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Universität Lüneburg, WS 02/03

Angewandte Kulturwissenschaften, FB III


Bildende Kunst
Erstprüfer: Karl Clausberg
Zweitprüfer: Walter Uka
Abgabe: 21. Dezember 2002

Magisterarbeit zum Thema:


Postmoderne Körperbilder bei Chris Cunninghams Videokunst

Verena Dauerer, Matr.-Nr.: 988407


c/o Heldmann, Choriner Str. 61, 10435 Berlin
0179-5145858, vdauerer@t-online.de

1-1
INHALTSVERZEICHNIS: KAPITEL / SEITE

1 EINLEITUNG 1-3

2 DER VIDEOCLIP ALS UNIVERSALSAMPLER 2-6

2.1 Clipgeschichte 2-6

2.2 Der Clip als Sampler 2-7

2.3 Der Clip als Promotionprodukt 2-10

3 KÖRPERVERFORMUNGEN ANHAND DER VIDEOCLIPS 3-12


3.1 Monsterfratzen bei Aphex Twins „Come to Daddy” 3-12

3.2 Sexualisierte Körper bei “Windowlicker” von Aphex Twin 3-17


3.2.1 Weisse Körper 3-24

3.3 Körperoberflächen 3-27


3.3.1 Körpermetamorphosen: Madonnas Morphing in „Frozen“ 3-29

3.4 Verwischen/Auflösen von Körpergrenzen bei „Only You“ von Portishead 3-35

3.5 „Flex“: Körper ohne Gewicht 3-40

3.6 Zerstörung/Zerstückelung des Körpers bei Leftfields „Africa Shox“ 3-42

3.7 synthetische Körper bei Björks „All is full of love“ 3-50


3.7.1 geklonte Körper 3-53
3.7.2 Mensch-Maschine-Transmutationen 3-54
3.7.3 Cyborgs 3-57
3.7.4 Neubesetzung des weiblichen Körpers durch den Cyborg 3-59
3.7.5 Robotersex 3-64

4 CUNNINGHAMS ANSATZ EINES POSTMODERNEN KÖRPERBILDS

4-69
4.1 Körperbilder 4-72

4.2 Technokörper 4-75

4.3 Körperkonstruktionen 4-81

5 SCHLUSSZUSAMMENFASSUNG 5-83

6 LITERATURNACHWEIS 6-85

7 BEGLAUBIGUNG 7-93

8 ANHANG: CD-ROM MIT AUSGEWÄHLTEN VIDEOARBEITEN 8-94


1-2
1 Einleitung

Q: You started out as a sculptor. How did you get interested in film?
C: I love anatomy. I love the human form, I always have. That's why I got into
painting and sculpting, that's why I got into doing prosthetics, that's why I got
into making films about bodies.
Chris Cunningham1

Der Körper und seine Oberfläche scheinen schon lange eine Faszination auf
den britischen Videoclipregisseur und Künstler Chris Cunningham, Jahrgang
1970, auszuüben. Bereits als Teenager entschließt er sich, den Körper
künstlerisch für Filmproduktionen zu bearbeiten und zu verformen: Chris, mit
richtigem Namen Christopher, beginnt mit siebzehn Jahren im Make-up De-
partment von Clive Barkers Horrorfilm „Hellraiser 2“ (1987). Er durchläuft die
Abteilungen „Roboter“ und special effects bei immer größeren Filmproduktio-
nen. So ist er bei den „alien creature effects“ zu David Finchers „Alien 3“, bei
der Comicverfilmung „Judge Dread“ mit Sylvester Stallone beim Make-up
und beim vierten Teil der Alienreihe „Alien: Resurrection“ als character de-
signer beteiligt. Nebenbei ist er als Maler, Bildhauer und Fotograf tätig und
gestaltet das Cover Artwork von Künstlern des englischen Elektroniklabels
WARP. Sein erstes Musikvideo drehte er für den Elektronikmusiker Autechre.
Ihm folgten die zmindest in der Popwelt berühmten Arbeiten für die Musiker
Aphex Twin, Björk, Madonna, Portishead, Leftfield und anderen. Seit Ende
der 90er Jahre versucht er bisher vergeblich, den Cyberpunk-Roman „Neu-
romancer“2 von William Gibson als Drehbuch zu adaptieren. Nebenbei pro-
duzierte er in den letzten zwei Jahren seinen ersten Kurzfilm, die Performan-
ce „Flex“ (2000). Im letzten Jahr zeigte er seine Animation „Monkey Drum-
mer“ auf der Biennale in Venedig.
Vorstellen möchte ich einige der Musikclips von Chris Cunningham
und einen Ausschnitt seines Kurzfilms „Flex“, um daran die Aspekte seines
Körperbild aufzuzeigen: seine Eigenart, den dargestellten Körper buchstäb-
lich, wie auch die Vorstellung vom Körper metaphorisch zu verformen, zu

1
zitiert in: Roman, Shari: The Future Boy, in: RES, Ausgabe Fall 2002
2
Gibson, William: Neuromancer, München 1987
1-3
transformieren, aufzulösen und zu entgrenzen. Cunningham zählt meiner
Meinung nach zu den avancierteren, interessanteren und vielleicht auch
merkwürdigsten Clipregisseuren der 90er Jahre. Er erregte nicht grundlos
aufgrund der Körperdarstellungenen in manchen seiner Clips einiges Aufse-
hen. Das Thema dieser Arbeit sind nun Cunninghams Körperbilder. Genauer,
auf welche Art und Weise Cunningham mit den dargestellten Körpern und
den Bildern vom Körper in seinen Videoarbeiten für Musiker verfährt. Diese
Merkmale möchte ich teilweise mit den Aspekten des Körpers in der Post-
moderne in Verbindung bringen, beziehungsweise Parallelen zwischen bei-
den exemplarisch aufzeigen. Allerdings wird nicht das weite Feld der Post-
moderne zum Gegenstand gemacht, sondern nur einzelne Überschneidun-
gen von Cunninhams Körperbild mit Merkmalen des Körpers in der Postmo-
derne. Die Gewichtung liegt auf Cunningham und wie dieser Künstler mit den
Körpern in seinen Musikclips umgeht.
Der Aufbau der Arbeit gliedert sich wie folgt: Zunächst möchte ich im
zweiten Kapitel eine kurze Einführung zum Videoclip zu geben, schließlich
sind hier Musikvideos Gegenstand der Untersuchung. Der Clip als „Zitaten-
sammelsurium“ ist ein wichtiger Bestandteil der Popkultur. Das bedeutet,
Musikvideos mischen sich Elemente aus verschiedenen kulturellen Stilen zu
ihrer eigenen, originären Zusammenstellung. Ihr Kennzeichen ist das freimü-
tige Wildern in verschiedenen Bereichen durch das Samplen, englisch für
das Zusammenmischen von Versatzstücken aus der Popkultur. Dies ge-
schieht mittels Zitate, Verweise und Anspielungen, die in die Musikvideos
integriert werden. Charles Jencks bezeichnet diese Vorgehensweise einen
„radikalen Eklektizismus“3 und zählt sie zu den Merkmalen der Postmoderne.
In einem knappen Rundgang sollen somit Geschichte, Zusammensetzung
und der kommerzielle Status von Musikvideos beleuchtet werden. Darauf
werden im dritten Kapitel die einzelnen Videoarbeiten, respektive Musikclips
analysiert. Bei der Besprechung der Videos wird zunächst eine assoziative
Annäherung versucht und das Aufschlüsseln ihrer Referenzen und Verweise.
Dann werde ich mich den Aspekten des Körpers in den einzelnen Clips zu-
wenden. Ziel der Untersuchung ist zu zeigen, wie Cunningham in seinen
Werken mit Körpern umgeht, auf welche Weise er ihnen „auf den Leib“ rückt.

1-4
Ich möchte einzelne Clips vorstellen, bei denen Cunninghams Bild vom Kör-
per eine besonders offensichtliche Angriffsfläche bietet: Neben den Videos
für die Gruppen Aphex Twin, Madonna, Portishead, Leftfield und dem Kurz-
film „Flex“ wird desweiteren ein Clip der isländischen Künstlerin Björk aus-
führlicher beleuchtet. In den Videos der erst genannten Musiker macht Cun-
ningham die Körperoberfläche zum Gegenstand verschiedener Einwirkungen
wie Verformen, Auflösen und Verfremden, um ihn schließlich durch eine fra-
gile Körperkonstitution ganz zu zerstören. Beim Clip von Björk wird der
menschliche Körper völlig synthetisiert. Mit der Besonderheit, dass es sich
um den Körper von Björk handelt, der eine Verquickung vom menschlichen
und speziell weiblichen Körper mit Technologie aufzeigt. Im vierten und letz-
ten Kapitel werden die Körperbilder Cunninghams im Zusammenhang mit
den Merkmalen der Postmoderne erläutert. Dabei wird zuerst auf verschie-
dene Definitionen des Körperbilds eingegangen, ihnen folgt die Vertiefung in
Cunninghams Ansätze eines Mensch-Maschine-Körperbilds. Zuletzt wird
untersucht, inwieweit die Körper bei Cunningham auf postmoderne Ge-
schlechtertheorien verweisen können.

3
Jencks, Charles: Die Postmoderne. Der neue Klassizismus in Kunst und Architektur. Stutt-
gart 1987, S.335, zitiert in: Liessmann, Konrad Paul: Philosophie der modernen Kunst, Wien
1999, S.176
1-5
2 Der Videoclip als Universalsampler

„Musik-Videos sind die perfekten Metaphern der Postmoderne.“


Peter Weibel4

„This is like life on MTV.“


Miss Kittin & The Hacker5

2.1 Clipgeschichte
Gegenstand der Betrachtung sind in diese Arbeit in erster Linie die Video-
clips von Cunningham. Daher soll in einem kurzen Überblick auf das Genre
des Musikvideos eingegangen werden. Wie Thomas Mank im Sammelband
„Visueller Sound. Musikvideos zwischen Avantgarde und Populärkultur“ von
Cecilia Hausheer und Annette Schönholzer erklärt, stammt das Wort „Video“
vom lateinischen „ich sehe“ und bezieht sich dabei auf die Situation des Bet-
rachters und nicht auf sein Material.6 Der Begriff an sich bedeutet eigentlich
nur „Träger von Informationen“.Nur welcher Informationen, das hängt davon
ab, wie man es über das Offensichtliche hinaus liest, interpretiert und deutet.
Die Vorgeschichte der Videoclips datiert William Moritz im gleichen
Sammelband auf die 20er Jahre, in denen der Avantgardekünstler Oskar Fi-
schinger mit abstrakten Montage-Filmen dadaistische und surrealistische
Träume entwirft.7 Fischinger emigriert 1936 nach Kalifornien und trägt dort zu
einer „Schule der Visuellen Musik“ bei. Ein weiterer Künstler in Kalifornien ist
Dudley Murphey. Dieser arbeitet ab den 20ern ebenfalls mit abstrakter Mon-
tage und komponiert „visuelle Symphonien“, kaleidoskopisch zersplitterte
Filmschnipsel. Später arbeitet er in Paris mit dem Franzosen Man Ray an
seinem berühmten „Ballett Mécanique“ von 1924. In den 40er Jahren wächst
eine neue Künstlergeneration in Kalifornien heran, die diese Werke rezipiert
und verarbeitet. Darunter sind die Filmemacher Kenneth Anger, James Whit-
ney und Curtis Harrington. Später machen Experimental- und Werberegis-

4
Weibel, Peter: Musik-Videos. Von Vaudeville bis Videoville, in: Bódy, Veruschka und Bódy,
Gabor (Hrg.): Video in Kunst und Alltag, Köln 1986, S.24
5
Miss Kittin & The Hacker: Life on MTV, in: First Album, CD erschienen 2001 bei Gigo-
lo/EFA
6
vgl. Mank, Thomas: Im Mahlstrom der Bilder, in: Hausheer, Cecilia und Schönholzer, An-
nette (Hrg.): Visueller Sound. Musikvideos zwischen Avantgarde und Populärkultur, Luzern
1994, S.21
7
vgl. Moritz, William: Bilder Recycling, in: ebd., S.34-35
2-6
seure wie Bruce Connor und Pat O´Neill Videoarbeiten einem breiteren Pub-
likum zugänglich. Connor wurde bekannt durch seine Videos, die komplett
aus Found Footage, also fremden Filmschnipseln collagiert wurden. Bei sei-
nem Kurzfilm „A Movie“ (1958) beispielsweise Nachrichtenmaterial. In den
60ern dann werden, mit dem Einzug der psychedelischen Drogen in die Pop-
kultur seine Clips farbenfroher. Wegweisend ist seine Arbeit „Cosmic Ray“
von 1961 zu Ray Charles` Lied „One more time“. Vom Experimentalfilmer
wechselt er in das Fach Videoclips und dreht für die Popgruppe DEVO
„Mongoloid“ und für die Musiker David Burne und Brian Eno „America is wai-
ting“. Pat O`Neills Arbeiten wiederum stellen einen wichtigen Einfluss für die
spätere Ästhetik des Clips des amerikanischen Musiksenders MTV dar, weil
er mit seiner Filmreihe in den 70ern die Möglichkeiten von Mattierungstech-
niken und Bildüberlagerungen perfektionierte, so William Moritz.8 MTV als
Spartenmusiksender ging 1981 ans Netz und existiert mittlerweile weltweit.

