechte sondern
ist dein Stachel? Hölle, wo dein Sieg? Mit der Auferstehung Freunde ihres Herrn sind. Der Grund dieser Änderung ih-
begann die Geschichte des Christentums. rer Beziehung liegt in der Tatsache, dass die Knechte nicht
Doch die Christen müssen wissen, dass sie durch die- wissen, was ihr Herr tut, und er, als ihr Herr, alles sagt,
sen Sieg Gottes noch längst nicht Erlöste sind. Denn am warum und wie er es tut. Er spricht offen vom Vater, das
Kreuz hat zunächst nur Jesus den Sieg davon getragen. Die heißt von seinen Absichten, zu denen, die es verlangen, wie
Gläubigen können sich allerdings vom Heiligen Kampfgeist seine Jünger, und erlaubt allen, die es wollen, sich von den
Gottes erfassen lassen und ebenfalls Siege erringen. Fesseln geistiger und natürlicher Knechtschaft zu befreien.
Gleichermaßen sind diejenigen bereit Freunde des Herrn zu
werden, die seine Worte in Beziehung zum Vater verstehen,
und einen gewissen geistigen Grad der Wiedergeburt er-
Diener oder Freund des Herrn sein? reicht haben.
von Alain Nicolier Der Herr spricht: „Ich nenne euch hinfort nicht
Knechte.“ Durch Knechte werden im Wort diejenigen ver-
standen, die durch ihr Selbst und durch die Welt geführt
„Ich nenne euch hinfort nicht Knechte, denn der Knecht werden, folglich die, die sich durch materielle, äußerliche
weiß nicht, was sein Herr tut, sondern habe euch und natürliche, und nicht zugleich durch innere und geis-
Freunde genannt, weil ich alles, was ich von meinem tige Dinge führen lassen. Hierdurch dienen die Knechte
Vater gehört, euch kundgetan habe.“ (Joh 15,15) ihren Begierden und sind Sklaven ihrer selbst, wie der Herr
sagt, „wer die Sünde tut, ist der Sünde Knecht“ (Joh 8,34).

W enn wir das Evangelium lesen, dann fällt uns auf, dass
ein Großteil der Unterweisungen vom Herrn in Gleich-
nissen gesprochen ist. Den Gleichnissen sind zwei Ziele eigen.
An sich ist jede Handlung, jeder Gedanke und jede
Neigung Sünde, die ein Eigenleben ohne jeden Nutzen und
ohne jede Nutzwirkung führt. Die Sünde ist das selbstische
Zunächst schützen sie die göttliche Wahrheit und Liebe vor Ich, das von den übrigen Menschen getrennt ist.
jeder Verfälschung. Dann bemerken wir auch, dass seine Bevor man deshalb Freund des Herrn werden kann, ist es
Unterweisung verschieden ist je nachdem ob er zu seinen notwendig, dass jeder sein Gewissen erforscht im Hinblick auf
Jüngern oder zum Volke spricht. Die Jünger sind immer bei seinen Zustand der natürlichen und geistigen Knechtschaft.
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Und wer schon von Knecht spricht, spricht auch von Herr. Es Sünden verbergen euch mein Angesicht.“ Sie hatten von
gibt natürliche Herren wie Geld, Macht, Ansehen, und geisti- der Wahrheit Kenntnis durch den Verstand, aber nicht aus
ge Herren wie Liebe zur eigenen Weisheit, Zorn, Rachsucht, Zuneigung.
Vergeltung. Diese Herren errichten Schranken um uns, Die Knechtschaft, wenn der Körper den Geist leitet,
sie schließen uns geistig ein und zwingen unser Gemüt in hat zur Folge, dass man blind wird. Dann wird der ganze
Traurigkeit und Einsamkeit. Demnach sind jene, die schlechte Mensch durch seine Sinne beherrscht, er glaubt er sei frei
Herren gewählt haben, in einem Zustand der Abhängigkeit und und mehr erleuchtet als alle anderen. Die Wahrheiten, die
Unterwürfigkeit und unterbinden das innere Wachstum. er kennt, benützt er für seinen Ruf und seine Herrschaft über
Wir lesen in den Himmlischen Geheimnissen: andere und nicht für das allgemeine Wohl. Gleichzeitig ist
er, infolge der Selbsttäuschungen, die er sich verursacht
„Die im Wahren sind und nicht im entsprechend Guten, befinden
hat, vom Gegenteil der benützten Wahrheiten überzeugt.
sich in einem Zustand fortwährenden Gehorsams; und die in die-
sem Zustand Befindlichen sind in Knechtschaft im Verhältnis zu
Er glaubt felsenfest, dass Freiheit allein in der Sorge für sich
denen, die in einem den Wahrheiten entsprechenden Guten sind. selbst besteht und dass er, wenn er diese Freiheit verliert, in
Diese handeln nämlich, weil sie aus dem Guten handeln, aus Nei- ein bejammernswertes Leben fällt.
gung, und weil aus Neigung, handeln sie aus dem Willen, somit Unser Zustand ist ähnlich dem, wenn wir einem bestimm-
aus sich heraus, denn was auch immer aus dem Willen des Men- ten Bösen anhängen, das wir uns nur vorübergehend erlau-
schen kommt, gehört seinem Eigenen an, denn der Wille ist das ben: „Einmal ist keinmal“. Doch wird dieses Böse nach und
Sein des menschlichen Lebens. Wer aber aus Gehorsam handelt, nach zur Gewohnheit bis dahin, dass wir ihm völlig verfallen
der handelt nicht aus seinem Willen, sondern nach dem Willen
sind. So geschieht es bei üblem Nachreden, beim nutzlosen
seines Herrn, somit nicht aus sich, sondern aus dem Antrieb eines
anderen, somit ist er in relativer Knechtschaft. Aus dem Wahren
Müßiggang, beim Diebstahl, ja auch beim gelegentlichen
handeln und nicht aus dem Guten, heißt bloß aus dem Verstan- Drogenverfall. Ist einmal das Böse angeeignet, wird es zuerst
desgebiet (intellectuale) handeln; denn die Wahrheiten beziehen entschuldigt, dann durch falsche Überlegungen bestärkt (wie:
sich auf das Verstandesgebiet und das Gute auf das Willensgebiet „es blieb mir keine andere Wahl“, „ich konnte es einfach nicht
(voluntarium), und aus dem Verstandesgebiet handeln und nicht verhindern, ich tat es nur, um ein größeres Übel zu verhüten“,
aus dem Willensgebiet, heißt aus dem handeln, was draußen oder „ich bin eben erblich belastet“). Zuletzt wird das Böse
steht und dient. Der Verstand ist nämlich dem Menschen gege- eins mit der Person und liefert den Menschen der Knechtschaft
ben, damit er das Wahre aufnimmt und in den Willen einführt, aus. Das Böse wird mit jedem bereiteten Vergnügen gefährli-
damit es Gutes wird, denn die Wahrheiten heißen Gutes, wenn
cher, das Eigenleben wird dem Individuum mehr und mehr
sie zur Sache des Willens werden.“ (HG 8988)
entzogen und macht es bis dahin abhängig, dass es verzwei-
So auch sind diejenigen nicht frei, die dem Herrn un- felt. Dieser Zustand ist mit dem eines Alkoholikers zu verglei-
tertänig sind und aus Furcht dienen oder zu ihrem Vorteil chen, der ohne sein Quantum nicht mehr leben kann, und
und nicht aus Liebe. Diese haben die gleiche Beziehung zum sich selbst erst im Zustand der Trunkenheit erfährt. So kann
Herrn wie sie die Kinder Israels zu Jehovah hatten. Er erschien auch der Lästerer keinen Augenblick sein, ohne nicht etwas
ihnen als besitzergreifender, rächender und blutrünstiger Böses über einen anderen zu sagen. Nur so glaubt er, sich
Gott, der ihnen, ohne dass sie es verstanden, sagte: „Eure Geltung zu verschaffen.
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Das Trugwerk des Bösen besteht im Glauben, es bringe Vorteil geschlossen werden, um mehr Gewinn zu erzielen,
Freiheit, und man empfindet größere Freiheit bei jedem völ- um Langeweile auszufüllen, oder einfach zur Unterhaltung
ligen Nachgeben. Um sich davon zu lösen, muss man den und gegenseitigen Geplauders, oft auch um begehrliche
ersten Schritt tun, nämlich davon Abstand nehmen. Dann Wünsche zu teilen. Solche Freundschaften sind hier, wie in
erst wird uns auch die Kraft gegeben, dem Bösen im Laufe der geistigen Welt die Regel.
der Zeit zu widerstehen. Sobald sich die erste Versuchung Wir erfahren aus den Himmlischen Geheimnissen:
nähert, müssen wir das Vertrauen zum Herrn bewahren und
„Es gibt im anderen Leben sehr viele Gesellschaften, die Freund-
ihn darum bitten, für uns zu kämpfen, denn aus uns selbst schaftsgesellschaften genannt werden. Sie bestehen aus denen,
würden wir immer unterliegen. Dies ist es, was der Herr die im Leben des Leibes das Vergnügen der Unterhaltung jeder
seinen Jüngern lehrt, wenn er ihnen sagt: „Ich nenne euch anderen Lust vorgezogen haben und jene geliebt haben, mit
hinfort nicht mehr Knechte, sondern habe euch Freunde denen sie sich unterhielten, ohne jedes Bedenken, ob sie gut
genannt.“ Er verspricht ihnen größere Freiheit, indem er sie oder böse waren. Ihre Partner waren demnach weder Freunde
lehrt, seinen Anweisungen nicht aus Gehorsam ihrer selbst des Guten, noch des Wahren, Hauptsache, sie unterhielten sich
willen, sondern zum Wohle anderer zu wollen und zu lieben. angenehm gegenseitig. Die so im irdischen Leben beschaffen
waren, sind es auch im anderen Leben. Sie schließen sich nur um
Denn wenn der Knecht den Anweisungen seines Herrn ge-
des Vergnügens der Unterhaltung zusammen. Mehrere solche
horcht, tut er es um seines eigenen Wohles willen, für sein Gesellschaften waren bei mir, jedoch nur in einiger Entfernung.
eigenes Leben in der geistigen Welt, und nicht für das Wohl Sie erschienen hauptsächlich etwas rechts über dem Haupt. Es
der Seligkeit aller Menschen. wurde mir gegeben, sie zu erkennen an der Erschlaffung und
In seinen Gesprächen empfiehlt der Herr seinen Jüngern Stumpfheit, sowie am Erlöschen alles Angenehmen, worin ich
vom Einzelgewissen zu einem gemeinschaftlichen, ja zu ei- mich befand, denn die Gegenwart solcher Gesellschaften bringt
nem allumfassenden Gewissen vorzudringen. Er lädt sie ein, dies mit sich. Wo auch immer sie hinkommen, nehmen sie
mehr Verantwortung zu übernehmen, so wie man diese gu- anderen jede Lust am Angenehmen weg und, was verwunder-
lich ist, sie eignen sich dieses Angenehme an, indem sie die bei
ten Freunden übergibt, aber nicht Knechten.
anderen befindlichen Geister abspenstig machen und sich selbst
Dieses Angebot betrifft uns persönlich und regt uns zum zuwenden. Damit übertragen sie die Freude am Angenehmen auf
Untersuchen der Beziehung zu ihm an, ob wir Freunde oder sich, und weil sie dadurch denen, die im Guten sind, lästig und
Knechte des Herrn sein wollen; wissen wir doch jetzt, was schädlich sind, werden sie vom Herrn abgehalten, damit sie den
Knechtschaft und was wahre Freundschaft, die uns der Herr himmlischen Gesellschaften nicht nahe kommen. Hieraus durfte
schenken will, bedeutet. ich mich überzeugen, was für einen großen Schaden für das geis-
Wahre Freundschaft ist eine innere Verbindung von zwei tige Leben des Menschen Freundschaft bringt, wenn man nur
Personen, die weder auf äußere noch auf fleischliche Liebe, die Person und nicht das Gute betrachtet. Zwar kann jeder dem
anderen Freund sein, mehr noch soll er aber Freund des Guten
noch auf Blutsbanden gründet. Freundschaft ist immer ge-
sein (sed usque amicissimus erit bono).“ (HG 4804)
genseitig, aufrichtig, uninteressiert und treu. Sie kommt
beim heutigen Menschen, der anderen misstraut, selbstisch Es ist lehrreich zu erfahren, dass im Großmenschen diese
und überheblich lebt, kaum vor. Heutzutage sehen wir nur Freundschaftsgesellschaften dem Mund entsprechen, und
Scheinfreundschaften, die zu irgendeinem gegenseitigen ihre Angehörigen andauernd reden wollen, denn das Reden
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bereitet ihnen höchstes Vergnügen. Sind diese wiedergebo- nach höheren Dingen trachteten, als was ihrem Leben entsprä-
ren und engelhaft, dann werden sie dazu gebracht, nur dann che, sie den Himmel nicht haben könnten; hauptsächlich, wenn
zu reden, wenn es anderen nützt, oder ihrem geistigen Leben sie andere, die außerhalb ihrer Gemeinschaft sind, verdammen
Nutzen bringt, oder zum Wohl aller dient. So verringert sich würden; und dass dann ihre Gemeinschaft nur eine Gesellschaft
engerer Freundschaft sei, derart wie gesagt, dass sie andere der
der Drang zum reden, je wie ihr Geltungstrieb durch das
Wonne geistiger Neigung berauben, sobald sie ihnen nahen;
Reden abnimmt, und sie die Weisheit in sich suchen.
denn sie betrachten sie als Nicht-Auserwählte und als Nicht-
Formen der Freundschaft entwickeln sich unter denen,
Lebendige, und dieser Gedanke, wenn er sich mitteilt, verursacht
die den gleichen Lastern und demselben Bösen frönen, in-
Traurigkeit, die nach den Ordnungsgesetzen im anderen Leben,
dem sie gleicher Meinung und gleicher Überzeugung dar- auf sie zurückfalle.“ (HG 4805)
über sind. Diese Gattung von Freundschaften finden wir in
Form von Clans, die auch, wenn sie uneinig scheinen, meist Wir sehen aus diesen Abschnitten, dass die Freundschaft,
in politischen, gewerkschaftlichen und religiösen Kreisen be- die uns der Herr vorschlägt, wahrlich geistig und tiefinnerlich
obachtet werden. Zahlreich sind auch die, die entweder den ist, dass sie unser Gewissen in die Wirklichkeit führt, und uns
anderen die Wahrheit vorenthalten, oder ihre Anschauung innere Freiheit schenkt. Diese göttliche Freundschaft ist gegen-
darüber als alleingültig betrachten, sowohl hier, wie in der seitige Liebe, die sich dadurch von menschlicher Freundschaft
geistigen Welt. unterscheidet, dass sie allein das Gute, das bei jedem ist, be-
Wir lesen darüber: trachtet. Sie beruht darauf, dem anderen mehr Gutes tun zu
„Es gibt auch Gesellschaften von engerer Freundschaft, die wollen, als sich selbst, und glücklich zu sein wegen der Freude,
die äußere Lust des anderen nicht wegnehmen und auf sich die dieses Gute dem anderen bereitet.
überleiten, sondern ihre inwendigere Lust oder Wonne aus der Wenn der Herr zu seinen Jüngern spricht, er nenne sie
Neigung zu geistigen Dingen haben. Sie befinden sich vorne zur hinfort Freunde und nicht mehr Knechte, dann verlangt
Rechten, nahe über der unteren Erde und einige etwas höher.
Mit denen, die unten waren, habe ich einigemale gesprochen,
er von ihnen als Gegenleistung dieselbe Liebe. Und wer
und dann flossen die weiter oben Befindlichen gemeinsam ein. Gegenleistung sagt, der sagt gegen unsere menschlichen
Diese waren im irdischen Leben so geartet, dass sie alle innerhalb Brüder, denn was wir anderen tun, das tun wir Gott. Wenn
ihrer Gemeinschaft von Herzen geliebt, wie auch in brüderlicher wir damit einverstanden sind, seine Freunde zu werden, dann
Gesinnung umarmt haben. Sie hatten geglaubt, sie allein hätten
müssen wir auch damit einverstanden sein, seine Liebe zum
Leben und Licht, und die außerhalb ihrer Gemeinschaft hätten im
Vergleich kein Leben und kein Licht; und da sie so geartet waren, menschlichen Geschlecht ganz zu teilen, seine Liebe, sich
meinten sie auch, der Himmel des Herrn bestehe nur aus Wenigen mit Allen verbinden zu wollen, und so auch alle wiederzu-
ihrer Gemeinschaft. Aber es wurde erlaubt ihnen zu sagen, der gebären, die am Bösen kranken und sein Lebenseinfluss ver-
Himmel des Herrn sei unermeßlich groß, und bestehe aus vielen hindern. Wenn wir seine Freunde werden, bejahen wir auch
Völkern vieler Zungen, und alle seien dort, die im Guten der Liebe
und des Glaubens gewesen sind. Es wurde ihnen auch gezeigt,
die größere Verantwortung, wie der Herr uns am Beispiel des
dass die Engel im Himmel allen Gebieten des Leibes nach seinen Knechtes zeigt, der das geschenkte Pfund auf zehn vermehr-
äußern und inwendigeren Teilen entsprechen. Wenn diese aber te und dem er Gewalt über zehn Städte gewährt.
