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MAI
60. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus
INHALT
IMPRESSUM
HERAUSGEBERIN EIGENTUMSVORBEHALT
Antifaschistische Linke Berlin :: [ALB] :: Nach dem Eigentumsvorbehalt ist diese Broschüre
solange Eigentum des Absenders, bis sie der/dem
[T] 030/27 56 07 56
Gefangenen persönlich ausgehändigt ist. »Zur-
[F] 030/27 56 07 55 Habenahme« ist keine persönliche Aushändigung
[E] 8.mai@antifaschistische-aktion.com im Sinne dieses Vorbehalts. Wird die Broschüre
[ I ] www.antifa.de|www.8-mai.antifaschistische-aktion.com der/dem Gefangenen nicht persönlich ausgehän-
Resonanz, Fragen, Kritik und kostenlose Bestellungen bitte an:
digt, ist sie dem Absender mit dem Grund der
8.mai@antifaschistische-aktion.com
Nichtaushändigung zurückzusenden. Wird die
Broschüre der/dem Gefangenen nur teilweise per-
sönlich ausgehändigt, so sind die nicht ausgehän-
digten Teile, und nur sie, dem Absender mit dem
V.i.S.d.P.: Franz Fanon, Karl-Marx-Allee 77, 10345 Berlin Grund der Nichtaushändigung zurückzusenden.
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EINLEITUNG
EINLEITUNG
Mit dieser Textsammlung wollen wir uns dagegen wenden, dass endgültig eine offizieller
»Schlussstrich« unter die Geschichte des Nationalsozialismus gezogen wird. Wir gehen
davon aus, dass es seit der Wiedervereinigung 1989/90 einen verstärkt aktivierten
Prozess in diesem Land gibt, der sich unter dem Schlagwort »Normalisierungspolitik«
zusammenfassen lässt. Gemeint ist die Schaffung eines neuen Nationalbewusstseins, das
Deutschland als selbstbewusste, von der Schuld der eigenen Geschichte befreiten Nation
präsentieren kann. Es geht darum, zum gleichberechtigten Akteur im globalen Konkur-
renzgeschehen des Neoliberalismus aufsteigen zu können.
Dieser Prozess läuft auf mehreren Ebenen gleichzeitig ab: neben der Geschichtsschreibung
selbst lassen sich in der Kultur-, Musik- und Kunstproduktion schleichende Umwandlungs-
prozesse aufzeigen, die zusammengenommen einen Blick auf die Geschichte entwerfen,
der Konsequenzen und heutige Handlungsmöglichkeiten ausschließt. Verschiedene Facet-
ten dieser Tendenz werden in den einzelnen Artikeln beleuchtet.
In Zeiten eines immer rigider werdenden Asylrechts, einer wachsenden neofaschistischen
Bewegung und einer sich militarisierenden Außenpolitik sagen wir, dass der Kampf um die
Geschichte notwendiger Bestandteil des Kampfes um ein besseres Leben sein muss –
Geschichte wird gemacht, auch von uns, hier und jetzt!
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GESCHICHTE WIRD GEMACHT
Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.
Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört
Kanzler Gerhard Schröder hat auf seinem sich des neu entflammenden Antisemitismus
Schreibtisch das Photo seines Vaters in zu erwehren. Der Wahlerfolg der NPD in
Wehmachtsuniform aufgestellt und scheint Sachsen scheint einem weiteren ›Aufstand
mit dieser Zurschaustellung familiärer Ver- der Anständigen‹ Aufschwung zu verlei-
gebung zufrieden. Er kommentiert das in hen und man sorgt sich um die Entstehung
der Mitte Berlins entstehende Holocaust- peinlicher Bilder einer Nazidemonstrati-
Mahnmal mit dem Satz, es entstehe »ein on durchs Brandenburger Tor am 8. Mai.
Ort, zu dem Deutsche gerne gehen sollten«.
Die Kunstsammlung Friedrich Christian Geschichte, Schuld und Verantwortung
Flicks, einer der größten lebenden Nazier- Sichtbar wird, dass die Deutung dessen, was
ben, wird von ihm feierlich im eigens um- wir Geschichte nennen, schon immer eng
gebauten Hamburger Bahnhof präsentiert – verknüpft war mit politischem Herrschafts-
als Akt der Versöhnung der Deutschen mit anspruch. Und dass das, was wir offizielle
sich selbst. Die Bombardierung Dresdens Geschichtsschreibung nennen, in Wirklich-
steht hoch im Kurs der offiziellen Kultur keit ein umkämpftes Terrain ist, in dem Din-
des Erinnerns, während die letzten noch ge verloren gehen, umgedeutet werden, sich
lebenden ZwangsarbeiterInnen weiter- angeeignet werden. Übrig bleibt die Deu-
hin vergeblich auf Entschädigung warten. tung aus Sicht der Sieger, der Mächtigen,
Zugleich reist ein anderer Repräsentant der Herrschenden. Genau einen solchen Sie-
der ›Berliner Republik‹ am 60. Jahrestag geszug feiert das neue Deutschland gerade:
der Befreiung von Auschwitz an den Ort Spätestens seit 1989/90 ist eine Tendenz
der systematischen Ermordung der jüdi- zu beobachten, die mittlerweile als »Nor-
schen Bevölkerung Europas und zeigt Be- malisierungspolitik« mit einem eigenen
troffenheit – es ist Horst Köhler, Präsident Begriff belegt wird. Gemeint ist die Schaf-
der Nation. Und in täglich erscheinenden fung eines neuen Nationalbewusstseins,
neuen Reden lesen wir öffentliche Bekennt- das Deutschland als selbstbewusste, von der
nisse zum Antifaschismus und Mahnungen, Schuld der eigenen Geschichte befreiten
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GESCHICHTE WIRD GEMACHT
Nation präsentieren kann. Es geht darum, de aufgrund der Barbarei des Faschismus,
gleichberechtigter Akteur im globalen Kon- so das Argument, trage Deutschland eine
kurrenzgeschehen des Neoliberalismus zu besondere Verantwortung in der Durch-
werden. Es geht darum, zu den Mächtigsten setzung »humanitärer Politik«. Nicht trotz,
der Welt zu gehören. Darum, seine nationa- sondern wegen Auschwitz hieß die Parole,
len Interessen geltend machen zu können – mit der Deutschland 1999 das dritte Mal
ein altes Lied mit immer neuer Melodie. im 20. Jahrhundert Soldaten auf den Balkan
Und in diesem Zusammenhang ist das Zie- schickte, um im Jugoslawienkrieg mitzumi-
hen eines endgültigen »Schlussstrichs« unter schen. Und nicht zufällig passt sich dieser
die Vergangenheit für die Herrschaftspro- Tenor in die neu formulierten Werte eines
jekte des neuen Deutschland vonnöten, »zivilisierten« Europa ein, das momentan
damit der Vorwurf der Kontinuität und dabei ist, sich im Kanon der westlichen
Durchsetzung deutscher Interessen etwa mit Welt zum authentischen Repräsentanten des
militärischen Mitteln im Keim erstickt wer- wahren Humanismus zu profilieren. Und
den kann. Dieses ideologische Bestreben dies heißt eben nicht, sich einer antimili-
gibt es schon lange, doch bewegte es sich taristischen Haltung verpflichtet zu fühlen,
bislang auf Bahnen, die sich um die Frage sondern über den Bezug auf die Geschichte
der Schuld bildeten – nachzuzeichnen an wieder zum militärischen Akteur zu wer-
der unsäglichen These der Verführung der den. Nicht Verantwortung für die Vergan-
deutschen Gesellschaft durch Hitler, des Ab- genheit wird hier übernommen, sondern
ladens der Verantwortung auf hohe Funk- zukünftiger Führungsanspruch angemeldet.
