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Robert Kurz

Blutige Vernunft
Essays zur emanzipatorischen Kritik
der kapitalistischen Moderne
und ihrer westlichen Werte

HORLEMANN
© 2004 Horlemann
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ISBN 3-89502-182-2

Gedruckt in Deutschland
Inhaltsverzeichnis

5 Vorwort

15 Blutige Vernunft
20 Thesen gegen die so genannte Auf-
klärung und die „westlichen Werte"

53 Negative Ontologie
Die Dunkelmänner der Aufklärung und
die Geschichtsmetaphysik der Moderne
Das abstrakte Individuum in der Uniform der so
genannten Subjektivität 54 • Klassen und Klassen-
kämpfe als reine Formen bürgerlicher Subjektivität
60 • Gleichheit zum Tode: die negative Universali-
tät der Rechtsform als Selektionsmechanismus 62
• Aufklärung und Gegenaufklärung: die Polarität
kapitalistischer Entwicklung und die Identität der
Gegensätze 68 • Bürgerliche Geschichtsmetaphysik
des „Fortschritts" und bürgerlicher Geschichtsrelati-
vismus 76 • Geschichtstheorie und verkürzte Herr-
schaftskritik 80 • Negative Ontologie als negative
Geschichtstheorie 82 • Das Ende der Ahnengalerie
und die Überwindung der positiven Theorie 84

89 Tabula rasa
Wie weit soll, muss oder darf die Kritik
der Aufklärung gehen?
Feindschaft oder Erbschaft? 93 • Die Ikonen der Aufklärung
99 • Der eigentliche Gegenstand negatorischer Kritik 105 •
Die Artefakte der Geschichte 112 • Der ontologische Bruch:
Entfetischisierung 121 • Das ontologische Bedürfnis 123 •
Hannibal Lecter oder die „Potenz" der Distanzfähigkeit 129
• Die Zertrümmerung des Alleszertrümmerers 137• Das
Subjektive an der Subjektkritik oder die Dialektik der Softies
139 • Es gibt keine Dialektik der Aufklärung.Jenseits des
Hegeischen „Aufhebungs"-Begriffs 147

153 Subjektlose Herrschaft


Zur Überwindung einer
verkürzten Gesellschaftskritik

2 2 2 Über den Autor


Vorwort

Dieses Buch ist über weite Strecken eine Polemik, ein theoretisches Pam-
phlet. Also genau das, was dem betulichen, ausgewogenen, langweiligen,
an seinen unaufrichtigen Danksagungen und tückischen Höflichkeiten
erstickenden Akademismus überall in der Welt widerstrebt, der alle Inhal-
te abzustumpfen gewohnt ist bis zur Unkenntlichkeit. Während in Frank-
reich der pamphletistische Ton traditionsgemäß wenigstens als literarische
Form des politischen und philosophischen Boulevard-Räsonnements ak-
zeptiert worden ist, hat im deutschsprachigen Raum sogar das Feuilleton
die höfischen Zeremonien des bezopften offiziellen Wissenschaftsbetriebs
verinnerlicht. Ein nach Kriterien von Schulaufsätzen der Mittelstufe so-
zialisiertes Bewusstsein möchte noch die Existenzfragen der Menschheit
im Modus bourgeoiser Verkehrsformen und Tischsitten behandelt wissen.
Das deutsche Bildungsbürgertum hat eben seit mindestens zweihundert
Jahren die Hosen gestrichen voll.
Heute geht es aber nicht allein um die Form der Darstellung und ob sie
etwa unanständig oder gar polizeiwidrig wäre. Vielmehr findet eigentlich
so gut wie keine theoretische Auseinandersetzung statt, die diesen Na-
men verdiente. Wenn es gar keine begriffliche Reflexion gibt, dann kann
sie allerdings auch nicht polemisch zugespitzt werden. Das aber ist keine
teutonische Spezialität mehr, sondern ein weltweiter Zustand. Und diese
Situation findet sich nicht nur im offiziellen Wissenschafts- und Geistes-
betrieb, sondern sogar in der radikalen Linken. Während oberflächlich
gegenseitiger Respekt angemahnt wird, geht es in Wirklichkeit um die
Akzeptanz eines defizitären, begriffslosen Räsonnements, das überhaupt
nicht respektiert werden sollte. Nicht persönliche Anerkennung und ein
solidarischer Umgang miteinander sind das Ziel dieser ideologischen Ver-
anstaltung, sondern die Ausblendung unangenehmer Inhalte. Widersprü-
che sollen ungeklärt stehen bleiben und nicht in zugespitzter Formulie-
rung erscheinen.
Diese Tendenzen gehen einher mit einer Personalisierung der Inhalte
und Auseinandersetzungen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Pa-
role der 68er, dass das Private politisch sei, scheint auf den Kopf gestellt;

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nun wird umgekehrt das Politische privatisiert. Zur Debatte stehen nicht
Positionen, sondern Figuren und deren geschminktes Image („Aufsteiger
und Absteiger der Woche"). Das gilt zunehmend auch für die theoretische
Sphäre. Philosophen treten nach dem Muster von Fußballstars und Renn-
fahrern an. Krisen werden als persönliches Versagen wahrgenommen. Es
ist kein Zufall, dass sogar die sattsam bekannten Spaltungen der Linken
im Unterschied zur Vergangenheit immer weniger anhand offen geleg-
ter inhaltlicher Differenzen ausgetragen werden. Stattdessen schieben
die Protagonisten neuerdings zunehmend persönliche Probleme vor; der
Beziehungskampf und die undurchsichtige Intrige sind an der Tagesord-
nung.
Der Hintergrund der Personalisierung ist derselbe wie derjenige der
Individualisierung und allgemeinen Entsolidarisierung, nämlich die Auf-
lösung alles Denkens und Handelns in die Subjektivität der Selbstverwer-
tung. Die Kritik ist zur Ware geworden, und damit zum Gegenstand der
Konkurrenz, der offenen wie der verdeckten. Diesem Prozess einer Re-
duktion auf den homo öconomicus und auf das abstrakte Selbstbehaup-
tungs-Individuum entspricht gleichzeitig eine Paralyse der kritischen
Reflexion, die durch Voluntarismus und hohle Deklamation ersetzt wird;
etwa bei Hardt/Negri, deren „Empire"-Buch gerade dadurch Kult-Status
erlangt hat. Begrifflich geht es um nichts mehr, weil es um nichts mehr ge-
hen darf. Das Verlangen nach Emanzipation verkommt zur netten Phra-
se. Die gefährliche Sache wird auf seichte Emotionen und die rebellische
Emotion wird auf seichte Sachlichkeit heruntertransformiert.
Der hergebrachte kritische Impuls erlahmt. Er war gebunden an die
Durchsetzungsgeschichte des modernen warenproduzierenden Systems.
Alles durfte und sollte kritisiert werden, was dem Prozess der Modernisie-
rung, sprich: der Durchkapitalisierung der Welt, im Wege stand. Der Be-
griff der Kritik ging großenteils in dieser Geschichte auf; er konnte nicht
mit der nötigen Radikalität gegen die Triebkraft der modernen gesell-
schaftlichen Dynamik selbst gerichtet werden. Das Zauberwort der Mo-
dernisierung hat heute seine Leuchtkraft verloren; es ist zum Unwort der
sozialen Degradation, der repressiven Krisenverwaltung und überhaupt
der Weltverwüstung geworden. Das Ziel ist erreicht, das warenproduzie-
rende System der „Verwertung des Werts" (Marx) und des „abstrakten
Reichtums" (Marx) hat sich zum unmittelbaren und einheitlichen Welt-
system gemausert. Aber die Menschheit findet sich am Ende dieses We-
ges in einer Trümmerlandschaft der globalen Barbarisierung wieder. Die

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Weltkrise der dritten industriellen Revolution erweist sich als Krise neuen
Typs. Es handelt sich nicht mehr um eine Durchsetzungskrise, um einen
Strukturbruch im Modernisierungsprozess, sondern um dessen histori-
sche Schranke. An dieser Schranke muss die bisherige kritische Vernunft
versagen und zerschellen, weil sie selber der Träger der historischen Ent-
wicklung war, die jetzt zu Ende geht.
Auf ihre Weise war auch die Linke ein Motor dieser Geschichte. Ihre
Kapitalismuskritik bezog sich immer nur auf den jeweiligen Modus noch
unvollendeter kapitalistischer Vergesellschaftung, nie auf die kategorialen
Wesensbestimmungen des Kapitalverhältnisses. Die Linke lebte im Ge-
häuse der bürgerlichen Kategorien von Wert (Verwertung), Ware, Geld,
Betriebswirtschaft, „abstrakter Arbeit" (Marx), Markt, Staat, Nation, De-
mokratie, Politik und bürgerlichem Geschlechterverhältnis; sie wollte die-
se Realkategorien kapitalistischer Vergesellschaftung anders moderieren
und umdefinieren, nicht aber sie als solche überwinden. Deshalb steht sie
nun am katastrophalen Ende der Modernisierung mit leeren Händen da.
Ihre Kritik ist so stumpf geworden wie die bürgerliche Selbstlegitimation
gegenüber der „Unterentwicklung". Die globale „Inwertsetzung" als an-
geblicher Zivilisationsprozess dementiert sich selbst.
Die Abstumpfung der Kritik und der Fortschrittsideologie ist eine Not;
aber diese Not wird zur Tugend gemacht. Statt die Kritik gegen das'We-
sen des Kapitals selbst als Unwesen zu richten und sie damit kategorial
zuzuspitzen, wird die demokratische Bräsigkeit zum Ideal erhoben. Das
periodisch proklamierte Frühlingserwachen lebt allein von modischen
Schlagworten, die schon bald wieder vergessen sind. Darin treffen sich
das gemeinbürgerliche Bewusstsein und dessen linksradikale Derivate.
Ob ein konservativer Präsident fordert, dass ein „Ruck" durch die Gesell-
schaft gehen solle, ob die ökonomischen Ideologen vom „Aufbruch in die
Selbstverantwortung" schwärmen, oder ob die Linke vermittlungslos die
„Aneignung" entdeckt und eine „andere Welt" für möglich erklärt - stets
ähneln die Parolen verzweifelt denen von Werbekampagnen, weil die Be-
stimmungen willkürlich und zusammenhangslos bleiben. Es werden blo-
ße „Stimmungen" erzeugt, die nicht nachhaltig sein können. Die damit
verbundene phänomenologische Reduktion des Denkens markiert die
Kapitulationsurkunde einer Kritik, die sich als begriffliche selbst aufge-
geben hat.
Das allgemeine demokratische Wohlwollen mit seiner Rhetorik von
Respekt und Anerkennung wird in krasser Weise konterkariert durch