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Der Herr spricht: „Nicht ihr habt mich gewählt, sondern gehe, und Ich will mit deinem Mund sein, und dich unterweisen,
Ich habe euch erwählt, und euch eingesetzt, dass ihr hinge- was du reden sollst.“ (Jes 4,11.12.)
het und Frucht traget, und eure Frucht bleibe.“ (Joh 15.16) Und dies wiederholt er vor seinen Jüngern, wenn er ihnen sagt,
Alles muss in uns neu geboren werden, damit wir sie seien wie Lämmer mitten unter Wölfen, und wenn er sie
Freunde des Herrn werden, damit wir, wie er, Berge verset- ermahnt, Vertrauen zu haben und standhaft zu bleiben im gött-
zen und unsere Welt wandeln und glücklich und fruchtbar lichen Werk, er werde gegenwärtig sein und ihnen immerwäh-
für alle machen. rende Hilfe gewähren.
Überdies verpflichten wir uns, auf alle seine Aufrufe zu Ergreifen wir doch die Hand, die der Herr uns entgegen-
antworten, wie wir einem Freunde antworteten, uns seinem streckt aus wahrer Freundschaft und in echter Freiheit, die
Aufruf nicht zu entziehen, sondern mit zu helfen am Werk sei- Hand, die sich ohne Unterlass öffnet zum Wohl aller. Und
ner Schöpfung und seines Heils, indem wir Früchte tragen für haben wir sie erst ergriffen, mögen wir sie fest gegen unser
die geistig nach Wahrheit Dürstenden und die im Herzen nach Herz pressen, um sie nie zu verlieren in Zeiten der Angst und
Liebe Hungernden. Mutlosigkeit, und um stets eingedenk zu sein, dass er es ist,
In jedem Augenblick unseres Lebens müssen wir zwi- der uns erwählt hat.
schen Knechtschaft und Freundschaft wählen, zwischen „Ich habe euch erwählt, dass ihr hingehet und Frucht traget, und
dem Herrn antworten auf seine Aufrufe oder stumpf und eure Frucht bleibe. Das gebiete ich euch, dass ihr einander liebet.“
taub bleiben. Gewiss haben wir alle ein eifriges Bestreben,
sobald der Herr uns ruft, ihm zu antworten und seinen Willen
zu tun. Aber wie Moses oder der Prophet Jesaja sind wir ver-
sucht, uns nicht würdig zu fühlen, und aus diesem Grunde Bauvorhaben endet im Durcheinander
nicht auf den Anruf des Ewigen zu antworten, wegen un- Eine Auslegung von Genesis 11,1 bis 9
serer Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit. Und wenn
Gott sie auffordert zum Volk zu reden, sind sie entmutigt, aus der Schule Swedenborgs
sagt doch Jesaja: „Wehe mir, ich vergehe, denn ein Mann von Thomas Noack
unreiner Lippe bin ich, und inmitten eines Volkes unreiner
Lippen wohne ich.“ (Jes 6,5). Aber als die Versuchung vorü-
ber war, schrie er: „Siehe mich, sende mich.“ (Jes 6,8). Erst Eine Überschrift für Genesis 11,1 bis 9
dann begriff er, dass der Ewige ihn liebe und immer mit ihm
sei, um Liebe und Wahrheit zu lehren. Wie Jesaja müssen
wir Vertrauen haben und gleich ihm den Zurufen derer zu E ine passende Überschrift ist nicht leicht zu finden. Meist steht
der Turm im Mittelpunkt. In den Bibelausgaben lautet die
Überschrift in der Regel entweder „Der Turm zu Babel“1 oder
antworten, die in Angst und Not sind, ihnen die Wahrheit zu
verkünden und sie ohne Vorbehalt zu lieben, denn der Herr „Der Turmbau zu Babel“2. Auch in der Ikonographie dominiert
spricht: das Motiv des Turmes, entweder sein Bau oder seine Zerstörung,
die allerdings im Alten Testament nicht erwähnt wird (LCI 1,237).
„Wer macht des Menschen Mund? Oder wer macht stumm oder
Demgegenüber scheint der urgeschichtlichen Erzählung die Stadt
taub, oder sehend oder blind? Bin nicht Ich es, Jehovah? Und nun

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wichtiger zu sein. Denn in den Versen 4 und 5 wird erst die Stadt und eine Lippe haben sie alle, und dies ist der Anfang ihres Tuns.
und dann der Turm genannt. Und in Vers 8 ist nur von der Stadt Und nun wird von ihnen nichts ferngehalten werden, was sie
die Rede, die im Schlussvers den Namen Babel erhält. Jedoch hat gedenken zu tun. 7. Wohlan, lasst uns hinabsteigen und dort
der Leser wohl nicht zu Unrecht den Eindruck, dass der Turm das ihre Lippe verwirren, damit sie nicht hören, ein Mann die Lippe
Wahrzeichen3 dieser Stadt ist. In ihm verdichtet sich die Bedeutung seines Genossen. 8. Und JHWH zerstreute sie von dort über die
der Weltstadt am Euphrat. Angesichte der ganzen Erde. Und sie hörten auf, die Stadt zu bau-
Selten wird die Sprachverwirrung in der Überschrift ge- en. 9. Deswegen nannte man ihren Namen Babel, denn dort ver-
nannt. Hermann Menge ist eine solche Seltenheit, er wählte „Der wirrte JHWH die Lippe der ganzen Erde, und von dort zerstreute
Turmbau zu Babel und die Sprachverwirrung“, und Horst Seebass sie JHWH über die Angesichte der ganzen Erde.
entschied sich in seinem Genesiskommentar für „Sprachen
(11,1-9)“4. Dieses Motiv ist tatsächlich ein wesentlicher Bestandteil,
denn es rahmt die Erzählung. Zusätzliche Informationen zum Urtext
Genesis 11,1 bis 9 hat sonach zwei Schwerpunkte, das und zur Übersetzung
Bauvorhaben und das sprachliche Durcheinander. Daher meinte
Georg Lorenz Bauer: „Man kann einen doppelten Mythos unter- Diese Übersetzung basiert auf dem Urtext und steht in der
scheiden, den vom Thurmbau, … und den anderen vom Ursprung Tradition der lateinischen Übersetzung Swedenborgs und der
der Sprache.“5 Vor dem Hintergrund dieser ungewöhnlichen Motiv- deutschen Übersetzungen der Swedenborgianer Leonhard und
kombination kann es als eine Aufgabe der geistigen Exegese ange- Ludwig Tafel. Sie alle waren sich des inneren Sinnes bewusst,
sehen werden, den inneren Zusammenhang zwischen den beiden dennoch bleibt jede Übersetzung unvollkommen. Deswegen
Motiven herauszuarbeiten. Warum endet das Städtebauvorhaben möchte ich einige zusätzliche Informationen zum Urtext und zur
in der babylonischen Sprachverwirrung? Ein Erdbeben hätte dem Übersetzung geben.
stolzen Turm doch auch ein Ende bereiten können. In Swedenborgs Besitz befanden sich mehrere lateinische
Übersetzungen der Bibel, eine davon war die des Straßburger
Theologen Sebastian Schmid. Swedenborgs Übersetzung von
Übersetzung von Genesis 11,1 bis 9 Genesis 11,1 bis 9, abgedruckt in den Himmlischen Geheimnissen,
1. Und die ganze Erde hatte eine Lippe und dieselben Worte. und die von Schmid sind sich sehr ähnlich. Um so interessanter
2. Und es geschah, als sie von Osten aufbrachen, da fanden sie sind die wenigen Abweichungen, von denen die wichtigsten in
ein Tal im Lande Schinar und wohnten dort. 3. Und sie sprachen, der Anmerkung genannt sind.6 Sie zeigen, dass Swedenborg
ein Mann zu seinem Genossen: Wohlan, lasst uns Ziegel ziegeln eine möglichst wörtliche Übertragung der hebräischen Vorlage
und zu Gebranntem brennen. Und so hatten sie Ziegel statt Stein anstrebte.
und Erdpech statt Lehm. 4. Und sie sprachen: Wohlan, lasst uns Ich habe das Tetragramm unvokalisiert gelassen. Swedenborg
eine Stadt und einen Turm bauen, und sein Haupt sei im Himmel. liest mit seiner Zeit bekanntlich Jehovah. Diese Aussprache be-
Und lasst uns einen Namen machen, damit wir uns nicht über ruht jedoch auf einem Irrtum. Aufgrund von Angaben bei den
die Angesichte der ganzen Erde zerstreuen. 5. Und JHWH stieg Kirchenvätern nimmt man heute an, dass Jahwe richtig ist. Die
herab, um die Stadt und den Turm zu sehen, den die Söhne des heilige Schrift (Exodus 3,14) und mit ihr Swedenborg (WCR 19)
Menschen bauten. 6. Und JHWH sprach: Siehe, ein Volk sind sie, durchhellen den Gottesnamen vom hebräischen Verb „sein“.
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Das unvokalisierte Tetragramm bringt zum Ausdruck, dass die Lutherbibel 1984, bei Hermann Menge und in der Verdeutschung
Unendlichkeit des Seins (WCR 36) unaussprechbar ist. der Schrift von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Doch der
Um der vorphilosophischen Sinnlichkeit der hebräischen innere Sinn spricht für die erste Möglichkeit, auch für Horst
Sprache etwas näher zu kommen, steht in der Übersetzung Erde Seebass ist das „die näherliegende Übersetzung“8. Interessant
statt Erdbewohner oder Menschen (11,1), Lippe statt Sprache ist, dass qedem auch die Bedeutung von Urzeit oder Vorzeit hat,
(11,1), Haupt statt Spitze (11,4) und Angesichte der Erde statt also auch die älteste Kirche meint. Die „Tage der Vorzeit“ (kime
Oberfläche der Erde (11,4.8.9). Allerdings hat uns die abendlän- qedem) in Jesaja 51,9 stehen nach Swedenborg „für den Zustand
dische Tradition der philosophisch-abstrakten Begriffsbildung das und die Zeit der ältesten Kirche“ (HG 6239). Demnach könnte der
Urerlebnis des Bildes so sehr verschlossen, dass seine Sinnlichkeit Aufbruch von Osten auch die Entfernung von den noch lebendi-
in einer Übersetzung kaum zum Nacherleben gebracht werden gen Überlieferungen der Urkirche in sich schließen.
kann. Zwar ist Idee von sehen abgeleitet, aber unser Geist ist Die hebräische Sprache kennt mehrere Wörter für Tal. Das hier
längst erblindet. Er sieht nichts mehr, er denkt nur noch. verwendete biqah wird gewöhnlich von dem hebräischen Verb für
Vers 1. Der hebräische Text beginnt mit einer Schwierigkeit, spalten abgeleitet, wobei jedoch hinzugefügt werden muss, dass
nämlich einem Kongruenzproblem. Auf eine maskuline Verb- diese Ableitung umstritten ist. Spalten würde aber gut zur analy-
form (= er war) folgt ein feminines Subjekt (= die Erde).7 Ich tisch-zerlegenden Tätigkeit des Intellekts passen. Dem entspricht,
bin mir nicht sicher, welche Bedeutung ich dieser sprachlichen dass in den Versen 3 bis 4 erst die Bauelemente Ziegel und Lehm
Beobachtung beimessen soll. Ich erwäge aber die Möglichkeit, und dann der Bau genannt werden. Die Bewegung rückt also von
dass dadurch die Vermännlichung der weiblich-empfangenden den Bestandteilen zum Ganzen vor. Das ist die Denkbewegung
Mutter Erde angedeutet werden soll. Der Turm, dessen Spitze in des äußeren Menschen. Der innere Mensch hingegen geht von
den Himmel hineinragen soll, könnte auch ein Symbol des männ- der Ganzheitsschau aus.
lichen Zeugungsgliedes sein. Die Erde will in den Himmel eindrin- Vers 3. Anstelle von „ein Mann zu seinem Genossen“ steht
gen, sie will ihn über-zeugen anstatt sich von ihm befruchten oder in der Elberfelder Bibel „einer zum anderen“ und in den ver-
über-zeugen zu lassen. schiedenen Ausgaben der Tafelbibel sogar nur „zu einander“. Ich
In der Tradition Swedenborgs stehend, habe ich mich für habe mich für die wörtlichere Variante entschieden, weil darin die
Lippe und Worte entschieden. Das hebräische sapah bedeutet Eintracht oder das Wir-Gefühl stärker zum Ausdruck kommt, das
Lippe und Rand, gesehen wird demnach die Umrandung des auch in der 1. Person Plural (lasst uns ziegeln, brennen, bauen,
Mundes. Die Septuaginta, die griechische Übersetzung der machen, 11,3-4) spürbar ist.
heiligen Schrift, die im 3. und 2. Jahrhundert vor Christus in Zu beachten sind die etymologischen Figuren, „Ziegel zie-
Ägypten entstanden ist, bewahrt dieses Bild rein, denn chei- geln“ (= Ziegel streichen) und „zu Gebranntem brennen“ (= hart
los bedeutet ebenfalls Lippe und Rand. Das hebräische dabar brennen).
deutet auf das, was durch diese Mündung (oder Öffnung des Kaum übersetzbar sind die Laut- und Sinngemeinsamkeiten
Mundes) hervorgebracht wird, also auf die Lautgebilde, die zwischen Ziegel (lamed-beth-nun-he) und Stein (aleph-beth-nun)
Worte oder die Rede. Die Übersetzer der Septuaginta wählten einerseits und Erdpech (chet-mem-resch) und Lehm (chet-mem-
phone (Laut, Rede). resch) andererseits. In der Verdeutschung von Martin Buber und
Vers 2. Ich habe miqqedem mit „von Osten“ übersetzt. In meh- Franz Rosenzweig lesen wir: „So war ihnen der Backstein statt
reren Bibeln ist jedoch „nach Osten“ zu finden, beispielsweise in der Baustein und das Roherdpech war ihnen statt Roterdmörtels.“ Den
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hebräischen Wörtern für Ziegel und Stein ist die Lautverbindung gende Übersetzung: „Alles, was sie gedenken zu tun, wird ihnen
bn (beth-nun) gemeinsam. Sie findet sich auch im hebräischen (= von ihnen aus gesehen) nun nicht (mehr) unzugänglich sein.“
Wort für bauen (beth-nun-he), und Ben (beth-nun) heißt Sohn. Mit der Absicht, einen Turm zu bauen, dessen Spitze im Himmel
Erdpech und Lehm haben völlig dieselben Konsonanten, sie un- sein soll, haben sie alle Grenzen zumindest mental abgeschüttelt,
terscheiden sich nur in der Vokalisation. nichts scheint unzugänglich, nichts unmöglich.
Indem ich „Lehm“ wähle, folge ich Swedenborg, der bei Vers 7. Balal bedeutet vermengen und verwirren. Dieselbe
Sebastian Schmid caementum vorfand, sich stattdessen aber für Bedeutung haben auch confundere bei Swedenborg und syn-
lutum entschied. Dem Material nach ist Lehm, der Verwendung chein in der Septuaginta. Nach der Abkehr vom inneren Licht
nach jedoch Mörtel gemeint. des Geistes (= Auszug von Osten) werden Gedanken und Begriffe
Vom inneren Sinn her bevorzugt die swedenborgsche ohne Rücksicht auf den inneren Zusammenhang miteinander
Übersetzungstradition „statt“. Sprachlich korrekt ist aber auch „als“: vermengt. Da die strukturierende Kraft des Lichtes erloschen ist,
„Und der Ziegel diente ihnen als Stein und das Erdpech als Lehm.“ geht die Ordnung in der Begriffswelt verloren. Das jeweils aktuelle
Vers 4. Das Wort für Turm (migdal) ist aus mem = M und Durcheinander, die Muster, die aus den Scherben beliebig gebil-
„groß sein“ zusammengesetzt. M ist in fast allen Sprachen der det werden können, entsprechen nicht mehr der Wahrheit und
Mutterlaut, das heißt der Laut der Formbildung. Der Turm ist sind haltlos.
demnach die Form der Größe, der eigenen, selbsterrichteten Vers 8. Im samaritanischen Pentateuch und der Septuaginta
Größe nach der Abkehr von Osten. Sie soll bis an oder sogar bis in steht zusätzlich „und den Turm“, so dass der Vers dort lautet: „…
den Himmel reichen. und sie hörten auf, die Stadt und den Turm zu bauen.“ Vermutlich
Vers 5. Beim Verb jarad muss sich der Übersetzer zwischen hi- ist das aber als Angleichung an die Verse 4 und 5 zu bewerten.
nabsteigen oder herabsteigen entscheiden. Spricht der Urtext also Vers 9. Rein sprachlich ist auch „Deswegen nannte er (=
vom Standpunkt Jahwes, der hinabsteigt, oder der Menschen, die Jahwe) …“ möglich, zutreffend ist aber doch wohl „Deswegen
sehen, wie er herabsteigt? nannte man …“. Die Septuaginta hat statt Babel Synchysis (=
Das Relativpronomen kann auf Stadt und Turm oder nur auf Verwirrung). Im Urtext liegt ein Wortspiel zwischen Babel und
den Turm bezogen werden. Swedenborg hat es nur auf den Turm dem Verb balal (= verwirren) vor.
bezogen, wobei nicht sicher ist, ob er die andere Möglichkeit
überhaupt gesehen hat. Am Sinn ändert das aber nicht viel.