tionäre des Nationalsozialismus, die sich Wir erleben also eine erneute Version der
wiederum mit einem vermeintlichen »Be- Integration der Geschichte in die Logik
fehlsnotstand« herausgeredet haben. Ging von Profit, Ausbeutung und Krieg. Möglich
das Bekenntnis zur Schuld schon mühsam wird dies gerade über die persönliche Ge-
über die Lippen, scheute man sich, jemals schichte der Ex-68er, die heute die Regie-
politische Verantwortung für die Gräuel rung bilden. Der von ihnen vorgetragene
des Nationalsozialismus zu übernehmen. Wille, der Geschichte ihren Platz einzu-
räumen, bekommt dadurch Glaubwürdig-
Die jeweiligen Herrschenden sind aber keit, dass sie die Auseinandersetzung mit
die Erben aller, die je gesiegt haben dem Nationalsozialismus zur Grundlage
Dies hat sich mit der rotgrünen Regierung der eigenen politischen Haltung stilisieren.
geändert, jedoch keineswegs zum Guten: Wie aber sieht diese Integration genau aus?
Das Bekenntnis der Schuld wird in die durch In der ›Berliner Republik‹ werden dem Er-
die Geschichte vorgegebene Pflicht, Verant- innern feste Orte zugewiesen – die Topo-
wortung zu übernehmen, umgepolt. Gera- graphie des Terrors etwa oder das baldig
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GESCHICHTE WIRD GEMACHT
eingeweihte Holocaustmahnmal gehören chen. So entsteht das Bild eines unter dem
nun in die stadtpolitische Landschaft der Joch der Nazis geknechteten Deutschlands,
Hauptstadt. An sich sind Gedenkorte ein das wenn nicht voll Widerstandskämpfer,
wichtiger Bestandteil im Kampf gegen das so zumindest reich an inneren Emigran-
Totschweigen und Vergessen; gegen all die ten war, die nach der Befreiung das harte
Ausblendungen, welche die Geschichte des Los der Nachkriegszeit zu erleiden hatten.
Nationalsozialismus in Deutschland beglei- Sozusagen ein doppeltes Leid, hinter dem
ten. Doch der offizielle Umgang mit diesen die Geschichte der 6 Millionen ermordeten
Orten ist ein funktionalisierender: Die Erin- Juden, der 22 Millionen Toten der Sowjetu-
nerung und das Gedenken werden in feste nion und des zerstörten Europa verblassen.
Ritualakte gegossen – an bestimmten Tagen, Nun, wo die TäterInnengeneration endgül-
an bestimmten Orten, vor bestimmtem Publi- tig am Aussterben ist und ihr anhaltendes
kum. Die Zuweisung historisch nicht zurecht- Schweigen zu den eigenen Taten zur fes-
biegbarer Ereignisse an einen eigens dafür ten Lücke im gesellschaftlichen Bewusst-
vorgesehenen Ort geht mit einer Auskop- sein wird, verlagert sich die Erinnerung in
pelung der Erinnerung aus dem politischen die staatliche Keimzelle der Familie. Dort
Alltagsgeschäft einher. Die Frage nach den erfindet sich die nationale Kollektivität in
Ursachen für den Nationalsozialismus wer- der Schaffung eines versöhnlerischen My-
den zwar gestellt, aber in entpolitisierte thos neu: letztlich waren »wir« doch alle
Formen gepresst und mutieren zu Appellen Opfer der Nazis, verführt, verloren und
gegen »Gewalt und Extremismus«. Konse- betrogen. Dresden und Auschwitz werden
quenzen aus diesen Fragen lassen sich nicht in einem Atemzug genannt – es gibt nur
finden und werden mit Sorgfalt vermieden. noch Opfer und neben Hitler kaum Täter.