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die alltägliche Gehässigkeit der universellen Krisenkonkurrenz bis in die
emanzipatorische Aufbrüche simulierende Restlinke hinein. Gleichzei-
tig stürzt die bürgerliche Vernunft in einen Manichäismus ab, der an die
Stelle der kritischen Reflexion die Definition des „Bösen" setzt, das im
Terrorismus „fremder Kulturen" dingfest gemacht wird. Seit dem 11. Sep-
tember beweist der Westen seine marktwirtschaftliche Friedfertigkeit und
demokratische Rechtskultur durch den weltpolizeilichen Bombenregen
auf Gerechte und Ungerechte in den gefährlich nahe gerückten Zusam-
menbruchszonen des Weltmarkts.
Und durch diese zähnefletschende Krisenmilitanz hindurch, die sich
ausgerechnet in der Maske der Zivilität präsentiert, macht sich ein ideo-
logischer Inhalt geltend, der als legitimatorisches Denken den gesamten
Modernisierungsprozess flankiert hat: nämlich die aller modernen The-
orie zu Grunde liegende Philosophie der Aufklärung. Dabei dreht sich
der viel beschworene Konflikt zwischen der letzten kapitalistischen Su-
permacht USA und dem alten Europa allein um die Frage, wer die „west-
lichen Werte" besser und adäquater zur Geltung bringt in der gemein-
samen Frontstellung gegen die Gespenster des Zerfalls, wie sie von der
welfkapitalistischen Dynamik selbst hervorgebracht worden sind. Es ist
die aufgeklärte Ignoranz, die den Untergang kapitalistischer Ontologie zu
deren Triumph erklären möchte. Mitten in den Ruinen einer zerbrechen-
den Weltgesellschaft feiert der Westen im Kant-Jahr 2004 zusammen mit
dem Denker der bürgerlichen Vernunft seine anmaßende globale Herr-
schaft, die dennoch die Kontrolle verlieren muss. Am Ende wiederholt
sich auf hohem Niveau einer blinden Entwicklung der Anfang; die innere
und äußere Kolonisierung erscheint wieder in einer perspektivlosen pla-
netarischen Krisenverwaltung.
Der hilflose Antikapitalismus der Linken geht ins Leere, weil ihm sei-
ne Bezugsfelder in der zu Ende gegangenen Modernisierungsgeschichte
(Arbeiterbewegung, Realsozialismus, nationale Befreiungsbewegungen)
abhanden gekommen sind. Dieser Bezug stand selber noch im Bann des
bürgerlichen Aufklärungsdenkens, das jetzt auch in der Linken ein letztes
Mal mit Macht an die Oberfläche durchbricht. Vergessen die „Dialektik
der Aufklärung" (Adorno/Horkheimer), vergessen die Kritik am Euro-
zentrismus; ohnehin nur unvollständige und halbherzige Anstalten für
einen Ausbruch aus dem Verhängnis kapitalistischer Scheinrationalität.
Jetzt wäre eine radikale, also bis auf den Grund gehende Destruktion des
Aufklärungsdenkens und seiner Orwellschen Sprache angesagt, weil die

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Kritik der bürgerlichen Vernunft und ihrer Resultate mit den Mitteln der
bürgerlichen Vernunft ganz unmöglich geworden ist.
Ein Teil der Linken flüchtet stattdessen vor der eigenen bürgerlichen
Vernunft in ein scheinemanzipatorisches Plaudern und Plappern, das die
schal gewordenen Begriffe des untergegangenen Arbeiterbewegungsmar-
xismus wiederkäut oder sie zuvor noch mit postmodernen Geschmacks-
verstärkern anreichert; der Kult der Ambivalenz kann zum Alibi der be-
grifflichen Abrüstung werden, um sich der Anforderung des kategorialen
Bruchs nicht stellen zu müssen. Ein anderer Teil der Linken gräbt sich zu-
sammen mit den offiziellen demokratischen Ideologen lieber an der letz-
ten Verteidigungslinie der Modernisierungsvernunft ein. Plärrend wird
von vielen ehemaligen Kritikern ein angebliches „bürgerliches Glücksver-
sprechen" eingeklagt, während die Globalisierung des Kapitals über alle
sozialen Beziehungen hinwegwalzt und die Lebensgrundlagen zerstört.
Es ist ganz offensichtlich, dass die Frage einer radikalen Kritik der Auf-
klärung an die eigentliche Tabugrenze der Moderne führt. Diese Grenze ist
zusätzlich dadurch gesichert, dass jegliche konsequente Aufklärungskritik
denunziatorisch der reaktionären Gegenaufklärung und kulturpessimisti-
schen Antimoderne zugeschlagen wird, obwohl es sich dabei in Wahrheit
um Produkte der Aufklärung selbst handelt. Eine emanzipatorische Anti-
moderne soll als denkunmöglich erscheinen; aber gerade im Denken die-
ser angeblichen Unmöglichkeit besteht die aktuelle historische Aufgabe.
Es ist die kapitalistisch konstituierte Subjektform, die den gemeinsamen
Nenner von bürgerlicher Aufklärung und ebenfalls bürgerlicher Gegen-
aufklärung bildet; und in diese Form ist auch die bisherige Linke ein-
geschlossen. Die Tabugrenze kann nur durchbrochen werden, wenn der
emanzipatorische Impuls so weit geht, diese gemeinsame Subjektform des
modernen warenproduzierenden Systems ins Visier zu nehmen.
Die kategor iale Kritik an den Wesensbestimmungen der kapitalistischen
Moderne hat unter dem Namen der „Wertkritik" bereits eine gewisse Aus-
strahlungskraft in der Sphäre theoretischer Reflexion gewonnen. Wertkri-
tik bezieht sich auf die Wertform der Ware als Vergesellschaftungsform
der Moderne. Aber es geht dabei keineswegs bloß um eine ökonomische
Bestimmung im engen Sinne. Vielmehr ist der Begriff des Werts bzw. der
Verwertung ein negativer Totalitätsbegriff des Kapitalverhältnisses oder
der „Wertvergesellschaftung". Nation, Staat und Politik sind nicht unmit-
telbar der empirischen Ökonomie subsumiert, aber sie gehören dersel-
ben vom Wert gesetzten fetischistischen Totalität an. Deshalb kann die

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politische Form auch keine Emanzipationsform sein, ebensowenig die so
genannte Nation. Dasselbe gilt für die kapitalistische Ontologie der „Ar-
beit". Auch der abstrakte Arbeitsbegriff bildet keinen, womöglich noch
transhistorisch zu fassenden, Hebel der Emanzipation. Arbeit, Nation und
Politik stellen einzig Kategorien des warenproduzierenden Systems dar
und verfallen als gesellschaftliche Kategorien zusammen mit diesem.
Im deutschsprachigen Raum wurde die Wertkritik, die sich aus dem
wertimmanenten traditionellen Marxismus herauszuarbeiten begann,
über mehr als ein Jahrzehnt von der Theoriezeitschrift „Krisis" getragen.
Aber sogar innerhalb dieses Zusammenhangs wertkritischer Theoriebil-
dung machte sich zuletzt die Tabugrenze der Moderne bemerkbar. So-
bald die Kritik der Arbeit und der Politik sich über die Begriffe der Kritik
der politischen Ökonomie und der bürgerlichen Rechtsform hinaus zur
Kritik der Subjektform und der Aufklärung fortentwickelte, begannen
sich die Widersprüche dieses Subjekts trotz des Anspruchs einer neuen
radikalen Kritik destruktiv geltend zu machen. Insofern haben die hier
vorgestellten Essays bereits ein gewisses Schicksal durchlaufen. Dass sie
in drei aufeinanderfolgenden Ausgaben von „Krisis" (2002 und 2003) er-
schienen sind, war Moment eines erbitterten Konflikts. Der Abdruck des
Textes „Blutige Vernunft" sollte zunächst unterbunden werden und war
erst nach heftigem Widerstand möglich; der Text „Tabula rasa" rief noch
stärkere Abwehrreflexe hervor und machte „böses Blut".
Ein Aspekt dieser Konflikte bestand darin, dass die hier ansatzwei-
se entwickelte Subjekt- und Aufklärungskritik sich nicht mehr auf den
Horizont des androzentrischen Universalismus beschränkt, der ja das
strukturell männliche Aufklärungsdenken kennzeichnet. Dem abstrakten
Individuum der Moderne liegt die männlich-weiße westliche Subjekt-
form ( M W W ) zu Grunde. Gerade die Einbeziehung des Geschlechterver-
hältnisses auf der Abstraktionshöhe der kapitalistischen Wesensbegriffe
grenzt diese emanzipatorische Aufklärungskritik entscheidend von der
bürgerlichen Gegenaufklärung ab, die selber immer zutiefst androzen-
trisch bestimmt und genau dadurch mit der Aufklärung untergründig
verbunden war. In demselben Maße, wie nun der Begriff der geschlecht-
lichen „Abspaltung", der von Roswitha Scholz entwickelt worden ist (Das
Geschlecht des Kapitalismus, Bad Honnef 2000), in die Aufklärungskritik
systematisch integriert wurde, machten sich die Bremsversuche im Pro-
jekt der Wertkritik von „Krisis" immer heftiger bemerkbar. Die Furien des
falschen androzentrischen Universalismus wurden entfesselt, als sich ab-