Vers 6. Lo jibbaser mehem übersetzt Swedenborg mit „es
Abgrenzung und Stellung von Genesis 11,1 bis 9
würde nicht ferngehalten werden von ihnen“ (non prohiberetur Die Abgrenzung von Genesis 11,1 bis 9 ist problemlos möglich,
ab iis). Die ganze Aussage versteht er demnach so: „Alles, was siehe auch HG 1279. Das vorangehende Geschlechtsregister
sie gedenken zu tun, würde nun (wenn Jahwe nicht herabstei- Noahs endet deutlich erkennbar mit 10,32. Auch der Beginn des
gen würde) nicht (mehr) von ihnen ferngehalten werden.“ Mit nachfolgenden Abschnitts ist mit „dies die Geburten“ 11,10 deut-
dem Bau der Stadt und des Turmes überschreiten die Bauleute lich markiert, er umfasst 11,10-26 (HG 1281). Dieselbe Kennzeich-
eine Schwelle. Sie begeben sich ganz in die Hand ihres eigenen nung erscheint noch einmal in 11,27, wiederum am Anfang einer
Denkens und liefern sich ihm schutzlos aus. Das eigene Denken Einheit, nämlich 11,27-32 (HG 1282).
kann nun, nachdem die Hemmschwelle überwunden ist, nicht Der Turmbau zu Babel steht am Ende der Urgeschichte
mehr von ihnen ferngehalten werden. Möglich ist auch die fol- (1,1-11,26). Swedenborg kannte diesen Begriff allerdings noch
72 OFFENE TORE 2/03 OFFENE TORE 2/03 73
nicht, machte aber eine wichtige Unterscheidung: „Vom ers- „Und der Ziegel diente ihnen als Stein und das Erdpech
ten Kapitel der Genesis … bis Eber (erstmals 11,14 erwähnt) als Lehm.“ (11,3b)
war es keine wahre, sondern gemachte Geschichte (historica 1.3.3 Zweiter Aufruf, der Bau (11,4)
facta)“ (HG 1403, siehe auch 1020). Swedenborg überwand 1.3.3.1 Aufruf zum Bau von Stadt und Turm:
mit dieser Erkenntnis ein altes Missverständnis, denn von der „Und sie sprachen: Wohlan, lasst uns eine Stadt und einen
Zeit des Neuen Testaments an9 wurde das in Genesis 1 bis 11 Turm bauen, und sein Haupt sei im Himmel.“ (11,4aa)
„Erzählte als Geschichte verstanden, genau wie alles andere, 1.3.3.2 Der gemachte Name (das Image oder Ansehen):
was die Bibel berichtet. Dass diese Ereignisse von der Schöpfung „Und lasst uns einen Namen machen …“ (11,4ab)
bis zum Turmbau von Babel im AT selbst nicht als Geschichte 1.3.3.3 Der Gefahr der Zerstreuung soll entgegengewirkt werden:
in unserem Sinn gemeint sind und daher auch niemals in die „… damit wir uns nicht über die Angesichte der ganzen
Geschichtstraditionen einbezogen werden (Credo), wurde nicht Erde zerstreuen.“ (11,4b)
gesehen …“10 Der Turmbau zu Babel steht auch für Swedenborg 2. Jahwe (11,5-9)
an einem Ende, nämlich am Ende der gemachten Geschichte.
2.1 Die Herabkunft Jahwes:
In einem ungemein dichten Bild zeigt er uns Anfang und Ende,
„Und Jahwe stieg herab, um die Stadt und den Turm zu
Wesen und Wandel der ersten Alten Kirche (HG 1279).
sehen, den die Söhne des Menschen bauten.“ (11,5)
2.2 Die Jahwerede (11,6-7)
Gliederung 2.2.1 Hinweis auf den Anfangszustand:
„Und Jahwe sprach: Siehe, ein Volk sind sie, und eine
Genesis 11,1 bis 9 gliedert sich deutlich erkennbar in zwei Teile. In
Lippe haben sie alle“ (11,6aa)
den Versen 1 bis 4 ist die Menschheit das Subjekt, in den Versen 5
2.2.2 Bewertung des Tuns als Auftakt:
bis 9 hingegen ist es Jahwe. Im ersten Teil sieht Swedenborg vier
„Und dies ist der Anfang ihres Tuns“ (11,6ab)
aufeinanderfolgende Zustände und im zweiten fasst er die Verse 5
2.2.3 Die ungehinderte Verwirklichung des eigenen Denkens
und 6 sowie 7 bis 9 zu zwei Untergruppen zusammen (HG 1280).
(nichts ist unmöglich):
1. Die Menschen (11,1-4)
1.1 Der Anfangszustand: „Und nun wird alles, was sie gedenken zu tun, nicht von
„Und die ganze Erde hatte eine Lippe und einerlei Worte“ ihnen ferngehalten werden.“ (11,6b)
(11,1) 2.2.4 Herabkunft zur Verwirrung der Lippe, so dass die
1.2 Der Ortswechsel: Geistabsicht nicht mehr herausgehört werden kann:
„Und es geschah, als sie von Osten aufbrachen, da fanden „Wohlan, lasst uns hinabsteigen und dort ihre Lippe ver-
sie ein Tal im Lande Schinar und wohnten dort.“ (11,2) wirren, damit sie nicht hören, ein Mann die Lippe seines
1.3 Die Bautätigkeit (11,3-4) Genossen.“ (11,7)
1.3.1 Erster Aufruf mit Einleitungsformel, der Baustoff: 2.3 Die Zerstreuung und das Ablassen von der Bautätigkeit:
„Und sie sprachen, ein Mann zu seinem Genossen: „Und Jahwe zerstreute sie von dort über die Angesichte der
Wohlan, lasst uns Ziegel ziegeln und zu Gebranntem ganzen Erde. Und sie hörten auf, die Stadt zu bauen.“ (11,8)
brennen.“ (11,3a) 2.4 Die Endzustände im Perfekt: Stadtname, Verwirrung und
1.3.2 Kommentar zum Baustoff: Zerstreuung:
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„Deswegen nannte man ihren Namen Babel, denn dort sie sich durch nichts mehr aufhalten lassen, ihrem Sinnen und
verwirrte Jahwe die Lippe der ganzen Erde; und von dort Trachten zu folgen. 7. Wohlan, lasst uns ihren Zustand verändern.
zerstreute Jahwe sie über die Angesichte der ganzen Das Wahre soll aus ihrem Gesichtskreis entschwinden und große
Erde.“ (11,9) Uneinigkeit soll übrig bleiben. 8. So werden sie keine Anerkennung
mehr finden und müssen vom Ausbau ihrer Lehre ablassen.
9. Deswegen nannte man den daher stammenden Gottesdienst
Eine Zusammenfassung des inneren Sinnes babylonisch (verworren), denn der innere Gottesdienst verlor sich
In den Himmlischen Geheimnissen 1279 bis 1328 legt Sweden- und wurde schließlich ganz zunichte.
borg den inneren Sinn der Turmbaugeschichte aus, indem er
die Begriffe der Reihe nach erklärt. Doch am Ende setzt er dar-
aus kein Gesamtbild zusammen. Wir sehen die Pinselstriche des
Swedenborgs Auslegung der
Meisters, aber nicht das Gemälde des inneren Sinnes als Ganzes. Turmbaugeschichte
Dieser Anblick eröffnet sich nur dem, der den Abstand zu den
Pinselstrichen vergrößert, und zwar so sehr, dass er diese schließ- In den Himmlischen Geheimnissen übersetzt Swedenborg die
lich aus den Augen verliert, dafür aber das Bild gewinnt. Turmbaugeschichte in eine Sprache, zu der Begriffe wie Kirche (ec-
Wenn ich dennoch hier nun ein Gesamtbild formuliere, clesia), Lehre (doctrina), Nächstenliebe (charitas), Glaube (fides),
dann sollte diese Komposition aus Buchstaben nicht mit der Gottesdienst (cultus), das Wahre (verum), das Falsche (falsum),
Ganzheitsschau verwechselt werden. Es ist wie mit dem Skelett das Gute (bonum) und das Böse (malum) gehören. Diese Begriffe
eines Menschen, das dessen Gestalt zwar erahnen lässt, aber nicht kann man in ein theologisches System bringen. Doch sollte man
der lebendige Mensch ist. So ist auch das folgende Gerüst nicht das swedenborgsche Begriffssystem nicht für das einzig mögli-
der lebendige, innere Sinn, obwohl es den Himmlischen Geheim- che halten. Denn der innere Sinn ließe sich auch in eine andere
nissen entlehnt ist. Terminologie gießen.
1. Die ganze Kirche hatte eine Lehre im allgemeinen und Am Ende der Urgeschichte stehend, fasst der Turmbau zu
besonderen. 2. Als sie sich aber von der tätigen Liebe entfernten, Babel Anfang und Ende der ersten Alten Kirche zusammen (HG
wurde ihr Gottesdienst unreiner und unheiliger und dementspre- 1279, 1280). Die Stellung am Ende der Urgeschichte lässt jedoch
chend auch ihr Lebenswandel. 3. Da sprachen sie zueinander: erwarten, dass das Gewicht mehr auf dem Untergang dieser
Wohlan, lasst uns Eigenes denken aus unseren eigenen Interessen. Kirche liegt. Der folgende Abschnitt 11,10-26 handelt von der
Und so galt ihnen ihr Falsches als Wahres und ihr Böses als Gutes. zweiten Alten Kirche (HG 1281), und 11,27-32 vom Ursprung
4. Und sie sprachen: Wohlan, lasst uns eine Lehre formen, die der dritten Alten Kirche (HG 1282).11 Unter der Alten Kirche ver-
dem Ansehen der eigenen Person dient und uns sogar göttliche stand Swedenborg eine bestimmte Epoche der altorientalischen
Vollmachten zuschreibt, damit man uns für mächtig hält und wir Geschichte. Swedenborgs Auslegung von Genesis 11,1 bis 9 hat
nicht bedeutungslos werden. 5. Doch das Gericht konnte nicht somit einen historischen Bezug. Diese Feststellung ist insofern
ausbleiben, denn die Lehre war verkehrt und der Gottesdienst, interessant, als der innere Sinn eigentlich nichts von Zeit an sich
den sie sich ersonnen hatten, unheilig. 6. Daher sprach Jahwe: haben soll. Swedenborg schreibt: „Vor den Engeln, die im inneren
Siehe, noch eint sie die überlieferte Glaubenswahrheit, aber das ist Sinn sind, verschwindet alles, was zur Materie, zu Raum und Zeit
nun der Grundgedanke und die Absicht ihres Tuns. Daher werden gehört.“ (HG 488, vgl. auch 813, 3254). Also verschwindet vor
76 OFFENE TORE 2/03 OFFENE TORE 2/03 77
lich auch im Begriff des Lippenwortes zum Ausdruck (siehe 2.
ihnen auch die Alte Kirche als eine Epoche. Swedenborg schreibt
Könige 18,20). Bei Jesaja heißt es: „Weil dieses Volk mit seinem
weiter: „Wenn man die Vorstellung von Zeit entfernt, dann bleibt
diejenige des Zustandes der Dinge, die zu jener Zeit waren.“ (HG Mund sich naht und mit seinen Lippen mich verherrlicht, aber
488). Demnach wäre zu fragen, was die Alte Kirche zuständlich sein Herz fern von mir ist und ihre Furcht vor mir nur angelern-
betrachtet bedeutet. tes Menschengebot ist, …“ (Jes 29,13). Auch Swedenborg weist
Dem Bibelkundigen fällt auf, dass viel von dem, was erst in auf den Aspekt des Äußeren hin: „Im Worte heißt es öfters Lip-
Genesis 11,1 bis 9 entsteht, schon vorher vorhanden ist. Erstens, pe, Mund und Sprache. Die Lippe bedeutet dort die Lehre, der
die Stadt. Zu ihrem Bau wird in 11,4 aufgerufen, nach 11,9 heißt Mund das Denken und die Sprache das Bekenntnis, weil nämlich
sie Babel. Doch schon in 10,10 wurde Babel erwähnt. Zweitens, Lippe, Mund und Sprache das Äußere des Menschen sind, durch
die Sprachen. Eine Folge des Bauvorhabens ist nach 11,9 die Ver- das das Innere offenbar gemacht wird.“ (OE 455). Die Lippe als
wirrung der Lippe. Doch bereits in der Völkertafel 10,1 bis 32 ist Äußerliches bedarf der Füllung durch das Innerliche. Die Lippe an
von verschiedenen Sprachen die Rede (siehe 10,5.20.31). Da die sich ist nur die Umrisslinie des Geistes.
eine Lippe geistig verstanden eine Lehre bedeutet, ist außerdem Swedenborg sieht in der Lippe die Lehre. Der Anfangszustand
darauf hinzuweisen, dass schon die drei Söhne Noahs „drei Arten der altorientalischen Religionssysteme (De primo ejus statu, HG
von Lehren“ (HG 616) meinten. Drittens, die Zerstreuung. Eine 1280) war die einheitliche Lehre. Nach der Sintflut begann die
weitere Folge des Bauvorhabens ist die Zerstreuung über die Menschheit mit einem allseits anerkannten Erbe oder System.
Oberfläche der ganzen Erde. Doch bereits die Völkertafel zeigt die Sowohl die allgemeinen Konturen (= die Lippe), als auch die
Verbreitung der Nachkommen Noahs über die ganze Erde. Diese ins Einzelne gehenden Begriffe (= die Worte) waren einheitlich.