Die noch vor 10 Jahren hitzig geführte De-
Die wahren Opfer sind »Wir«? batte um kollektive Schuld, die die Wehr-
Neben der offiziellen Rethorik sind schon machtsausstellung auslöste, scheint beer-
länger, eher am Rande der Aufmerksam- digt unter der Inszenierung einer bewusst
keit, gesellschaftliche Umdeutungsstrategi- diffus gehaltenen Gedenkpolitik, die auf
en aktiv: vom Zweiten Weltkrieg bleibt die fruchtbaren Nährboden in der Gesellschaft
Erinnerung an die Bombardierung Dres- stößt. Direkter Ausdruck dieser Tendenz
dens, deren Bevölkerung plötzlich synonym sind kulturelle Produkte wie der Film »Der
für das Leiden der Deutschen an der Ge- Untergang«, Romane wie »Der Brand«
schichte steht. In jeder Familie finden sich und Ausstellungen wie die Flick-Collection
Nicht-Mitmacher im Nationalsozialismus, in Berlin. Sie alle verbindet eine Geste der
bzw. die Irgendwie-doch-Mitmacher tru- Versöhnung mit sich selbst. Der Faschismus
gen selbstredend keine Schuld an Verbre- wird zur Folie, auf dem sich individuel-
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8. Mai: Ein Tag an dem allen gedankt werden sollte, die die Befreiung vom deut-
schen Faschismus mit durchgesetzt haben.
les und tragisches Schicksal nachzeichnen zu müssen. Und nicht zufällig stößt der Film
lässt; eine dramatische und schaurig-schö- »Grauzone«, der an den Verbrennungsö-
ne Kulisse menschlichen Leids. Nur schein- fen von Auschwitz spielt und das Grauen
bar fällt der neue Film über Sophie Scholl der Mordmaschinerie zeigt, auf eine Wand
aus jener Tendenz heraus. Bei genauerem des Schweigens und der kulturellen Miss-
Hinsehen entdeckt man lediglich eine wei- achtung – zu unbequem, zu schrecklich,
tere Facette dieses Zusammenhangs: der zu unversöhnlerisch macht sich der Blick in
Beweis wird angetreten, dass es auch in die Geschichte auf. Wenn Integration nicht
Deutschland Widerstand gab; jung, schön funktioniert, arbeitet die Verdrängung...
und mutig wird dem Bösen getrotzt. Man
kann sich reibungslos mit der historischen Welcome to Reality
Figur identifizieren, ohne Fragen nach der Vollkommen widersprüchlich wird die of-
Konsequenz für das Hier und Jetzt stellen fizielle Geschichtsrethorik, wenn man sie
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mit den realen politischen Verhältnissen ab- Wurzeln vom Faschismus. Dann fällt es nicht
gleicht, die hier herrschen: wir stoßen auf schwer, zu erinnern und zugleich Menschen
eine immer rigidere Abschottungspolitik in den Tod abzuschieben; dann gedenkt man
gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchen- vor laufenden Kameras und beteiligt sich an
den; wir stoßen auf den aktiven Ausbau der der globalen Kriegsmaschinerie, dann zeigt
Festung Europa mit vom deutschen Innen- man Betroffenheit und wartet, bis die letz-
minister vorgeschlagenen »Auffanglagern« ten ZwangsarbeiterInnen gestorben sind.
für Flüchtlinge entlang der Außengrenzen; Die sich durch die Geschichte der BRD
auf eine zunehmende Militarisierung der durchziehende Nicht-Bereitschaft, eine noch
Außenpolitik. Wir finden im Inneren einen so kleine Entschädigung für die Sklavenar-
sich stetig ausbauenden Sicherheits- und beit im dritten Reich zu zahlen, spricht eine
Überwachungsstaat; wir finden einen ras- deutliche Sprache: 13,5 Millionen Menschen
sistischen Grundkonsens in allen Teilen der wurden zwischen 1939 und 1945 nach
Gesellschaft und die wachsende Bereit- Deutschland verschleppt und zur Arbeit ge-
schaft, neofaschistische Parteien zu wählen. zwungen. Allein die in dieser Zeit vorenthal-
Wir sind konfrontiert mit Mechanismen tenen Lohngelder werden auf umgerechnet
der Ausgrenzung, die eine permanente über 90 Milliarden Euro geschätzt. Bis heute
Ungleichheit schaffen – eine Ungleichheit warten die letzten Überlebenden auf Entschä-
mit verschiedensten Abgrenzungslinien: digung, die an sich nur einen symbolischen
zwischen deutsch und nicht-deutsch, zwi- Charakter aufweist – pro Person stehen 370
schen weiß und nicht-weiß, zwischen arm Euro zur Debatte. Dies ist keine Ignoranz,
und reich. Diese Linien ziehen sich durch dies ist eine weitere Verhöhnung der Opfer
Klasse, Hautfarbe und Geschlecht, sie sind des Nationalsozialismus und trauriger Aus-
Bestandteil der kapitalistischen Logik von druck davon, wie wenig ernst die Inszenie-
Gesellschaftsorganisation. Und wenn dieser rung des Gedenkens wirklich gemeint ist.
Zusammenhang nicht mit thematisiert wird, Uns jedoch geht es um die Einlösung des
wenn es um die Geschichte des Nationalsozi- Schwurs von Buchenwald: »Die Vernichtung
alismus geht, dann schließt jedes persönlich des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere
empfundene Entsetzen die Augen vor den Losung«.
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GESCHICHTE WIRD GEMACHT
Geschichte wird gemacht, es geht voran... zwischen Tätern und Opfern klar zu ziehen.
Der 8. Mai steht für die militärische Zerschla- Dazu gehört, den Zusammenhang zwischen
gung und die bedingungslose Kapitulation Kapitalismus und dem Faschismus als einer
Nazi-Deutschlands. Er steht für die Befrei- Herrschaftsoption zu erkennen. Dazu gehört,
ung der Konzentrationslager, der Zwangs- gegen Antisemitismus, Rassismus, Nationa-
arbeiterInnen, für die Beendigung des Krie- lismus und Krieg Widerstand zu leisten, und
ges, der 50 Millionen Leben gekostet hatte. zwar auf allen Ebenen – mit allen Mitteln.
Er steht für das Ende der Barbarei des Nati- Antifaschistische Linke Berlin
onalsozialismus, für das Ende der Shoa. Es
ist ein Tag, an dem all denjenigen gedankt
werden sollte, die diese Befreiung durchge-
setzt haben und all derer gedacht, die Opfer
des deutschen Vernichtungswahns wurden.
Wir wenden uns gegen eine Instrumenta-
lisierung des Erinnerns und Gedenkens,
gegen eine Einverleibung in die menschen-
verachtende Politik neoliberaler Staatslogik.