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zeichnete, dass die bislang eher als eine Art Fremdkörper geduldete (und
im Zweifelsfall von der begrifflichen auf die historisch-empirische Ebene
abgeschobene) Abspaltungstheorie das selber noch abstrakt-universalisti-
sche Verständnis der Wertkritik zu sprengen drohte.
Es war bezeichnend, daß die Abwehr dieser scharfen Bestimmung der
Subjekt- und Aufklärungskritik zunächst nicht offen als inhaltlicher Dis-
sens formuliert wurde, sondern als Anklage gegen „Zuspitzung" und als
Versuch einer persönlichen Denunziation daherkam. Diese Art der Kon-
fliktführung ordnet sich in den Mainstream der linken und gemeinbür-
gerlichen Privatisierung gesellschaftlicher, inhaltlicher Probleme ein. Eine
Wertkritik, die vor dem letzten entscheidenden Bruch mit der modernen
Subjektform und deren aufklärerischer Selbstlegitimation zurückscheut,
muss zwangsläufig in die bürgerliche Ontologie zurückfallen. Mit dem
formale Seriosität mimenden, abwiegelnden Gestus der Ausgewogenheit
kann man vielleicht noch eine Zeitlang im Szene-Diskurs einer an the-
oretischer Klärung gar nicht interessierten Linken mitschwadronieren,
aber die Kritik nicht mehr weitertreiben. Soweit ein im androzentrischen
Universalismus stecken bleibender wertkritischer Diskurs Elemente einer
Aufklärungskritik aufnehmen wollte, könnte er sich nur bei den Denkern
der bürgerlichen Gegenaufklärung bedienen und sich damit theoretisch
endgültig desavouieren.
Der Zusammenhang der ursprünglichen Theoriebildung von „Kri-
sis" existiert nicht mehr; was unter demselben Label weiter firmiert, ist
nichts als ein Etikettenschwindel, seit die Mehrheit der Redaktion und
wesentliche Autorinnen von den auf dem Boden des abstrakten Universa-
lismus stehen gebliebenen Vertretern einer Vulgarisierung der Wertkritik
mit formaljuristischen Mitteln hinausgeputscht worden sind. Nachdem
„Krisis" auf diese unrühmliche Weise Geschichte geworden ist, wird die
wert- und abspaltungskritische Theoriebildung in der neuen Theorie-
zeitschrift „EXIT!" weitergeführt. Die hier vorliegenden Essays markieren
die Bruchlinie und den Umschlagspunkt zu einer weitergehenden, „zuge-
spitzten" emanzipatorischen Kritik von Aufklärung und männlich-weißer
westlicher Subjektform ( M W W ) .
Für die Leserinnen eines breiteren Publikums, die diese Texte nicht als
Dokumente eines inneren Konflikts wertkritischer Theoriebildung wahr-
nehmen, können sie direkt als Einstieg in einen umstürzlerischen Diskurs
dienen, der sich den falschen Alternativen der warenproduzierenden M o -
derne verweigert. Es gab nie einen bürgerlichen Fortschritt, an den die so-

ll
ziale Emanzipation der Menschheit anschließen könnte. Das notwendige
Pathos der Befreiung muss am Ende der Modernisierungsgeschichte end-
lich konsequent anti-ontologisch werden. Weder Adorno noch die post-
modernen Theoretiker haben die anti-ontologische Konsequenz durch-
halten können. Um eine solche Perspektive zu gewinnen, ist es notwendig,
im Kontext der Subjekt- und Aufklärungskritik die moderne Theoriege-
schichte einschließlich des Marxismus noch einmal neu aufzuarbeiten.
Es versteht sich von selbst, dass diese Aufgabe nicht mit einigen we-
nigen Texten bewältigt werden kann. Hier geht es zunächst darum, in
thesenhafter und essayistischer Form einen ersten Überblick über die
Aufgabenstellung zu geben und deren polemische Intention gegen den
bisherigen Kritikbegriff bürgerlicher Vernunft deutlich zu machen. Dass
diese Texte im Handgemenge und Pulverdampf der quer durch alle ge-
sellschaftlichen Lager sich ziehenden Auseinandersetzungen nach dem 11.
September entstanden sind, unterstreicht diesen Charakter. Damit wird
der theoretische Anspruch ganz und gar nicht dementiert, im Gegenteil:
Anders als durch die Konflikte der Zeit hindurch ist kritische Theorie-
bildung gar nicht möglich.

Angehängt an die drei neueren Konflikt-Essays zur Aufklärungskritik ist


der Text „Subjektlose Herrschaft" aus dem Jahr 1993, damals ebenfalls in
einer inzwischen vergriffenen Ausgabe der alten „Krisis" erschienen. Das
Thema der Subjektkritik ist hier bereits aufgenommen, aber noch enger-
gefasst, fokussiert auf das Herausarbeiten aus der marxistischen Theorie-
geschichte und noch nicht mit allen Implikationen der Aufklärungskritik
versehen. Dieser Text, der auch seinen eigenen Stellenwert hat, kann es
möglicherweise erleichtern, den Denkweg zum Bruch mit der moder-
nen Ontologie nachzuvollziehen, gerade weil er selber noch bestimmt«
Momente einer Ontologisierung enthält (vor allem, hinsichtlich des Sub-
jektbegriffs). Angemerkt sei auch, dass in der „Subjektlosen Herrschaft'
der Hegeische Begriff der „Aufhebung" noch ganz selbstverständlich er-
scheint, der in der späteren Kritik ausdrücklich verworfen wird.

Nürnberg, im Juli 2004


Robert Kurz

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Blutige Vernunft

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20 Thesen gegen die so genannte
Aufklärung und die „westlichen Werte"

1.
Der Kapitalismus siegt sich sowohl materiell als auch ideell zu Tode. Je
brutaler diese zur Weltgesellschaft gewordene Form der Reproduktion die
Welt verwüstet, desto mehr schlägt sie sich selber Wunden und untergräbt
ihre eigene Existenz. Und dazu gehört auch der gemeinsame intellektuelle
Untergang der Modernisierungsideologien in einer Ignoranz und Begriffs-
losigkeit neuen Typs: Rechts und Links, Fortschritt und Reaktion, Freiheit
und Repression, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit fallen unmittelbar
zusammen, weil das Denken in den Formen des warenproduzierenden
Systems zum Stillstand gekommen ist. Je dümmer die geistige Repräsen-
tanz des Markt- und Geldsubjekts wird, desto gespenstischer plappernd
wiederholt sie die ausgeleierten bürgerlichen Tugenden und westlichen
Werte. Keine von Elend und Massakern gezeichnete Landschaft des Plane-
ten, über der nicht kübelweise die Krokodilstränen demokratischer Poli-
zeimenschlichkeit ausgeschüttet würden; kein verstümmeltes Folteropfer,
das nicht zum Anlass genommen würde, die Freuden bürgerlicher Indi-
vidualität auszumalen. Jeder staatsbrave, Zeilen schindende Feuilletonist
beschwört die athenische Demokratie; jedes ehrgeizige Polit- oder Wis-
senschaftsluder möchte sich im Licht der Aufklärung bräunen.
Was jetzt noch radikale Kritik heißen will, kann sich nur mit Zorn und
Ekel vom geistigen Gesamtmüll des Abendlands abwenden. Viel zu kurz
greift jene sattsam bekannte Denkfigur, die Aufklärung als solche gegen
ihre platten bürgerlichen Vereinnahmer von heute verteidigen zu wollen,
eine einstige Höhe der Reflexion quasi bildungsbürgerlich gegen die intel-
lektuelle Plebs und den abendländischen Mob des 21. Jahrhunderts ein-
zufordern. Dieser Mob ist die zu sich gekommene Aufklärung selber. An
ihren verheerenden Resultaten soll die so genannte Moderne gemessen

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werden: ohne Ausflüchte, ohne eine verkrampfte Dialektik der Rechtferti-
gungen und Relativierungen.
Kritik kann sich freilich nicht allein von der „Wut im Bauch" leiten las-
sen; sie muss sich intellektuell grundsätzlich neu legitimieren. Auch wenn
sie sich des theoretischen Begriffs bedient, bedeutet dies keine Rückbin-
dung an die Standards der Aufklärung selber, sondern folgt umgekehrt
allein aus der Notwendigkeit, die intellektuelle Selbstrechtfertigung der
Aufklärung zu zerstören. Es geht nicht darum, in aufklärerischer Manier
die Affekte im Namen einer abstrakten, repressiven Vernunft (also im Ge-
gensatz zum Wohlbefinden der Individuen) an die Kandare zu nehmen,
sondern im Gegenteil darum, die intellektuelle Legitimation dieser mo-
dernen Selbst-Domestizierung des Menschen aufzubrechen. In diesem
Sinne bedarf es einer radikalen emanzipatorischen Antimoderne, die sich
nicht nach dem sattsam bekannten Muster der bloß „reaktionären", sel-
ber bürgerlich-westlichen Gegenaufklärung oder Gegenmoderne in die
Idealisierung irgendeiner Vergangenheit oder „anderer Kulturen" flüchtet,
sondern mit der bisherigen Geschichte als einer Geschichte von Fetisch-
und Herrschaftsverhältnissen bricht.
Im Sinne des marxschen Diktums von der Überwindung des mo-
dernen Fetischismus als „Ende der Vorgeschichte" steht ein alle Ebenen
der Reflexion und alle Lebensbereiche übergreifendes umstürzlerisches
Großprojekt auf der Tagesordnung, das die abstraktesten Kategorien
ebenso erfasst wie die kulturell-symbolischen Formen und den Alltag;
eine negative Großtheorie, die den Hebel der radikalen Kritik wesentlich
tiefer ansetzt als ihre Vorgänger im 19. und 20. Jahrhundert. Auch dies
ist nicht als Fortsetzung des aufklärerischen Anspruchs mit anderen Mit-
teln misszuverstehen. Vielmehr folgt ein derart großtheoretischer Ansatz
neuer Qualität allein der Notwendigkeit, durch das selber positiv groß-
theoretische Legitimationskonstrukt der warenproduzierenden Moderne
negierend hindurchzugehen, um es zu zerbrechen, statt sich bloß daran
vorbeimogeln zu wollen. Eben deshalb muss es sich um eine negative, sich
selbst überwindende und überflüssig machende Großtheorie handeln,
und nicht mehr um die legitimatorische Setzung eines neuen positiven
Prinzips (analog zur kapitalistischen Wertabstraktion), nach dem alles ge-
modelt werden soll.