Beobachtungen unterstreichen noch einmal, dass Genesis 11,1 bis Allerdings wurde die Einheit der Lehre wohl nicht erstrangig
9 ein Bild für die gesamte Geschichte der ersten Alten Kirche ist, durch die überall gleichen Lehrsätze gewährleistet, sondern
vom ersten bis zum letzten Zustand (siehe HG 1280). durch das Gefühl der Verbundenheit (vgl. charitas, HG 1327)
Vers 1. Die Bibelübersetzungen zeigen, dass das hebräische aus dem Bewusstsein eines gemeinsamen, geistigen Ursprungs
Wort für Erde auch die Erdbewohner meinen kann.12 In 1. Könige (Uroffenbarung der ältesten Kirche). Ich vermute also, dass das
2,2 sagt der sterbende König David: „Ich gehe den Weg aller geerbte Lehrgebilde nach der Sintflut noch verhältnismäßig ein-
Erde.“ Gemeint ist aller Erdbewohner oder alles Irdischen. Auf der heitlich war, aber es war nicht starre Orthodoxie, sondern eher ein
Subjektstufe des Verstehens meint Erde nicht die objektive, son- lebendiger Organismus, dessen Zusammenhalt durch die Seele
dern eben die subjektive Erde, das heißt die Erde als ein Gesamter- der Gemeinschaftstreue (charitas) bewirkt wurde. Ich möchte also
lebnis der Psyche, ja die Psyche selbst. Doch aus swedenborgscher einerseits die Einheitlichkeit der Lehre in den alten Kirchen nicht
Sicht ist dieses an sich richtige Verständnis noch zu allgemein. unterschätzen, andererseits die einheitsstiftende Kraft nicht im
Denn das überlieferte Wort der Bibel ist Gottes Wort. Daher ist Kognitiven suchen.13
die Erde Gottes gemeint, das heißt die Erde oder Psyche als Ge- Swedenborg unterscheidet die Lehre (doctrina) von der
schöpf Gottes, die Gemeinschaft der Wiedergeborenen oder, wie Wahrnehmung (perceptio). Eine Lehre stattet den Belehrten
Swedenborg sagt, die Kirche. mit Lehrsätzen oder Satzwahrheiten aus, deren Realgrund der
Mit Lippe ist die Vorstellung des Äußerlichen verbunden. Belehrte selbst nicht notwendigerweise in einem Akt unmittel-
Das hebräische Wort meint den Rand oder die Um-Randung barer Wahrnehmung gesehen haben muss. Als Beispiel diene die
des Mundes. Die Vorstellung des Äußerlichen kommt sehr deut- Lehre von der Wiedergeburt. Man kann sich diese Lehre aneignen,
78 OFFENE TORE 2/03 OFFENE TORE 2/03 79
auch ohne wiedergeboren zu sein, das heißt ohne den Realgrund Uroffenbarung, wird die Substanz ihrer Lehrbildung sein. „Ein
aus eigener, unmittelbarer Erfahrung zu kennen. Swedenborg Stein bedeutet im Wort Wahres. Daher bedeutet ein Ziegel
meint nun, dass die alte Kirche nur noch eine Lehre hatte, wäh- Falsches, weil er ein von Menschen, also künstlich gemachter
rend die älteste Kirche echte, innere Wahrnehmungen hatte, und Stein ist.“ (HG 1296). Dass der Ziegel im Feuer hart gebrannt wer-
dass die Lehre der alten Kirche das Erbe jener Wahrnehmungen den soll bedeutet, dass die Festigkeit des eigenen Denkens durch
der Urkirche war. „Die Lehrgegenstände beim Menschen der die eigenen Interessen bewirkt wird. Hinter den Gedanken und
alten Kirche stammten … aus den Offenbarungen und inneren Überzeugungen sind immer Interessen wirksam, die dem Denken
Wahrnehmungen der ältesten Kirche.“ (HG 1068, siehe auch HG und Reden Zusammenhalt und Festigkeit geben. So diente ihnen
530). Eine Lehre ist gegenüber den Wahrnehmungen verhältnis- also Falsches als Wahres. Asphalt oder Erdpech korrespondieren
mäßig äußerlich, so dass sie treffend durch das Bild der Lippe dar- mit dem Übel des Habenwollens (malum cupiditatis), denn es ist
gestellt werden kann. Wie die Lippe die Umrisslinie des Mundes schwefelhaltig und brennbar (HG 1299). Lehm korrespondiert mit
ist, so ist die Terminologie die Grenzlinie des Geistes (lat. terminus dem Guten. Die meisten Übersetzungen haben Mörtel, betonen
= Grenze). also die Bindefunktion. Swedenborg bringt in HG 1300 Stellen (Jes
Vers 2. Der Osten ist die Gegend des Sonnenaufgangs. Im 64,7; Jer 18,6), die Lehm als Baustoff zeigen, denn der Mensch ist
geistigen Verständnis ist das die Gegend des Herzens, denn dort letztlich die Gestalt des Guten.
geht die Gottessonne der Liebe auf. Swedenborg deutet den Vers 4. Auch die Stadt korrespondiert wie die Lippe mit einer
Osten als „die tätige Liebe, die vom Herrn angeregt wird.“ (chari- Lehre (HG 1305). Wenn mehrere Begriffsbilder anscheinend die-
tas a Domino, HG 1291).14 Der Aufbruch von Osten bedeutet den selbe Bedeutung haben, dann lohnt es sich, nach dem je eigenen
Verlust der gemeinschaftsbildenden Liebe. Mit diesem Aufbruch Aspekt zu fragen. So meint Lippe die Lehre, insofern diese ein
geht die einheitsstiftende Mitte verloren, nämlich der Herr. äußerliches Begriffssystem ist, das heißt die begriffliche Umgren-
Danach soll ersatzweise vom Bau der Stadt und des Turmes die zung oder Terminologie einer geistigen Anschauung. Stadt hin-
integrierende Kraft ausgehen, die eigentlich nur von der geistigen gegen meint die Lehre, insofern diese eine geistige Struktur ist,
Sonne im Osten ausgehen kann. die gemeinschaftsbildend wirkt. Städte vereinigen Menschen,
Das Tal im Lande Schinar ist der äußerliche Gottesdienst, in und Weltanschauungen oder Glaubensgemeinschaften eben-
dem Unreines und Unheiliges ist. Zum Tal führt Swedenborg aus: so. „Städte waren in jener Zeit nichts anderes als Familien, die
„Berge bedeuten im Worte Gottes die Liebe (amor) oder Hingabe beisammen wohnten.“ (HG 1358). Daher bezeichnet eine Stadt
(charitas), weil diese das Höchste oder auch das Innerste in der „eine Lehre, insofern diese eine Umfassung oder Verknüpfung ist“
Gottesbeziehung (in cultu) sind … Ein Tal deutet demgegenüber (doctrinale in suo complexu; HG 2723, siehe auch HG 2392).16
auf das, was unterhalb der Berge liegt, auf das Untere oder auch Der Turm ist das Zentrum und Wahrzeichen der Stadt. Daher
Äußere in der Gottesbeziehung.“ (HG 1292). Zum Land Schinar ist er im geistigen Verständnis der Kern oder das Wesen der Lehre.
kann Swedenborg nicht viel mitteilen, nur soviel, dass es „der äu- Er zeigt an, worum es in der babylonischen Lehre eigentlich geht.
ßere Gottesdienst, in dem Unheiliges ist“ (HG 1292) darstellt.15 Schon rein sprachlich ist er, wie oben bereits gesagt, der Ausdruck
Vers 3. Die Erzählung wendet sich erst den Baustoffen (11,3) von Größe. Er korrespondiert mit dem Egoismus oder der gott-
und dann den Bauwerken (11,4) zu. Der Blick geht also von den gleichen Stellung des Ichs, Personenkult statt Gottesdienst.
Teilen zum Ganzen. Die Bauleute wollen Ziegel streichen und Swedenborg spricht von cultus sui und erläutert: „Selbstanbetung
hart brennen. Das heißt, eigenes Denken, nicht die überlieferte oder -verehrung (cultus sui) liegt dann vor, wenn man sich selbst
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so sehr über andere stellt, dass man Gegenstand der Verehrung waren anfangs im wesentlichen einheitlich. Als man jedoch vom
wird. Deswegen wird die Selbstliebe (oder Selbstverliebtheit), die Ursprung und Garanten der Einheit, nämlich der geschwister-
Eigendünkel und Überheblichkeit ist, Höhe, Hoheit und Erhebung lichen Verbundenheit, abrückte, veräußerlichte das gesamte
genannt und durch alles beschrieben, was hoch ist.“ (HG 1306). Religionswesen. Der Verlust der lebendigen Gotteserfahrung
Wo die göttliche Mitte verlassen wird, sammelt sich das Volk um sollte durch eine beeindruckende Lehre überdeckt und gleichsam
die eigene Mitte. Wo Gott verschwindet, betreten die Götter die aufgehoben werden. Doch da das eigene Denken und die eige-
Bühne, die zahlreichen Stars, Diven und Idole, die dem kleinen Ich nen Interessen an die Stelle der alten Überlieferungen und der
Bedeutung verleihen, indem sie es Teil einer kollektiven Person sein echten Demut gesetzt wurden, war die pompöse Lehre im Kern
lassen. Die Notwendigkeit einer Mitte kann eben nicht umgangen nichts weiter als ein Ausdruck der Entthronung Gottes. Doch auf
werden, der Mensch hat nur die Wahl zwischen Gott oder Götze. diese Weise hatte man Macht über die Gemüter der einfachen
Unklar ist, ob sich Swedenborg unter dem babylonischen Menschen erlangt und glaubte, dem Untergang in die Nichtigkeit
Turm einen Befestigungs- oder einen Tempelturm vorstellte. In HG des eigenen Seins für immer entgegengewirkt zu haben.
1306 schreibt er: „Einst wurden die Städte mit Türmen befestigt, Vers 5. Die Herabkunft Jahwes geschieht zum Gericht.
in denen Wächter waren.“ (HG 1306). Demnach dachte er an ei- Swedenborg schreibt: „Von Jehovah heißt es, er steige herab,
nen Befestigungsturm. Gleichzeitig erkennt er aber im Turm das wenn er Gericht hält.“ (HG 1311). Das Haupt des Turmes sollte
Bild eines Kultes (cultus), wozu die Vorstellung eines Tempelturmes selbst vor dem Himmel nicht Halt machen. Dieses Bild will sagen,
besser passt. dass das Böse zur Maßlosigkeit tendiert, dass es jede Grenze über-
Die Erhebung des Hauptes bis in den Himmel meint die schreitet und die höchste Verwirklichung anstrebt. Damit aber wird
Ausdehnung der Herrschaft bis auf den Himmel (vgl. HG 1307). es reif für das Gericht. Noch einmal Swedenborg: „Von Gericht
Das Göttliche wird den eigenen Interessen untertan gemacht. wird gesprochen, wenn das Böse seine höchste Verwirklichung
Interessant ist der Zusammenhang mit Genesis 3,15: „Er wird dir erreicht hat … alles Böse hat nämlich seine Grenzen, bis zu denen
(= der Schlange) das Haupt niedertreten.“ Swedenborg bringt so- es gehen darf. Sobald es jedoch darüber hinausgeht, verfällt es der
wohl das Haupt der Schlange als auch das des Turmes mit der sich Bestrafung des Bösen … und diese heißt dann Gericht.“ (HG 1311,
ins Maßlose steigernden Herrschgier der Selbstliebe in Verbindung vgl. auch 1857). Doch diese Bestrafung geht nicht von einem
(vgl. HG 257 mit HG 1307). höchsten Wesen aus, sondern ist die der bösen Tat innewohnende
Der Name, den man sich machen will, ist der Ruf, den man Folge. „Alles Böse führt seine Strafe mit sich, beide sind miteinan-
sich erwerben will. Es ist „der Ruf, mächtig zu sein“ (fama potentiae, der verbunden. Daher gilt, wer im Bösen ist, ist auch in der Strafe
HG 1308). Das ist das Image, das sich mit dem alles menschliche des Bösen.“ (HH 509). „Alles Böse hat eine entsprechende Strafe
Maß übersteigenden Turm in den Köpfen der gläubigen Betrachter bei sich, die sogenannte Bestrafung des Bösen. Sie ist im Bösen
einprägen soll. Dieser Ruf soll der Auflösung des Lehrkomplexes wie etwas mit ihm Verbundenes enthalten.“ (OE 556). Was also in
bis hin zur Bedeutungslosigkeit entgegenwirken. „,Über die Ober- den folgenden Versen als Tat oder Gericht Jahwes dargestellt wird,
fläche der ganzen Erde zerstreut werden‘, heißt aus ihrem Anblick muss als Folge des Bauvorhabens gedeutet werden.
verschwinden, somit nicht angenommen und anerkannt werden.“ Das Haupt des Turmes reicht nach menschlicher Vorstellung
(HG 1309). bis in den Himmel. Dennoch muss Jahwe herabsteigen, um die
Fassen wir den inneren Sinn des ersten Teils (11,1-4) der Stadt und ihr Türmchen überhaupt zu Gesicht zu bekommen. So
Erzählung zusammen: Die altorientalischen Religionssysteme winzig klein ist menschliche Größe. Der Abstand zwischen Jahwe
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und den Nachkommen Adams hat sich seit dem Sündenfall sehr Änderungen oder Folgen aus der Entschlossenheit resultieren, zei-
vergrößert. Im Garten Eden wandelte Jahwe noch mit dem ersten gen die folgenden Verse.
Menschenpaar auf einer Ebene (Genesis 3,8). Doch nun wohnt er Vers 7. Die Verwirrung der Lippe bedeutet, dass als Folge
hoch oben, und auch das Türmchen kann diesen Abstand nicht des Bauvorhabens ein großes Durcheinander im System der
überbrücken. Satzwahrheiten entsteht. „Niemand hat das Wahre der Lehre“,
Vers 6. Die Einheit des Volkes und der Lippe bedeutet, dass „alle denn „verwirren bedeutet im inneren Verständnis nicht nur ver-
in der Glaubenswahrheit und der Lehre eins waren“ (verum fidei finstern, sondern auch auslöschen (oder vergessen machen) und
et doctrina una omnibus, (HG 1316). Das heißt nach Swedenborg zerstreuen (oder zerstören), so dass nichts Wahres mehr übrig
nicht unbedingt, dass bei allen dieselben Glaubensinhalte und bleibt.“ (HG 1321). Der Bau der Stadt mit dem Turm versinnbild-
Lehrsätze waren, denn er führt aus: „,Ein Volk und eine Lippe‘ licht eine geistige Strukturbildung, der es im Kern darum geht,
heißt, alle haben das allgemeine Wohl (bonum) der Gesellschaft, den Menschen an die Stelle Gottes zu setzen. Die Verwirrung
das allgemeine Wohl (bonum) der Kirche und das Reich des Herrn der Lippe ist die unausweichliche Folge dieser Absicht und ihrer
zum Ziel, denn so ist im Ziel der Herr (wirksam), von dem her Verwirklichung. Der Mensch verliert die Fähigkeit, das metaphy-
alle eins sind“ HG 1316). Man würde Swedenborg missverstehen, sische Wahre zu erkennen. Natürlich kann er mit seinen körperli-
chen Sinnen nach wie vor die Welt beobachten und beschreiben,
wenn man meinte, die Einheit würde durch die Einheitslehre ge-
aber er kann die Fakten nicht mehr deuten, er kann den Sinn der
währleistet. Swedenborg sieht das einheitsstiftende Moment im
Zeichen nicht mehr entziffern. Da nun aber dennoch eine gewisse
Herrn, in der lebendigen Gotteserfahrung, nicht in der Uniformität
Notwendigkeit besteht, zu Systembildungen zu gelangen, tritt der
von Satzwahrheiten. Das schließt nicht aus, dass die altorienta-
Pluralismus der Theorieansätze in Erscheinung. „Sobald der selbst-
lischen Lehrsysteme wesentliche Gemeinsamkeiten hatten, aber
bezogene Dienst (cultus sui) an die Stelle des Dienstes für den
das war nicht der Grund ihrer Verbundenheit. Das war vielmehr
Herrn (cultus Domini) tritt, wird alles Wahre nicht nur verdreht,
der Herrn. Doch dieses einheitsstiftende Moment hatten sie mit
sondern vernichtet, und am Ende hält man Falsches für wahr und
ihrem Aufbruch von Osten verlassen. Damit war die Einheit nur Böses für gut.“ (HG 1321). In diesem Stimmenwirrwar verliert sich
noch eine äußerliche, traditionell bedingte, aber nicht mehr eine die Bereitschaft auf Andersdenkende zu hören. Dass keiner auf die
von innen her gewährleistete. Lippe des anderen hört, bedeutet „alle sind uneinig oder einer ge-
Der Anfang des Tuns ist im geistigen Verständnis nicht das äu- gen den anderen.“ (HG 1322).
ßere, zeitliche Beginnen, sondern „der Gedanke oder die Absicht, Der Einheit der Lippe steht nicht die Vielheit gegenüber, son-
folglich das beabsichtigte Ziel.“ (HG 1317). Das liegt jedem dern die Vermengung oder Verwirrung. Zwar darf man Vielheit
Realisierungsversuch als innerer Anfang zugrunde. Die Stadt und mit heraushören, denn Verwirrung zieht Auflösung und Zerfall
der Turm beschreiben demnach eine Intention und auch den dazu- in Einzelteile nach sich, aber der Akzent liegt dennoch auf der
gehörigen entschlossenen Willen. Verwirrung der Lippe. Darauf hatte schon Philo von Alexandrien
„Und nun wird von ihnen nichts ferngehalten werden, was hingewiesen: „… das Ergebnis nannte er Synchysis, obwohl er
sie gedenken zu tun.“ Nachdem sich die Intention, die Stadt mit es doch, hätte er nur die Entstehung der Sprachen darstellen
dem himmelhohen Turm zu bauen, im Gemüt durchgesetzt hat, wollen, mit einem treffenderen Ausdruck als Sonderung statt
stehen der Umsetzung dieser Idee keinerlei Bedenken mehr im als Synchysis (Zusammengießung) bezeichnet hätte. Denn was
Weg. Daher wird sich der Zustand ändern (HG 1318). Welche geschieden wird, wird nicht zusammengegossen …“17 Wirres
84 OFFENE TORE 2/03 OFFENE TORE 2/03 85
Zeug entsteht, wenn das Licht des Geistes verlischt. In der geis- schwindet, und es im Grunde genommen nur noch um größt-
tigen Umnachtung werden Begriffe und Begriffssequenzen zwar mögliche Selbstbehauptung und Überheblichkeit geht, dann
noch kombiniert, aber nicht mehr im Lichte der Wahrheit, son- erlischt die Führung durch das innere Licht des Geistes. Der
dern nach eigenem Gutdünken. So entsteht die babylonische Gemeinschaftswille zerfällt im Meinungsstreit und der Anspruch,
Vermengung der Gedanken und Begriffe. Jede intellektuelle ein allumfassendes System zu finden, kann nicht mehr verwirklicht
Revolution bringt nun zwar ein neues Paradigma hervor, hebt aber werden. Das nennt man dann Babel, Gebabbel, weil in diesem
das Durcheinander nicht auf, sondern vergrößert es nur noch. Durcheinander der Begriffe und Vorstellungen die Klarheit des
Vers 8. Zerstreuung ist das Gegenteil von Sammlung. Nach Geistes nicht mehr vorhanden ist. Die Zerstreuung in alle mögli-
der Abkehr von Osten, das heißt der vom Herrn ausgehenden chen Schulen und Richtungen ist ein Zeichen des Untergangs der
gemeinschaftsbildenden Kraft, soll die Stadt ersatzweise die ge- inneren Geisteskultur.
meinschaftsbildende Funktion übernehmen. Doch die Selbstver-
götterung (cultus sui) kann nur einen ungeordneten Haufen, je-
doch keine Einheit hervorbringen. Das Projekt Großstadt mit Turm
endet im Wirrwarr der Meinungen, denen allesamt die universelle
Anerkennung versagt bleibt.