2.2 Der Clip als Sampler


Die Clips als solche, die bei MTV rund um die Uhr ausgestrahlt werden, sind
popkulturelle Artefakte. Sie sind postmoderne Ansammlungen an Zitaten,
Referenzen und Anspielungen, die wiederum ihre Inspiration aus dem Zitat-
universum der letzten hundert Jahre beziehen. Sie samplen Fragmente ver-
schiedener Film- und Fernsehgenres, wie Zitate von bekannten Filmen, die
nachgespielt werden. David E. James erklärt es als das „Parodieren von
Konventionen und Motive des kommerziellen Films und des Fernsehens als
Quelle der thematischen und strukturellen Bildmetaphorik.“9 Clips recyceln
nach Belieben aus dem kommerziellen Popfundus nicht nur der letzten 20
Jahre, ebenso die Ideen von Experimentalfilmern, wie William Moritz be-
merkt. Dieses ständige Wiederverwerten schafft früher oder später eine Er-
schöpfung sämtlicher, bekannter Ideen laut Moritz. So dass eigentlich nicht
mehr die Frage nach dem Ursprung des Zitats bedeutsam ist, sondern viel-

8
vgl. Moritz, William, a.a.O., in: Hausheer, Cecilia und Schönholzer, Annette (Hrg.), a.a.O.
S.35
9
James, David E.: Lenin, dada, Punk und MTV, in: ebd., S.105
2-7
mehr die Frage „Wie gut wird das wiederverwertet?“10 Ein weiterer Aspekt
beim Sampling von Bildern ist der Effekt, dass die Clips wiederum auf Refe-
renzen wie ältere Clips zurückgreifen, deren Abbilder so nie real existiert ha-
ben und komplett generiert sind. Sie entwickeln scheinbar ein digitales Ei-
genleben die das schweizer Elektronikprojekt Miss Kittin & The Hacker be-
singt mit: „This is like life on MTV.“11 Diese Entwicklung resultiert aus der
Machart der Clips und ihrer Verwendung von digitalen special effects. „Vi-
deokunst ist ein Genre, das sich von Analogie und Repräsentation entfernt,
siehe die Bildmanipulation mit elektronischen Mitteln, die genuine Bilderwel-
ten erzeugen. Digitaltechniken schaffen die Repräsentation völlig ab“12, er-
klärt Ernie Tee. Diese Entwicklung beginnt laut Tee seit den 70er Jahren, da
der Clip die damaligen Fernsehshows zitierte.13 Außerdem haben sich die
Tricktechniken immer weiter entwickelt, ab den 80er Jahren wurden die Spe-
zialeffekte der analogen Videoschnitttechnik dafür verwendet. Wolfgang
Preikschat liefert für die Methode der Videoclips, sich aus Samples neue,
digitale Bilder zu generieren die Metapher der alles in sich aufsaugenden
Energiebündelung: „Video als Metapher des Unbewussten, das kennen wir
schon von den Traumfabriken des Films. Das elektronische Bild ist jedoch im
Gegensatz zum Film wie ein schwarzes Loch, in dem alle Bilder der Gegen-
wart und der Zukunft verschwinden, um in anderer, immaterieller, digitali-
sierter Form wieder hervorzukommen.“14
Beispiele für die Zitatfreudigkeit der Clips in Bezug auf Film ist der Re-
genschirmtanz in Chris Cunninghams Clip „Windowlicker“ des Künstlers
Aphex Twin. Der verweist sowohl auf die Musicalfilme von Gene Kelly, als
auch auf die Tanzvideos des Popstars Michael Jackson. Dies wird im Kapitel
3.2 weiter ausgeführt. Clips übernehmen special effects wie das Morphing,
den fließenden Übergang von einem Objekt in ein anderes. Diese Digital-
technik wurde erstmals bei James Camerons Actionthriller „Terminator 2:
Judgment Day” 1991 benutzt. Cunningham macht davon im Video für Ma-
donna gebrauch, wie ich im Kapitel 3.3 beschreiben werde. Videos können
aber genauso Elemente des aktuellen Zeitgeschehens aufnehmen und ver-

10
Moritz, William, a.a.O.,S.42
11
Miss Kittin & The Hacker, a.a.O.
12
Tee, Ernie: Bilder ohne Referenz, in: Hausheer, Cecilia und Schönholzer, Annette (Hrg.),
a.a.O., S.91
13
ebd., S.86
14
Preikschat, Wolfgang, Video: Die Poesie der neuen Medien, Weinheim/Basel 1987, S.16
2-8
arbeiten wie unlängst der amerikanische Rapper Eminem. Der verkleidet sich
in seinem aktuellen Clip „Without me“ als Terrorist Osama bin Laden und
tanzt in einem scheinbar afghanischen Höhlenversteck, bis er vor Hip Hop-
Kids flüchten muss. Clips sind nicht zuletzt experimentierfreudig und bedie-
nen sich der Ästhetik der neuen Medien, wenn Künstler wie Spielfiguren in
einem Computerspiel agieren. So wird die afroamerikanische Rapperin Missy
Elliott von Regisseur Hype Williams im Video zu „Sock It 2 Me" in einen
Plastikkampfanzug gesteckt und muss als Akteur in einem virtuellen PC-
Game Plastikmonster abschießen.
Videoclips sind Seismografen für neue Trends und Strömungen in der
Popkultur auch wegen ihres Produktionsstatus. Sie fallen oftmals unter die
Kategorie low budget, besitzen also nur einen verhältnismäßig geringen Pro-
duktionsetat, was ihnen größere Freiheiten ermöglicht. Das macht das Genre
zu einem der experimentierfreudigsten. Oft können sich junge Nachwuchsre-
gisseure darin profilieren, bevor ihnen die großen Produktionsfirmen das
Durchhaltevermögen für einen feature film, einen abend füllenden Spielfilm
zutrauen. Beispiele dafür sind David Fincher („Sieben“, „Alien III“), Spike
Jonze („Being John Malkovich“), Michel Gondry („Human Nature“). Oder
Chris Cunningham, der seit Jahren vergeblich versucht, das Script für Willi-
am Gibsons Cyberpunk-Roman „Neuromancer“ umzusetzen.
Musikvideos können aus vielen Versatzstücken bestehen. Das macht
es schwer, weitere Gemeinsamkeiten zu finden. Andererseits ist gerade der
Mixcharakter der Videos ein verbindendes Merkmal. „Es gibt keine generelle
Ästhetik oder die Narrration des Musikvideos“15. Sondern verschiedene nar-
rative Strategien und visuelle Ausdrucksformen in vielen unterschiedlichen
Musik- und Subgenres, lautet das Fazit von Cecilia Hausheer.16 Das bedeu-
tet aber ebenfalls eine neue gestalterische Freiheit. Die einzige Festlegung
innerhalb der Konventionen des Clipgenres ist das Anpassen der Bilder an
die Musik, an Rhythmus, Takt oder den Inhalt auf der Ebene der Lyrics, des
Gesangtexts. Doch nicht einmal das muss eingehalten werden. Der Kultur-
wissenschaftler Kodwo Eshun beschreibt: „I think that the three minute for-
mat of the music video allows you, first of all, to abandon narrative, in favor of
repetition, and pattern, and syncopation. … You can have something that

15
Hausheer, Cecilia: Werbende Klangaugen, in: Hausheer, Cecilia und Schönholzer, An-
nette (Hrg.), a.a.O., S.188
2-9
starts out as pattern and sequence, and becomes narrative, and then moves
in between the two.“17 So, wie der Clip sich seine Zitate zusammensamplet,
so verfährt er auch auf der inhaltlichen Ebene und mischt Kurzgeschichte mit
Einzelsequenzen, sich wiederholenden Mustern und Synkopen. Das hängt in
erster Linie auch von der Struktur der Musik ab, die sich auf einer Bandbreite
von einerseits rhythmisch stringenten Popballaden bis andererseits struktur-
loser Experimentalelektronik bewegen kann. Chris Cunningham beispiel-
sweise läßt die Bilder und ihre Zusammensetzung für seine Clips beim An-
hören der jeweiligen Musik des Künstlers in seinem Kopf entstehen: „I hear a
song and I can see what the sound looks like. On a piece of sound edit soft-
ware you can see the shape of the sound, and I see what an image that
would match that would look like. A snare sound would be a hard slap, for
example.“18

2.3 Der Clip als Promotionprodukt


Bisher außer acht gelassen wurde der kommerzielle Status des Videoclips.
Als Promotionprodukt ist er anfangs nicht mehr als ein Werbetrailer und visu-
elle Untermalung des jeweiligen Albumtracks des Künstlers. Doch hat er sich
in seiner Bedeutung zum „state of the art des modernen Kurzfilms“19 gewan-
delt, wie Olaf Karnik wenigstens für die avancierteren Produktionen feststellt.
Ein qualitativ guter Clip verhilft selbst einem mittelmäßigen Song in der Dau-
errotation auf MTV oder den deutschen Pendants VIVA, VIVAplus und ONYX
zu mehr Aufmerksamkeit. Künstlerisch hochwertige Produktionen, die trotz-
dem als kommerzielle Werbung für einen Interpreten dienen, erlangen somit
einen Sonderstatus in der Unterhaltungskultur. Noch einmal Kodwo Eshun:
„You can have vision, and you can have promotion. This is, like a point in

16
vgl. Hausheer, Cecilia, a.a.O., S.188
17
Eshun, Kodwo, in: Fantastic Voyages, Dokumentarfilmreihe, Regie: Christoph Dreher, D
2000, Transscript von der beta Nr. 18, in: Rohrpost-Mailingliste, in: http://www.mikro.org,
[18.5.2002]
18
„Ich höre ein Lied und sehe, wie der Sound aussieht. Bei einem Programm für Tonschnitt
kann man die Form des Sounds sehen, und ich sehe, wie das passende Bild dazu aussieht.
Ein Trommelschlag würde zum Beispiel wie ein harter Schlag aussehen.“, zitiert in: Relic,
Peter: Chris Cunningham, in: RES Vol. 1 #4, Ausgabe Fall 1998
19
zitiert in: Fantastic Voyages, a.a.O.
2-10
entertaining culture where you can have all the criteria of advertising, they
can all be fulfilled, and you can have all the criteria of vision and aesthetic
and digital speculation.“20 Vom Promotionprodukt, das mit visueller Beschal-
lung um die Zielgruppe wirbt, hat der Clip, zumindest manche seiner Sparte,
den Status von Videokunst erlangt. Videokunst, an der sich Ströme des Zeit-
geists ablesen lassen. Trotzdem und gerade deshalb bietet der Clip als Uni-
versalsampler der Popkultur erheblichen Unterhaltungswert. Peter Weibel
erklärt dies damit, dass Musikvideos die Verbildlichung unserer Wünsche
sind, weil “Wunschgestalt und Produktgestalt, Bildgestalt und Technogestalt,
psychische und technische Morphologie übereinstimmen.“21 Vom Produkt-
werber sind sie selbst zum Produkt geworden, weil ihre audiovisuelle Ver-
mittlung in der Warenwelt den Konsumbedürfnissen entgegen kommt, so
Weibel.22

20
Eshun, Kodwo, in: Transscript, a.a.O.
21
Weibel, Peter, a.a.O., S.25
22
ebd.
2-11
3 Körperverformungen anhand der Videoclips