16
2.
Der Anspruch einer neuen negativ-emanzipatorischen Großtheorie ist
zwar unter dem Titel der „Wertkritik" als kategoriale Kritik des waren-
produzierenden Systems bereits formuliert, aber noch nicht mit ausrei-
chender Klarheit und emanzipatorischer Feindschaft gegenüber der Auf-
klärung, deren bürgerlich-ideologische Ontologie vielmehr als „schwei-
gende Dimension" selbst in der scheinbar radikalsten Kritik weiterhin po-
sitiv präsent ist und gelegentlich in beschwörenden Floskeln axiomatisch
und inhaltslos angerufen wird.
Angesichts des stets neu produzierten Elends und der zunehmenden
Zerstörungsprozesse in der Modernisierungsgeschichte hat sich zwar
schon in der Vergangenheit neben der reaktionären Gegenmoderne auch
eine „linke", im weitesten Sinne selber „modernistische", emanzipatorisch
gemeinte Kritik der Aufklärung herausgebildet. Diese Versuche blieben
jedoch stets bei bloßen Relativierungen stehen, weil sie sich nur als ver-
meintliche „Selbstkritik" der Aufklärung begreifen konnten. Ein derart
halbherziges, dem Gegenstand der angeblichen Kritik eher freundschaft-
lich verbundenes Vorgehen implizierte von vornherein, den substantiellen
Kern der Aufklärungsideologie (die bürgerliche Subjekt- und Verkehrs-
form) nicht in Frage zu stellen. Deshalb bleibt der letzte Schritt noch zu
tun, der die Kritik endgültig von der bürgerlichen Ontologie trennt; der
Rubikon ist noch nicht überschritten.
Die negative Bestimmung des Bruchs ist entscheidend geworden, wäh-
rend die bisherige Kritik immer bloß ein letztlich affirmativer Bestandteil
ihres Gegenstands war und daher die Kontinuität statt den Bruch betonen
musste; oft genug in die bigotte Formel eines zu pflegenden positiven „Er-
bes" gekleidet. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist jedoch kein positiver
Denk- und Handlungsweg in den Formen des modernen warenproduzie-
renden Systems mehr möglich. Jede Berufung auf die Subjektform und die
legitimatorische Ideengeschichte der über das Realabstraktum des Werts
negativ vergesellschafteten Moderne, in welcher ab- oder umgerüsteten
Form auch immer, kann sich als Kritik nur noch blamieren.
Nötig geworden ist also die grundlegende Neukritik der bürgerlichen
Konstitution und ihrer Geschichte. Die unbewohnbaren Ruinen der
abendländischen Subjektivität verlangen nicht nach der geschmackvol-
len, intellektuellen Innenarchitektin, sondern nach dem Baggerfahrer
mit der Abrissbirne. Dies betrifft wesenüich den Unterbau und legitima-

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torischen Rückbezug aller modernen Theoriebildungen des 19. und 20.
Jahrhunderts, nämlich eben die Philosophie der Aufklärung. Im Gegen-
satz zu den späteren Theorien handelte es sich dabei um eine Reflexion,
die das voll ausgebildete bürgerliche Subjekt der Moderne nicht bereits
voraussetzte, sondern es gewissermaßen mit zur Welt brachte; die so ge-
nannte Aufklärung war insofern in einem weitaus emphatischeren Sinne
„Durchsetzungsideologie" des modernen warenproduzierenden Systems
als die darauf aufbauenden oder sich vermeintlich davon abstoßenden
theoretischen Reflexionen in der späteren Durchsetzungsgeschichte der
Wertvergesellschaftung.
Das Aufklärungsdenken, zu seiner Zeit noch als distinkte und uner-
hörte, teils sogar geradezu schwer verständliche Denkweise aufgefallen, ist
nicht nur zur Voraussetzung alles weiteren theoretischen Denkens über-
haupt geworden, sondern in das allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein
eingegangen und als eine Art bewusstlose Sedimentation auch zur nicht-
reflexiven Denkweise des bürgerlichen Alltagsverstands geworden. Und
auch als solches ist es von Grund auf zu destruieren.

3.

Dazu sind allerdings einige Bemerkungen nötig. So hat jede Geschichte sel-
ber wieder eine Geschichte, und daher ist natürlich auch das Aufklärungs-
denken nicht voraussetzungslos; weder im Sinne einer „Geistesgeschichte"
noch im Sinne objektivierter gesellschaftlicher Entwicklungen. Die Vor
geschichte oder gesellschaftliche Ur-Konstitution der Moderne könnte
als „politische Ökonomie der Feuerwaffen" im 15. und 16. Jahrhundert
datiert werden, als die „militärische Revolution" (Geoffrey Parker) eine
neue und in neuer Weise repressive Organisationsform der Gesellschaft
hervorbrachte, die über die frühmodernen Militärdespotien zum moder-
nen Staat ebenso wie zur Entfesselung des kapitalistischen Verwertungs-
prozesses („Geldwirtschaft" als irrationaler Selbstzweck) führte.
Mit diesem Prozess überlappte sich eine zunächst unabhängig davon
begonnene, aus dem so genannten „Mittelalter" (was übrigens selbst
schon eine dem Aufklärungsdenken entstammende Klassifizierung ist)
herausführende Denkbewegung, die heute unter dem Epochenbegriff
der „Renaissance" erscheint. Wahrscheinlich wird es bei einer wertkriti-
schen Reformulierung von Geschichte und Geschichtstheorie nötig, auch

18
eine andere historische Einteilung vorzunehmen. Jedenfalls war das Re-
naissance-Denken mit seiner Wiederentdeckung der antiken Klassiker
zunächst ebenso wie die dazugehörige Gesellschaft zumindest in einer
bestimmten krisenhaft-transformatorischen Phase - man denke an die
frühneuzeitlichen Volksaufstände - noch relativ offen für alternative Ent-
wicklungen und Denkwege.
Nach dem Durchgang durch den Absolutismus, der den primären öko-
nomischen und politischen Systembildungsprozess der kapitalistischen
Produktionsweise ausmachte, war jedoch die Möglichkeit eines anderen
Entwicklungspfades abgeschnitten, auch wenn sich der Widerstand sozi-
aler Bewegungen gegen diesen Prozess noch bis Anfang des 19. Jahrhun-
derts hinzog. Die moderne Wertvergesellschaftung begann sich nun auf
ihren eigenen Grundlagen zu entfalten, wobei das Aufklärungsdenken
diese zweite Start-up-Phase, die in die wertförmige Industrialisierung
mündete, als ebenso militante wie affirmative Zurichtungsideologie be-
gleitete.
Die von der frühmodernen Kanonen-Ökonomie und ihren sozialen
Protagonisten auf den Weg gebrachte zirkulative Konkurrenz-Subjektivi-
tät erhielt dabei ihren ideellen Schliff und machte gleichzeitig einen Ent-
puppungsprozess durch, der die absolutistische Hülle nur abschüttelte,
um das reine moderne Geld- und Staatssubjekt jenseits seiner rohen Em-
bryonalformen auf die Welt loszulassen und ontologisch zu begründen.
Dass dieses die Wertform als totalitären Anspruch an Mensch und Natur
erstmals explizit formulierende Denken sich durch einen paradoxalen,
repressiven Freiheits- und Fortschrittsbegriff legitimierte, machte es zur
Falle für das Verlangen nach sozialer Emanzipation. Gerade damit wurde
die Kritik immer nur für die weitere Durchsetzung der destruktiven Wert-
form und der dazugehörigen Subjektivität instrumentalisiert.
Der ewige positive Rückbezug auf das Begriffssystem und die so ge-
nannten „Ideale" der Aufklärung bildet den Verblendungszusammenhang
eines gesellschaftskritischen Denkens, das sich so bis heute selber an die
Kategorien des herrschenden Systems universeller Zerstörung fesselt. So-
lange diese Fesseln des Aufklärungsdenkens nicht gesprengt werden, bleibt
die Kritik die Magd ihres Gegenstands oder sie muss zusammen mit des-
sen weiterer Entwicklungsfähigkeit erlöschen.

19
Ein zentraler Punkt des gesellschaftskritischen Missverständnisses von
Aufklärung ist die eingefleischte Interpretation, dass es sich dabei um
ein emanzipatorisches Versprechen gehandelt habe, gar um das Verspre-
chen einer Freiheit des menschlichen Strebens nach Glück (pursuit of
happiness). Dieses Versprechen wurde mit einer Intention von Vernunft
schlechthin und der Vorstellung einer „permanenten Kritik" vor dem
Richterstuhl dieser Vernunft kurzgeschlossen, sodass es so schien, als kön-
ne und müsse das Aufklärungsdenken immer weitergehen, auch über sei-
ne ursprünglichen Kreatoren und Protagonisten hinaus, bis es „verwirk-
licht" sei. Gerade dadurch konnte sich das fundamentale Missverständnis
erhalten, dass Aufklärung etwas anderes als positive Selbstreflexion des
Kapitalismus oder Logik des warenproduzierenden Systems sei, dass sie
über sich selbst in ihrer bürgerlichen Verfasstheit hinausweisende, trans-
zendierende Momente der Emanzipation enthalte.
Obwohl der schillernde, unscharfe Vernunftbegriff des Aufklärungs-
denkens immer wieder thematisiert wurde, blieb doch die Kritik daran sel-
ber unscharf, indem sie stets einer präzisen Bestimmung des reduzierten,
normativen Gehalts im aufklärerischen Vernunftbegriff auswich. Dieses
Verständnis von Vernunft enthielt jedoch im Grunde nichts anderes als die
militante Affirmation der metaphysischen Form, das heißt der Wertform
des modernen warenproduzierenden Systems oder der irrational verselb-
ständigten Form des „automatischen Subjekts" (Marx); eine Bezeichnung,
die auf den absurden Charakter der auf sich selbst als Selbstzweck rückge-
koppelten Verwertungsbewegung des Kapitals verweist, und damit gleich-
zeitig auf die entsprechende Absurdität der dazugehörigen Subjektform,
wie sie das Denken und Handeln der an dieses Rad gebundenen gesell-
schaftlichen Individuen prägt. Dieser destruktive Begriff von Vernunft
wurde im Aufklärungsdenken wesentlich entfaltet, das reflexive Denken
darauf zugeschnitten und jede andere Reflexionsebene ausgeschaltet, bis
mit zunehmender Durchsetzung des Systems kapitalistischer Wertver-
gesellschaftung die „Macht des Faktischen" im Denken als Positivismus
dieser „realisierten" Vernunft ankommen und die Reflexion überhaupt
auf Sparflamme zurückgedreht werden konnte. Der aufklärerische Son-
nenaufgang der Vernunft war daher zugleich der Untergang der Vernunft,
vermittelt durch die Einbannung des menschlichen Denkvermögens in
die ganz und gar unvernünftige Form der Wertvergesellschaftung.