In unseren Augen ist Geschichte nicht ab-
schließbar, sie ist und bleibt lebendig und
prägender Faktor gesellschaftlichen Zusam-
menlebens. Sie darf weder relativiert, noch
in feste Ritualakte zementiert werden, son-
dern muss als offenes Verhältnis in jedem
gesellschaftlichen Feld präsent sein. Dazu
gehört die bedingungslose Anerkennung von
Schuld und die Übernahme der politischen
Verantwortung. Dazu gehört die sofortige
Entschädigung der Opfer des Nationalsozi-
alismus. Dazu gehört, den Trennungsstrich
Dresden am 13. Februar 2005. Auf gro-
ßen Plakatschildern der Stadtverwal-
tung stehen die Namen verschiedener
bombardierter Städte.
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Dresden am 13. Februar 2005. Die Stadt zeigt Flagge. Auf großen Plakatschildern
der Stadtverwaltung stehen die Namen der Städte: Bagdad, Coventry, Grosny,
Guernica, Hamburg Hiroshima, Leningrad, Monrovia, New York, Sarajevo und
Warschau... und dann, hervorstechend aus der Reihe, in weißer Schrift: Dresden
1945. Was haben diese Städtenamen gemeinsam? Es gab Kriege und Terror, es gab
Zerstörung und Tote. So viel will uns das Plakat sagen. Von den Nazis völlig zerstör-
te Städte wie Guernica, Leningrad und Warschau werden als Symbol gleichgesetzt
mit Dresden und Hamburg, die von den Alliierten zur Beendigung des Faschismus
bombardiert wurden.
Es läuten alle Glocken an dem Tag - ein Gedenken an die Toten Dresdens als Insze-
nierung mit Live-Übertragung. Diese Inszenierung ist Ausdruck des Kampfes um die
Geschichte: wenn es gelingt die deutsche Bevölkerung als die Opfer des Krieges zu
installieren, tritt die Schuldfrage in den Hintergrund. In Dresden läuten die Glocken
nicht am Jahrestag des Überfalls der Nazis auf Polen, nicht anlässlich der Räu-
mung des Warschauer Ghettos und der Liquidierung seiner jüdischen Bevölkerung,
nicht zu Ehren der Befreiung von Auschwitz und Buchenwald. Sie läuten nicht aus
Achtung vor den Opfern des Nationalsozialismus. Im Gegenteil, sie läuten für das
Ansehen Deutschlands, für die Beendigung des Stellens der Schuldfrage. Dass hier
die Neonazis einen geeigneten Anknüpfungspunkt für ihre Geschichtsschreibung se-
hen, ist nicht durch betroffene Naivität und Tragen der weißen Rose zu verhindern,
sondern durch das Beharren auf der Tatsache, dass Dresden nicht Warschau ist.
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auch in jeder deutschen Wohnstube. Die da noch die harmlosere Variante der Igno-
deutschen RentnerInnen konnten sich mit- ranz. Ein »Schlussstrich« sollte her, nicht nur
ten im Krieg über satte Rentenerhöhungen für die deutsche Wirtschaft. Denn den nie
freuen. Und Steuererhöhungen für die deut- zurückgezahlten Profiten, die eine ganze
schen Arbeiterschaft konnte die NS-Führung Gesellschaft aus der Zwangsarbeit schlug,
getrost bis zum Kriegsende zurückweisen, entsprachen die stillschweigend integrierten
solange andere die Rechnung zahlten. reaktionären, xenophoben und antikommu-
nistischen Kontinuitäten, die aus dem »Dritten
Erzwungenes Unrecht – deutsche Reich« in die deutschen Normalzustände der
Normalzustände Nachkriegszeit mündeten. Die Weigerung
Wer also die Frage stellt, ob die geleisteten einer Gesellschaft, sich an die verbrecheri-
Zahlungen tatsächlich eine angemessene sche Normalität des Nationalsozialismus zu
Entschädigung darstellen, muss schnell fest- erinnern, zu dem auch der »Ausländerein-
stellen, dass sie kaum mehr als ein Tropfen satzes« gehört, war eine Voraussetzung für
auf den heißen Stein sind. Selbst dieser war die umstandslose Reproduktion des gesell-
nur unter massivem Druck auf die Umsatz- schaftlich verankerten Rassismus in der BRD.
und Profitinteressen der auf Export orien- Aus dem selben Grund ist 60 Jahre nach
tierten Konzerne möglich, die Kampagnen Kriegsende immer noch keine angemesse-
und Imageverluste fürchteten. Sie gründeten ne Entschädigung für die millionenfache
den Stiftungsfonds, finanzierten ihn an und Zwangsarbeit geleistet worden. Das insze-
erzwangen gemeinsam mit der rot-grünen nierte Gedenken an die nationalsozialis-
Regierung einen vorläufigen »Rechtsfrie- tischen Verbrechen bleibt aber eine leere
den« gegen etwaige individuell vorge- Geste, solange die Qualität der verübten
brachte Ansprüche ehemaliger Zwangsar- Verbrechen ignoriert wird, solange die Ver-
beiter. Mit Atem beraubendem Zynismus antwortlichen nicht in ihrer Gänze benannt
wurden die Zahlungen wochen-, monate- und und nach Möglichkeit zur Verantwortung ge-
jahrelang hinausgezögert, während die An- zogen werden, und solange das Leiden der
spruchsberechtigten täglich weniger wurden. Überlebenden und ihr Anspruch auf Entschä-
Mit Ausdauer wurde in den Verhandlungen digung nicht angemessen gewürdigt wird.
jede Zusage mit einer wüsten Erpressung an Antifaschistische Linke Berlin
die Opfer, ihre Verbände und Anwälte ver-
bunden. Das alles geschah in einer Gesell-
Lesetip:
schaft, die jenseits der Feuilletonspalten ihr Ulrich Herbert, Fremdarbeiter: Politik und Praxis
Desinteresse kaum verbergen konnte. Dass des »Ausländereinsatzes« in der Kriegswirtschaft
Unrecht nicht in Zahlen aufzurechnen sei des »Dritten Reiches«, Bonn 2001.
und nun endlich Ruhe einkehren solle, war Internet: www.ns-opfer-entschaedigen.de
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UNRECHT IN ZAHLEN
Der Mythos:
Nach Kriegsende versammelten sich die reuigen Deutschen in den Ruinen, um
innerhalb kürzester Zeit eine florierende Wirtschaft neu aufzubauen.Trümmerfrauen
zeigten was in ihnen steckt – aus Steinen und Schutt wurde die spätere Bundesrepu-
blik aufgebaut. Von Null angefangen, mit Disziplin, Entsagung und Fleiß – merk-
würdig bekannt klingende Tugenden.