3.1 Monsterfratzen bei Aphex Twins „Come to Daddy”


(1997, 5:50:02 Minuten)
Mit dem Videoclip „Come to Daddy“ des Elektronikmusikers Aphex Twin, mit
richtigem Namen Richard E. James, wurde Cunningham 1997 schlagartig
berühmt. Seine Bilder bleiben dem Betrachter in bemerkenswert gruseliger
Erinnerung. Parallel zur knarzenden Elektronik von James, der gerne Störge-
räusche mit arhythmisch holperndem Takt vermischt, verläuft die Handlung
wie folgt: Eine Rentnerin spaziert mit ihrem Hund durch eine triste, men-
schenleere Betonhochhaussiedlung der Londoner Vorstadt. Sie blickt sich
um als ob sie bemerkt, dass sie beobachtet wird. Auf dem Boden überall zu-
rückgelassener Müll und Schrott, darunter ein Fernseher. Als der Hund sein
Bein an dem TV hebt, entsteht eine elektrische Spannung, die den Hund
trifft. Gleichzeitig erwacht auf dem Bildschirm ein deformiertes Gesicht, eine
Horrorfratze zum Leben. Sie wirkt verzerrt wie durch Wasserschlieren und ist
grün-bläulich. Sie sagt in schauerlichem Ton: „I
want your soul. I will eat you soul“, siehe Abbil-
dung 1. Der Hund gebärdet sich wie wild, die
Rentnerin erschrickt, lehnt sich an eine Häuser-
wand, schaut um die Ecke – und vor ihr stehen
plötzlich eine Horde Kinder, alle gänzlich normal
gekleidet, bis darauf, dass sie alle den gleichen
Kopf, also Gesicht und das Haar mit dem Pferdeschwanz von Aphex Twin Abbildung 1
haben. Sie stürmen an der alten Frau vorbei und benehmen sich wie eine
randalierende Gang, die aggressiv alles um sich herum zerstört. Sie schla-
gen mit Baseballschlägern auf Gegenstände, jagen einen Hausbewohner bis
zu seinem Auto und beginnen Streit untereinander, bis sie schließlich zum
TV rennen und zu Jüngern des Monsters werden, das wie aus einem Ei aus
der Oberfläche des Fernsehers schlüpft. Das TV-Wesen ist ein riesiger,
skelletös abgemagerter, fast farblos weißer Mensch mit kahlem Kopf, spin-
nenfingerigen Klauen und einem entstellenden Raubtiergebiss. Es schreit
lang direkt in das Gesicht der alten Frau, scharrt danach die Kinder um sich
wie ein Anführer und umarmt sie liebevoll als seine Gemeinde. Mittlerweile ist
sein Kopf ebenfalls zum Kopf von Aphex Twin transformiert.
3-12
Das Video gewann 1998 einige Preise, darunter den CAD Award von
Music Week, den D&AD Award und den MTV Video Music Award und war
gleichzeitig der Durchbruch für Cunninghams Karriere als Clipregisseur. Da- Abbildung 2
vor hatte er seltsame, aber weitgehend unbekannte
Videos gedreht für die Gruppe „The Auteurs“. Auch
seine Videoarbeit für den Elektronikproduzenten
Autechre mit einem fremdartigen Wesen und einem
Roboter hatte wenig Aufmerksamkeit erregt. „Come
to Daddy“ bietet verstörende Aufnahmen, die beim
ersten Sehen Ekel erzeugen. Irritation entsteht, weil
Cunningham absichtlich Kinder benutzt, alle die identische Maske des
Künstlers tragen wie in Abbildung 2. Gemeinhin würde man Kleine Kinder im
Alltag mit kleinen Unschuldslämmern konnotieren. Cunningham lässt sie als
rabiate Gang mit Baseballschlägern alles zertrümmern. Vielleicht ist es mü-
ßig, sich zu fragen, was es denn mit diesen Kindern auf sich hat und was der
Videokünstler Cunningham damit vermitteln möchte. Braucht er überhaupt
noch eine Botschaft? Offensichtlich ist, dass Cunningham mit dem Namen
des Künstlers Aphex Twin, englisch Aphex Zwilling, gespielt hat und ihm
lauter kleine Zwillinge zur Seite stellt. Eine Vermutung wäre dagegen abwe-
gig, dass Cunningham mit „Come to Daddy“ auf Großstadtkriminalität, Get-
toisierung der modernen Lebensräume, das Potential gewalttätiger Kinder
und die Gewaltverherrlichung in den Medien hinweist. Indem er zeigt, wie
Kinder sich um ein Fernsehmonster scharen. Seine Aussage zur Intention
seiner Videoclips bestätigt das Gegenteil: „Maybe this is something I
shouldn't be mouthing off about, but you know, certainly with music videos
there's no intelligence behind them. I'm not trying to make a social statement
or let people know what I think about things. The videos that I do are pure
manipulation of sound and picture, and most decisions are made on a reflex
action. If I was to sit down on a psychoanalyst's sofa, I'd probably be as sur-
prised as anyone else.”23
Unübersehbar sind jedoch seine Referenzen an Horrorfilme: Die un-
heimlich trostlose Atmosphäre im Hochhausghetto, die teuflische Bande der
kleinen Aphex Twin-Monster und nicht zuletzt das Wesen aus dem Fernse-
her. Dieses schält sich wie in David Cronenbergs Medienschocker „Vide-

3-13
odrome“ (1982) aus dem TV: „Das weiße Rauschen verschwindet, die Bild-
schirmoberfläche wird zur Haut-Fleischwerdung des Immateriellen.“24 Die
Mattscheibe, die Oberfläche oder auch die Verbindungsfläche zur Außenwelt
wird zur dehnbaren, durchsichtigen Haut, die die Kreatur von innen heraus
zerreißt und sich so eindrucksvoll ins Freie windet: „Bathed in noise and sta-
tic an amorphous shape with Aphex's features stretches out onto the pave-
ment. As it rears itself up it screams like an injured animal being born, still
somehow retaining an insane grin. It stands 7 foot tall now and its mouth is
stretched wide open.25“ So beschreibt es das Treatment von Cunningham.
Und richtig, als Verweis dient ihm „Videodrome“ und weitere Horrorfilme: „Als
Kind habe ich endlose Horrorfilme gesehen. Cronenberg und so etwas. Und
als ich Aphex Twin vor einem Jahr live gesehen habe und er "Come To Dad-
dy" spielte, dachte ich sofort an Hellraiser. `Eat your Soul` erinnerte mich an
`Evil Dead 2` und ich dachte mir, der hat ein bisschen viele Horrorfilme ge-
sehen in letzter Zeit und dann einfach ein paar Tracks gemacht. Und wenn
die Referenzen dann schon mal da waren, warum sie nicht benutzen “26, er-
innert sich Cunningham. Er verwendet selbst eine Geburtsmetapher beim
Schildern des Making Of: „Als wir das Video gedreht haben, war es ziemlich
kalt und in all dem Schleim zitterte der dünne Mann wie ein neugeborenes
Tier. Wir mussten schnell filmen bevor ihm warm wurde.“27 Ein weißes, gro-
ßes Monster. So weiß und von einem ähnlichen Körperbau wie das weiße
Alien in vierten Teil der „Alien“-Reihe „Alien: Resurrection“28, bei dem Cun-
ningham beteiligt war. Ein Monster wird hier aus dem Fernseher geboren,
siehe Abbildung 3. In „Come to Daddy“ ist es ein entstelltes, menschenähnli-
ches Wesen, was macht ein Monster aus? Drehli Robnik liefert eine Definiti-
on: „Abgesehen von allen gewöhnlichen Hauskatzen und sonstigen Einfällen
der ironischen Entwertung ist ein Monster etwas, das uns monströs (eklig,
schreckenerregend, furchteinflößend, skandalös) erscheint, etwas, das wir

23
zitiert in: N.N.: Chris Cunningham, in: Flux #14, Ausgabe 6/1999
24
Palm, Michael: See you in Pittsburgh – Das neue Fleisch in Videodrome, in: Robnik, Dreh-
li; Palm, Michael (Hrsg.): Und das Wort ist Fleisch geworden. Texte über Filme von David
Cronenberg. Wien 1992, S.167-168
25
zitiert aus dem Treatment zum Clip „Come to Daddy“, in: http://www.director-file.com
[1.11.2002]
26
zitiert in: Kösch, Sascha: Chris Cunningham - The Guy Who Shot Aphex Twin (sortof), in:
de:bug – Zeitung für elektronische Lebensaspekte, Nr. 5, Ausgabe Oktober 1997
27
zitiert in: ebd.
28
Alien: Resurrection, Regie: Jean-Pierre Jeunet, USA 1997
3-14
gewohnt sind, auf eine Bühne zu stellen und mit einem exaltierten Zeige-
gestus zu belegen.“29

Abbildung 3

Abbildung 4

29
Robnik, Drehli: Zeigen – Deprivilegierte Monstrosität in The Fly und anderen Filmen von
David Cronenberg, in: Robnik, Drehli; Palm, Michael (Hrsg.), a.a.O., S.122
3-15
In „Come to Daddy“ wird die Kreatur mit ihrem eigenartig spindeldür-
ren Körper eindrucksvoll und auf Schreckmomente bauend ins Bild gesetzt
wie in Abbildung 4. Ebenso sollte auf die Wirkung eingegangen werden, die
diese leibhaftige Horrorfratze auf den Zuschauer ausübt. Was fühlt man beim
Anblick eines Monsters und Kindern, die sich völlig widersprüchlich zu dem
Bild von Kindern und ihrem Verhalten gebärden? Kinder kann man mit klein
und lieb, süß und in der Regel harmlos assoziieren. Gewalt ist etwas, was
man zunächst nicht mit wehrlosen Kindern verbindet, höchstens in der Funk-
tion als ausgelieferte Opfer. Das Bild ist in seiner Wirkung paradox und die
Zuschauer beim Anblick der destruktiv wütetenden Kindergang irritiert. Robin
Drehlik beschreibt das Gefühl wie ein über den Betrachter hereinbrechendes
Gewitter, dem er sich nicht erwehren kann: „Das Kino kann nicht nur die Welt
als geordnete, zur Verfügung eines als transzendental konstituierten, kör-
perlosen ideologischen Subjekts stellen, sondern es bringt auch Bilder her-
vor, die die Wahrnehmung schmerzhaft attakieren, erschüttern und ihr den
Überblick rauben. Abseits moralischer Schockwirkungen, die Filme uns bere-
iten können, geht es hier um grundsätzliche Beziehungen zwischen dem Bild
und dem wahrnehmenden Subjekt in ihrer jeweiligen Körperlichkeit.”30
Cunningham arbeitet mit genau diesen schmerzhaften Attacken und
verstärkt und betont den Horror. Er benutzt Wiederholungen von Einstellun-
gen, Kamerafahrten und Zooms– ein bei Videoclips oft gebrauchte Technik,
um effektvoll das Dargestellte dem takt der Musik anzupassen. Das erwirkt
gleichzeitig eine Betonung der einzelnen Einstellungen. In der Szene, als das
Monster die Oma anschreit, wird immer wieder die Einstellung des schreien-
den Kopfs wiederholt und genauso oft der Gegenschuss auf die Rentnerin,
deren Haare durch den Lärm wie in einem Windkanal verweht werden. Die
Schockwirkung wird durch die Wiederholung intensiviert und bleibt effektiver
im Gedächtnis des Zuschauers: „Das neuere Horrorkino zählt neben dem
Pornofilm und dem Melodram vom Weepie-Typus zu jenen `niederen` Body-
Genres, denen Linda Williams `Mangel an gebührender ästhetischer Distanz`
attestiert, `ein Gefühl der Über-Involvierung in Sensationen und Emotionen`31
sowie die Tendenz, ihrem Publikum unfreiwillige physische Mimikry des Dar-

30
Robnik, Drehli: Der Körper ist OK: Die Splatter Movies und ihr Nachlaß, in: Felix, Jürgen
(Hrg.): Unter die Haut: Signaturen des Selbst im Kino der Körper, St. Augustin 1998, S.238
31
Williams, Linda: Film Bodies: Gender, Genre, and Excess, in: Film Quaterly 4, 1991, S.4
ff., zitiert in: ebd., S.238
3-16
gebotenen abzuverlangen.”32 Es kann in der Tat für den Betrachter körperlich
anstrengend sein, wie in „Come to Daddy“ das Monster die alte Frau an-
schreit. Das führt einmal daher, dass Cunningham geschickt durch die trost-
lose Atmosphäre im düsteren Betonghetto eine unheilsschwangere Span-
nung aufbaut. Die lässt ahnen, dass gleich etwas Unerwartetes hereinbre-
chen wird. Sozusagen ein kalkuliertes Überraschungsmoment des scheinbar
Unerwarteten: Im Clip schält sich das Monster langsam aus dem Fernseher,
um erst gebückt von hinten und schließlich seine Gestalt offensiv von vorne
zu offenbaren. Der nächste Schreckmoment wird generiert, wenn die Rent-
nerin völlig verängstigt um die Ecke flüchtet, nur um dann plötzlich vor einer
Horde kleiner Monster zu stehen. Der Anblick der Fratzen von Aphex Twin
führt erneut das nächste Schreckmoment.