Vers 9. Das großartige Lehrgebäude heißt Babel. Dieser
Name spielt auf die dort geschehene Verwirrung der Lippe an,
das heißt auf die heillose Unordnung der Lehre. Die Zerstreuung
der Bauleute über die ganze Erde bedeutet, dass sie als Einheit
auseinander fallen, weil sie sich untereinander nicht mehr ver-
stehen. Sie zerfallen in verschiedene Schulen und Richtungen.
Gleichzeitig werden sie dadurch aber auch wie Saatgut über das
ganze Feld der Erde ausgestreut, so dass die geistige Verwirrung
fortan überall aufgehen und alle Gemüter erfassen wird. Es wird
lange dauern bis Babylon, die Große fallen wird (Offenbarung
18). Die Zerstreuung der Bauleute am Ende der Urgeschichte
bedeutet, dass „die innere Anbetung zunichte geworden ist.“
(HG 1328). Damit ist aber auch das Allerheiligste dem mensch-
lichen Zugriff entzogen, die profane Geschichte kann beginnen.
Fassen wir den inneren Sinn des zweiten Teils (11,5-11) zu- Die Radierung des Niederländers Cornelis Anthonisz (1547) ist sechszehn Jahre vor dem
sammen: Alles menschliche Tun hat Konsequenzen. Die mensch- Gemälde von Pieter Bruegel entstanden. Anthonisz war nicht so sehr darauf aus, die
lichen Gedankengebäude sind bei weitem nicht so bedeutsam ist, grandiose Anlage des Baus und die wagemutige Errichtung des Turmes zu zeigen, son-
wie es aus irdischer Perspektive den Anschein haben mag. Hinzu dern er interessierte sich weit mehr für den dramatischen Augenblick, in dem die Zerstö-
rung erfolgte, und für das große Entsetzen, das die Menschheit überkam. Der Fluch des
kommt, dass gemeinsame Überzeugungen und Lehren zwar unsichtbaren Gottes, aus den Wolken geschleudert und von den Trompeten der Engel
in der Regel den Ausgangspunkt von Gemeinschaftsleistungen verkündet, zerschmettert den mächtigen Bau. Von der Zerstörung ist jedoch im Gene-
bilden. Doch wenn die Demut gegenüber dem Höchsten sistext interessanterweise keine Rede. Sie entspricht jedoch der rabbinischen Auslegung.

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Anmerkungen chenden Ort und lassen sich dort nieder. Der heißt in der Sprache der Hebräer
Senaar, der Hellenen aber Erschütterung. Denn erregt, getrübt und erschüttert
1 Zürcher Bibel 1931, Tafelbibel in der Revision von Ludwig H. Tafel (dort ohne ist das ganze Leben der Schlechten, ist immer in Aufruhr und Verwirrung und
Artikel). erhält keine Spur des wahrhaft Guten in sich.“ (Über die Verwirrung der Spra-
2 Lutherbibel 1984, Einheitsübersetzung, Elberfelder Bibel 1985. chen § 68-69, in: Philo von Alexandrien, Die Werke in deutscher Übersetzung,
3 Dazu passt, dass der innere Sinn von Babel (HG 1326) und auch vom Turm (HG Berlin 1962, Seite 119). Viktor Mohr (alias M. Kahir) bringt das Land Schinar
1306) der cultus sui ist. Die Bedeutung der Stadt verdichtet sich also im Turm. (schin-nun-ajin-resch) mit dem hebräischen Verb für hassen (sin-nun-aleph) in
„Durch den Turm wird hier Babels Beschaffenheit beschrieben.“ (HG 1303). Verbindung. (Das verlorene Wort, 1960, 53).
4 Horst Seebass. Genesis, 1. Urgeschichte (1,1 – 11,26). Neukirchen-Vluyn 1996, 16 Interessant ist auch die Formulierung: Eine Stadt meint „das menschliche
269. Gemüt hinsichtlich der Wahrheiten“ (mens humana quoad vera, HG 2268).
5 G. L. Bauer, Hebräische Mythologie des alten und neuen Testaments, 1802, 226. 17 Über die Verwirrung der Sprachen § 191, in: Philo von Alexandrien, Die Werke
in deutscher Übersetzung, Berlin 1962, Seite 149.
6 Vers 1: tota terra bei Swedenborg statt universa terra bei Schmid. Vers 2: vallem
statt vallem planam. Vers 3. laterificemus lateres statt formemus lateres. adura-
mus in adustum statt aduramus in coctile. pro luto statt pro caemento. Vers 4.
dispergamur statt dispergi cogamur. Vers 7. audiant statt intelligant. Vers 9. totius
terrae statt universae terrae. Deutung heidnischer Mythen
7 Der Vorschlag von Horst Seebass zur Lösung dieses Problems befriedigt mich
nicht. Er übersetzt: „Und es geschah: die ganze Erd(bewohnerschaft) war eine
Lippe mit denselben Worten.“ (a.a.O., 270). Das lässt ein Geschehen erwarten.
im inneren Sinn
Tatsächlich folgt aber ein Zustand. von Josef Winiger
8 a.a.O, 270.
9 Man denke nur an Paulus, für den Adam ein Personenname und somit der erste 2. Teil
Mensch war.
10 Claus Westermann, Genesis 1-11, 1989, EdF 7, Seite 3.
11 Näheres zu den drei Alten Kirchen findet man unter HG 1327. Wasser als Gefühlselement
12 Bei Hermann Menge steht „Erdbevölkerung“ und in der Einheitsübersetzung
„Menschen“.
13 Das Ideal eines einheitlichen, allumfassenden Systems befremdet uns als Kin-
der der Postmoderne, die wir den weltanschaulichen Pluralismus preisen. Wir
A usgehend von den vier Elementen, wie sie die Astrologie über-
liefert, entspricht dem Feuer der Wille, der Luft das Denken, der
Erde die Sinneswahrnehmung und dem Wasser das Fühlen. Diese
empfinden die Vielzahl der Sichtweisen als Freiheit und die Einheit als Zwang.
Vielleicht ist aber der Pluralismus nur die freundliche Umschreibung für geis-
Vierteilung der mentalen Funktionen des menschlichen Gemüts kann
tige Blindheit, Beliebigkeit, Orientierungslosigkeit und Sinnlosigkeit. Jedenfalls charakterologisch mit den vier Temperamenten des Hippokrates in
begann die Menschheit nach der Sintflut mit einem Religions-, Orientierungs- Parallele gesetzt werden, dem cholerischen, sanguinischen, melan-
und Wertesystem. cholischen und phlegmatischen. Man findet sie mit etwas anderen
14 Von der Deutung des Ostens als der Gegend des Aufgangs der geistigen Sonne
Ausdrücken auch als psychologische Typen bei C.G. Jung (1960) wel-
des Herrn sind mehrere Bräuche abgeleitet: „Weil der Herr der Osten ist, war es
vor dem Bau des Tempels in der vorbildenden jüdischen Kultgemeinschaft ein che geneigt sind, ihre geistige Auseinandersetzung mit dem Leben
heiliger Brauch, das Gesicht beim Gebet nach Osten zu wenden.“ (HG 101). mehr oder weniger einseitig mittels den Funktionen der Intuition, des
„Aus der Antike wurde vom frühen Christentum der Brauch übernommen, Denkens, der Empfindung und des Gefühls zu meistern. Unabhängig
sich beim Gebet der aufsteigenden Sonne = Christus zuzuwenden.“ (Manfred davon unterscheidet übrigens C.G. Jung als zwei Hauptgruppen
Lurker, Wörterbuch der Symbolik, 1985, 289).
15 Philo von Alexandrien brachte Schinar mit dem hebräischen Verb erschüttern
auch die Introvertierten von den Extravertierten. Das entspricht in
(nun-ajin-resch) in Verbindung: „Die aber von der Tugend weggezogen sind Swedenborgs Terminologie der Aufmerksamkeit (conversione) auf
und sich von der Unbesonnenheit leiten ließen, finden einen sehr entspre- das Inwendige (versus interiora) gegenüber jener auf das Äussere (ver-
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sus exteriora) des Sinnlichen (sensuale) (HH 267 mit Anmerkungen). soweit, als aus dem obersten, göttlichen Willen Licht und Wärme
Dadurch erweist sich dieses Kriterium der Typologie Jungs als ethisch hervorgehen, analog dem Feuer. Die Luft indes stellt die ungreifba-
nicht wertneutral, wohl hingegen seine Vierteilung nach Funktionen. re Bewegtheit des Denkens dar, das als geistiges Element von der
Eine Konkordanzliste zur Darstellung der Analogien zwischen den an- Lunge aufgenommen wird und dem Himmel entspricht. (Deshalb
geführten Vierteilungen nimmt sich folgendermassen aus: stellen die Vögel als Tiere der Luft mythisch Gedanken dar, und
mentale Funktionstypus werden die Engel des Himmels mit Flügeln abgebildet.) Die Erde
Element Funktion (lateinisch) Temperament bei Jung hingegen bezeichnet das Feste, Greifbare und Begreifbare, und als
Feuer wollen (voluntas) cholerisch intuitiver Typus Fels das Unverrückbare, das darum für-wahr-genommen wird; da-
Erde wahrnehmen (perceptio) melancholisch Empfindungstypus rum entspricht ihr die Sinneswahrnehmung. (Dementsprechend
Luft denken (cogitatio) sanguinisch Denktypus stehen erdgebundene Tiere wie z.B. die Schlange metaphorisch
Wasser fühlen (afffectio) phlegmatisch Gefühlstypus
für die triebhaften Bindungen an das Sinnliche).
Diese vier Kolonnen sind nicht in dem Sinne identisch, als sie Was schließlich das Wasser repräsentiert, lässt sich am genau-
je genau dasselbe meinen würden, sondern gleichen einander le- esten mittels des modernen Begriffs der Information ausdrücken,
diglich im Versuch, Fähigkeiten oder Funktionen des menschlichen und zwar aus folgendem Grund: Schon die Babylonier haben in
Gemütes (die bei allen Menschen vorhanden sind) und damit zu- ihrem Schöpfungsmythos (enuma elisch) zwischen dem für uns
sammenhängende Neigungen (als Einseitigkeiten) in Form einer ungenieessbaren Salzwasser des Meeres, und dem nützlichen
Vierteilung darzustellen, die einem Kreuz als Windrose oder als Süßwasser des Regens, der Quellen, Brunnen, Flüsse und Seen un-
Koordinatensystem entspricht und die der geistigen Orientierung terschieden, und damit eine „Ausbreitung und Scheidung zwischen
durch Unterscheidung dient. Die terminologischen Abweichungen den Wassern“ vorgesehen, wovon auch in Genesis 1.6 die Rede ist.
in der zweiten Kolonne gegenüber der Auffassung von C.G. Jung Das Salzwasser nannten sie Tiamat, und schrieben ihm ähnliche
erklären sich daraus, dass die vier mentalen Funktionen niemals für Eigenschaften zu wie die Griechen dem Okeanos, der von Hesiod
sich allein arbeiten können, und der Verfasser der Meinung ist, die vom Meer (Pontos) unterschieden und als ein unzugänglicher,
Intuition bezeichne ein Zusammenspiel von denken und wollen, unergründlicher, die Erde umfließender „Ringstrom“ beschrieben
während am Empfinden sowohl die Wahrnehmung als auch das wird. Der Tiamat gegenüber stellten sich die Babylonier das Apsu
Fühlen teilhabe. Dem hinwiederum entspricht im astrologischen als ein Ur-Behältnis von Süßwasser mit gleicher Länge, Breite und
Tierkreis die Zuteilung der Erd- und Wasserzeichen dem weiblichen Höhe vor, worüber ihr Gott des Wissens namens Ea herrschte. Mit
Geschlecht, wohingegen die Feuer- und Luftzeichen dem männli- Wissen indes sind Kenntnisse gemeint, womit der Verstand arbei-
chen zugeordnet werden; denn das Fühlen und das Wahrnehmen ten kann, sofern er über sie verfügt. Daneben gibt es aber auch ein
(zusammengenommen das Empfinden) sind passiv empfangende „Wissen“, worüber wir nicht verfügen können; das ist die gesam-
Funktionen, während das Wollen und das Denken (zusammen- te uns unbekannte Information, die im unendlich komplizierten
wirkend die Intuition) aktiv erzeugende Fähigkeiten sind. Damit Geschehen des Lebens drinsteckt (wovon jüngst die genetische
stimmt auch die Gegenüberstellung des Schöpferischen (Yang) Information in den Bereich verfügbarer Kenntnisse und damit ans
gegenüber dem Empfangenden (Yin) im chinesischen „Buch der Licht aktuellen Wissens gezogen worden ist). Unbekannt bleiben-
Wandlungen“ I Ging überein (R. Wilhelm Hrsg. 1967). de Information jedoch steht eigentlich jenseits von Sprache, wird
Der Ausdrucksweise Swedenborgs entspricht die Gleichsetzung aber mit Ausdrücken wie dem „Unbewussten“ (bei C.G. Jung)
der Elemente mit mentalen Fähigkeiten und ihren Funktionen in- dennoch umschrieben. Über diese Negation von Wissen kann
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aber genauso genommen nichts weiter gesagt werden, als dass Gewissen auch willentlich unterdrückt, und dabei gewissermaßen
sie möglich und deshalb anzunehmen sei. Deshalb gemahnt mich „ersäuft“ werden.
das „Unbewusste“ an das „dunkle Meer des Bewusstseins“ beim Die Gefühlsstimmungen des Menschen gehen in fließender
Anthropologen C. Castaneda (in der deutschen Übersetzung sei- Abwechslung ineinander über. Zum sprachlichen Ausdruck davon
nes letzten Buches „Das Wirken der Unendlichkeit“), das meinem benützen wir als Metapher den Fluss. Das Erleben ist ein ständi-
Verständnis gemäß ähnliches andeutet wie der Okeanos bei den ger Fluss wechselnder Informationen, entsprechender Gefühle
alten Griechen. Das ist hier umständlich auseinandergesetzt, um und Stimmungen. Damit kommen wir auf den Fluss Kephisos
den mythologischen Unterschied zwischen dem Süßwasser der unserer mythischen Geschichte zurück, welcher die Diogenaia als
Kenntnisse (lat. scientifica, die in der Übersetzung Swedenborgs „aus Gott Geborene“ erzeugt hat. Aus der ehelichen Verbindung
von Tafel so, oder „Wisstümliches“ genannt werden) und dem der Diogenaia mit Phrasimos, „dem sich Ausdrückenden“, ist die
Meerwasser jener Informationen klarzustellen, deren Dasein man Praxithea als „weiblicher Geist der Verwirklichung“ hervorgegan-
bestenfalls fühlt. Was sich in dieser Gefühlswelt bewegt, sind Fische gen, der auf Empfindungen (Gefühlen und Wahrnehmungen)
und andere Wassertiere, die in der Traumdeutung als „Inhalte des beruht. Ihrerseits hat sie Prokris geboren, die als „Urteilsfähigkeit“
Unbewussten“ gelten, und in der mythischen Literatur häufig in interpretiert worden ist. Da es sich hierbei um eine Tochter han-
Gestalt von Seeungeheuern auftreten, wobei es sich dann um delt, kann diese nun, nachdem die Symbolik des Wassers als
Gefühle des Ungeheuerlichen handelt. Fähigkeit des Fühlens dargelegt worden ist, genauer denn nur als
Die Funktion des Fühlens (Wasser) besteht im Vernehmen (wo- Urteilsfähigkeit als eine Personifikation des Gefühlsurteils verstan-
von sich das Wort „Vernunft“ ableitet) von Werten: Als Wertungen den werden, deren Urgroßvater in der mütterlichen Linie ein Fluss
sind Informationen (Wasser) definierbar, die sich auf das Wollen ist. Vor diesem Hintergrund wird nun auch nach der Bedeutung
beziehen. Weil Gefühle von Lust oder Unlust begleitet sind, nen- ihres Vaters zu fragen sein.
nen wir sie entweder gut oder schlecht. Auf der mentalen Funktion
des Fühlens beruht deshalb die Fähigkeit zur Unterscheidung des
Erwünschten vom Unerwünschten und somit letztlich auch jene
Königtum und Geschichtsschreibung
zwischen gut und böse. Diese tritt in Form von Gefühlsurteilen ans Der Vater der Prokris namens Erechtheus ist als einer der ältes-
Licht des bewussten Erkennens, was wir wollend erstreben oder ten Könige von Athen überliefert. Im inneren Sinn bedeutet das
fliehen. Bildlich gesprochen sind Gefühlsurteile aus dem Wasser Königtum die selbstbestimmende Autorität (weshalb es in den
des unbewussten Fühlens an die Luft des bewussten Denkens ge- Märchen stets das Ziel der Helden ist). Trotzdem ist in unse-
zogene Gefühle. Im Formulieren von Gefühlen verwandeln sich rem Zusammenhang zu fragen, inwieweit die Überlieferungen
sozusagen die Fische des unbewussten Bestrebens in die Vögel von Königen in der griechischen Mythologie auch – oder nur
einer denkend bewussten Beurteilung der eigenen Regungen. – im Buchstabensinne als historische Aussagen zu verstehen seien.