20
Deshalb kann auch keine Rede von einer transzendierenden Perma-
nenz der aufklärerischen Intention von Kritik sein. Die Aufklärung in al-
len ihren Variationen und Entwicklungsstufen hat immer nur diejenigen
Zustände und Erscheinungen einer Kritik unterzogen, die irgendwie dem
zermalmenden Rad der Verwertungsbewegung im Wege standen. Eben
deswegen war ihre Kritik an den vormodernen Zuständen eine Kritik von
Herrschaft nur insofern, als den bisherigen Herrschaftsformen mangeln-
de Effizienz und mangelnde Zugriffsfähigkeit bis ins Innere der Individu-
en vorgeworfen wurde. Aufklärung war von Anfang an Ausleuchtung der
Schwachstellen von Herrschaft, um diese in einer neuen, versachlichten
Form zu befestigen, die gleichzeitig als unübersteigbare Naturform ideo-
logisiert wurde. Der Anfang aufklärerischer Kritik war daher zugleich das
Ende aller Kritik, das Verschwinden von Kritik in der selbstbezüglichen
Form bürgerlicher Subjektivität. Aufklärung wollte eine grundsätzliche
Kritik an dieser Form nicht etwa bloß zurückweisen, sondern geradezu
denkunmöglich machen.
Deshalb war die Aufklärungsphilosophie als Begründung westlicher
Werte auch ihrer Natur nach kein Versprechen, sondern in Wahrheit eine
Drohung; genauer gesagt: Die Drohung nahm perfiderweise die Form ei-
nes Versprechens an. Nicht das Glück wurde versprochen, sondern einzig
das Streben danach in der Form mörderischer Konkurrenzverhältnisse,
was zugleich den Begriff des Glücks dementiert. Der an sich schon un-
klare, beliebige Begriff des Glücks meinte nie etwas anderes als den Er-
folg in der Konkurrenz, was die Gegenstände des Glücks immer schon in
einer kapitalistischen Form voraussetzt, außer der es keine andere Form
geben soll. Der Zwang für die Individuen, ihr Glück unter den Zwängen
der Verwertungsbewegung zu suchen, ist insofern identisch mit einer un-
geheuren Drohung, weil er erstens die Glücksgeschichte als Leidens- und
Zumutungsgeschichte präformiert und weil er zweitens selbst noch inner-
halb von Leid und Zumutung das völlige Scheitern und den Verlust der
sozialen, ja sogar der physischen Existenz nicht bloß als Möglichkeit zu-
lässt, sondern für die notwendigen Verlierer von vornherein voraussetzt.
Dechiffriert als fundamentale Drohung kann das aufklärerische Ver-
sprechen einer Freiheit des Strebens nach Glück auch nicht mehr als
positives (ohnehin nichtssagendes, inhaltsloses, der Inhaltslosigkeit der
Wertform entsprechendes) Ideal verstanden werden. Es geht daher auch
nicht etwa darum, eine Differenz von bürgerlichem Ideal und bürgerli-
cher Wirklichkeit aufzumachen: sei es, um das Ideal gegen die Wirklich-

21
keit einzuklagen und eine ideale bürgerliche Wirklichkeit herstellen zu
wollen (die naive Variante); sei es, dass jene Naivität scheinbar kritisiert
wird, aber nur um dann das immer noch bürgerliche Ideal vermeintlich
jenseits der bürgerlichen Verhältnisse realisieren zu wollen. Vielmehr ist
es die Aufgabe radikaler Kritik, den negativen, zerstörerischen Charakter
des bürgerlich-aufklärerischen Ideals selber und damit die faktische Iden-
tität von Ideal und Wirklichkeit gerade in der Leidens- und Zumutungs-
geschichte der Moderne aufzudecken. Zusammen mit der modernen
Form des Glücks, das sich als veritables Unglück herausstellt, ist auch die
moderne Form des Reichtums von Grund auf zu kritisieren. Dazu bedarf
es als Voraussetzung einer ebenso grundsätzlichen Kritik der aufkläreri-
schen Begrifflichkeiten von Vernunft, Subjekt und Geschichte.

5.

Nichts hat die bürgerliche Aufklärungsideologie stärker in unsere Köpfe


gehämmert als ihre Geschichtsmetaphysik. Die Realmetaphysik von Arbeit
und Wert wird historisch in das teleologische Konstrukt des „Fortschritts"
eingebannt. Der bürgerlichen Arbeitsontologie, die das Realabstraktum
„Arbeit" (laut Marx die „Substanz" der Wertform) als ewige Menschheits-
bedingung definiert, und der daraus resultierenden Arbeitsmetaphysik
einer vermeintlichen Befreiung der Arbeit (und Befreiung durch Arbeit)
entspricht die bürgerliche Ontologie und Metaphysik des Subjekts: Das
warenproduzierende Arbeits-, Zirkulations-, Erkenntnis- und Staatssub-
jekt der Moderne gilt als „der Mensch" schlechthin, und damit verbunden
ist das metaphysische Versprechen einer „Autonomie und Selbstverant-
wortung" durch die bürgerliche Denk- und Handlungsform. Diesem ide-
ologischen Konstrukt des Subjekts wiederum entspricht die bürgerliche
Fortschrittsontologie, die alle bisherige Geschichte als Aufstieg von einer
niederen zu einer höheren Form versteht, und die darauf aufbauende
Fortschrittsmetaphysik, die in der modernen Wertvergesellschaftung die
Krönung und den Abschluss der Geschichte erblickt.
Im ursprünglichen Aufklärungsdenken handelte es sich dabei zu-
nächst um den angeblichen Fortgang vom „Irrtum" zur „Wahrheit", klas-
sisch formuliert bei Condorcet. Die bisherige Menschheit, so noch Kant
in seinen sämtlichen Hauptwerken, sei in ihrem Denken und Handeln
auf systematische Fehler und Inkonsequenzen verfallen; sie habe sich der

22
Irrationalität und falschen Neigungen hingegeben, während erst jetzt, mit
der bürgerlichen Moderne, das Zeitalter der „Vernunft" angebrochen sei.
Hegel kritisierte dieses Konstrukt, aber nur insofern, als er es in eine
raffiniertere Fassung umgoß: Seiner Version zufolge sind die vormoder-
nen Geistes- und Gesellschaftszustände nicht als bloße Irrtümer, sondern
als „notwendige Entwicklungsformen" und Durchgangsstadien des in der
menschlichen Geschichte zu sich kommenden „Weltgeistes" zu fassen.
Die Geschichte ist also Entwicklungsgeschichte, und zwar eine notwen-
dige. Allen früheren Formationen wird das Recht dieser Notwendigkeit
zugestanden, aber ein jeweils minderes, je ferner in der Vergangenheit sie
liegen. In der metaphorischen Gleichsetzung von historisch-gesellschaftli-
cher Onto- und Phylogenese erscheinen sie als Etappen eines Reifeprozes-
ses der Menschheit von vor- und halbmenschlichen oder halbtierischen
Zuständen über Kindheit und Jugendalter bis zum glorreichen Status des
endlich „vernünftigen" (männlichen und weißen) Erwachsenen. Der Po-
sitivismus als legitimer Erbe der Aufklärung hat dieses Schema seit Comte
vulgarisiert, popularisiert und politisiert, etwa in den legitimatorischen
Kolonisations- und den späteren politisch-ökonomischen „Entwick-
lungs"-Theorien.

6.

Die in diesem Geschichtskonstrukt zu sich kommende Subjektform ist


einerseits abstrakt-universell („Gleichheit") und insofern geschlechtslos.
Andererseits werden aber die nicht durch den Verwertungsprozess er-
fassbaren Momente von gesellschaftlicher Reproduktion, menschlichen
Ausdrucksformen etc. an „die Frau" (als biologisches Sexual- und Mut-
terwesen) delegiert und von der „eigentlichen" Subjektform des Werts
abgespalten. Das Wertverhältnis stellt sich somit nur vordergründig als
übergreifend-universell dar, indem es sich als Totalität suggeriert, die es
nicht ist und nicht sein kann. Jenseits eines positiven Totalitätsbegriffs
handelt es sich bei der modernen Gesellschaft tatsächlich um ein in den
Wertkategorien ausgeblendetes Meta-Verhältnis, nämlich das basal ge-
schlechtlich bestimmte „Abspaltungsverhältnis" (Roswitha Scholz).
Dieses gerade die vermeintliche Universalität dementierende Verhält-
nis verschwindet einerseits in der bürgerlich-aufklärerischen Begriffswelt;
wo es andererseits in seinen alltäglichen praktischen Erscheinungsformen

23
benannt werden muss, sind diese Phänomene in den bürgerlichen Katego-
rien verräterisch nur darstellbar als „objektive (naturhafte) Ungleichheit".
Die abstrakte Gleichheit bezieht sich somit ausschließlich auf das Bin-
nen-Universum der Wertform und gilt für die Frau nur, soweit sie eben
auch in dieser Form agiert (als Käuferin oder Verkäuferin von Waren oder
Arbeitskraft), während die von diesem nur scheinbar selbstgenügsamen
Universum abgespaltenen Momente ausgeblendet bleiben.
Der Universalismus des warenproduzierenden Systems ist somit nicht
nur (real) abstrakt und destruktiv, sondern auch scheinhaft, weil er der
tatsächlichen gesellschaftlichen Allgemeinheit ermangelt. Als abgespal-
tenes Wesen ist die soziale „Weiblichkeit" außerhalb des Universalismus
gesetzt, während die empirischen Frauen eben dadurch in sich gespalten
werden: als Auch-Geldsubjekt sind sie „drinnen", als Trägerinnen der ab-
gespaltenen Momente und Lebensbereiche sind sie „draußen".
Das Abspaltungsverhältnis als paradoxes Gesamtverhältnis der Wert-
vergesellschaftung impliziert also die unwahre, formale Universalität in-
nerhalb der Wertsphäre und gleichzeitig die geschlechtliche Bestimmung
der abgespaltenen, ausgeschlossenen Momente, sodass letztlich das eigent-
liche und volle Subjekt der Wertform als männlich definiert ist. Somit ist
auch das Subjekt der Geschichte, also der Träger des „historischen Fort-
schritts" und der „zu sich" kommenden Ontologie, im Prinzip männlich,
während das zwangsläufig naturhaff und damit geschichtslos bleibende
Moment des Nicht-Subjekts qua vermeintlich biologischer Bestimmung
im Prinzip als weiblich gilt.