3.2 Sexualisierte Körper bei “Windowlicker” von Aphex Twin


(1999, 10:32:19 Minuten)
Wie schon „Come to Daddy“ gewann das Nachfolgevideo „Windowlicker“
(1999) des Künstlers Aphex Twin mehrere Preise, darunter den German
Dance Award, den D&AD Award und den Brit Award.
„Windowlicker“ beginnt mit einen typischen, klischierten Anmachsze-
ne: zwei Afroamerikaner, „Homies“, also Männer aus dem Ghetto in Los An-
geles mit Goldketten und der „richtigen“ Hip Hop-Bekleidung, wie auf den
Hüften hängenden Hosen, fahren im schnellen Cabrio vor. Mit diesem Sta-
tussymbol wollen sie beweisen, dass sie den sozialen Aufstieg aus den ärm-
lichen housing projects, den Sozialsiedlungen geschafft haben. Demonstrativ
stellen sie ihr Auto als Luxusgut zur Schau. Sie halten am Straßenrand an
und versuchen zwei zurecht gemachte „Afro-Girls“ zu überreden, in ihr Auto
zu steigen. Doch die „Hoochies“, die Damen haben so gar keine Lust auf
diese zwei zwielichtigen Typen. Sie halten die Jungs für Aufschneider, die
mit dem geliehenen Wagen vorfahren. Plötzlich wird das Cabrio von einer
endlos lang gestreckten, nicht enden wollenden, strahlend weißen Limousine
vorwärts gedrückt. Eine getönte Fensterscheibe wird vor den zwei Frauen

32
Robnik, Drehli (1998), a.a.O., S.238
3-17
heruntergefahren und dahinter kommt das unnatürlich starr grinsende Ge-
sicht von Aphex Twin mit Sonnebrille zum Vorschein. Die Frauen wirken ver-
blüfft. Aphex Twin entsteigt elegant ganz in weiß mit offenem Hemd der Limo
und setzt zum furiosen Stepptanz an. Dabei zitiert Cunningham offensichtlich
die Choreografien in den Videos von Michael Jackson, und darunter beson-
ders „The Way You make Me Feel“ (1987). Dort vollführt Jackson auf einer
verlassenen, dunkel regennassen Strasse einen Stepptanz und lässt das
Wasser in den Pfützen dekorativ mit seinen Schritten und Sprüngen spritzen.
Hier hat Aphex Twin ähnlich aussehende Steppschuhe und tanzt auf dem
Gehsteig, springt auf die Pfützen, windet sich erotisch um einen Laternen-
pfahl. Als Höhepunkt bekommt er einen weißen Schirm zugeworfen, auf ihm
das Logo von Aphex Twin. Hier bezieht sich Cunningham auf die Musicalfil-
me von Gene Kelly und darunter auf in „Singin` in the rain“ (1952) von Stan-
ley Donen und Gene Kelly. Er zitiert die berühmte Sequenz, in der, wie der
Titel schon bedeutet, Kelly klatschnass im strömenden Regen mit dem
Schirm auf der Strasse um die Laternenmasten steppt und in bester Laune
ein fröhliches Lied trällert, siehe Abbildung 5 und das Original mit Gene Kelly
in Abbildung 6. In L.A. scheint die Abendsonne, das hindert aber Aphex Twin
nicht an seinem glanzvollen Auftritt vor den Damen. Die haben sich optisch
schon an ihn angenähert: ihre Gesichter werden schrittweise zu Masken von
Aphex Twin, ihre Frisur ist, im Unterschied zu der ebenfalls vereinheitlichen
Haartracht der Kinder in „Come to Daddy“ unverändert geblieben.
In der nächsten Einstellung sitzen die Frauen mit zwei weiteren in der
Limousine, umgurren Aphex Twin und nähern sich ihm an. Zwei stehen im
Auto und winken aus dem Dach heraus den zwei Homies zu. Diese versu-
chen, ihnen hinterherzufahren und sie doch noch zum mitkommen überre-
den. Die nächste Einstellung spielt an einem traumhaften Strand mit Palmen,
der wie ein künstlichen Bild auf einer Postkarte anmutet. Aphex Twin tanzt
mit einer Truppe Bikinigirls unter den Palmen. Alle haben die Gesichter von
Richard E. James, während sie Formationen nach Art der Musicalfilme mit
den Choreografien von Busby Berkley ausführen. Sie tanzen in Pyramiden-
form, bilden Kreise und spannen die Regenschirme mit den Logos auf, so
dass sie von oben gefilmt Kreise ergeben. Die sich drehenden Schirme ver-
schwimmen, verschwinden und werden zu hochgehaltenen, weißen Pu-
scheln von Cheerleader-Girls. Eine weitere Einstellung aus Musical-Filmen
3-18
Abbildung 5

Abbildung 6

3-19
ist ein Mädchen, dass zwischen den Beinen der hintereinander stehenden
Frauen durchrollt.
Die zwei Homies sind ihnen unterdessen gefolgt, pirschen sich an und
erschrecken fürchterlich, als sich eine der Frauen umdreht und man in das
starr grinsende Gesicht von Aphex Twin blickt. Die Damen tanzen weiter,
oder besser, man sieht vor allem die tanzenden Hinterteile von ihnen und viel
nackte Haut. Aphex Twin öffnet eine Champagnerflasche und bespritzt sie
damit. Dies ist offensichtlich eine sexuelle Anspielung: Der aus der Flasche
spritzende Champagner ist ein Motiv aus Pornofilmen für den cum shot, eine
Nahaufnahme von der männlichen Ejakulation. Im Kontext des Clips dient er
nur zu gut der Betonung der sexistischen Attitüde der Männer.
Der Clip „Come to Daddy“ und auch „Windowlicker“ arbeiten mit den
uniformen Maskierungen von Aphex Twins Gesicht. Während jedoch „Come
to Daddy“ sich einem Alptraum gleich dem deformierten Fernsehmonster
widmet, behandelt „Windowlicker“ das Frauenbild in meist amerikanischen
Hip Hop-Videos: auch hier werden die Frauen reduziert auf Sexobjekte mit
dem so kleinen Unterschied, die stereotypischen Darstellungen der Frauen
durch ihre Fratzen von Aphex Twin auf eine parodistische Ebene zu bringen.
Cunningham wurde für die Darstellung der Frauen angegriffen und man
machte ihm den Vorwurf rassistischer Tendenzen. Er hielt aber dagegen,
dass das die übliche Praxis der R&B-Videos wäre, und schließlich könne er
sich dem nur über die Übertreibung nähern: „It's not racist! It is sexist, but it's
a piss-take of R&B videos which are all sexist. You can't take a piss without
exaggerating."33 An anderer Stelle gibt er als Einfluss für den Clip Comics an,
die schließlich auch nur über die Verwendung von Stereotypen funktionieren
würden: „The influence behind [Windlowlicker] was cartoon, and everything in
cartoons is a stereotype. Anybody who thinks about it on any other level is
just wasting their energy."34
Jedem feministisch gesinnten oder politisch korrekten Zuschauer
müssen sich bei diesen sexistischen, degradierenden Frauenbildern die Na-
ckenhaare aufstellen. Cunningham orientiert sich auch zunächst an gängigen
Hip Hop Videos von Rap Interpreten, die eine übersteigerte Form des klassi-

33
zitiert in: N.N.: Cry, Molko, Cry, NME, Ausgabe 20. März 1999
34
zitiert in: Hector-Jones, Richard: Chris Cunningham, Jockey Slut, Ausgabe 08/09 1999
3-20
schen Chauvis und Machos markieren. Wie täglich auf dem VIVA oder MTV
zu beobachten, scharren die Hip Hopper in der Regel in diesen Clips große
Autos um sich, positionieren leichtbekleidete Frauen in Bikinis mit vorzugs-
weise großen Brüsten vor die Kühlerhaube und lassen sie tanzen und die
Künstler anhimmeln. Die Einstellung in der Limousine ist ein auf die Spitze
getriebenes Bild des Rappers umgeben von seinen willigen Mädels, nur bei
„Windowlicker“ sind die Annäherungsversuche der Willigen einen Schritt
weiter und stehen in gruseligem Kontrast zu ihren Fratzengesichtern, siehe
Abbildung 7. Gerade die Tanzeinstellungen, in der die Beine der Girls, ihre
Brüste oder ihre wackelnden Hintern zu sehen sind, entsprechen den klassi-
schen Bildern von Hip Hop Videos. Und erst das Bespritzen der Mädchen mit
dem Luxusgetränk Champagner. Die Wirkung ist hier umgedreht, denn die
Frauen animieren die Rapper wohl kaum, vielmehr schlagen sie diese mit
dem Anblick ihrer monströsen Köpfe in die Flucht.

Abbildung 7
An „Windowlicker“ lassen sich beispielhaft die so oft vorherrschenden, sexu-
alisierten Repräsentationen von Frauen in Hip Hop- und R&B-Musikvideos
ausmachen. Die Feministin Sheri Kathleen Cole argumentiert, dass Musik-
sender wie MTV ein eindimensionales Rollenmodell der Geschlechterbilder
liefern. Die Zielgruppe der Jugendlichen orientiert sich nun aber genau an
diesen Vorbildern, und tut dies auch in Bezug auf Sexualität. Dies ist aber
problematisch, so Cole, da die filmischen Mittel, derer sich die Videos bedie-
nen, teilweise vom Genre des Pornofilms beeinflußt sind: “More than merely
importing pornographic conventions (poses, camera angles, and so forth),
the commodification of sexuality is central to the creation of most music vide-
os. Sexualized representations of women in videos partially define sex for the
larger culture, viewers, and popular music fans. And the `sex ´ of por-
nography and music video is the objectification of women, the sexually expli-
3-21
cit depiction of women's subordination, and the eroticization of (female) sub-
mission and (male) dominance.”35 Von den Clips werden Konventionen des
pornografischen Films übernommen. Zu sehen ist das an bestimmten Kam-
eraeinstellungen wie die Close-Ups von Brüsten und weiblichen Hinterteilen
bei “Windowlicker” und das Posieren der Bikinigirls vor der Kamera. Durch
diese Aufnahmen wird Sexualität einmal zur Gebrauchsware degradiert, so
Cole. Zum anderen werden in den Clips, eben durch den Verweis auf Por-
nos, Frauen als Objekte dargestellt. Eine sexuell explizite Unterordnung von
Frauen wird vermittelt und gleichzeitig auch die Erotisierung von männlicher
Dominanz und weiblicher Unterwerfung. Wenn nun zum Beispiel in “Window-
licker” die Kamera langsam entlang der Reihe Bikinimädchen fährt, führt sie
damit den Blick des Betrachters über den Körper und gibt ihm eine
Sichtweise vor. Nämlich die, indem sie nur den Auschnitt von wippenden
Hinterteilen, die Brüste oder halbnah den Bereich vom Oberschenkel bis zum
Hals zeigt wie in den Abbildungen 8, 9 und 10. Sheri Kathleen Cole erklärt,
dass durch diese Ausschnitte ein bestimmter Körperteil der Frauen betont
und damit sexualisiert wird. Es sei kein Zufall, dass gerade diejenigen Kör-
perteile wie Brüste und Hinterteile betont würden, auf denen in der Por-
nografie das Hauptaugenmerk liegt, um Sexualität zu konnotieren.36 Die
feministische Filmwissenschaftlerin Annette Kuhn argumentiert, dass durch
diese Art der eingeschränkten Darstellung die Repräsentation des
Frauenkörpers als Akt der Entmenschlichung zu sehen ist. Weil in diesem
Moment ein Körperteil für die Frau als Ganzes steht.37 Kuhn weiter: “To the
extent that pornography circulates such images, it also constructs human
beings as sexual bodies. However, the process of fragmentation is by no
means disinterested as regards gender. Although is not difficult to find exam-
ples of fetishised representations of the male body, it is much more often the
female body and its representation which receives this kind of treatment.”38
Gleichzeitig weist diese Zerstückelung des Körpers in die Geschlechtsmerk-
male erst die Menschen als sexuelle Körper aus. Und bei sexuellen Körpern
liegt zumeist die Betonung auf weibliche Körper. Beim Clip von Aphex Twin

35
Cole, Sheri Kathleen: I am the eye, you are my victim: The Pornographic Ideology of Mu-
sic Video, in: Enculturation, Vol. 2, No. 2, Ausgabe Spring 1999
36
vgl. ebd.
37
vgl. Kuhn, Annette: The Power of the Image: Essays on Representation and Sexuality,
London 1985, S.35
38
ebd., S.36
3-22
posieren letztendlich nur die Frauen vor der Kamera und man sieht nur ihre
halbbekleideten Brüste und Hinterteile in Nahaufnahmen. Die Männer im
Video werden immer ganz in Totalen oder Halbnahen gezeigt, und das
selbstverständlich völlig angezogen.

Abbildung 8

Abbildung 9

Abbildung 10

3-23
Cunningham gelingt es in „Windowlicker“, die sexualisierte Repräsen-
tation der Frauen zu entlarven. Die aufreizende Wirkung der Frauenkörper
hat einen gegenteiligen Effekt. Jegliche, sexuelle Anspielungen werden
durch die Aphex Twin-Gesichter neu programmiert und nicht mit Lust, son-
dern mit Irritation, wenn nicht mit Ekel besetzt. Es bleibt keine Lust, sondern
Lustigkeit, die Cunningham mit Aphex Twin wohl kalkuliert hat. Im Interview
läßt Aphex Twin läßt auf die Frage durchblicken: „How much of the sexiness
of the girls will be retained once Aphex Twin’s face has been morphed on?
The twin calculates his answer with the now-insidious grin: `Zero.`”39 Denn
Lächerlichkeit und Monströsität schließen sich nicht aus, und „das hat einiges
mit der Irritation, der Reizung durch die Monster…zu tun, einer Reizung, die
von woanders kommt als von der Schockwirkung, der Ekelhaftigkeit, der
Referentialität ihres Anblicks.“40 Auf die Eigenschaften des Monströsen bei
den Fratzengesichtern bin ich bereits bei „Come to Daddy“ eingegangen.
Letztendlich arbeiten beide Clips mit dem gleichen Prinzip von Irritation durch
den Kontrast zwischen dem, was man mit Kindern oder Bikinimädchen asso-
ziiert, und zwar brav beziehungsweise sexy. Und auf der anderen Seite mit
dem, wie die Kinder gewalttätig wüten. Oder die Frauen, die sich dem Genre
des Booty Clips entsprechend verhalten, was aber durch ihre Uniformierung
mit den Fratzen von Aphex Twin ein bizarres Bild ergibt.