Davon handelt bei Swedenborg die „Verbindung des Himmels Erechtheus stammte von Pandion ab, dessen Name wie Pan-the-
mit dem menschlichen Geschlecht“ (HH 291-302), worin das on die „Gesamtheit des Göttlichen“ bezeichnet. Seinerseits wurde
Gewissen eine zentrale Rolle spielt. Lateinisch heisst dieses cons- dieser Pandion nach Apollodoros (III, 189) von einem Elternpaar
cientia, was zugleich auch mit Bewusstsein verdeutscht werden namens Erichthonios und Praxithea erzeugt. Den weiblichen
kann. Das Gewissen ist das ins bewusste Denken aufstoßende Namen kennen wir bereits durch seine Wiederholung in einer jün-
Fühlen und Beurteilen, was gut und böse ist. Deshalb kann das geren Generation, während der männliche jenem des Erechtheus
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ähnelt. Über dieses Elternpaar zurück reichen in der attischen chischer Überlieferungen, die sich auch in den Geschichten von
Abfolge der Könige nur noch Amphiktyon, dessen Name sich vom den ältesten attischen Königen abzeichnet, beispielsweise darin,
ktiko (erbauen) oder Ktisis (Gründung) ableitet und mit amphi- zu- dass ein Erichthonios auch als Sohn des Dardanos und Bruder
sammengesetzt auf ein umfassendes Begründen hinweist; als ein des Ilos genannt wird (Apollodor III. 140), oder darin, dass die
„Neugründer“ soll er von Deukalion abstammen, der – dem bib- Gestaltung als halb Mensch und halb Schlange des Kekrops auch
lischen Noa entsprechend – die Sintflut überlebt hat. Andere be- von Erichthonios berichtet wird, und von diesem überdies nicht
richten, Amphiktyon sei ein Ureinwohner Attikas gewesen, dem je- klar ist, ob er allenfalls – anders geschrieben – mit Erechtheus
doch jener urzeitliche, „geschwänzte“ Schlangenmensch Kekrops identisch sei. Davon hinwiederum hängt die Deutung seines
vorangegangen sei, dessen Name (als Wesensumschreibung) Namens ab: Einige Forscher gehen davon aus, Erichthonios sei aus
auch der älteste Bruder der Prokris trägt. Dieser ältere Kekrops der Vorsilbe eri- (sehr, stark, viel) und chthonos (Erde, Land) zu-
hatte nebst drei Töchtern einen Sohn Erysichthon, was aus ery- sammengesetzt und bedeute „viel Erde“ oder „viel Land“, andere
omai (bewahren) und ichthys (Fisch) zusammengesetzt scheint, wiederum stützen sich auf einen Mythos, wonach Erichthonios
und so auf ein Wesen hinweist, das die unbewusste Natur des aus dem Samen des Gottes Hephaistos entstanden sei (der die
Fisches bewahrt hat; ein Primitiver also, der es geblieben ist. göttliche Personifikation des Kunsthandwerks ist) als er versuchte,
Dieser ist kinderlos gestorben, das heisst – kulturgeschichtlich die Göttin Athene (als Verkörperung der praktischen Vernunft) zu
verstanden – ausgestorben. Sein Vater Kekrops jedoch wurde vergewaltigen (Hyginus 166):
vom „Neugründer“ Amphiktyon vertrieben, wie dieser später sei-
nerseits von Erichthonios verjagt. Somit scheint es sich nicht un- ...doch als er (Hephaistos) mit ihr (Athene) das Schlafgemach
betrat, verteidigte sie auf den Rat des Zeus ihre Jungfräulichkeit
bedingt einzig um eine Genealogie von geistigen Autoritäten zu
mit den Waffen, und aus seinem Samen, der sich während des
handeln, sondern zugleich um eine Abfolge geschichtlicher Art.
Ringens auf die Erde ergoss, entstand ein Knabe, der unten die
Eine Erzählung als Mythos zu taxieren, ist damit gleichbedeu-
Gestalt einer Schlange hatte; sie gaben ihm deswegen den Namen
tend, in ihr einen inneren, geistigen Inhalt vorauszusetzen, der Erichthonios: eris heisst im Griechischen Streit und chton Erde.
in der äußeren Form einer Geschichte vorgetragen wird. Ist eine
solche Geschichte – im Buchstabensinn ihres Textes – keine erfun- Eine andere Variante dieser Geschichte (Apollodor III. 188)
dene Erzählung (Märchen), sondern Überlieferung eines einstigen erzählt, Athene habe sich den Samen des Hephaistos voller Ekel
geschichtlichen Geschehens im historischen Sinne, kann sie termi- und mittels eines Wollbüschels (Wolle heisst griechisch erion)
nologisch als Sage vom Mythos unterschieden werden. Für viele vom Schenkel gewischt und zu Boden (auf die Erde = chton)
griechische Überlieferungen, die nicht von Göttern sondern von geworfen, was alles miteinander zeigt, dass die griechischen
menschlichen Heroen handeln, ist es kennzeichnend, dass sie so- Geschichtenerzähler selber schon nach Namenserklärungen für
wohl Sagen als auch Mythen sein können; denn das eine schließt Erichthonios gesucht haben. Für Erechtheus indessen ist L. Mader
das andere nicht aus. Mythen können sich aus Sagen entwickelt (1963, Einleitung) zum Schluss gekommen, „der Schollenbrecher“
haben, indem sagenhafte Überlieferungen zur beispielshaften, sei eine ansprechende Namensdeutung, wahrscheinlich weil
paradigmatisch verweisenden äußeren Darstellung innerseelischer erechthô (zerreissen, umherschleudern) mit der Erde (chton) in
Tatsachen und Vorgänge herangezogen werden. Aus der Gültigkeit Verbindung gebracht, das Bild der vom Pflug aufgebrochenen
beider Gesichtspunkte einer Interpretation, des historischen und Erde vor Augen zaubert. Dadurch erscheint Erechtheus als ein
des mythischen, erklärt sich ein Gutteil der Verworrenheit grie- Urvater und geistiger Repräsentant des Ackerbaus.
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Wo sich offenbar sehr alte Namen von Menschen nicht mehr
scheidende Kriterium ist deshalb, ob sie beim Leser Sinn mache
sicher übersetzen lassen, wird es naheliegend, ihren Trägern
oder nicht. Da ich den Sinn der obigen Deutungsansätze nicht ein-
eine nur geschichtliche Bedeutung zuzumessen. Damit kommen
mal recht verstehe, komme ich auf den eigenen Versuch zurück, in
wir auf die Frage zurück, ob Erechtheus eine urgeschichtliche
Prokris die Personifikation des Gefühlsurteils zu sehen als eine men-
Sagengestalt ohne echt mythische Bedeutung sei. Obschon sich
tale Fähigkeit, die aus dem göttlichen Willen zur Verwirklichung
– wie gesagt – historische und mythische Deutungen gegenseitig
(Praxithea) geboren wurde. Eine Namensetymologie ihres Vaters
nicht ausschliessen, gibt es darüber Streit unter den Gelehrten, die
Erechtheus, der die sieben angeführten mentalen Fähigkeiten
verschiedene Schulen bilden, deren Grundtendenzen darin ausein-
erzeugt hat, kann bei den Vokabeln für viel (eri-) und Erde
andergehen, textliche Überlieferungen geschichtlich oder psycho-
(chthonos) ansetzen, und unter der Voraussetzung, dass die Erde
logisch auszulegen. Das ist vor allem von der Neutestamentlichen
symbolisch für die Sinneswahrnehmung stehe, zur Hypothese
Theologie her bekannt, gilt aber auch für die Erforscher heidni-
kommen, es gehe bei Erechtheus um die Vielheit oder Vielfalt
scher Mythen. Unter diesen kann als Beispiel einer historisieren-
den Auffassung R. von Ranke-Graves (1960) herausgegriffen wer- der Sinneswahrnehmungen, die, verbunden mit dem göttlichen
den, dessen Exegese der Erzählung von Prokris und Pasiphaë als Willen zur Verwirklichung (Praxithea), die verschiedenen mentalen
Kontrast zu unserem Versuch, darin einen inneren Sinn zu finden, Fähigkeiten des Menschen erzeuge. Zugleich ist die „Vielfalt der
folgendermaßen lautet: Sinneswahrnehmung“ (Erechtheus) eine Autorität (König) da-
durch, dass sie weitgehend darüber bestimmt, was wir für-wahr-
Die Geschichte von Minos und Prokris verwandelte sich von nehmen. Aber auch diese Interpretation bliebe völlig willkürlich,
einer Mythe in eine Anekdote, dann von einer Anekdote in eine
ergäbe sie keinen tieferen Sinn im Fortgang der anfänglich erzähl-
Hintertreppenromanze, die an manche der Geschichten im
ten Geschichte, was nun weiter zu verfolgen sein wird.
„Goldenen Esel“ (Apuleius, Metamorphosen) erinnert. Sie wird
im Zusammenhang mit Minos, der einen Krieg gegen Athen
führte, und der anschliessenden Niederlage von Knossos erzählt.
So könnte die Geschichte vielleicht eine Darstellung der Werbun-
Intellektualität und Gefühlsurteil
gen des kretischen Königs um die Hand der Hohepriesterin von
An allen überlieferten Stellen, wo Prokris als Verkörperung des
Athen sein. Dies wiesen aber die Athener empört zurück. Pteleon
(„Ulmenwäldchen“), der Name des Verführers der Prokris, könnte Gefühlsurteils vorkommt, ist sie eine weibliche Partnerin von
sich auf den Weinbau beziehen, der sich zur Zeit des Minos von Kephalos, weshalb ihr Wesen ein Licht auf das seinige wirft und
Kreta aus verbreitete. Reben wurden an Ulmen aufgezogen. Es umgekehrt. Der Name Kephalos leitet sich von kephale ab, was
könnte jedoch auch von ptelos = „Keiler“ stammen. In diesem je nach Kontext Kopf, Haupt, Oberhaupt, Eckstein, Ursprung etc.
Falle würden Kephalos und Pteleon als Keiler verkleidet ursprüng- bedeuten kann und somit – wie in unserer eigenen Sprache – für
lich der Heilige König und sein Stellvertreter gewesen sein. Die die Hauptsache metaphorisch den „Kopf“ einsetzt, welcher das
Zauberkunst der Pasiphaë ist charakteristisch für die zürnende Organ der denkenden Steuerung oder des steuernden Denkens
Mondgöttin. Prokris tritt der Zauberkunst Kirkes entgegen. Doch
ist. Dementsprechend kann in Kephalos die Verkörperung der
ist dies nur ein anderer Name der gleichen Göttin.
intellektuellen Beurteilung im Verhältnis zum Gefühlsurteil seitens
Das Wesen jeder Deutung ist Sinnfindung, und Sinn ist als seiner Partnerin Prokris gesehen werden. Auch „der Intellekt“
solcher nicht beweisbar, weil an das innere Erleben von Subjekten (Kephalos) ist eine Erzeugung Gottes, was der Name seines Vaters
allein gebunden. Das über die Qualität einer Interpretation ent- Deion bestätigt. Über seine Herkunft gibt es allerdings wiederum
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eine davon abweichende (oder präzisierende) Version, wonach ihm am frühen Morgen, um ihn zu beobachten, und verbarg sich
Kephalos von Hermes mit Herse erzeugt worden ist (Apollodor III im Gebüsch. Kephalos sah, wie dieses Gebüsch sich bewegte, warf
181), wobei ausdrücklich eine Liebschaft des Kephalos mit Eos er- den unausweichlichen Jagdspieß und tötete Prokris, seine Gattin.
wähnt wird. Über diese erzählt Hyginus (189, „Prokris“) folgende Von ihr hatte Kephalos einen Sohn, Arkeisios, von welchem Laertes,
der Vater Odysseus, abstammt.
Geschichte:
Prokris war die Tochter Pandions. Sie hatte Kephalos, Sohn des
Diese, bezüglich der Beziehung zwischen Kephalos und Prokris
Deion zur Frau. Da sie sich in wechselseitiger Liebe ergeben waren, aufschlussreichere Version, als sie zuerst nach Apollodor erzählt wor-
gaben sie einander das Treuwort, sich nicht mit jemand anders in den ist, bestätigt zwar Kephalos als Sohn des Deion, zugleich aber
Liebe zu verbinden. Kephalos nun war der Jagd ergeben und so auch seine Rolle als Geliebter der Eos, sodass es „derselbe“ Kephalos
zu früher Stunde auf den Berg gegangen; da fasste Eos, die Gattin sein muss, der bei Apollodor auch als Sohn des Hermes und der Herse
des Tithonos, Liebe zu ihm und wünschte, von ihm umarmt zu ausgegeben wird. Deuten wir ihn als Personifikation der intellektuel-
werden; Kephalos lehnte es ab, da er Prokris sein Wort gegeben len Beurteilung, besteht im inneren Sinn kein eigentlicher Gegensatz
hatte. Da sagte Eos: „Ich will nicht, dass du ihr die Treue brichst, zwischen den beiden Versionen seiner Herkunft; denn Hermes, der
falls nicht sie zuerst sie gebrochen hat. “Daher verwandelte sie ihn
Götterbote als Personifikation des Wesens der Kommunikation über-
in die Gestalt eines Gastfreundes und gab ihm schöne Geschenke,
die er Prokris bringen sollte. Als nun Kephalos, der sein Aussehen
haupt, ist als Verkörperung der Sprache eng mit dem Denken ver-
verändert hatte, gekommen war, gab er die Geschenke der Prokris bunden, und trägt geflügelte Sandalen, die ihn durch die Luft tragen.
und schlief mit ihr. Da nahm ihm Eos das Aussehen des Gastfreun- Deshalb kann er sehr wohl als Erzeuger der intellektuellen Beurteilung
des weg. Als jene Kephalos erblickte, merkte sie, dass sie von Eos (Kephalos) verstanden werden, falls dem auch die Bedeutung der Frau
getäuscht worden war, und floh hierauf nach Kreta, wo Artemis entspricht, mit welcher er sich bei dieser Erzeugung verbunden hat.