In zahlreichen Schilderungen von Firmengeschichten, z.B. aus der Automobilindus-
trie, wird der Aufbau aus eigener Kraft ebenso beschrieben. Mercedes umschreibt
1945 mit: »Aufbau: Nach einer vierwöchigen (!) Stilllegung des Werkes und einer
Besetzung durch die Franzosen beginnen 1.240 Mitarbeiter im Mai mit dem Wie-
deraufbau.«
Doch wo kam das Geld her, wo steckten die Gewinne aus der nationalsozialisti-
schen Vernichtungsmaschinerie, wo steckte der Profit aus Arisierung und Zwangs-
arbeit?
Im Fall Mercedes wurden die Wege der Nazigelder recherchiert. »Nazigeld wurde
gewaschen über den Umweg Zürich und Buenos Aires. Mit fingierten Zahlungen,
geschmuggeltem Bargeld. (...) Ein ausführendes Unternehmen war: Daimler-Benz
Untertürkheim.« (Gaby Weber, siehe Lesetipp). Nicht nur das Geld wurde über Bu-
enos Aires transferiert und floss zurück in die Werke in Deutschland, auch führende
Nazis und Kriegsverbrecher selbst konnten über die Kontakte nach Lateinamerika
geschleust werden. In den dortigen Werken wurden sie als »Experten« eingestellt.
Der Mythos vom eigenen Aufbau beinhaltet die Demonstration der späten Überle-
genheit der »fleißigen Deutschen«. Doch das vermeintliche »Wirtschaftswunder«
fand nicht trotz, sondern wegen der Profite aus dem Nationalsozialismus statt.
Lesetipp:
Gaby Weber: Daimler-Benz und die Argentinien- Connection. Von Rattenlinien und Nazigel-
dern, erschienen Oktober 2004 bei Assoziation A.
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INTERVIEW
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INTERVIEW
veranstaltung in Sachsenhausen ebenfalls oft eine plumpe Gleichsetzung von der DDR
spricht, ist Markstein einer Entwicklung, die mit dem 3. Reich oder gar eine Verharm-
außerhalb der Gedenkstätten passiert ist. losung von NS-Verbrechen. In Brandenburg
hingegen wird zwar auch der »Opfer der
? Insbesondere Vertreter von Opferverbän- Speziallager« (vom NKWD aufgrund inter-
den protestieren gegen die gestalterischen nationaler Vereinbarungen zwischen den
und inhaltlichen Veränderungen und mah- Alliierten eingerichtete Internierungslager
nen die Erhaltung des »antifaschistischen für zivile Funktionsträger des 3. Reiches oder
Charakters« der Gedenkstätten an. Diesen potentielle Feinde der Besatzungsmacht, oft
sehen sie vor allem durch eine Neubewer- an Orten ehemaliger KZ, so z.B. in Sach-
tung der Rolle von KommunistInnen in den senhausen) gedacht, aber es hat nicht die-
Konzentrationslagern sowie durch eine po- se Priorität. Hier findet eher die rot-grüne
litisch forcierte Gleichbehandlung der NS- Nutzbarmachung der deutschen Vergan-
Opfer mit den Opfern der stalinistischen genheit für die Zukunft statt, die Integration
Diktatur in Verfolgung der Antitotalitaris- der NS-Verbrechen in die deutsche Identität.
mustheorie bedroht. Befürchtet Ihr durch den
Veränderungsprozess in der Gedenkstätten- ? Die Diskussion über die Zukunft des Ge-
politik womöglich eine Relativierung der na- denkens und damit auch die Zukunft von
tionalsozialistischen Verbrechen? Gedenkstätten wurde selten so lebhaft ge-
führt wie heute, auch die Resonanz in der
! Das hängt von der konkreten Situation Öffentlichkeit ist ungewöhnlich breit. Wor-
in den jeweiligen Gedenkstätten ab. Das auf führt Ihr dieses Interesse zurück?
Schlagwort von der »Relativierung der na-
tionalsozialistischen Verbrechen« greift mir ! Einmal häufen sich gerade die 60. Jahres-
viel zu kurz bei der Beschreibung dessen, tage, dann gibt es mit dem Holocaustmahn-
was passiert. In Sachsen z.B., wo das Ge- mal und den Auseinandersetzungen um die
denkstättengesetz »die Opfer beider Dikta- Topographie des Terrors und das Mahnmal
turen« gleichsetzt, sieht die Praxis so aus, für die Sinti und Roma in Berlin genug media-
dass die »Opfer« der sowjetischen Repres- le Anknüpfungspunkte. Zum anderen setzen
sionsorgane und der DDR, d.h. in überwie- sich mittlerweile die Nachfahren der Täter
gender Anzahl Nazis, staatlicherseits und darüber auseinander, wie und wem hierzu-
durch private Initiativen geehrt werden, lande künftig gedacht werden soll. Das Be-
während der Umgang mit den Überleben- schweigen des NS, dass noch die Hauptver-
den Opfern des Nationalsozialismus und teidigungsstrategie der Tätergeneration war,
WiderstandskämpferInnen oft schlichtweg hat ein Ende. Das Bekenntnis zur deutschen
demütigend ist. Hier findet sich dann auch Verantwortung für den Holocaust und den
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INTERVIEW
NS-Terror ist zum festen Bestandteil der staat- d.h. es gibt – z.B. in Dresden – einmal jähr-
lich geprägten Erinnerungskultur geworden. lich einen ausgeprägten Gedenkrummel.