3.2.1 Weisse Körper


Ein weiterer interessanter Aspekt von „Windowlicker“ ist weiss als dominie-
rende Farbe bei der Bekleidung von Aphex Twin, den weissen Bikinis, der
weissen Limousine und den Regenschirmen. In diesem vordergründigen Hip
Hop-Video hat das strahlende Weiss zunächst einen symbolischen Gehalt
und soll für Luxus, Geld, Macht, Status stehen. Weiss ist die Insignienfarbe
einer mondänen Lebensart. Weiß bekommt auch als vorherrschende Kör-
perfarbe im Film eine neue Bedeutung: Die Kleidung der tanzenden Darstel-
ler und die fahrende Limousine. Besonders die sich im Kreis drehenden Re-

39
zitiert in: Relic, Peter, a.a.O.
40
Robnik, Drehli (1992), a.a.O., S.120
3-24
genschirme und verschwimmenden Puschel eröffnen bei „Windowlicker“
durch ihre Bewegung einen weiteren Aspekt, siehe dazu Abbildungen 11, 12,
13 und 14: Paul Virilio ist der Ansicht, dass die Beschleunigung von Körpern
und schnelle, fast flüchtige Bewegungen dieser die Körper scheinbar zum
Verschwinden bringt. Er nimmt das am Beispiel flatternder, weisser Vögel
und gallopierender, weisser Pferde an. Ebenfalls am flimmernden Lichtspiel,
dass durch weisse und silbern schimmernde Bänder an den Körpern von
Menschen entsteht, wenn diese sich bewegen.41 Er leitet dies von den Ver-
suchen des E.-J. Marey und seiner Erfindung der farbchronophotographie in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts her und überträgt diese Erscheinung
auf seine Beobachtungen der Sehaussetzern von Pyknoleptikern oder bei
Patienten mit photosensibler Epilepsie, deren Krankheit durch das Licht- und
Schattenspiel der Sonne ausgelöst wird.42

Abbildung 11

Abbildung 12

41
vgl. Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986, S.58-59
3-25
Abbildung 13

Abbildung 14

Ein weiteres Detail der Farbe weiss in Bewegung beobachtet Virilio bei
Schauspielern, die von der Beleuchtung als strahlende Lichtkörper für die
Kamera eingefangen werden: „Weiße Kleidung reflektiert, es enwickelt sich
das geheimnisvolle System der Stars: `Per definitionem muß der Star leuch-
ten. Schauspieler beiderlei Geschlechts pudern sich übermäßig Gesicht und
Körper.[...] und die Mode der gebleichten Haare und Lamé-Kleider, der spie-
gelnden Stoffe aus blinkendem Metall soll aus der Schauspielerin selbst ein
Wesen machen, das keine feste Form besitzt und so durchscheinend ist, als
würde das Licht den Körper durchdringen. Das Material des Films ist aller-
dings wirklich durchsichtig und der Star nur ein Absorptionsspektrum, das
dem Blick des Zuschauers dargeboten wird: ein Phantom das man inter-
viewt.“43 Als Transfer findet man diese Art der hellen Kleidung in Gestalt von
Anzügen, Bikinis und klimpernden Goldketten um die Hälse und an den Ar-
men der Tänzer in „Windowlicker“. Deren Körper werden, vermengt mit dem
spritzenden Champagner, leuchten, unscharf und verwischen. Die Körper
verschwinden natürlich nur im übertragenen Sinn und bei Virilio tun sie dies

42
vgl. Virilio, Paul, a.a.O., S.31
3-26
durch ihre Geschwindigkeit. In „Windowlicker“ geschieht dies nur teilweise
durch die schnellen Bewegungen des tanzenden Aphex Twin, vielmehr je-
doch bei den kreisenden Regenschirmen und Puscheln der Mädchen. Auch
Aphex Twin ist der strahlende Star im Musikvideo: nicht nur als wirbelnder
Tänzer mit schimmerndem Regenschirm wie in Abbildungen 13 und 14, vor
allem leuchten seine übermäßig dicke Goldkette um den Hals, seine Desig-
neruhr, wenn ihn die Frauen in der Linousine umringen und später um ihn
tanzen, siehe Abbildung 8.

3.3 Körperoberflächen

„Das Tiefste, was der Mensch besitzt, ist seine Haut.“


Paul Valéry44

Beim Thema Morphing, hier speziell die Verformung von Körpern bei
Madonnas Clip “Frozen”, sollte erwähnt werden, dass in erster Linie das
Sichtbare des gemorphten Gegenstandes, die Körperoberfläche wie die Haut
samt dem Inhalt in etwas anderes transformiert wird. Die Oberfläche ist der
Ausgangspunkt und Angriffsziel und gleichzeitig Spiegel für das, was
darunter liegt. Doch was ist darunter, vielleicht ändert sich beim Morphing nur
die Oberfläche, weil es nichts mehr gibt ausser dem Bild der Oberfläche?
Wenn die glattgeölten Hautoberflächen der Bikinimädchen in “Windowlicker”
betrachtet, ist man versucht, alles auf Oberfläche und deren Schein zu
reduzieren. Vielleicht transformiert sich nur noch das Bild der Oberfläche,
aber nicht das dahinter. Analog zu den glänzenden Mädchen vergleicht Ernie
Tee die ähnlich glatten Models in den Clips von Jean-Baptiste Mondino: “Es
sind Bilder einzig mit einer glänzenden Außenseite, einer Fassade, Bilder,
die völlig abgeschnitten sind von ihrer `realen` Referenz oder von einer da-

43
Virilio, Paul, a.a.O., S.61
44
zitiert in: Stocker, Gerfried: FleshFactor, in: Stocker, Gerfried und Schöpf, Christiane
(Hrg.): Fleshfactor – Informationsmaschine Mensch, Ars Electronica 97, Wien/New York
1997, S.14
3-27
hinter liegenden Bedeutung. Hinter der Fassade befindet sich nichts mehr, es
gibt nichts als Leere … eine Aushöhlung der Bilder bis auf ihre `Haut`.“45
Dieser Fassade möchte Chris Cunningham auf den Grund gehen, in-
dem er beim Morphing von Madonna die Oberflächen verändert. Oder aber
er setzt das äußere Erscheinungsbild neu zusammen und spielt mit gezielten
Kontrasten. Die können alptraumartig irritieren wie die Kinder mit den Köpfen
von Aphex Twin bei „Come to Daddy“ oder Lust in Abstoßung umkehren wie
die Bikinimädchen mit den Fratzen von Aphex Twin in „Windowlicker“. In den
nächsten Abschnitten werde ich noch zur Perfomance „Flex“ kommen, wo
Cunningham die Körper deformiert, bis die Blutstropfen spritzen und noch zu
Leftfields „Africa Shox“, wo ein Mensch buchstäblich zerbricht, indem seine
Haut beim Aufprall aufsplittert. Anscheinend möchte Cunningham gerade
dem Körper zusetzen, indem er sich ihm über seine Oberfläche annähert. Er
arbeitet genau mit dem Schockmoment und dem mulmigen Gefühl, dass die
Vorstellung einer in die Haut stechenden Nadel im Kopf auslöst. Tiefer
möchte er niemals dringen: „I've definitely got a total obsession with anat-
omy, but it's very specific. When people are scared of needles, they're scared
of the pain, which is pretty insignificant. They have a vivid imagination, and
when the needle goes in, they're picturing a macro close-up of it ripping mus-
cle tissue apart and pushing through the body. … I feel a bit faint, thinking
about what's going on inside. I don't even want to know, I want to pretend it
doesn't exist. I'm just interested in the way it looks from the outside."46 Die
Oberfläche ist für Cunningham der Angriffspunkt für Verformungen, Verzer-
rungen und Zerstückelungen. Gerade weil auf ihr das Wesentliche stattfindet,
kann sie einiges über das Bild vom Körper aussagen. Insofern trifft das Zitat
von Valéry am Beginn des Kapitels auf Cunningham zu: das Tiefste, was der
Mensch besitzt, ist seine Haut. Tief ist im Sinne von gehaltvoll oder anschau-
lich zu verstehen.

45
Tee, Ernie, a.a.O., S.96
46
zitiert in: N.N.: Chris Cunningham, in: Flux #14, a.a.O.
3-28
3.3.1 Körpermetamorphosen: Madonnas Morphing in „Frozen“
(1998, 5:20:09 Minuten)

„Der intelligent angwandte Trick erlaubt es heute, das Übernatürliche, das


Imaginäre, ja sogar das Unmögliche sichtbar zu machen.“
George Méliès47

1998 drehte Chris Cunningham seinen ersten Clip mit großem Budget, eine
„richtige“ Mainstreamproduktion für einen Popstar: Madonnas Singleaus-
kopplung „Frozen“ ihres Albums „Ray of Light“, einem melancholischen
downtempo Popsong. Das Video gewann bei den MTV Video Music Awards
und bei den MVPA Awards den Preis für die besten special effects. Über die
genauen Produktionszahlen schweigt sich Cunningham aus, nicht aber über
den enormen Druck und die ermüdenden Unannehmlichkeiten, die mit einer
aufwendigen Produktion verbunden sind: „Every time you shoot anything, it's
a nightmare but this was more of a compromising nightmare. I mean it was
brilliant in one way because she's a great performer but the scale and the
budget of the thing makes everything so restrictive. The irony of any big bud-
get video is the more money you have the less you can actually do because
every step has to be reorganized, discussed, and explained in endless mee-
tings.“48
„Frozen“ zeigt eine weitere Facette des Popstars Madonna, die sich
immer wieder neue Images generiert. Das Video ist düster, dunkel und eine
geheimnisvolle, magische Aura umgibt die Sängerin inmitten der Mojave
Wüste. Es herrscht eine magische, hexenhafte Atmosphäre: die Landschaft
bietet seltsame Lichtspiele, Madonna verwandelt sich in verschiedene Tiere
und und am Ende schwebt sie wie eine Erscheinung über dem Boden. Sie
tanzt verschlungen mit Anleihen an indische Tempeltänze, indem sie ihre
Hände kreiselt. Schließlich erscheint sie als drei Madonnas, die sich im Drei-
eck winden. Damit weckt sie Assoziationen einer indischen Göttin mit mehre-
ren Armen, die wie Blätter im Wind wogen. Gleichzeitig könnte sie ebenso
eine mehrköpfige Medusa sein. Man könnte Madonna ebenso als die drei
Hexen in William Shakespeares Theaterstück Macbeth interpretieren.

47
zitiert in: Virilio, Paul, a.a.O., S.16
48
zitiert in: Hector-Jones, Richard, a.a.O.
3-29
Höchst effektvoll ist ihre Tanzdarbietung: sie wirft sich ein schwarzes
Tuch um, hält es vor sich, läßt es theatralisch um sich kreisen und im Wind
flattern. Dadurch entsteht bei Aufnahmen aus der Totale aus einigen Metern
Entfernung der Eindruck eines dunklen Körpergebildes mitten in der Wüste,
ohne feste Konturen, dass sich ständig in wechselnde Form transformiert.
Sie verwandelt sich dann in verschiedene Gestalten. Zuerst fällt sie beim
Aufprall auf dem Wüstenboden und wandelt sich zu einer Schar Raben, die
davon flattern. Später wird aus der Madonna als Wickelgebilde in fliessen-
dem Übergang ein Hund. Dieser gleicht einem wahren Höllenhund, groß und
schwarz und gallopiert auf die Kamera zu.