verehrt wurde. Artemis erblickte sie und sagte zu ihr: „Mit mir jagen Herse ist nach übereinstimmenden Berichten die Tochter des ersten
Jungfrauen du aber bist keine Jungfrau. Geh weg aus unserem attischen Königs Kekrops (desjenigen mit dem halben Schlangenleib),
Kreis.“ Da erzählte ihr Prokris, was ihr zugestoßen und dass sie von
der als Personifikation der natürlichen Intelligenz gedeutet worden
Eos getäuscht worden sei. Artemis, von Mitleid berührt, gab ihr
ist. Ihren Namen übersetzt K. Kerényi (1951) aus mir unerfindlichen
einen Jagdspieß, dem niemand entgehen, und den Hund Lailaps,
dem kein Wild entfliehen konnte, und hieß sie gehen und sich mit Gründen als „Tautropfen“, was weder als Mutter des Kephalos noch
Kephalos messen. Prokris schnitt ihre Haare, und wie ein Jüngling in ihrer (unten folgenden) Geschichte einen einleuchtenden Sinn er-
gekleidet, kam sie nach dem Willen der Artemis zu Kephalos, for- gibt. Meines Erachtens kann er am ehesten von ersa als einer Form
derte ihn heraus und übertraf ihn im Jagen. Wie Kephalos sah, dass des unregelmässigen Verbs ararisko abgeleitet werden, das zusam-
Hund und Spieß eine solche Macht hatten, bat er seinen Gast – er menfügen, verbinden, aneinanderfügen bedeutet. Das lässt sich mit
merkte nicht, dass es seine Gattin war – ihm den Hund und den unserem Fremdwort „kombinieren“ zusammenfassen. Ist Herse dem-
Spieß zu verkaufen. Jene schlug dies zuerst ab. Er versprach ihr auch nach „die Kombiniererin“, und Hermes „die Sprache“, erzeugt diese
einen Teil des Königreiches; sie wollte nicht. „Aber wenn du durch-
im kombinierenden Denken das intellektuelle Beurteilungsvermögen
aus darauf beharrst“, sagte sie, „dies zu besitzen, so gib mir, was
namens Kephalos.
die Knaben zu geben pflegen.“ Da jener Spieß und Hund brennend
begehrte, versprach er, dies zu geben. Als sie ins Gemach gekom- Wie oben mittels einer ausführlicheren Version der Kephalos-
men waren, zog Prokris ihr Kleid aus und zeigte, dass sie eine Frau Prokris-Erzählung gezeigt, ist es ein kennzeichnendes Merkmal
und seine Gattin sei. Kephalos erhielt die Geschenke und versöhnte der griechischen Mythologie, dass es dazu keine kanonischen
sich mit ihr. Da sie aber nichtsdestoweniger Eos fürchtete, folgte sie Schriften gibt, die den Glauben der Griechen verbindlich festlegen
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würden; denn nicht einmal die Theogonie Hesiods, und noch we- Wunsch nicht, denn Athene hatte sie auf Herses Glück eifersüch-
niger die Homer zugeschriebenen Epen (Ilias und Odyssee), als die tig gemacht. Der erzürnte Hermes erzwang sich schliesslich den
im 8. Jahrhundert v.Chr. entstandenen, ältestüberlieferten schrift- Eintritt in das Haus mit Gewalt, verwandelte Aglauros in einen
Stein und befriedigte seine Gier. Die Frucht dieser Vereinigung
lichen Zeugnisse Griechenlands, sind von den Tragödien- und
waren Kephalos, der spätere Geliebte der Eos, und Keryx, der
Komödiendichtern der nachfolgenden Jahrhunderte als verbind-
erste Herold der Eleusinischen Mysterien...
lich erachtet worden, weil sie nicht als religiöse Literatur, sondern
als Kunstwerke von Dichter-Sängern (Rhapsoden) gegolten ha- Am ehesten lässt sich der Name der Aglauros von aglaos
ben. Deshalb steht der Mythenforscher hier vor der Aufgabe, den (glänzend, hell, herrlich, prächtig) ableiten, und deutet diesfalls
vermutlich uralten mythischen Erzählstoff aus den variierenden auf das Sinnenhafte hin. Indem Herse, „die Kombinierende“, mit
Dichtungen späterer Epochen rekonstruierend herauszuschälen. der Luft als Element des Denkens, und Pandrosos, was „die ganz
Weil das bereits ein Interpretationsvorgang ist, lässt sich nichts Feuchte“ bedeutet, mit dem Wasser des Fühlens verbunden ist,
beweisen, und werden Gelehrtenstreite über „Die Mythologie der repräsentieren die drei Töchter der „Urintelligenz“ (Kekrops) eine
Griechen“ (K. Kerényi 1951) kaum versiegen. Deshalb kann die Triade: Erde (Sinnenhaftigkeit = Aglauros), Luft (Kombinationsgabe
Mythendeutung keine Wissenschaft im modernen Sinne dieses = Herse) und Wasser (Gefühlsverbundenheit = Pandrosos). Diese
Begriffs sein, der sehr weit vom Wissenschaftsbegriff Swedenborgs leben in einem Hause mit drei Zimmern, das heisst in einer
abweicht, indem er heute auf mittels Experimenten und logi- Persönlichkeit oder einem Gemüt mit drei Abteilungen auf der
schen Schlüssen beweisbares Wissen eingeschränkt wird. Man Akropolis, welche der Ort der Götterverehrung war. Dazu er-
spräche deshalb verständlicher von einer Kunst oder von einer gänzt Kerényi (1951, 123) in seiner Nacherzählung derselben
Geisteswissenschaft, was auf dasselbe hinausläuft. Als hermeneu- Geschichte, das Zimmer der Herse sei das mittlere gewesen; die
tische Kunst besteht sie darin, vorhandene Geschichten deutend Kombinationsgabe (Herse) steht somit vermittelnd zwischen der
so zusammenzusetzen, dass ihr innerer Sinngehalt wieder sicht- Sinnlichkeit (Aglauros), die links davon auf der Verstandesseite
bar wird. Das musste ausgeführt werden, um den Leser vom wohnt, und der Gefühlsverbundenheit (Pandrosos), die rechts da-
Kopfschütteln darüber abzuhalten, dass hier immer wieder neue von auf der Willensseite steht. Athene ist aufgrund vieler Zeugnisse
Deutungsgesichtspunkte aus einer unübersichtlichen Vernetzung bestimmbar als göttliche Verkörperung der praktischen Vernunft.
unterschiedlicher Erzählungsvarianten herangezogen werden. Die drei Töchter als Fähigkeiten der Vernunft, tragen den Korb
Eine solche führt R. von Ranke-Graves (1960 Bd. I, S. 85) über den der Athene, der somit ein „Aufnahmegefäss der praktischen
Zeugungsvorgang an, aus welchem Kephalos hervorgegangen ist. Vernunft“ ist, und zwar auf ihrem Haupte (kephalos). Hermes, die
(Die im folgenden Zitat in Klammern beigegebenen Ergänzungen Verkörperung der Sprache, besticht die Sinnenhaftigkeit (Aglauros)
zwecks Verständnis der Zusammenhänge stammen vom Verfasser.) ihm die Verbindung mit dem kombinierenden Denken (Herse) zu
verschaffen. Die Sprache will sich also unrechtmässigerweise des
...Seine (des Urahnen Kekrops) drei Töchter Aglauros, Herse und
Denkens bemächtigen, diesem ihre Eigenart einprägend. Dass
Pandrosos lebten in einem Hause mit drei Zimmern auf der Akro-
polis (von Athen). Eines Abends, als die Mädchen von einem Feste
Herse ausdrücklich die jüngste der drei genannt wird, zeigt das
heimkehrten und Athenes heiligen Korb auf ihrem Haupte trugen, kombinierende Denken als letzte der drei Verstandesfunktionen.
bestach Hermes Aglauros, ihm den Eintritt zu Herse, der jüngs- In diese verliebt sich die Sprache (Hermes) heftig; denn die
ten der drei, in die er sich heftig verliebt hatte, zu ermöglichen. Sprache hängt funktionell eng mit dem Denken zusammen. Die
Aglauros nahm zwar das Gold des Hermes, erfüllte aber seinen Sinnlichkeit (Aglauros) anerkennt zwar den unverbrüchlichen Wert
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(Gold) der Sprache (Hermes), erfüllt aber deren Wunsch nicht: Die Erkenntnis der Lebenswahrheit voraufgeht, und somit eine vor-
Sinneswahrnehmung kann der Sprache nicht zur Verbindlichkeit läufige Erkenntnis darstellt. Dieses vorläufige Licht der Erkenntnis
des kombinierenden Denkens (Verbindung mit Herse) dienlich sein. (Eos) ist die Gattin des Tithonos, dessen Name an die Titanen an-
Außerdem hat die praktische Vernunft (Athene) die Sinnlichkeit klingt, deren Wesen als „Urvermögen der Lebendigkeit“ umreiß-
auf das Glück des abstrakt kombinierenden Denkens eifersüchtig bar ist (was andernorts näher ausgeführt werden soll).
gemacht: Die Sinnlichkeit der praktischen Vernunft möchte ge- Eos will mit der Intellektualität eins werden (umarmen), worauf
genüber dem abstrakten Denken den Vorrang haben. Die Sprache Kephalos erst eingeht, nachdem ihm Eos die unstatthaft täuschen-
(Hermes) erzwingt sich schließlich den Eintritt ins Gemüt (Haus) de List eingegeben hat, das Gefühlsurteil (Prokris) auf die Probe zu
trotzdem, und zwar unrechtmäßigerweise mit Gewalt; denn die stellen. Das gefühlsmäßige Erfassen der Wahrheit intellektuell zu
Sprache, obschon sie geschichtlichem Wandel unterworfen und prüfen mit der Frage, ob dem so sei, ist jener mentale Vorgang, den
deshalb äußerst bedingt ist, beeinflusst das Denken schließlich Swedenborg lateinisch als ratiocinatio (vernünftige Überlegung,
doch und befriedigt so ihre Gier, nachdem sie das sinnenhaft Schlussfolgerung) bezeichnet und bezüglich Glaubenssachen als
Wahrnehmbare (Aglauros) zur unveränderlichen und festen unstatthaft darlegt. Deshalb übersetzt Tafel das an sich neutrale
Tatsache (Stein) gemacht hat; denn durch die Benennung wahr- Wort mit „vernünfteln“. Zum Zwecke der damit verbundenen
genommener Dinge werden diese zwangsläufig zu Fakten. Indem Täuschung nimmt der Intellekt (Kephalos) die äussere Gestalt eines
Kephalos die Frucht dieser Vereinigung ist, erhält die intellektuelle Gastfreundes an, dessen Name Apollodor als Pteleos überliefert hat.
Urteilsfähigkeit jenen Charakter einer zwanghaften Einseitigkeit So heisst zwar die Ulme, aber der Name könnte auch von ptilon
(Vergewaltigung), welche den (einseitig) „Intellektuellen“ aus- (Feder, Flügel) abgeleitet sein, und dann eine beflügelte himmlische
macht, der alles mit dem Kopf (kephalos) lösen will. Geistigkeit bezeichnen, die wohl Gastfreund der Intellektualität ist,
Durch diesen zusätzlichen Aspekt einer einseitigen intellektuel- aber nicht mit ihr identisch. Diese nur scheinbar echte Geistigkeit
len Beurteilung (Kephalos) öffnet sich der Zugang zum Verständnis (Kephalos als Pteleos) vermag mittels dem Geschenk tatsächlich
der Beziehung zum Gefühlsurteil, das von Prokris repräsentiert unvergänglicher Werte des Geistes (Gold) das Gefühlsurteil (Prokris)
wird. Kephalos und Prokris sind sich in wechselseitiger Liebe zu täuschen. Aber da der Täuschungsvorgang die Absicht der vor-
ergeben, und bilden durch die Treue eine eheliche Verbindung, läufigen Erkenntnis (Eos) war, nimmt sie Kephalos sein geistiges
wodurch sie die mentale Ganzheit (lat. mens = das Sinnen, der Aussehen wieder weg, worauf das Gefühlsurteil des Betruges inne-
Sinn, die Gemütsart) der menschlichen Vernunft verkörpern. Das wird. Die Folge ist die Flucht der Prokris nach der Insel Kreta.
wird in der Erzählvariante von Antonius Liberalis (41. „Der Fuchs“) Kreta kann als ein Ursprungsland des griechischen Geistes
dadurch hervorgehoben, dass dieses Paar in Thorikos heiratete; gelten, worin Artemis verehrt wird. Artemis jedoch personifiziert
thoros heisst der männliche Same, und thornyomai sich begatten. die vom männlichen Geist unberührte, von ihm unabhängige, rei-
Da Örtlichkeiten für Zustände stehen, haben sich Kephalos und ne Weiblichkeit. Dem entspricht, dass sie sich im Vegetativen der
Prokris im Zustand der gegenseitig befruchtenden Ergänzung be- Wälder aufhält und dort wilde Tiere jagt und beschützt, die das
funden. Der Intellekt (Kephalos) indessen, als Teilfunktion davon, instinktive Leben verkörpern. Weil mit der reinen, unvermählten
gibt sich gerne der Jagd hin, das heisst, dem Erhaschen natürlicher Weiblichkeit (Artemis) nur Jungfrauen assoziiert sind, wird Prokris
Formen der Erkenntnis (Tiere). Dabei fasst Eos Liebe zu ihm, wel- zunächst von ihr abgewiesen, erhält jedoch von der göttlichen
che als geistige Personifikation der Morgenröte ein erstes Licht der Jägerin, die mit der leidtragenden Weiblichkeit des betrogenen
Erkenntnis symbolisiert, das dem Aufsteigen der Sonne als voller Gefühlsurteils (Prokris) Erbarmen hat, einen Jagdspiess, dem
niemand entgehen kann. Dieser ist eine materielle Nachbildung baren intellektuellen Zustoßens (Jagdspieß), und zwar dort, wo
der Idee untrüglich eindringlicher Treffsicherheit bezüglich der sich ihr zweifelnder Unglaube hinter einem vegetativ Triebhaften
Instinkte. Ausserdem erhielt Prokris einen Hund namens Lailaps, der (Gebüsch) verbirgt, das der Eifersucht entspricht. Ein Gefühlsurteil,
als Hund die gute Nase der Instinktsicherheit mit dem Charakter das der mit ihm selber verpaarten intellektuellen Urteilsfähigkeit
der gehorsamen Unterwürfigkeit gegenüber seinem Herrn verbin- misstraut und darüber dominant sein will, bricht auf seine Weise
det. Sein Name Lailaps bedeutet Sturm, Orkan oder Wirbelwind die Ehe als Symbol der mentalen Ganzheit, und verursacht damit
und deutet so auf die heftige Bewegung der Luft eines Denkens seine eigene Vernichtung. Betreffend die männliche Seite wird man
hin, das mit der untrüglichen Sinneswahrnehmung (Nase) eng sich nunmehr auch an den Schluss der ersten Erzählungsversion
verbunden ist. Der Stolz unabhängiger Weiblichkeit (Artemis) erinnern, wonach Kephalos für seine unabsichtliche Tat auf dem
trägt dem Gefühlsurteil (Prokris) auf, sich im Besitz dieser neuen Areshügel gerichtet wurde, was sozusagen ein „Kriegsgericht“
Hilfsmittel unfehlbarer Instinktsicherheit mit der Intellektualität bedeutet, das hier auf den Geschlechterkampf zu beziehen ist.
(Kephalos) zu messen. Dabei stellt es sich heraus, dass das so Der Spruch auf dauernde Verbannung versinnbildlicht die immer-
ausgerüstete Gefühlsurteil die intellektuelle Beurteilung im Jagen währende Ablehnung der Intellektualität (ohne Gegenstück im
nach Erkenntnis übertrifft. Das frühere Täuschungsmanöver wird Gefühlsurteil) seitens der Gesellschaft.
in harmloser Weise umgekehrt, indem Prokris ihre Weiblichkeit Der Nachsatz, dass aus der ehelichen Verbindung von Kephalos
verbirgt (die Haare schneidet). Um den Spiess und den Hund zu mit Prokris ein Sohn namens Arkeisios hervorgegangen sei, erklärt
bekommen, muss Kephalos zunächst einige Beharrlichkeit aufbrin- sich aus dessen Übersetzung als „der hinreichend Sichere“, wie
gen, und einen Teil seines eigenen Königreiches anbieten, das den das Bedeutungsfeld von arkios (hinreichend, genügend, sicher, ge-
Machtbereich seiner eigenen intellektuellen Autorität symbolisiert, wiss) umrissen werden kann: Wo der Intellekt und das Gefühl innig
welcher wenigstens der Bereitschaft nach geschmälert werden miteinander verbunden sind, und keine von beiden Fähigkeiten
soll. Als Preis für die begehrte Instinktsicherheit (Hund) und die das Gegenstück anzweifelnd missachtet, stellt sich eine zureichen-
unfehlbare Treffsicherheit (Jagdspiess) verlangt jedoch Prokris de Sicherheit der Urteilsfähigkeit des menschlichen Verstandes
vom Intellektuellen das, was Knaben (= unreife Männer) zu geben (Arkeisios) ein. Davon stammt Laertes ab, der sich anhand der
pflegen, nämlich intime Zuwendung ans Gegengeschlechtliche, letzten Kapitel in Homers Odyssee als Verkörperung des unablässig
das im vorliegenden Falle vom Gefühlsurteil (Prokris) repräsen- ständigen Bemühens interpretieren lässt. Dieses ständige Bemühen
tiert wird. Darauf geht Kephalos ein und kann sich mit dem (Laertes) um die Ganzheitlichkeit des menschlichen Gemütes erzeugt
Gefühlsurteil als mit seiner „besseren Hälfte“ (Gattin) versöhnen, das Grundthema der Odyssee im inneren Sinn, worin es für den
weil deren Täuschungsmanöver harmlos war. Mann Odysseus darum geht, seinen Machtanspruch zu überwinden,
Einen Fehler begeht aber Prokris schließlich doch, indem währenddessen seine Frau Penelope ihrem Mann trotz aller Werbung
sie weiterhin die Verführbarkeit des Intellekts durch vorläufige seitens weltlicher Ansprüche treu bleibt, und damit sich selber.