Und aktuell stehen dabei meist die Leiden der
? Die NS-Herrschaft beruhte nicht nur auf Deutschen, d.h. der Täter im Mittelpunkt. In
dem Terror der SA, SS und Gestapo. Da die den Gedenkstätten findet die tägliche »Ge-
Deutschen an der nationalsozialistischen denkarbeit« statt, trotz aller Kritik an der Ar-
Macht partizipierten und sie im Alltag der beit der Gedenkstätten ist es ein Gedenken
Volksgemeinschaft durch Ausgrenzungspro- an die Opfer des NS. Das Geschehen in den
zesse von Jüdinnen und Juden, Sinti und Gedenkstätten wird m.E. eher von den Dis-
Roma, Kommunisten, Sozialdemokraten, kursen außerhalb der Gedenkstätten beein-
Homosexuelle, sogenannte Asoziale und flusst, als dass aus den Gedenkstätten heraus
andere Opfergruppen aktiv mitgestalteten, das öffentliche Gedenken beeinflusst wird.
müsste vor allem in Gedenkstätten nach den
vielschichtigen Motiven des »Mitmachens« ? Welche Rolle sollten Geschichtsarbeit so-
im Nationalsozialismus gefragt werden. wie Gedenkstättenarbeit zur Vermittlung
Seht ihr dabei bisher die Rolle der deutschen eines aktiv anzuwendenden Geschichtsbe-
Bevölkerung ausreichend berücksichtigt? wusstseins Eures Erachtens nach eigentlich
spielen? Welche Voraussetzungen müssten
! Die Beteiligung der deutschen Bevölke- dafür erfüllt werden?
rung wird in Gedenkstätten thematisiert. In
Sachsenhausen z.B. gab es eine Ausstellung ! Darüber diskutieren wir noch. Unter an-
zum Verhältnis der Stadt Oranienburg zum derem auf der von der Lagergemeinschaft
KZ. Das ist noch ausbaufähig. Andererseits Ravensbrück/Freundeskreis e.V. und den
wird heute – im Gegensatz zur DDR-Zeit – Freundinnen des Sachsenhausenkomitees
kein Schwerpunkt mehr auf die Ausbeu- organisierten vom 17.06. – 19.06.2005
tung von KZ-Häftlingen durch z.T. heute in Potsdam stattfindenden Tagung »Pers-
noch bestehende Unternehmen gelegt. pektiven antifaschistischer Gedenkarbeit«.
Wir laden zu dieser Tagung alle Gruppen
? In welchem Verhältnis stehen Eurer Mei- und Personen ein, die im Sinne der Über-
nung nach das Gedenken in Gedenkstätten lebenden der KZ Erinnerungspolitik ge-
mit dem öffentlichen Gedenken, wie z.B. am stalten, sich zukünftig für ihre politischen
13. Februar in Dresden oder auch am 8. Forderungen einsetzen, sowie die Verände-
Mai in Berlin? rungen in der politischen Ausrichtung der
Gedenkstätten kritisch reflektieren wollen.
! Das von Euch angesprochene öffentliche Informationen gibt es unter www.ravensbrueck-
Gedenken macht sich an Jahrestagen fest, blaetter.de/aktuelles.html
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DAS MASSAKER VON DISTOMO
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DAS MASSAKER VON DISTOMO
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HIER UND JETZT ZUFRIEDEN SEIN.
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HIER UND JETZT ZUFRIEDEN SEIN.
von der Erinnerung an Vernichtung durch draußen. Als List der Geschichte fasst eine
Arbeit im Nationalsozialismus zur Rezep- Arbeit in der Sammlung diese Selbstversöh-
tion zeitgenössischer Kunst im Hamburger nung zusammen: »Hier und jetzt zufrieden
Bahnhof. Von kulturpolitischer Seite wur- sein«. Der Titel von Wolfgang Tillmans und
de dieser Themenwechsel affirmiert, den Isa Genzkens Bildinstallation von der An-
Flick so gelungen mit dem Projekt »Mein wesenheit des gerade vergangenen Glücks
Name soll schöner werden« verbindet. noch im leeren Raum der Afterhour, ist un-
gewollt Programm: Postavantgarde und ein
2001, 2002 scheiterte in Zürich Flicks Aus- staatlich unterstützter Normalisierungsan-
stellungsprojekt am Protest von Theaterleuten. spruch gehen eine unheimliche Synthese ein.
Danach sagte Flick auch seine Probeschau
in München ab, die, interessant platziert, im Erst im letzten Moment geriet die Berliner
Haus der Kunst stattfinden sollte, das 1933 »Flick Collection« durch die Intervention
von Hitlers Architekten Paul Ludwig Troost von Salomon Korn und Michael Fürst, Mit-
entworfen worden ist und in dem bis 1944 gliedern der Jüdischen Gemeinde, stärker
jährlich die so genannten »Großen deut- in die Kritik. Im Juni diesen Jahres drängte
schen Kunstausstellungen« stattfanden. Vita- Staatsministerin Weiss die Stiftung mit dem
li, der damalige Leiter des Hauses der Kunst, seltsamen Namen Preußischer Kulturbesitz,
sagte, die Sammlung zu zeigen, sei eine weich und professionell auf die Problemlage
sinnvolle Entscheidung, um die Art zu tilgen, zu reagieren. Sie forderte zu Publikationen
wie das Vermögen zustande gekommen ist. oder Begleitveranstaltungen auf. Das ist ein
Echo Kulturstaatsministerin Weiss: Die Aus- weiteres Spezifikum. Das sozialdemokrati-
stellung schließe einen Teil der Wunden, sche Normalisierungsprojekt folgt nicht der
die die Nazi-Zeit in Berlin gerissen hätte. Logik von Bitburg, wo Kohl mit Reagan in
der Nähe von SS-Gräbern sich zum Hand-
So wird der Kunst Substanz und Wesen zu- schlag traf. Mit Distanz zum Wertekonser-
gesprochen, eine aus sich selbst schöpfende vatismus, mit Distanz zum sekundären Anti-
Kraft, die Wunden schließt und das Publikum semitismus von Walser oder Syberberg, mit
ergreift. Aber keine Kunst ist an sich gut oder einer an den letzten Erfahrungsresten von
schlecht. Jede Arbeit ist die Summe ihrer Tei- 1968 geschulten Diskursfreudigkeit wird
le. Dazu zählen auch die Entstehungsbedin- eine »Ja, aber«-Struktur in Gang gesetzt:
gungen. Das absurde Heilungsversprechen Ja, der Nationalsozialismus war unerträg-
von Christina Weiss zeigt einen Zirkelschluss lich, aber das soll uns von nichts mehr ab-
an. Die Nazis nahmen den Deutschen die halten und auch zu nichts mehr motivieren.