7.

Im Geschlechterverhältnis als Abspaltungsverhältnis werden die sozial


notwendigen, aber nicht wertförmig darstellbaren Momente der materi-
ellen, kulturellen und psychischen Reproduktion aus der Gleichheit und
Universalität der Wertvergesellschaftung ausgegrenzt und damit in eine
verstümmelte Form gebracht, in der sie eine stumme Existenz als Schatten
der Wertform fristen. Weil und soweit sie eben wertförmig objektiv nicht
darstellbar sind, ist es auch sinnlos, die abgespaltenen Momente in die von
der Wertform begrenzte abstrakte Universalität hineinklagen zu wollen.
Diese falsche, negative Universalität beruht ja gerade auf der Abspaltung,
ohne die sie nicht existieren und nicht gedacht werden kann. Umgekehrt

24
macht das Abgespaltene auch seinerseits keine soziale, kulturelle oder psy-
chische „Eigentlichkeit" aus, in die der abstrakte Universalismus positiv
aufgelöst werden könnte. Vielmehr ist das Abgespaltene als Abgespaltenes
eben reduziert und verstümmelt; die Überwindung des Abspaltungsver-
hältnisses und damit des Wertverhältnisses selbst ist nur als Überwindung
beider Seiten möglich.
Das Abspaltungsverhältnis bildet dabei die übergreifende Logik der
Moderne, die nicht mit der unmittelbaren Empirie der Geschlechterver-
hältnisse verwechselt werden darf. Die geschlechtliche Zuschreibung von
Wert-Universalismus einerseits und Abspaltung andererseits ist ja nicht
wirklich naturhafte Objektivität, sondern ein gesellschaftliches Konstrukt;
freilich kein zufälliges und beliebiges, sondern ein historisch objektivier-
tes, das nur zusammen mit der Form-Konstitution des Werts (der Verwer-
tungsbewegung des Kapitals) aufgebrochen werden kann. Insofern bildet
es auch ein empirisches, unabweisbares Moment in der Identität der Indi-
viduen, ohne dass diese jedoch darin aufgehen würden.
Deshalb ist es empirisch durchaus möglich, dass etwa Frauen auch
innerhalb der abstrakt-universalistischen Sphäre des Wert-Universums
nicht bloß partiell agieren, sondern auch darin aufgehen, Karriere ma-
chen usw. Sie sind insofern „Subjekte", also quasi strukturell „männlich",
wenn auch meist in paradox gebrochenen Identitätsformen. Das Äbspal-
tungsverhältnis als solches in seiner Logik wird dadurch jedoch überhaupt
nicht berührt. Die Karriere-Frauen zum Beispiel dementieren dieses Ver-
hältnis nicht, sondern repräsentieren es als Subjekte den anderen Frauen
(und in gewisser Weise sich selbst) gegenüber. Die Abspaltung als solche
existiert auch in tausendfach gebrochenen und fragmentierten Formen
weiter, solange das Wertverhältnis weiterexistiert.

8.

Der abstrakte, repressive, abspaltende und ausschließende Charakter des


westlichen, vom Wertverhältnis konstituierten Universalismus macht sich
nicht nur auf seiner basalen geschlechtlichen Ebene geltend, sondern auch
darüber hinaus. Dieser allein auf die Binnenwelt der Wertform bezogene
Universalismus bildet in mehrfacher Hinsicht ein System und Mechanis-
men der Ausgrenzung. Die Definition „des Menschen" als Wertsubjekt
setzt nicht nur das abgespaltene „Weibliche" auf eine halbmenschliche

25
Stufe herab, sondern schließt ihrer Natur nach überhaupt alle Indivi-
duen sozial aus der Menschheit aus, die vorübergehend oder dauerhaft
nicht (oder nicht mehr) im Rahmen der Selbstbewegung des „automa-
tischen Subjekts" agieren können, also von dessen Standpunkt aus, der
zum Standpunkt der sozialen Reproduktion überhaupt geworden ist, als
„überflüssig" und somit prinzipiell als Nichtmenschen gelten müssen. Das
aufklärerische Menschenrecht schließt die temporäre oder totale Ent-
menschung der kapitalistisch nicht reproduzierbaren Individuen ein, weil
es von vornherein nur auf den Menschen als Verwertungssubjekt bezogen
ist.
Die Entmenschung des Menschen ist qua Definition des Universalis-
mus als Eingrenzung auf das Binnen-Universum der Wertmetaphysik
objektiv gesetzt; exekutiert wird dieses Resultat aber erst durch den Pro-
zess der Konkurrenz. Die Konkurrenz entscheidet, wer wann und wo aus
der Kategorie Mensch herausfällt. Deshalb wird die Konkurrenz apriori,
ausgehend von der westlichen Selbstdefinition der Aufklärung, rassistisch
und (als Ultima Ratio der Krisenkonkurrenz) antisemitisch besetzt. Ras-
sismus und Antisemitismus bilden daher keinen prinzipiellen Gegensatz
zum aufklärerischen Universalismus, sondern sind im Gegenteil als not-
wendige Konsequenz der Eingrenzung auf Wertform und damit Konkur-
renz dessen integrale Bestandteile. Das Subjekt ist so seinem Begriff nach
nicht nur männlich, sondern auch weiß.
Für die doppelte Logik von sozialer Entmenschung und rassistischer j
Ausgrenzung gerade durch den westlichen Universalismus gilt dasselbe
wie für das basale Abspaltungsverhältnis: Es handelt sich um eine als
objektiviertes Konstrukt wirksame Logik, die nicht unmittelbar mit den
empirischen Verhältnissen deckungsgleich ist, diese aber dennoch struk-
turiert. Für die nicht-weißen Individuen gilt daher ähnliches wie für die
weiblichen: Im Zuge der Globalisierung können sie minoritär (und off
mitten in den globalen Zusammenbruchsregionen) in den abstrakten
Universälismus des Werts aufsteigen; als Subjekte sind sie damit aber im-
mer nur „nicht-weiße Weiße". Wie durch den Aufstieg von Frauen in den
Subjektstatus des Wert-Universums das Abspaltungsverhältnis nicht de-
mentiert wird, ebenso wenig wird durch den entsprechenden minoritä-
ren Aufstieg von nicht-weißen Individuen der westliche Universalismus
als soziales und rassistisches Ausschließungsverhältnis dementiert. Und
in derselben Weise ist es sinnlos, den westlichen Universalismus sekundär
noch einmal universalisieren zu wollen, weil er qua Konkurrenz gerade

26
auf dieser Ausschließung beruht. Die soziale und anti-rassistische kann
sich ebenso wenig wie die geschlechtliche Emanzipation auf den Univer-
salismus der Aufklärung berufen.

9.

Das seiner inhärenten Logik nach männlich-weiße aufgeklärte Subjekt


des Werts und der Geschichte enthält in sich eine auf dem Boden des
Werts unauflösbare Aporie: Es ist einerseits definiert als das selbstherrli-
che Subjekt des bürgerlichen „freien Willens", der sich eine Welt von O b -
jekten schafft, von denen er gleichzeitig wie durch eine undurchdringliche
Schottenwand auf immer qua seiner eigenen selbstbezüglichen Form ge-
trennt ist: affirmativ dargestellt in der Kantschen Ding-an-sich-Proble-
matik; bei Hegel als Entäußerungsbewegung des freien Willens in die O b -
jekte, in denen er sich jedoch als Anderes, dem Anspruch nach Selbstge-
nügsames oder Selbstbezügliches erhält, um zu sich zurückzukehren - die
logisch-philosophische Darstellung des Verwertungsprozesses und seiner
Subjektbewegung.
Diese Form des „freien Willens" ist jedoch andererseits selber wesent-
lich und unverhandelbar objektiv, fällt also insofern nicht in die „Frei-
heit" der Wahl einer Alternative. Es ist nur die „freie Auswahl" im Wa-
ren-Universum nach Maßgabe der Zahlungs- und Rechtsfähigkeit des
Individuums, das außerhalb dieser Kriterien gesellschaftlich gar nicht als
Mensch existiert. Somit ist das freie Subjekt des Werts sich selber Objekt,
es objektiviert sich selbst als empirisches Wesen, auf den Begriff gebracht
in der Kantschen Ethik einer wahrlich monströsen Selbstvergewaltigung
des realen Individuums nach Maßgabe der leeren Form eines „Gesetzes
überhaupt".
Dieselbe Kantsche Philosophie, ergänzt durch und gestützt auf die ka-
pital-ökonomistische schottische (angelsächsische) Aufklärung, treibt das
aporetische Verhältnis sowohl erkenntnis- als auch handlungstheoretisch
(„ethisch") auf die Spitze: Das Subjekt als Subjekt ist samt seiner „Freiheit"
nicht von dieser Welt, seinem Wesen nach getrennt von aller Sinnlichkeit,
praktischen Gegenständlichkeit und sozialen Bedürftigkeit; es ist ein blo-
ßes Gespenst der leeren Fetischform des Werts. Soweit sich dieses Subjekt-
Gespenst jedoch auf die wirkliche Welt bezieht, ist es auch schon „natur-
notwendig unfrei", weil es nur nach den (mechanischen) physikalischen