Erkenntnisse (Eos) befürchtet, obschon nun der Intellekt seine
Lektion gelernt, und damit Zielsicherheit (Jagdspieß) und – in der (Schluss und Literaturverzeichnis im nächsten Heft)
intimen Verbindung mit dem Gefühlsurteil – auch Instinktsicherheit
(Hund) erworben hat. Durch diese Vertrauenslosigkeit (lateinisch
bedeutet fides Vertrauen, Zutrauen und Glauben in einem) sei-
tens des Gefühlsurteils wird Prokris selber zum Opfer des unfehl-
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welches die lebendige Erfahrung heißt. Doch sind es lauter or-
N. XXXVI.
dentliche Visa gewesen, keine Visiones, als welches außerordent-
Neue Zeitungen liche Erscheinungen sind, dergleichen er etliche gehabt, damit er
von auch von denselben einen lebendigen Begriff und eine deutliche
Erfahrung haben möchte. Da beschreibt er die außerordentliche
Gelehrten Sachen Art, wenn ein Mensch vom Leibe weggeführet wird. Dieses soll ein
Auf das Jahr 1750. mittler Zustand zwischen Schlaf und Wachen seyn, da man sich
aber doch aller Dinge so bewust ist, als wenn man wache; da sie-
Leipzig, den 4 May. het man die Geister, und die Engel, nach ihrer lebendigen Gestalt;
ja man höret und fühlet sie auch. In einem solchen Zustande weiß
London. man nicht, ob man in dem Leibe, oder außer dem Leibe, sey. Die
andere Art der Entzückung, in welcher der Schriftforscher etliche
A llhier siehet man folgendes Werck, das ohne Benennung des
Orts und Verfassers gedruckt worden: Arcana coelestia, quae
in Scriptura Sacra, seu Verbo Domini, insunt, detecta: hic primum,
mahl gewesen, ist der Zustand, da man von dem Geiste an einen
andern Ort gebracht wird. Da gieng er auf den Gaßen und Feldern,
quae in Genesi. Una cum mirabilibus, quae visa sunt in mundo er redete mit den Geistern, und sahe Wälder, Menschen, Häuser,
Spirituum, et in Coelo Angelorum. Pars prima. in groß 4, 3 Alph. u.s.f. als ob sie wahrhaft also wären. Nachdem er aber wieder aus
121 Bogen. Die Leser dürffen sich nur hierinnen ein klein wenig der Entzückung kam, empfand er wohl, daß er an einem gantz
umsehen, so werden sie bald merken, daß das Werck ohnfehl- andern Ort war, als welchen er vorher gesehen hatte. Man wird
bar eine andächtige Person aus dem Pabstthum zum Verfasser sich also auch nicht wundern, daß er vorgiebt, er sey in der Hölle
habe, welche solches in der Entzückung geschrieben. Eigentlich und im Himmel gewesen, und habe die Gesellschaft der Geister
ist es eine anagogische, oder mystische Erklärung der ersten 152 an beyden Orten abgewartet. Daher hat er gewust, daß die bösen
Capitel aus dem ersten Buche Mosis. Der Verfasser nennet solches Geister einsmahls eine Verschwörung wider ihn gemacht, und ihn
den innerlichen Verstand der Schrift A. T. den noch kein Mensch erwürgen wollen; welches er aber nicht geachtet habe, sondern si-
gewust, welcher ihm aber offenbaret worden; ausgenommen cher eingeschlaffen sey. Doch um Mitternacht sey er aufgewacht,
dasjenige, was Gott den Aposteln erkläret, daß nehmlich z. E. die und habe ge•merket, daß er nicht von sich selbst Athem holen
Opfer den Herrn bedeuten; daß das gelobte Land Canaan, und können, sondern daß dasselbe unmittelbar vom Himmel gewirket
die Stadt Jerusalem, den Himmel vorstellen. • Aber man müsse worden. Er giebt vor, daß die abgeschiedenen Geister eine besse-
wissen, sagt unser Schriftsteller, daß alle besondere Dinge A. re und höhere Empfindung der Sinnen hätten, als die Menschen
T. einen innerlichen Verstand haben, und auf den Himmel, die in der Welt, nur daß sie keinen Geschmack hätten. Er macht sie
Kirche, den Glauben, und was zum Glauben gehöret, gehen sol- auch alsdenn zu Engeln. Von den verschiedenen Wohnungen der
len; da der äußerliche Buchstabe nur die Jüdische Kirche angehe. Geister, die er gesehen, und in welchen er auch mit ihnen geredet
Am Ende des Wercks sehen wir auch, daß diese Erklärungen dem hat, weiß er viele wunderliche Dinge zu erzehlen, z. E. daß die
Verfasser durch Erscheinungen sind bekannt gemacht worden, Gesellschaften der Geister in Ansehung der Gegend verschieden
wären, und doch gleichwohl die Verschiedenheit der Gegenden
1 Die Zahl war nicht sicher zu entziffern. und der Oerter nichts anders, als die Veränderungen des Zustandes,
2 Die Zahl war nicht sicher zu entziffern. Möglicherweise auch 16.
seyn sollten, u.s.f. Das heißen bey ihm mirabilia. Die älteste Kirche
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heißt Adam, oder Mensch. Die Höllen sind vielerley. Eine andere „Hungersnot in Irland, emp-
ist der Ehebrecher, eine andere der Rachgierigen, der Geitzigen,
Leserbriefe fangen durch J. Lorber am 11.
der Wollüstigen u.s.f. Der Abend und Morgen bedeuten in der April 1847 … O so geschieht
Schöpfungs-Historie überhaupt den vorhergehenden und nach- Barbara Schmidt, euch, ihr dummen Britten
folgenden Zustand. Aber der Abend bedeutet überhaupt, was Freiburg im Breisgau recht, so ihr alle Hunger ster-
dem Menschen eigen ist; der Morgen aber, was Gottes ist. Die bet samt Irland! Das spricht
Versammlung der Wasser zeiget die Erkenntniß und Wissenschaft Heinz Grob schlägt in seinem der, der alle Völker kennt.“
an; die Thiere, die Affecten und Begierden des Menschen; die Leserbrief in OT 1/03 einen Solche Worte wurden von J.
sechs Schöpfungs-Tage sollen die sechs nach einander folgenden Dialog zwischen Anhängern Lorber oder einem niederen
Stände der Wiedergeburt des Menschen anzeigen, welche voll Swedenborgs und denen Geist dem Herrgott in den
Scholastischer Irrthümer sind, und auch hier von uns deswegen Lorbers vor. Dazu möchte Mund gelegt. Ich halte mich
nicht bekannter gemacht werden dürffen. Das gantze Buch ge- ich Folgendes beitragen. an das Wort Gottes in der
höret in die Scholastischen Jahrhunderte, da man die Sinnen mit In „Sammlung neutheoso- Bibel und erinnere an das, was
solchen sinnlosen Gedanken quälete, und dabey die Wahrheit der phischer Schriften“ Nr. 48, Jesus von Kindern sagte, und
Schrift aus der Acht ließe. Es ist auch nicht leichte zu glauben, daß Neu-theosophischer Verlag ich denke an das Gebot im
ein Mensch, der seinen gesunden Verstand hat, dergleichen mys- Bietigheim, 1895, steht: „Über Alten Testament „Du sollst den
tische Dinge vor Wahrheiten annehmen, oder glauben, sollte, daß Kindererziehung, empfangen Namen des Herrn deines Gottes
der ungenannte Urheber wirklich in der Gesellschaft der Geister durch Jakob Lorber am 8. nicht unnützlich führen“.
gewesen sey, da man leichte merken kan, daß ihm seine erhitzte Juni 1840“ u. a. „Prüfet eure Der bedeutende Unterschied
Einbildung dergleichen Erscheinungen ein•gegeben habe, wel- Brut, und ihr werdet nichts zwischen Swedenborg und
che vermögend sind, auch andere Leute, die der unordentlichen finden als: Eigenliebe, Neid, Lorber liegt nicht in ihrem
Einbildung folgen, so zu Narren zu machen, daß sie selbst nicht Zorn, Trägheit, Unlust gegen Schreibstil, sondern in der
wissen, was sie denken. Doch kan dieses Werck für die andächti- alles ernste und einen heim- Herkunft der Offenbarungen
gen Grillenfänger und Müßiggänger ein guter Zeitvertreib seyn. lichen Widerwillen gegen bzw. Eingaben.
(313-316). alles Göttliche … Höret eure
Kinder lieber weinen in der
Der Punkt • zeigt das Ende einer Seite an. Kränkung ihrer verderblichen Helmut Josef Schall,
Eitelkeit als frohlocken in ih- München
In den Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen vom 28. ren Weltfreuden, damit ihr
April 1750 (Seiten 303f) wird von Joh. Aug. Ernesti, „hiesiger gleich würdet den Engeln, die Die Elemente und Motivationen
[= Leipziger] Rector an der Schule zu S. Thomä“ (303), berichtet. große Freude haben an den der Aufklärung begegnen uns
Weinenden der Welt … Ein auch in den Werken Lorbers
zorniges Mädchen soll fasten und Swedenborgs. Hatte die
siebenmal so lange, als ihr Aufklärung die unbeding-
Zorn gedauert hat, damit sie te Geltung des vernünfti-
sanft werde wie eine Taube.“ gen Denkens proklamiert,
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so kehrt dieser Grundsatz empfingen, den Rang einer in der Person Christi. Und Offenbarung ist Leben und
auch in den himmlischen unumstößlichen Wahrheit Christus hat nicht nur eine zeugt Leben.
Aufklärungswerken wieder: alle zuerkannten, die als eine Lehre gebracht, und mensch-
Enthüllungen, Beschreibungen, „neue Offenbarung“ die glei- liche Daseinsfragen beant-
Folgerungen usw. sind hier che Autorität besitzt wie die wortet; er hat Dämonen be- Trudi Thouvay, Basel
so dargestellt, dass sie der „alte“ Offenbarung der Bibel, siegt, Kranke geheilt, Sünden
Vernunft einleuchten. Die kirch- verschärfte diese Ablehnung. vergeben. Mehr noch, er ist Der Radiovortrag von Pfr.
liche Trinitätslehre zum Beispiel Nun ist es psychologisch gekreuzigt worden und auf- Friedemann Horn im Januar
hatte bei den Rationalisten wohl verständlich, dass die erstanden. Er hat damit ein 1988 gab mir den Anstoß,
ebenso wie bei Swedenborg Offenbarungsempfänger unter Faktum: die Feindschaft des mich mit Swedenborg zu
und Lorber Anstoß erregt, weil der Wucht ihrer Visionen und Menschen gegen Gott und befassen. Dies geschah so
sie vernunftwidrig sei. Mit der inneren Erfahrungen sich als gegen das Gericht, das er ver- gründlich, dass ich bald darauf
Aufklärung teilten auch sie die bloße Werkzeuge empfanden dient, auf der anderen Seite ein begeistertes Mitglied der
Ablehnung der „Erbsünde“, und überzeugt waren, dass die Liebe und Gnade Gottes, Swedenborggruppe in Zürich
der Verlorenheit des Menschen ihre als Einbrüche aus einer die ihm angeboten wird, in der wurde. Fragen, die mich seit
und der Erlösung „sola gra- anderen Welt empfundenen Mitte der Geschichte Ereignis Jahren beschäftigt und beun-
tia“. Darum war ihnen die Erleuchtungen und Stimmen werden lassen. So will die bib- ruhigt hatten, fand ich von
biblische Botschaft vom Kreuz unmittelbar von göttlicher lische Offenbarung verstanden diesem genialen und begna-
verschlossen. Zwar suchten sie Herkunft seien. Aber sie der werden als Zeugnis von einem deten Geist in einleuchtender
dem Kreuzestod Christi einen biblischen Offenbarung eben- Drama Gottes, das einzigartig Weise gelöst, wenn auch von
tieferen Sinn zu geben als die bürtig zur Seite zu stellen, war in der Menschheitsgeschichte mir zum Teil erst nach Jahren
rationalistischen Theologen; ein unmögliches Unterfangen, ist, – nach allen Seiten und in verinnerlicht.
aber dass er etwas mit der denn es wurde dabei der allen Einzelheiten transparent Ich schätzte die Seminare,
Versöhnung (Kol 1,20) und grundsätzliche Unterschied und über die Jahrtausende hin- damals noch in Bernau, wo ein
überhaupt mit dem Verhältnis zwischen beiden verkannt. weg gegenwärtig und aktuell. ganzer Themenkreis uns nahe
zwischen Gott und Mensch zu Die Werke Swedenborgs und Diese Heilsgeschichte fasst gebracht wurde. Auf einem
tun habe, blieb ihnen fremd. Lorbers sind groß angelegte in sich und löst zugleich die Spaziergang erzählte ein jun-
Die Ausführungen über das Aufklärungswerke, die biblische ungeheure Problematik der ger Kursteilnehmer anhaltend
Kreuz gehören denn auch zu Offenbarung dagegen handelt menschlichen Existenz aller und so begeistert von einem
den schwächsten Teilen ihrer von der Heilsgeschichte. Völker, Kulturen und Zeitalter Jakob Lorber, dass er mein
Kundgaben. Diese Geschichte ist bis in ihrer Konfrontierung mit Interesse weckte für diesen
Diese und andere Punkte zum Rand gefüllt von Gottes dem heiligen Gott. Die Lösung Unbekannten.
haben dazu geführt, dass sie Handlungen, Zeichen und geschieht nicht in Worten und Ein Mitglied des Sweden-
von den Kirchen abgelehnt Worten. In ihr hat sich Gott Weisheitslehren, sondern in borgkreises lieh mir freund-
wurden. Dass sie dem, was selbst vergegenwärtigt, zuletzt Taten Gottes. Sie ist also nicht licherweise einen Band von
sie aus der himmlischen Welt und auf ihrem Höhepunkt bloß Literatur. Die biblische Lorber aus. Obwohl ich
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von Swedenborg um die fühlbare Nähe und Macht des
Sprache der Entsprechungen Wortes Jesu und seiner Person
wusste, stand ich zunächst selbst, wie es „Das Grosse
dieser „Kindheit und Jugend Evangelium Johannes“ von
Jesu“ staunend, aber zum Jakob Lorber bewirken kann.
Teil etwas hilflos gegenüber. Wie ein Schlag traf mich
Erst nach einem 2., 3. und eines Tages eine Aussage, dass
4. Lesen fand ich zunächst ein Konflikt herrsche zwischen
etwas befremdende Stellen „Anhängern“ von Swedenborg
entschlüsselt – ein deutliches und Lorber – und zwar schon
Zeichen für mich, wie der in- lange. Für mich absolute
nere Sinn eines Evangeliums Bereicherung und Ergänzung
(hier des verloren gegange- und dort Zerwürfnis!
nen Jakobusevangeliums) Ich muss wohl akzeptieren,
nach Swedenborg erforscht dass Swedenborgkenner mit
werden muss. der Botschaft Lorbers nichts
Als ich mir anschließend anfangen können. Nicht ak-
die „Geistige Sonne“ und zeptieren kann ich jedoch, dass
„Das Grosse Evangelium erstrangige Swedenborgleute
Johannes“ immer mehr zu die Offenbarungen an den
eigen machte, war ich tief „Schreibknecht Gottes“ als
glücklich und dankbar, da- Produkte eines Ungeistes be-
hin geführt worden zu sein, zeichnen oder sie lächerlich
was diese beiden Propheten machen! Ohne gründliche
unserer modernen Zeit zu Kenntnis verurteilen sie,
verkündigen haben, jeder in was für andere lebenswich-
seinem Umkreis, den Religion, tig und teuer ist! Ich glau-
Politik, Sprache, Stand der be, dass Swedenborg sich
Wissenschaft gebildet haben. freut, wenn er sieht, dass die
Ganz verschieden ver- „Neue Kirche“ nicht erstarrt
anlagte Menschen können und vereinnahmt wird von
angesprochen werden: z. B. Swedenborgianern, sondern
durch die strenge und gewis- sich auf schönste Weise er-
senhafte Erarbeitung des inne- weitert und Verbindung sucht
ren Sinnes des „Wortes“ durch mit Menschen der gleichen
Swedenborg oder durch eine Grundhaltung und Erwartung.
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