Abbildung
15

Die Ästhetik und das Image von Madonna waren Cunningham bei dieser Vi-
deoproduktion besonders wichtig: „The nature of the artist is such that with
Madonna I concentrated on her image, on how she came across. The styling
of the video, the way it all looked.“49 In der Tat scheint sich Madonna in je-
dem Videoclip ein neues Bild ihrer Persönlichkeit zu generieren. Als versucht
sie, durch möglichst viele und unterschiedliche Inszenierungen ihr eigentli-
ches Ich dahinter zu verschleiern, wie sie im Interview bestätigt: „Obwohl
man sagen mag, es seien Kunstfiguren, die ich als Schild vor mir hertrage,
habe doch ich sie mir ausgedacht. Auch wenn man lügt, sagt die Lüge, die
man sich aussucht, viel über einen aus.“50 Florian Gassmann und Andreas
Rauscher weisen in ihrem Beitrag über Madonna darauf hin, dass die
Künstlerin ihre künstlich erschaffenen Images funktionalisiert und sich damit

49
zitiert in: N.N.: Cry, Molko, Cry, a.a.O.
50
zitiert in: Gassmann, Florian und Rauscher, Andreas: The Immaterial Girlie Show: Madon-
na – Strategien der Selbstinszenierung; in: Felix, Jürgen, a.a.O., S.127
3-30
stets neue Selbstbilder erschafft. Diese Inszenierungen dienen, so Rauscher
und Gassmann, nicht mehr dazu, ihre eigentliche Persönlichkeit zu verfrem-
den und zu verschleiern. Die Images sind zum Grundprinzip eines sich stän-
dig wandelbaren und neu formenden Bilds ihrer Persönlichkeit geworden,
das sich stetig aus Versatzstücken der Pop-Kultur beliefert.51
In „Frozen“ hat sich Madonna das Image einer modernen Hexe ge-
wählt, angetan im schwarzen Kleid mit einem rabenschwarzen Haarteil, dem
Amulett am Hals und verschnörkelten Hennatattoos an den Händen wie in
Abbildung 15. Einerseits erscheint sie unnahbar geheimnisvoll, andererseits
muss sie Zauberkräfte zum Verwandeln und Schweben besitzen, was ihr die
Macht verleiht, diese aber genauso auf zerstörerische Weise einsetzen zu
können. In „Frozen“ erscheint die Hexe nicht als finstere, böse Macht, son-
dern als verführerisches Wesen, das je nach Belieben ihre Gestalt zu verän-
dern mag. Barbara Creed geht dazu noch genauer auf das Image von Hexen
ein: „Historically and mythologically, the witch has inspired both awe and
dread. In ancient societies all magical powers, wether used for good or evil
purposes, inspired the deepest dread amongst the members of the commu-
nity. One of the most interesting aspects of the witch in earlier centuries was
her role as a healer. … The earliest known witches were feared not as
agents of the devil – as the Cristian Church later argued – but because they
were thought to possess magical, terrifying powers.”52
Das herausragende Element von Madonnas Wandlungsfähigkeit ist ih-
re Transformation in „Frozen“, die durch die aufwendiges Morphing realisiert
wurde. In den Abbildungen 16 bis 19 ist ihre Verwandlung in einen Hund zu
sehen. Das Bemerkenswerte beim Morphing ist, sei es durch Tricktechnik
oder digitale special effects, dass es eine „elastische Wirklichkeit"53, wie Lev
Manovich sagt, generiert. Morphing ist in dieser Qualität erst durch die Digi-
taltechnik möglich: Mit Hilfe der digitalen Schnittkonsole AVID, dem FLAME,
der Soft- und Hardware für die Generierung der Effekte in der Postproduktion
und SOFTIMAGE, der Software für 3D-Effekte und Animationen.

51
vgl. Gassmann, Florian und Rauscher, Andreas, a.a.O., S.128
52
Creed, Barbara: The Monstrous Feminine: Film, Feminism, Psychoanalysis, New York
1993, S.74
53
Manovich, Lev: Was ist digitaler Film?, in: Telepolis, in:
http://www.telepolis.de/deutsch/special/film/6109/1.html [1.9.2002]
3-31
Abbildung 16

Abbildung 17

Abbildung 18

Abbildung 19

3-32
Zurecht beschreibt Kodwo Eshun das Digitalkino als Ort für das „weich ge-
wordene“ Bild, das die Realität auflöst: “It's the point in which digital cinema
showed its elastic reality. It's the point in which digital cinema is soft image.“54
Das bedeutet für die Körperoberfläche, dass ihre Integrität, die Versehrtheit
der Haut, nicht gleich einer Gewalteinwirkung von Außen angekratzt wird.
Sondern im Gegensatz in einem gleitenden Übergang von innen heraus in
eine andere Erscheinung transformiert und natürlich beliebig wiederholbar
und rückgängig zu machen ist. Vivian Sobchack legt dar: „[Es] gibt nichts
Unvertrauteres und Faszinierenderes als die elastische Formbarkeit dieser
digitalen Metamorphosen. Und es gibt nichts Unheimlicheres als das vom
Morph ausgehende Gefühl, dass der Fluss der Transformation in seiner gan-
zen Perfektion und Beherrschbarkeit des Wandels selbst ungemacht bleibt
und wesentlich bedeutungslos wird - nicht nur weil diese Veränderung endlos
wiederholbar ist, sondern weil sie grundlegend reversibel ist.“55 Der Körper
befindet sich durch das Morphing im Wandel, im stetigen Fluss. Seine bisher
festgelegte Form wird aufgehoben, seine Hülle wird geschmeidig und flexi-
bel. Sicherlich ist seine Hülle, die Haut auch dem Wandel durch äußere Ver-
änderungen und Eingriffe, wie etwa Schnitte, Tattoos unterworfen. Genauso
wie den Veränderungen von innen heraus durch die Alterung, wobei die Haut
durch Furchen, Falten und Runzeln verändert wird. Das spielt sich jedoch in
einer anderen zeitlichen Komponente ab. Beim Morph geschieht die Verän-
derung in Sekunden schmerzfrei und anstrengungslos. Sobchack bemerkt,
dass die Transformation des gemorphten Objekts, Madonna als Rabe oder
als Hund, an sich seine Existenzberechtigung ist.56 Der Akt des sich Wan-
delns zwischen zwei Formen generiert sozusagen ein eigenständiges Objekt,
dass sich nur über seinen Transformationsprozess, sein Stadium des sich im
Übergang Befindens definiert. Werden Anfangs- und das Endobjekt vergli-
chen, hat man es mit Madonna einerseits und dem Hund andererseits mit
Gegensätzen zu tun, die verbunden werden. Das Morphing „führt also primär
nicht nur die Gleichheit über die Verschiedenheit hinweg, sondern auch die
Gleichheit des Verschiedenen vor Augen. Obgleich der Ablauf des Morphs
oft kulturelle Gegensätze in ihren statischen Aspekten (z.B. Geschlecht,

54
Eshun, Kodwo, Interview in: Fantastic Voyages, a.a.O., Transscript, a.a.O.
55
Sobchack, Vivian: Meta-Morphing. Überlegungen zu einem alltäglichen und zugleich un-
heimlichen Phänomen der digitalen Bilder, in: Telepolis, in:
http://www.heise.de/tp/deutsch/special/film/6122/1.html [18.5.2002]
3-33
Rasse, Gattung und Subjekt-Objekt-Gegensätze) darstellt, wird über ihn ver-
sucht, diesen binären Gegensatz in der homogenen, grenzenlosen und mü-
helosen Bewegung der Transformation und implizierten Reversibilität zum
Verschwinden zu bringen. Für das phänomenologische Wissen seiner Mög-
lichkeit ist es unbedeutend, ob man die Umkehrung wirklich sieht oder nicht.
Nicht nur der Unterschied, auch das „Anderssein" wird ausgelöscht.“57
Der Unterschied zwischen den zwei gemorphten Körpern wird durch
die Transformation übergangen. Aber nur unter der Bedingung der Reversi-
bilität, dass alles wieder rückgängig gemacht wird. Es findet eine Hin- und
Rückwärtsbewegung wie bei einem Palindrom statt, damit keine hierarchi-
scher Unterschied zwischen Anfangs- und Endobjekt möglich ist. Madonna,
die sich in eine Schar Krähen verwandelt hat, ist in der nächsten Einstellung
wieder Madonna. Eine Rückverwandlung hat Cunningham ausgelassen. Für
Madonna als Hexe geht es zunächst erstmal ihre Veränderungsmöglichkei-
ten zu zeigen, um ihre Macht zu demonstrieren. Doch das „Anderssein“ zwi-
schen Madonna und dem Hund macht beide durch das Morphing nicht
gleichartig. Obwohl die Gleichwertigkeit zwar unterstellt wird, war der eine
Körper doch zeitlich vor dem anderen da und steht nun doch wieder hierar-
chisch über ihm. Man könnte auch sagen, dass sich der eine Körper dem
anderen anpassen muss und vom ersten und seiner Form ausgeht. Beide,
Madonna und die Krähen, sind gleichartig im Sinne von gleichwertig. Der
französische Philosoph Michel Foucault erklärt den Unterschied zwischen
dem ähnlich Sein und dem gleichartig Sein: „Die Ähnlichkeit hat einen 'Pat-
ron': ein Original, das von sich aus sämtliche Kopien beherrscht und hierar-
chisiert, welche man von ihm herstellen kann und welche sich immer weiter
von ihm entfernen. Ähnlichsein setzt eine erste Referenz voraus, die vor-
schreibt und klassifiziert. Das Gleichartige entfaltet sich in Serien, die weder
Anfang noch Ende haben, die man in dieser oder jener Richtung durchlaufen
kann, die keiner Hierarchie gehorchen, sondern sich von winzigem Unter-
schied zu winzigem Unterschied ausbreiten. Die Ähnlichkeit dient der Reprä-
sentation, welche über sie herrscht; die Gleichartigkeit dient der Wiederho-
lung, welche durch sie hindurch läuft. Die Ähnlichkeit ordnet sich dem Vorbild
unter, das sie vergegenwärtigen und wieder erkennen lassen soll; die

56
vgl. Sobchack, Vivian, a.a.O.
57
vgl. ebd.
3-34
Gleichartigkeit lässt das Simulakrum als unbestimmten und umkehrbaren
Bezug des Gleichartigen zum Gleichartigen zirkulieren.“58

3.4 Verwischen/Auflösen von Körpergrenzen bei „Only You“ von Por-


tishead
(1998, 4:19:28 Minuten)
Für den Track „Only You“ der Trip Hop-Gruppe Portishead kreierte Chris
Cunningham 1998 die dunkle Traumatmosphäre einer schmalen, nächtlichen
Gasse. Der Clip kam Cunningham lange Zeit seinen Vorstellungen vom Film
überhaupt am nächsten: „It's the closest I've come to getting what was in my
head across on film."59 Auch dafür erhielt er Preise, den D&AD Award und
den der Music Week.
Die Szenerie wird beschienen vom Vollmond: Ein Mann beobachtet
von einem von innen angeleuchteten Fenster im obersten Stockwerk eines
Hauses aus die Strasse. Unten steht die Sängerin des Duos Portishead,
Beth Gibbons vor dem Hintergrund der dunklen Häuserwand aus Backstein.
Man sieht in der halbnahe Aufnahme ihren Kopf und Oberkörper. Ihre Kontu-
ren sind unscharf verschwommen. Und als wäre sie unter Wasser, bewegt
sie sich mühsam. Ihr Haar wogt sanft wie Seeannemonen durch Wasser und
die Härchen ihres mintgrünen Wollpullis bewegen sich wie Seegräser auf
dem Meeresboden. Der zweite Darsteller ist ein Junge, der allein in der Gas-
se steht. Auch er bewegt sich langsam und bedächtig, versucht wie ein Tau-
cher auf dem Grund zu waten und macht Purzelbäume in Zeitlupe. Cunning-
hams Idee war, eine Atmosphäre unter Wasser zu generieren: „I saw the vi-
deo as soon as I heard the track. It sounded like it came from underwater,
and one of the samples gave me the distinct impression that I was being
watched."60
Die Akteure wurden komplett in einem Wassertank gefilmt und deren
Bild anschließend mit digitaler Technik über die Einstellung der Strasse ge-

58
Foucault, Michel: Das ist keine Pfeife, München 1997, S.27
59
zitiert in: Wilson, Devin: The Osaka Home For Mentally Disturbed Children, Merge #4,
Ausgabe Spring 1999
60
zitiert in: http://www.director-file.com [12.8.2002]
3-35
legt. Cunningham retuschierte mit akribischer Mühe die Luftblasen aus den
Mündern der beiden. Ihm gelang es, eine surreale Traumwelt zu suggerieren:
Es ist nachts, die Farben im Clip sind kalt und die Stimmung ungemütlich.
Beth Gibbons und der Junge stehen auf der Strasse und schauen abwech-
selnd zu dem unbekannten Beobachter im Haus. Alles wirkt verlangsamt wie
unter Zeitlupe. Oder wie im Traum, in dem man rennen will und unsichtbare
Hindernisse nach sich zieht. Gibbons liefert eine ganz normale Performance
beim Singen, doch durch das Wasser scheint sie sich immer wieder hin- und
herzuwinden. Ihre Augen sind teils geöffnet, teils geschlossen. Sie versucht
möglichst realistisch, ihren gesungenen Text unter Wasser nachzusprechen,
um eine exakte Lippensynchronisation zu erzielen. Während sie statisch an
ihrem Platz bleibt, bewegt sich der Junge weitaus mehr. Er watet umständ-
lich durchs Wasser, rudert mit den Armen zum Finden des Gleichgewichts,
schwenkt ein Taschentuch, versucht sich möglichst ohne Schwimmbewe-
gungen auf verschiedenen Höhen aufzuhalten und schlägt Purzelbäume.
Seinen Bewegungen wird ein surrealer Charakter verliehen, da sie im Takt
mit der langsamen, melancholischen Musik einhergehen. Seine Schritte und
Armbewegungen werden synchron zu den Scratcheffekten im Track „Only
You“ wiederholt vorwärts und rückwärts abgespielt. Ähnlich bei Gibbons, de-
ren Hin- und Herwinden zu den Takten geschieht. Das erweckt einmal mehr
die Impression, dass die beiden Figuren in einem Traum auf eine Art gefan-
gen sind und vom Takt der Musik gelenkt werden. In der Traumebene der
Figuren erscheinen jedoch der Hintergrund und andere Objekte klar und
deutlich erkennbar: zum Beispiel das Taschentuch des Jungen, das sich in
seinen Händen zur Taube verwandelt und auf den Vollmond zufliegt.
Cunningham weist jede mögliche, analytische Deutung seiner Clips
von sich: „The videos that I do are pure manipulation of sound and picture,
and most decisions are made on a reflex action. If I was to sit down on a
psychoanalyst's sofa, I'd probably be as surprised as anyone else.”61
Trotzdem sollte auf die Bedeutung des Wassers nach der Jungschen
Traumdeutung hingewiesen werden. Wasser steht für das Unterbewusstsein
und das Hineintauchen in Wasser für die Bereitschaft, sich mit den dunklen,
unbekannten Seiten seiner Persönlichkeit auseinanderzusetzen. „Oh ja.
Wasser hat auch eine Mutter-Symbolik für Geborgenheit und Leben, auch für

3-36
Sex“,62 bemerkt der italienische Horrorregisseur Dario Argento, ein langjähri-
ger Meister von traumartigen Horrorsettings. Wasser kann dem treibenden
Körper Geborgenheit vermitteln und ein Gefühl von

Abbildung 20

Abbildung 21

Abbildung 22

61
zitiert in: N.N.: Chris Cunningham, in: Flux #14, a.a.O.