27
und gesellschaftlichen „Naturgesetzen" erkennen und handeln kann, die
paradoxerweise und zu allem Überfluss laut Kant gar nicht die immanen-
ten Daseinsgesetze der Natur selber sind, sondern allein die Erkenntnis-
form seiner eigenen entfremdeten (ihm selbst als Fremdes erscheinenden)
Beziehung zur Sinnenwelt. Die Freiheit ist leer und jenseitig, das wirkliche
Leben spielt sich als gnadenloses „Naturgesetz" des Kapitals und seines
endlosen Verwertungsprozesses ab.
Der Begriff der Sinnlichkeit wird dabei selber abstrakt gesetzt als
„Sinnlichkeit überhaupt", gerade weil der wirkliche sinnliche Bezug für die
Wertabstraktion gleichgültig bleibt. Damit ergibt sich eine paradoxe Ver-
kehrung im Begriff von Sinnlichkeit und Natur: Einerseits wird geleug-
net, dass der „Stoffwechselprozess mit der Natur" (Marx) selber immer
schon kulturell konstituiert und keineswegs unmittelbar ist; dass sich also
die Sinnlichkeit selber historisch und kulturell unterschiedlich darstellt
einschließlich des Verständnisses von Raum und Zeit. Die Sinnlichkeit
erscheint stattdessen ahistorisch als die immer schon abstrakte, gleich-
gültige des Wertverhältnisses. Andererseits „arbeitet" die Wertvergesell-
schaffung wie keine historische Formation vor ihr mit Macht daran, die
gesamte Natur und Sinnenwelt einschließlich der menschlichen Sexua-
lität tatsächlich vollständig ihrem eigenen Begriff gleichzumachen; also
die Natur selbst in einen ahistorischen Zustand der völligen Kompatibi-
lität mit der Wertabstraktion zu verwandeln und jede Differenz zwischen
Natur und kapitalistischer Gesellschaft einzuebnen (ein notwendig zum
Scheitern verurteiltes Unterfangen).
Indem sie so die gesamte Natur und damit auch die Sinnlichkeit der
Individuen qua Wertabstraktion objektiviert, zerfällt die Wertvergesell-
schaftung als ganzes wie jedes ihrer Subjekte an sich selber in eine apore-
tische Polarität von Subjekt und Objekt; Gesellschaft wird zur blinden
Objektivität, die den davon geformten (strukturell männlichen und wei-
ßen) Subjekten als fremde Macht (zweite Natur) gegenübersteht, während
die in dieser Logik nicht aufgehenden Momente abgespalten und damit
„irrationalisiert" werden müssen. Die Selbstherrlichkeit und „Unbedingt-
heit" des total entsinnlichten und überhaupt entwirklichten freien Wil-
lens schlägt in das genaue Gegenteil eines ebenso unbedingten Objekti-
vismus um.
Wie die Subjektmetaphysik muss somit auch die Geschichtsmetaphy-
sik aporetischer Natur sein: Dem männlichen und weißen Subjekt der
Geschichte entspricht die objektive „Naturgesetzlichkeit" der Geschich-

28
te, soweit sie die wirkliche Geschichte der Gesellschaft ist; je freier, desto
notwendiger. Hegel hat diese Aporie auf den Begriff gebracht mit seiner
berühmt-berüchtigten Aussage: „Freiheit ist Einsicht in die Notwendig-
keit." Dieser repressive Freiheitsbegriff ist in der kapitalistischen Ent-
wicklung durchgängig als handlungsleitende Maxime präsent, wie etwa
der sozialdemokratische deutsche Bundeskanzler Schröder im Sommer
2004 bewies, als er vor der preußischen Kulisse des Schlosses Neuharden-
berg Hegels Sentenz beschwörend zitierte, um seine antisozialen Gegen-
reformen zu rechtfertigen. Aufklärung ist so wesentlich eine Ideologie der
Selbstvergewaltigung und der Selbstunterwerfung der Individuen unter
den versachlichten Imperativ der „zweiten Natur" gemäß den Kriterien
der ihnen gegenüber verselbständigten Selbstbewegung der Wertform
(Verwertung des Werts).
Soweit Frauen und Nicht-Weiße empirisch in den Subjektstatus der
Wert-Metaphysik aufsteigen, emanzipieren sie sich also nicht, sondern
tauschen nur die Reduktion auf den Status von Abspaltung und Ausgren-
zung durch die andere Reduktion auf den Status der Selbst-Objektivie-
rung aus.

10.

Seiner aporetischen Struktur zufolge muss das männlich-„freie" und


weiße Subjekt der Geschichte, das „frei" ist gerade als Exekutor der de-
terminierten Selbstzweck-Bewegung des Werts, nicht nur die Momente
von Emotionalität, Sinnlichkeit etc. abspalten, sondern auch sich selbst
in einen inneren Gegensatz von Denken und Handeln aufspalten: Auf
der einen Seite erscheinen die (ökonomischen und politischen) „Macher",
die weitgehend (jedenfalls auf der Meta-Ebene der gesellschaftlichen For-
men) reflexionslosen Funktionseliten; auf der anderen Seite die nicht un-
mittelbar gesellschaftlich handelnden, weitgehend kontemplativen Theo-
retiker, die sich (ebenso entsinnlicht und entemotionalisiert wie die „Ma-
cher") als bloß „äußere" Beobachter gerieren müssen; gewissermaßen als
das in einer Nährlösung schwimmende Gehirn auf dem Mars, das durch
die apriorische Denkform des Werts hindurch mittels technischer Gerät-
schaften (oder theoretischer Abstraktionskraff) von außen das wimmeln-
de Objektleben der irdischen Gesellschaff beobachtet und allein dadurch
„sachlich" ist. Der bürgerliche Begriff der Sachlichkeit entspricht der Ob-

29
jektivierung der Welt und der Selbstobjektivierung der Subjekte, sowohl
der kontemplativen Theoretiker/Wissenschaftler als auch der politischen
und ökonomischen „Macher".
Die systematische Spaltung von Theorie und Praxis ist real Bestand-
teil der Wertkonstitution und erscheint gleichzeitig in der dazugehörigen
subjekt- und geschichtsmetaphysischen Ideologie. Die Macher vollstre-
cken den Gang der Objektivität, die kontemplativen Theoretiker weisen
nach, dass das alles seine Richtigkeit hat und gar nicht anders sein kann.

11.

Der scheinbar entgegengesetzte Subjektivismus ist bloß ein periodisch


auftretendes Abfallprodukt und eine Begleiterscheinung dieser gesell-
schaftlichen Logik; also die Hypostasierung des anderen Pols, der ver-
meintlich reinen Subjektivität, ohne die bürgerliche Form-Konstitution
zu verlassen. Weshalb er auch regelmäßig scheitert und wieder in die O b -
jektivität des Subjekts wie der Geschichte zurückgeführt wird. Dieser Sub-
jektivismus hat sich allerdings im Lauf der bürgerlichen Geistesgeschichte
auch verfestigt und verselbständigt als Haltung einer falschen Unmittel-
barkeit, die den historischen und logischen Konstitutionszusammenhang
des Subjekts, wie es von der Wertform des warenproduzierenden Systems
bestimmt wird, ausblendet und es positivistisch in seinem unreflektierten
Gewordensein voraussetzt.
Das Resultat ist entweder die Mystifizierung oder die Ästhetisierung
(oder beides) der modernen Subjektivität in ihrer banalen und erbärmli-
chen Existenz als Agent und „Mundloch" der subjektlosen Verwertungs-
bewegung. Von der Romantik über die vermeintlichen Solitäre Kierke-
gaard, Schopenhauer und Nietzsche bis zur so genannten Lebensphilo-
sophie, dem Existentialismus von Heidegger und Konsorten, der damit
verbundenen und gesellschaftlich wirkmächtigen Nazi-Ideologie und den
aus diesen Wurzeln genährten Denkbewegungen in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts zieht sich eine ganze Kette von Erscheinungsformen
dieser ideologischen falschen Unmittelbarkeit des Wertsubjekts, das sich
schmerzhaft als in eine fremde Welt „geworfenes" und ans Kreuz seiner
Objektivität genageltes erlebt, um sich im selben Atemzug in dieser nega-
tiven Existenz selber zu heroisieren, statt sich dagegen aufzulehnen und
sich davon zu emanzipieren.

30
12.
Die Denk- und Erkenntnisform sowohl der „Macher" als auch der kon-
templativen Theoretiker ist die Identitätslogik. In praktischer Hinsicht
wird dabei die Welt, Natur wie Gesellschaft und alle ihre Gegenstände,
der Wertabstraktion angeglichen, mit dem Wert kompatibel und insofern
gleich gemacht. Dieser von Haus aus destruktive Zugriff bildet gewis-
sermaßen eine „objektive Intention"; also eine wiederum auf die basale
Paradoxie des gesellschaftlichen Verhältnisses verweisende Verkehrung,
indem die Absichten der Individuen und Institutionen durch ihre eigene
Wahrnehmungs- und Handlungsform präformiert sind vor aller „subjek-
tiven" Willensäußerung. Im auf sich selbst rückgekoppelten Verwertungs-
prozess (Arbeitsprozess, Zirkulationsprozess, Rückkehr des vermehrten
Geldkapitals zu sich selbst und darauf bezogener „Politik") spannt das
Wertsubjekt die ungleichnamigen Qualitäten auf das Prokrustesbett der
Wertabstraktion. Alles und jedes, von der gröbsten Materie bis zu seeli-
schen Regungen, verfällt diesem Prozess des praktischen Identifizierens
nach dem einen und einzigen Merkmal dieser Realabstraktion.
Das Resultat ist eine stets anwachsende Ökonomisierung und dem Ab-
straktionsprozess des Werts folgende Zurichtung der Welt, die durch die
scheinbar gegenläufigen subjektivistischen Ideologien der Mystifizierung
und Ästhetisierung nur flankiert und in vieler Hinsicht sogar forciert wird.
In dem Maße, wie Welt und Gesellschaft derart zugerichtet werden, ist das
vermeintlich Konkrete nur noch die Ausdrucks- oder Erscheinungsform
des Abstrakten (der Wertform) selbst, kann also nur im schlecht ideo-
logischen Sinne gegen das negative abstrakte Allgemeine angerufen wer-
den, dessen Daseinsgestalt es in Wirklichkeit ist. Noch der Konsumtions-
prozess als materielle Reproduktion des Lebens soll sich weitestmöglich
dieser Form unterwerfen und ihr angleichen, während die darin niemals
aufgehenden Momente, die stets die Kehrseite der Form und keinesfalls
einen bloßen „Rest" bilden, der (geschlechtlich besetzten) Abspaltung zu-
gewiesen bleiben. Aber das sozialhistorisch „weibliche" Subjekt der Ab-
spaltung, die Trümmerfrauen der Geschichte als Reparaturkolonne der
Wertvergesellschaftung und ihrer Verheerungen, kann gerade qua „weib-
licher Tugenden" das Verhängnis der Wertform weder stoppen noch de-
ren Imperative überwinden, eben weil es selber bloß die spiegelverkehrte,
negativ identische Figur des „männlichen" Wertsubjekts bildet und mit
diesem zusammen konstituiert ist.