fortschrittliche Kunst, einer der Enkel aber Gegen dieses Normalisierungsregime der
gibt mit seinem ererbten Geld ein Stück da- neuen Mitte richtet sich die Arbeit der Flick-
von wieder zurück. So versöhnen die Deut- connection. Katja Diefenbach
schen sich mit sich selbst. Die Opfer sind siehe: www.flickconnection.de
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MUSIKQUOTE UND NORMALISIERUNGSREGIME
MUSIKQUOTE UND
NORMALISIERUNGSREGIME
Deutschland im Herbst 2004: Eine Gruppe Niveau irgendwie ernst gemeint wäre, dürfte
Musiker fordert anlässlich der PopKomm die man keine Quote für deutsche Produktionen,
Einführung einer Radio-Quote. Die großen sondern einen Mindestanteil konzeptionel-
deutschen Medien stellen sich der Initiati- ler, nicht sofort eingängiger Musik fordern.
ve, die sich wie ein who is who heimischer Doch darum geht es eben genau nicht.
Chart-Musik liest und auf der u.a. Udo Lin- Und auch nicht um die Förderung kleiner,
denberg, Inga Humpe (2raumwohnung), lokaler Musikproduktionen, wie manche
Emanuel Fialik (Rammstein), Jan Eissfeldt Musiker und Laber-Macher behaupten und
(Beginner) und Max Herre (Freundeskreis) vielleicht sogar glauben. Stattdessen sprach
zu finden sind, bereitwillig als Resonanzkör- die Antragstellerin im Bundestag, die Ab-
per zur Verfügung. Wenige Wochen später geordnete Griefahn (SPD), ebenso wie die
beschließt der Bundestag mit den Stimmen den Aufruf unterzeichnenden Musiker von
der rot-grünen Mehrheit eine Selbstver- einem Mindestanteil »deutschsprachiger
pflichtungs-Aufforderung an die privaten bzw. in Deutschland produzierter Musik im
und öffentlich-rechtlichen Rundfunkpro- Programm«. Ein eigentümliches Anliegen:
gramme. Eine Quote von 35 Prozent deut- warum das Deutsche, das auf über 100 Mil-
scher Musikproduktion, so der Beschluss, lionen MuttersprachlerInnen zählen kann,
solle von den Sendern gespielt werden. Reservatschutz benötigt, können letztlich
wohl nur diejenigen verstehen, die immer
Es ist ein interessantes Detail, dass sich aus- schon von der Angst umgetrieben wurden,
gerechnet Bundestagspräsidentin Antje Voll- Deutschland könnte zu kurz zu kommen.
mer besonders für die Quote einsetzt. In ei-
nem Interview mit der Süddeutschen Zeitung Geht es hingegen schlicht um den Produkti-
erklärt sie: »Ich bin viel im Auto unterwegs onsstandort Deutschland, wie der zweite Teil
und kann das Radio nicht mehr ertragen - der Forderung nahe legt, dann handelt es
immer die gleichen Lieder von den gleichen sich bei der Quoteninitiative einfach um eine
paar weltweit erfolgreichen Bands.« Es stellt protektionistische Maßnahme, die ziem-
sich in diesem Zusammenhang natürlich so- lich muffig nach »Deutsche kauft deutsch.«
fort die Frage, warum eine Deutschquote et- klingt. Im Fall der Musik zieht noch nicht
was an der mangelhaften Qualität des Radios einmal das ökologische Argument. Anders
ändern sollte. Wenn der Hinweis mit dem als Butter oder Äpfel verursachen Songs
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signalisieren soll. Doch bei aller angebli- hundert immer wieder darin bestanden hat,
chen Öffnung, der Kern der Inszenierung jene Modernisierungen hervorzubringen, zu
ist das Bekenntnis zum Deutschsein. Und denen die Rechte aus historischen und Klas-
noch deutlicher schließlich die Berliner Band sen-Beschränkungen nicht in der Lage war.
MIA: Vor zwei Jahren noch am Revolutio- Rot-Grün (und auf regionaler Ebene auch
nären 1. Mai in Berlin zu hören, finden die PDS mit ihren Regierungsbeteiligung)
die alternativen Musiker Deutschland we- hat diese These seit 1998 vielfach bestätigt.
gen dessen Nicht-Beteiligung am Golfkrieg Auch eine Kohl- oder Stoiber-Regierung hät-
2003 plötzlich so gut, dass sie ein neues te sich möglicherweise an einem Angriffs-
Verhältnis zum Vaterland ausrufen. Seit em- krieg gegen Jugoslawien beteiligt. Aber sie
pörten Protesten gefällt sich die Band nun hätte diesen mit Sicherheit nicht – wie der
in der Rolle der Tabubrecher – ganz so, als Grüne Fischer – mit Auschwitz legitimie-
sei die deutsche Gesellschaft im Kern nicht ren und damit die Judenvernichtung für die
schon immer nationalistisch gewesen und Rückkehr Deutschlands auf die Bühne der
als habe der nationale Konsens 1989 nicht Weltordnungspolitik in Wert setzen können.
sowieso einen gewaltigen Schub erhalten. Das rotgrüne Gespann kann eine Wende
nach rechts befördern, gerade weil es unun-
In diesen Kontext reihen sich, gewollt oder terbrochen von sozialer Gerechtigkeit, histo-
ungewollt, auch die Initiative für eine Mu- rischer Schuld und Menschenrechten spricht.