3-37
Aufgehobenheit. Ähnlich kann man sich in einem Traum zu hause fühlen,
wenn er ein angenehmer ist. „Only You“ als Traum lässt die dargestellten
Körper verwischen, verklärt ihre Umrisse und legt einen sanften Weichzeich-
ner über die Gesichter von Gibbons und dem Jungen. Nichts an den beiden
ist mehr klar und deutlich zu erkennen, ihre Körperkonturen im Bild ver-
wischt, ihre Körpergrenzen im Wasser nicht mehr klar definiert wie in den
Abbildungen 20 bis 22. Als wären analog bestimmte Regeln des Tages im
Traum nicht mehr klar definiert und durchlässig geworden. Beispielsweise
sind die Gesetze der Gravitation im Traum und im Clip bei den Bewegungen
der beiden nicht mehr gültig, siehe Abbildung 21. Die Kleidung der beiden
verliert ihre feste Kontur, genauso wie wogen und fließen ihre Haare in Zeit-
lupe in alle Richtungen: Auf dem T-Shirt des Jungen entstehen schwerelos
Falten, die die glatte Stoffoberfläche in eine sich dynamisch fließende Form
verwandeln wien in den Abbildungen 21 und 22. Die Traumatmosphäre wird
verstärkt, da nur die Personen, nicht aber ihre Umgebung, die dunkle Strasse
verschwimmen. Sie befinden sich in einer realen Situation, ihre Körper sind
es aber durch ihre verwischten Oberflächen nicht.
Bei den Videos von Cunningham, sei es „Only You“, Madonnas „Fro-
zen“ oder Björks „All is full of love“ sind die special effects in der Postproduk-
tion ein wichtiges stilistisches Element, wenn nicht überhaupt das Entschei-
dendste. Die Effekte erschaffen Bilder von Körpern, die sich umformen wie
Madonna zum Hund, oder wie hier Körper, deren Grenzen verwischen, un-
scharf werden oder verfremdet wie durch einen Weichzeichenfilter der Bild-
bearbeitungssoftware Photoshop. In „Only You“ werden sie aus ihrem ei-
gentlichen Bildhintergrund, dem Wassertank ausgeschnitten und in das Set-
ting der Gasse eingesetzt. Man kann nun wie Dietmar Kamper und Christoph
Wulf argumentieren, dass die Auflösung der Körpergrenzen durch die Digi-
taleffekte der elektronischen Medien vorangetrieben wird, die den Körper auf
der Bildebene verändern und transfigurieren. Indem man den Körper digital
bearbeitet und in dazu in einzelne Pixel auflöst, wird er zur Ware, so Kamper

62
zitiert in: Gaschler, Thomas und Vollmar, Eckhard: Darkstars: Zehn Regisseure im Ge-
spräch, München 1992, S.36
3-38
und Wulf.63 Auch wenn die beiden Körper von Beth Gibbons und dem Jun-
gen wieder in das Bild der Strasse eingesetzt werden, sind sie doch nicht
mehr real und wurden bereits digital simuliert: „Hyperrealitäten entstehen.
Körper als letzte Bezugspunkte der Wahrnehmung und Reflexion lösen sich
in fraktale Bilder auf; das Schicksal der Subjekte folgt diesem Prozess.“64
Trotzdem bleiben die Körper immer noch präsent, wenn sich auch ihre
Grenzen im Bild auflösen. Eine ähnliche Frage stellt sich beim Morphing.
Möglicherweise ist die Auflösung der Körper aus dem einen Bild und die
Wiederzusammensetzung in einem anderen nicht völlig unproblematisch. Mit
dem Akt des Auflösens würde man ihm seine Versehrtheit zu Gunsten von
unendlich reversibler Wandelbarkeit aberkennen: sei es durch Morphing wie
bei Madonna oder durch Verschieben in neue Kontexte wie bei „Only You“.
Hierzu Dietmar Kamper: „Wenn der menschliche Körper in beiderlei Gestalt,
als Körper des Anderen und als eigener Körper mit Erfolg geleugnet wird,
verleugnet und damit entfernt, liquidiert, aufgelöst wird, dann kann man eine
der wichtigsten Voraussetzungen für eine Orientierung in der Welt nicht mehr
in Anspruch nehmen: die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und
Wahn.“65
Genau um Wirklichkeit und Wahn geht es in „Only You“, denn der
Traum ist ein Zustand, in dem der Geist, beziehungsweise der Träumende,
nicht mehr zwischen Realem und Geträumten unterscheiden kann. Dort
träumt er von Szenerien wie im Clip von Portishead, in dem die Akteure in
einem surrealen Setting verwischen. Allerdings gilt dies nur für den Traum
und nur um das Video, in dem man jegliche Orientierung verliert, weil die
Körper sich an ihren Rändern bildlich auflösen und buchstäblich verschwim-
men.

63
vgl. Kamper, Dietmar und Wulf, Christoph: Lektüre einer Narbenschrift, in: Kamper, Diet-
mar und Wulf, Christoph (Hrg.): Transfigurationen des Körpers: Spuren der Gewalt in der
Geschichte, Berlin 1989, S.3
64
ebd., S.4
65
Kamper, Dietmar: Ästhetik der Abwesenheit: die Entfernung der Körper, München 1999,
S.68
3-39
3.5 „Flex“: Körper ohne Gewicht
(2000, 00:49:03 Minuten)
Der Kurzfilm „Flex“ erschien im Jahr 2000, wiederum mit dem Soundtrack
von Richard E. James` Projekt Aphex Twin. Zum ersten mal vorgestellt wur-
de er im September 2000 in der Londoner Galerie von Anthony d'Offay. Be-
kannt wurde Cunningham als kontroverser Künstler in der großen Ausstel-
lung der Royal Academy of Arts zum Thema „Apocalypse: Beauty and Horror
in Contemporary Art“ vom 23. September bis 15. Dezember 2000. Die Origi-
nalversion der Performance „Flex“ ist siebzehn Minuten lang. Leider ist sie
noch nicht auf DVD oder einem anderen Medium erhältlich, daher kann le-
diglich ein Ausschnitt von 49 Sekunden vorgestellt werden. Dieser ist jedoch
prägnant und charakteristisch für die Körperarbeiten von Cunningham.

Abbildung 23
In dem Exzerpt sieht man
eine Frau und einen Mann
nackt ineinander in ver-
schiedenen Positionen ver-
wunden und verwickelt. Es
werden Formen von Ge-
waltanwendung angedeu-
tet. In der Anfangssequenz
schlägt die Frau den Mann mit ihrem Ellenbogen am Kinn, so dass Blut aus
seinem Mund spritzt. Die Szenen wurden, wie bereits bei Portisheads Clip
„Only You“, teilweise in einem Wassertank gedreht, teilweise auf einer
schwarzen Bühne. Jedoch ist kein Hintergrund ersichtlich, nur die finstere
Wasserfläche. Im Unterschied zu „Only You“ verlagert sich das Geschehen
ins Räumliche bis zu den Grenzen des Tanks. Die beiden scheinen sich in
den Weiten des dunklen Raumes zu verlieren, wenn sie sich im Wasser trei-
ben lassen. Charakteristisch ist wie bei „Only You“ das bildhafte Auflösen der
Körpergrenzen der Menschen. Die Körper im Wasser sind nicht mehr den
Gesetzen der Schwerkraft unterworfen und scheinen sich beliebig mit ihren
Bewegungen in unbestimmte Weiten ausdehnen zu können, siehe hierzu
Abbildung 23. Sie werden scheinbar nicht mehr durch Wände oder andere
Einschränkungen begrenzt, es gibt weder Schwerkraft, noch eine eindeutige
3-40
Verortung des Raumes, in dem sie sich aufhalten, noch eine klare Struktur,
wie sichtbare Flächen. Das ist erkennbar, wenn sie auseinandertreiben, weg
voneinander stoßen und in den Tiefen des Tanks zu verschwinden scheinen.
Ebenso, wenn die langen Haare der Frau die in alle Richtungen wogen. Ihre
Körperoberflächen, ihre Haut wirkt durch die Verzerrung im Wasser unklar
verschwommen. Cunningham nimmt den dargestellten Körpern das Gewicht
und lässt sie federleicht im Raum treiben. Er kümmert sich weder um
Schwerkraft noch um physische Konstitutionen der Körper.
Nicht aber die Blutstropfen, aus dem Mund des Mannes. Diese wer-
den in Großaufnahmen gezeigt, wie sie rückwärts tropfen/fließen. Manche
Sequenzen, wie die fallenden Blutstropfen oder das voneinander weg Stoßen
der beiden, sind in Zeitlupe gedreht. Dies bestärkt noch den Zustand oder die
Atmosphäre einer Unbegrenztheit der beiden Figuren bei ihrer räumlichen
Ausdehnung. Doch die beiden geraten immer wieder aneinander, als wollten
immer wieder ihre Beziehung von Nähe und Distanz ausloten. Das führt zu
Spannungen, die sich entladen, wenn sie ihn schlägt. „It's about physical
contact and relationships. … One of my main objectives is to get a physical
reaction; I'm making it as visceral as possible“66, erklärt Chris Cunningham
seinen Kurzfilm. “Flex” handelt von der Beziehung zweier Menschen, die ihre
Konflikte rein über das Körperliche austragen. Dabei ist für den Regisseur die
Darstellung von körperlicher Gewalt auf anschauliche Weise wichtig: den
Körper und seine Säfte oder Eingeweide mit dem Zeigen von spritzendem
Blut. Auffällig ist die Betonung der Körperformen des Paares. Sie wirken
muskulös, was die Verzerrung und Vergößerung durch das Wasser verstärkt.
Immer wieder sind die Körperteile im Bild zu sehen. Cuningham ist von
menschlicher Anatomie fasziniert und war in der Vergangenheit als Bildhauer
und schließlich bei Filmproduktionen als Prothesenbauer tätig.67 Die musku-
lösen Körper der Darstellungen der Renaissance-Zeit beeindrucken ihn nach
eigenen Angaben, und er ließ sich für „Flex“ davon inspirieren.68 Gleichzeitig
hat er eine Affinität zu den Superhelden in Comics mit ihren Überproportio-
nierungen. Ebenfalls verweist er mit der Betonung der Körperformen auch
auf diese klischierten, übertriebenen Darstellungen der Comics. Dies hat er

66
zitiert in: Kent, Sarah: The Beauty of Stylelessness, TimeOut, Ausgabe 09/2000
67
vgl. Roman, Shari, a.a.O.
68
vgl. Gibbons, Fiachra: Shock art with horror for all to enjoy, in: The Guardian vom
20.9.2000
3-41
in anderer Hinsicht schon bei Aphex Twins „Windowlicker“ getan, da ging es
um die Körperstereotype in Hip Hop und R&B-Videoclips.