sikquote und ihre Unterstützer ein – unter
ihnen Leute wie Jan Eissfeldt (Beginner) und Für die ›kulturelle Linke‹ lassen sich ähnliche
Max Herre (Freundeskreis), die vom Publi- Zusammenhänge herstellen. Einiges davon
kum (möglicherweise aufgrund eines Miss- ist bereits häufiger selbstkritisch diskutiert
verständnisses) bislang für links und system- worden. Das neoliberale Ich-Unternehmer-
kritisch gehalten wurden. Man muss keine tum wurde im Kunst- und Literaturbetrieb
Textexegese betreiben, um zu erkennen, mitgeboren und ist dort heute wahrschein-
dass sich eine Quotenunterstützung nicht mit lich durchgesetzter als in vielen anderen
Eissfeldts oder Herres politischen Statements Wirtschaftsbereichen. Flache Hierarchien
bzw. Inszenierungen vereinbaren lässt. Die und permanente Kommunikation, auf die
Deutschquote ist die Umsetzung von Stand- viele Unternehmen heute so großen Wert
ort- und Identitätslogik in der Pop-Musik. legen, wurden von politischen Aktivisten
in Subkultur-Kontexten entwickelt und aus-
Alternativ-Welten probiert. Der Kapitalismus besitzt eine be-
Mittlerweile dürfte sich herumgesprochen eindruckende Fähigkeit, sich Wissen und
haben, dass die historische Funktion euro- Erfahrungen anzueignen und in Wert zu
päischer Sozialdemokratien im letzten Jahr- setzen. Man kann sich dabei mit ganz un-
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terschiedlichen Haltungen an der rotgrünen ruf: »Aus Asche haben wir Gold gemacht.«
Standortmodernisierung beteiligen: aus Ig- Selbstverständlich ist das nicht auf die Gold-
noranz, Opportunismus, Gleichgültigkeit, zähne gemünzt, die in den Krematorien von
Geschäftsinteresse, verletztem Selbstwert- Auschwitz und Buchenwald aus den Öfen
gefühl oder tatsächlich nationaler Inbrunst. geholt wurden, sondern an das Wirtschafts-
Interessant ist zu beobachten, wie völlig un- wunder in einem zerbombten Land erin-
terschiedliche Statements, Bestrebungen und nern. Doch die Ignoranz, die sich in solchen
Interessen zusammenkommen und einen Aussagen widerspiegelt, ist kaum harmloser
bestimmten Prozess vorantreiben können. als die aktive Umdeutung der Deutschen
Wie weit das Begehren im Pop dazuzugehö- als Opfer eines »Bomben-Holocausts«.
ren und mit anzupacken mittlerweile reicht,
zeigt v.a. DJ Paul van Dyks Wir sind Wir: »Ich Der Witz an diesen vielen kleinen Re-Inter-
frag, ich frag mich, wer wir sind. Wir sind pretationsbewegungen ist, dass die politi-
wir! Wir stehen hier! Aufgeteilt, besiegt und sche Rechte, die sich seit langem Ähnliches
doch, schließlich leben wir ja noch.« Der Text wünscht, nämlich eine Identifikation mit
findet seinen Höhepunkt in dem stolzen Aus- Deutschland ohne historische Beschrän-
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kung, diesen Prozess nicht gesellschaftlich nutzt werden kann, ist eine aktivistischere
breit hätte durchsetzen können. Wirklich und facettenreichere Haltung gefragt. Ein
relevant wird die Entwicklung erst dadurch, sinnvoller Ausgangspunkt für eine kulturelle
dass Leute wie Paul van Dyk, MIA, Eva Praxis, die nicht mit den Interessen der Eli-
Gronebach oder Sönke Wortmann, die des ten paktiert, könnte allerdings die Erkenntnis
Rechtsseins unverdächtig sind, vergleichba- sein, dass die Modernisierung nach rechts in
re Positionen vertreten. Nicht weil sie Na- Deutschland gerade auch von alternativen
zis wären, sondern gerade weil sie keine kulturellen und politischen Milieus mitprodu-
Nazis sind. Musiker, Modemacherinnen ziert worden ist. Es muss gelingen, solche
und Regisseure reflektieren mit ihren State- Legitimationsproduktionen zu unterbrechen,
ments gesellschaftliche Stimmungen, aber ohne dabei in öde Personalisierungen zu
setzen sie auch massiv mit durch, und auf verfallen. Man kann, wie die Quotendebatte
diese Weise schieben sich die Dinge unge- gezeigt hat, auch Teil eines Prozesses wer-
plant und doch hocheffizient zusammen. den, ohne ihn zu wollen, ja sogar ohne ihn
Die sich abzeichnende Allianz zwischen überhaupt wahrzunehmen. Und das ist letzt-
Pop und Politik ist auch mit politischer Kor- lich das viel gravierendere Problem: Stand-
rektheit nicht aufzubrechen. In Zeiten, in de- ortargumente, Ärmelhochkrempeln, der
nen jedes noch so radikal daherkommende Wunsch nach Anerkennung oder einfach
Nein wahlweise in Spielpläne integriert, als geregeltem Einkommen – all das schiebt sich
trendiger Distinktionsgewinn begrüßt oder zusammen und formt ein neues Ganzes.
schlichtweg als Vermarktungsstrategie ge- Raul Zelik
Diefenbach, Katja: Die Politisierung des Lebens. Halblizel, Markus: Die Hamburger Tafelrunde –
Einige Anmerkungen zur Frage, wie man Gespräch über die Musikquote, in: Spex 11/
politisch wird, ohne Politik zu machen, und 2004
auf welche Schwierigkeiten man dabei stößt,
(http://www.exargentina.org/_txt/krise_kdie- Peitz, Dirk: Pro Musikquote: »Das Radio ist uner-
fenbach_lapolvida_de.html) träglich«, Interview mit Antje Vollmer, kulturpo-
litische Sprecherin der Grünen, in: Süddeutsche
Diederichsen, Diedrich: Die Kraft der Negation. Zeitung, 09.09.2004
Eröffnungsvortrag zum Festival ›Die Kraft der
Negation‹, (http://www.zmi.uni-giessen.de/ Zelik, Raul: Too sexy for the Führerbunker. Eine
pdf/diederichsen_negation.pdf), Sommer 2002 neue Generation deutscher Pop-Musiker entdeckt
die nationale Pose, in: Freitag, 30.1.2004
German Sounds – Das deutsche Musikexportbü- (http://www.raulzelik.net/textarchiv/feuileton/
ro (http://www.germansounds.de) fuehrer.htm)
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www.nadir.org/mittenwald
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