3.6 Zerstörung/Zerstückelung des Körpers bei Leftfields „Africa Shox“


(1998, 4:29:24 Minuten)
Die Arbeit „Africa Shox“ für das britische Danceprojekt Leftfield mit dem Ge-
sang des afroamerikanischen Funkmusikers Africa Bambaata ist vielleicht
Cunnginhams offensivster Musikclip. Ähnlich bleiben die kleinen Zwillinge
von Aphex Twin, die Kindermonster in gruseliger Erinnerung. Bei „Africa
Shox“ geht Cunningham weiter und greift die Versehrtheit des menschlichen
Körpers durch unmittelbare Zerstörung an. Ursprünglich wurde das Video
bereits 1998 vor „Windowlicker“, der zweiten Zusammenarbeit Cunninghams
mit Aphex Twin produziert. Die britische Independent Television Commission
(ITC) verbannte es aber sofort in England, später durfte es in der Nachtrota-
tion zwischen 23 Uhr und 4 Uhr morgens gezeigt werden.
„Africa Shox“ handelt von einem Afroamerikaner, der gänzlich orientie-
rungslos durch die New Yorker Innenstadt taumelt. Er wirkt hilflos, verloren,
hat nicht mal Schuhe an und blickt sich ständig hilfesuchend um. Er scheint
völlig desolat, verwirrt oder wie in Trance und über seinen Augen liegt ein
grauer Schleier. Es scheint, als wäre er verflucht, als steht er unter einem
Voodoozauber. Er ist ein Zombie, der durch die Rush Hour der Großstadt
wandelt. Der Mann wankt über die Strasse, während um ihn herum das nor-
male Geschäftsleben stattfindet, ohne dass jemand von ihm besonders Notiz
von ihm nimmt. Er versucht, mit einem weißen Geschäftsmann Kontakt auf-
zunehmen, streckt den Arm nach ihm aus. Als ihn ein anderer, weißer Mann
anrempelt, bricht sein Unterarm mühelos ab, fällt auf den Boden und zer-
springt als wäre er aus Glas oder Porzellan. Die zwei Geschäftsmänner
mustern ihn kalt. Der Farbige ist gänzlich geschockt, was ihm gerade wider-
fahren ist und wankt weiter. Unterwegs versucht er, mehrmals Passanten
anzusprechen oder zumindest auf sich aufmerksam zu machen, aber nie-
mand scheint ihn zu bemerken. Völlig verängstigt tapert er an einen Lam-
penpfahl. An dem bricht just sein Fuß ab und zerspringt wie vorher sein Arm
3-42
in tausend Stücke. Er humpelt auf einem Bein weiter in eine Tiefgarage, wo
ein Gruppe Breakdancer tanzt. Einer von ihnen schlägt ihm während einer
rotierenden Figur ein weiters Stück des Beins ab. Der Mann hüpft weiter und
stürzt, auf dem Beton zerbricht beim Aufprall ein Stück seines verbliebenen
Arms. Er fällt direkt vor die Füße von Africa Bambaata. Die Musik hält an,
Bambaata bietet ihm endlich Hilfe an: „Do you need a hand?“ fragt er ihn,
aber der halbwegs zerbrochene Mann liegt nur noch hilflos am Boden und
zuckt. In der nächsten Einstellung hat er es geschafft, aufzustehen und hüpft
weiter, mit einem Bein und ohne beide Arme. Als er eine Strasse überqueren
will, erfasst ihn ein Taxi frontal, er zersplittert beim Zusammenstoß und löst
sich in Staubpartikelchen auf.
Es scheint, dass der Afroamerikaner selber nicht realisiert, wie ihm
geschieht. Er ist ein gläserner Mensch, sein Körper fragil und er zerbricht
buchstäblich wie auch metaphorisch an seiner kalten, grauen Umwelt. Seine
körperliche Integrität und Unversehrtheit zerschellen auf dem harten Beton-
boden wie in Abbildung 24, 25 und 26 zu sehen. Er schreit, steht unter
Schock und ist total verängstigt. Man spürt seine Hilflosigkeit und sein Aus-
geliefertsein in einer Situation, die ihn wehrlos den Veränderungen seines
Körpers gegenüber macht. Dieser ist hohl geworden, kann seiner Umwelt
keinen Widerstand mehr leisten. Der Farbige ist ein Zombie, ein lebender
Untoter, der ausgehöhlt herumirrt, weil er keine Seele mehr hat. Langsam
wird er sich dessen bewusst, doch ändern kann er nichts. Die Konstitution
des Menschen aus Glas macht ihn anfällig und unbeweglich, da jede Berüh-
rung seine poröse Oberfläche angreift. Dies steht im Kontrast zu den Break-
dancern mit ihren flexiblen Schlangenkörpern, die elegant auf dem Boden
schwingen und geschmeidige Verrenkungen vollführen. Abgesehen von ih-
nen und Africa Bambaata erfährt der Glasmensch nur Abweisung von seinen
Mitmenschen. Er ist gänzlich isoliert, die meisten auf der Strasse ignorieren
ihn einfach. Ob der Clip ein Statement gegen Rassismus ist, lässt

3-43
Abbildung 24

Abbildung 25

Abbildung 26

3-44
Cunningham in seinen Interviews dazu offen.69 Offensichtliche Abweisung
erfährt der Farbige in der Szene mit den beiden weißen Geschäftsmännern,
die ihn abschätzend mustern.
„Africa Shox“ ist wegen seines Körperbilds eine der interessantesten
Arbeiten Cunninghams: Einerseits wird der Körper von seiner Umwelt zer-
stört, da er an ihr in Stücke zerbricht. Seine Beschaffenheit ist Glas oder
Porzellan, was ihn fragil macht, siehe Abbildung 25. Andererseits fehlt ihm
buchstäblich das Rückgrat, er ist innerlich ausgehöhlt, ohne dass er der Um-
welt etwas entgegensetzen könnte. Doch war dieser Körper vor seinem jetzi-
gen Stadium unversehrt und wie hat sich das Bild von ihm neu konstituiert?
Dietmar Kamper und Christoph Wulf sind der Ansicht, dass der Körper erst
durch Handlungen, Vorstellungen, Einflüsse von außen und seinen Lebens-
raum konstituiert wird. Seine Form erhält er gerade durch die äußerliche Ge-
walteinwirkung: „Jede Figur des Körpers oder eines Teilkörpers wird von dem
Kontext bestimmt, in dem sie Gestalt gewinnt. Sie wird durch Vorstellungsbil-
der, Symbol- und Zeichensysteme sowie durch menschliche Handlungen
beeinflusst. Bei der Herausbildung der verschiedenen Figuren des Körpers
spielt Gewalt eine zentrale Rolle. Ohne sie gelingt keine Zurichtung; sie be-
wirkt eine Formation bzw. Deformation der Körper.“70 Das bedeutet für den
Zombiekörper in „Africa Shox“, dass er durch den Fluch, der ihn zu einem
fragilen Untoten gemacht hat, neu konstituiert wird. Doch unversehrt war sein
Körper auch vorher nicht. Es gab ihn nicht als „neutralen“ Körper. Jetzt belegt
allerdings seine Zerstückelung, „dass es den Körper als natürliche `Sub-
stanz`, als `Hort der Sinnlichkeit`. Als `Garant für Authentizität` nicht gab und
nicht gibt. Vielmehr sind solche scheinbar `natürlichen` Qualitäten des Kör-
pers ebenso historisch und gesellschaftlich bedingt wie seine Unschuld,
Sündhaftigkeit, ästhetische Bedeutung etc.“71
Noch einmal zum Daseinszustand des Afroamerikaners in „Africa
Shox“: Er ist ein Zombie, von dessen totem Körper nur mehr die äußerliche
Hülle existiert. Als Untoter lastet auf ihm ein Fluch. Barbara Creed beschreibt
den psychologischen Aspekt vom toten Fleisch, wie ihn die französische A-
nalytikerin Julia Kristeva geprägt hat: Die Horrorfigur des Zombies ist das

69
vgl. Kent, Sarah, a.a.O.
70
Kamper, Dietmar und Wulf, Christoph (1989), a.a.O., S.2
71
ebd., S.2-3
3-45
sogenannte „Abjekt“72. Es ist das, was aus dem Gesichtsfeld ausgeschlos-
sen werden muss. Der Zombie befindet sich jenseits einer imaginären Gren-
ze als äußerstes, degradierendstes Element. Hinter dieser Grenze des Un-
aussprechlichen gibt es keinen Sinn, keine Bedeutung mehr. Dieses Abjekt
ist lebensbedrohlich für das Subjekt und muss aus seinem Gesichtsfeld, aus
seinem Bereich ausgeschlossen und verdammt werden. Selbst wenn die
Gefahr vom Abjekt gebannt scheint, bleibt es immer präsent, denn es steht
immer in Beziehung zu einem selbst und zum Körper.73 Das heißt, dass ge-
rade durch diese Beziehung die Grenze zwischen dem selbst und dem Ande-
ren, dem Abjekt aufgeweicht wird. Die Abjektion macht auch auf das Unaus-
sprechliche hinter der Grenze aufmerksam, auf das Tabu. Das ultimative
Abjekt ist der Untote, der Zombie. Barbara Creed erklärt, dass bereits im bib-
lischen Kontext die Leiche das äußerste Abjekt ist. Der Körper ohne Seele ist
entweiht, er steht für den Verfall und für das Gegenteil eines Spirituellen.
Creed bemerkt, dass gerade in Horrorfilmen die berüchtigsten Figuren ent-
weder „Körper ohne Seelen“ wie Vampire, lebende Leichen wie Zombies,
Leichenfresser wie der Ghul oder auch Roboter und der Androiden sind.74
Unter diese Kategorie fällt der gläserne Zombie in „Africa Shox“. An Horror-
filmen, so Creed, kann man Merkmale der Abjektion veranschaulichen. Ein-
mal deren Verbildlichung und außerdem das Konzept seiner Grenzen, bezie-
hungsweise der Grenzüberschreitung: „First, the horror film abounds in im-
ages of abjection, foremost of which is the corpse, whole and mutilated, fol-
lowed by an array of bodily wastes such as blood, vomit, saliva, sweat, tears
and putrefying flesh. In terms of Kristeva`s notion of the border, when we say
such-and-such a horror film `made me sick` or `scared the shit out of me`, we
are actually foregrounding that specific horror film as a `work of abjection` or
`abjection at work` - almost in a literal sense. Viewing the horror film signifies
a desire not only for perverse pleasure (confronting sickening, horrific im-
ages/being filled with terror/desire for the undifferentiated) but also a desire,
once having been filled with perversity, taken pleasure in perversity, to throw
up, throw out, eject the abject.”75

72
Kristeva, Julia: Powers of Horror: An Essay on Abjection, New York 1982, S.2, zitiert in:
Creed, Barbara: The Monstrous Feminine: Film, Feminism, Psychoanalysis. New York 1993,
S.10
73
vgl. Kristeva, Julia, zitiert in: Creed, Barbara, a.a.O., S.10
74
vgl. Creed, Barbara, ebd.
75
ebd.
3-46
Der Körper im Horrorfilm tritt als Abjekt in verschiedenen Formen auf:
als Leiche in versehrtem oder verstümmeltem Zustand. Weiterhin durch die
Körperausscheidungen wie Blut, Erbrochenem und Schleim. Wenn ich mich
beim Anblick dieser Bilder ekle, weise ich mit meiner Redewendung wie “das
macht mich krank” oder “da wird mir schlecht von” buchstäblich auf den Vor-
gang der Abjektion hin. Indem man sich mit dem Anblick der Horrorbilder ab-
sichtlich konfrontiert, nimmt man sie auf und muss sie wiederum von sich
wegzustoßen, ausscheiden, erbrechen, nach Creed. Der Anblick des Zom-
bies in “Africa Shox”, der tot durch die Strassen taumelt, ist unheimlich und
abstoßend, gleichzeitig erweckt er Mitleid. Sein Körper ist tot, aber der
Großstadt wehrlos ausgeliefert. Durch seine Körperkonstitution passt er
genau in das Konzept der Grenzüberschreitung in Horrorfilmen, wie Barbara
Creed herausarbeitet. Denn er ist das Abjekt, indem er Grenzen überschre-
itet: Der Untote oder das Monster bedroht die bis dahin feste, symbolische
Ordnung, das soziale Gefüge. Die Grenzen können zwischen gut und böse,
menschlich und unmenschlich verlaufen, zwischen Mensch und Tier oder
auch zwischen normal und übersinnlich. Das Monströse sitzt an der Grenze
von “normalem” Verhalten und der Abweichung davon.76 Seine Andersartig-
keit, sein zerbrechlicher Körper gehen nun an der Kälte der weißen Ang-
estellten zugrunde, die sich von ihm abgestoßen fühlen. Durch seine
Hilflosigkeit und seine verzweifelten Versuche, Kontakt aufzunehmen, wird
seine Abweisung noch mehr betont. Im Gegensatz zum festen Körpergefüge
der Angestellten hat sein fragiler Körper seine Integrität, seinen Zusammen-
halt verloren. Creed erklärt: “Most horror films also construct a border be-
tween what Kisteva refers to as `the clean and proper body` and the abject
body, or the body which has lost its form and integrity.”77
Ich möchte noch auf einen weiteren psychologischen Aspekt des
versehrten Körpers eingehen: auf den zerbrochenen Körper, hier auf die zer-
stückelten Körperteile des Zombies in Cunninghams Clip. Der französische
Analytiker Jaques Lacan hat den Begriff des “zerstückelten Körpers” im Zuge
seiner Theorie des “Spiegelstadiums”78 eingeführt. Dieses Stadium benennt
die Phase des Kleinkindes zwischen dem sechsten und achtzehnten Monat.

76
vgl. Creed, Barbara, a.a.O., S.10
77
ebd., S.10-11
78
Lacan, Jaques: Das Spiegelstadium als Bildner des Ichfunktion, in: Lacan, Jaques:
Schriften I, Frankfurt/Main 1975, S.67
3-47

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