3i
Dasselbe gilt wiederum für die rassistisch ausgegrenzten vormodernen
Kulturen oder deren ideologische Wiedergänger. Der seit Rousseau durch
das aufklärerische Denken irrende „edle Wilde", ein projektives Phantas-
ma der Ahnung von den destruktiven Gehalten der Aufklärungsphiloso-
phie selber, bietet erst recht kein Potenzial für die emanzipatorische Über-
windung der warenproduzierenden Moderne. Die realen vormodernen
Fetisch-Verhältnisse waren weder besser als die modernen noch können
sie den geringsten Hinweis darauf liefern, wie der Amoklauf der Wertver-
gesellschaftung zu stoppen wäre. Noch viel weniger liegt ein emanzipato-
risches Potenzial in der bloß ideologischen Konstruktion einer verklärten
Vergangenheit oder außereuropäischer „Kulturen", die nach Jahrhun-
derten der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte nur Zerrbilder der
Wertvergesellschaftung und ihrer Subjektivität selber sein können.

13.

Der innere Drang der Verwertungsbewegung als historischer Prozess be-


steht darin, zur absoluten Selbstgenügsamkeit der leeren Formabstraktion
zu gelangen: die Weltgegenstände daher so lange zuzurichten, bis sie in
der Leere dieser Form verschwinden - also durch Weltvernichtung. Da-
mit ist der Todestrieb des aufklärerischen Subjekts und seiner identitäts-
logischen, abspaltenden Vernunft gesetzt, der sich durch die Modernisie-
rungsgeschichte hindurch entfaltet. Dieser Todestrieb richtet sich auch ge-
gen das als „weiblich" konnotierte Prinzip des Abgespalteten, obwohl oder
gerade weil dieses die Bedingung der negativen Systemerhaltung bildet.
Da der totalitäre Anspruch der Wertform nur um den Preis der Abspal-
tung, also der (uneingestandenen) „Unvollständigkeit" und mangelnden
Selbstgenügsamkeit in der physischen und sozialen Welt, darstellbar ist,
muss der totalitäre Drang sich letztlich gegen die Reproduktionsfähigkeit
des Systems selbst richten. Die logische Unmöglichkeit der totalen Wert-
form, der vollkommenen Entsinnlichung und Asozialität, wird praktisch
als Welt- und Selbstvernichtung.
Dem praktischen totalitären Ökonomismus der leeren Form ent-
spricht die Politik zunächst als dessen emphatische Durchsetzungsform
(forciert seit der französischen Revolution), die zur Verwaltungsform des
Wertverhältnisses (Menschenverwaltung, Krisenverwaltung) erstarrt, um
schließlich als Bewusstseinsform des modernen Todestriebs, als Vernich-

32
tungs- und Selbstvernichtungsform in den Zersetzungsprozessen des wa-
renproduzierenden Systems zu enden.
Dieselbe Denk- und Erkenntnisform reproduziert sich in der theore-
tischen, kontemplativen Reflexion als begriffliche, reflektierende Iden-
titätslogik. Wie die strukturell männlichen und weißen „Macher" der
bürgerlichen Aufklärung die Welt praktisch totalitär zurichten wollen, so
versuchen die entsprechenden kontemplativen Theoretiker die Welt eben-
so totalitär begrifflich zu erfassen. Wie in der Praxis wird auch im refle-
xiven Denken alles entweder durchgestrichen oder abgespalten, was nicht
im (wertabstraktiv) identifizierenden Begriff aufgeht. Der kontemplative
Theoretiker als reflexives Wertsubjekt spiegelt sich narzisstisch-autistisch
in der Welt, in deren Gegenständen er immer wieder nur sich selbst in sei-
ner abstraktifizierenden, permanent abspaltenden Existenz erkennt und
anbetet.
Die Welt soll restlos in der Totalität des Werts aufgehen und darstell-
bar sein oder eben untergehen. Daher die Forderung nach absoluter und
positiver begrifflicher Eindeutigkeit und „Ableitbarkeit" (positives Sys-
temdenken). Der praktischen wie der theoretischen Identitätslogik ent-
spricht die Tendenz zur (sozialen wie erotischen) Beziehungslosigkeit und
Beziehungsunfähigkeit als Spiegelung der wertabstraktiven Tendenz zur
Selbstgenügsamkeit in der leeren Form. Wobei natürlich selbst der hartge-
sottenste identitätslogisch-kontemplative Theoretiker genauso wenig real
in seiner Werthaut aufgehen kann wie jedes andere Individuum. Für die
Bewältigung der darin angelegten Dilemmata sind dann eben jene Mysti-
fizierungs- und Ästhetisierungs-Ideologien des Subjektivismus zuständig,
in die sich das weiße, „männlich"-identitätslogische Erkenntnissubjekt
des Werts bei Bedarf flüchten und der Selbstheroisierung hingeben kann.

14.

In Romantik, Lebensphilosophie, Existentialismus und deren vielfältigen


Derivaten kommt die repressive und zerstörerische Irrationalität des Wert-
Abspaltungsverhältnisses unmittelbar auch auf der Seite des Wertsubjekts
zum Ausdruck, allerdings in entsprechenden Formen. Während die abge-
spaltenen, in der Wertform nicht aufgehenden Momente der Sinnlichkeit,
Emotionalität, der mangels wertförmiger Darstellbarkeit nicht oder nur
unter katastrophalen Friktionen ökonomisierbaren „Hege und Pflege",

33
der damit verbundenen Reproduktionsbereiche etc. als die „weibliche",
naturhafte, nicht begrifflich erfassbare (und letztlich zu eliminierende)
Irrationalität im Gegensatz zum gepanzerten Wertsubjekt erscheinen, na-
turalisiert und irrationalisiert sich dieses Subjekt der vom Wert gesetzten
Rationalität in den subjektivistischen Ideologien selbst; aber bloß kom-
pensatorisch als das, was es ist: Die abstrakte Rationalität schlägt unver-
mittelt in eine ebenso abstrakte Irrationalität um, die Identität von bür-
gerlicher Vernunft und objektivem Wahn wird deutlich.
Mit der romantisch-existentialistischen Adaption der Irrationalität
dementiert sich das männlich-weiße Wertsubjekt nicht; es entdeckt die
„weibliche" (sinnliche) Seite in sich folgerichtig nur als Todes- und Schläch-
terphantasie, wie sie sich schon von den Ursprüngen der frühmodernen
„militärischen Revolution" her im „Kult der Kanonen" herausgebildet
hatte und den Bezug zur sinnlichen Welt als abstrakte Vernichtungslogik
entwickelte, die sich im Todestrieb der vom Wert bestimmten Subjekt-
form objektiviert hat. Der romantische Kult des Fragmentarischen ist der
Trümmerkult der vom Wert verwüsteten Welt, also dem identitätslogi-
schen Totalitarismus nicht entgegengesetzt, sondern dessen Spiegelbild in
der Sinnenwelt. „Sinnlich" ist das aufgeklärte Wertsubjekt nur, indem es
sinnbildlich oder buchstäblich die Welt zertrümmert und im Blut watet.
Diese negative Sinnlichkeit ist selber abstrakt, in ihr erscheint periodisch
und auf wachsender historischer Stufenleiter unmittelbar der Todestrieb
des Wertsubjekts, das die Welt in die leere Form seiner Realabstraktion
auflösen möchte.
Die romantische männliche Liebe hat ihr Objekt am liebsten in der
Form der Wasserleiche (Ophelia); von den höchsten artifiziellen Aus-
drucksformen bis zum Stammtisch („Der Bauch, der war bemoost; mei-
ne Herren, Prost!"). Die Literaturhistorikerin Elisabeth Bronfen hat dazu
Anfang der 90er Jahre eine umfassende Monografie vorgelegt („Nur über
ihre Leiche"; Tod, Weiblichkeit und Ästhetik). In den Blut- und Boden-
Ideologien nimmt diese Irrationalität selber die Form des Vernunftbe-
griffs an; und auf den Schlachtfeldern der Modernisierungsgeschichte
kommt diese negative, abstrakte Sinnlichkeit des „Blutes" zu sich; in der
liebenden mann-männlichen Umarmung der Wertsubjekte, die sich ge-
genseitig mit Bajonetten durchbohren, ebenso wie in der Romantisierung
der Bluträusche in den industrialisierten Großkriegen des 20. Jahrhun-
derts (Ernst Jünger).
Wie die Abspaltung der als „weiblich" definierten, unerlässlichen

34
und dennoch immer wieder und immer brutaler vernachlässigten, ein-
geschnürten oder direkt zerstörten Momente der Reproduktion das de-
struktive Wertsubjekt nicht in Frage stellt, sondern vielmehr erst ermög-
licht, solange sich der Todestrieb nicht vollendet hat, so überwindet die
irrationale Existenzideologie und die negative, blutige Sinnlichkeit der ro-
mantisch werdenden Aufklärungs-Männlichkeit dieses Subjekt erst recht
nicht, sondern bringt sein weltvernichtendes Wesen zum Vorschein.
Es ist der regelmäßige Fieberanfall der aufgeklärt-rationalen Macher
wie der aufgeklärt-rationalen kontemplativen Theoretiker selbst, in dem
sich die Irrationalität dieser Ratio zeigt. Es ist also Kant im Zustand der
Sinnlichkeit, das heißt der Niedermetzelung alles Lebenden, das nicht in
der Wertabstraktion aufgehen kann. Darin zeigt sich die negative, polare
Identität von bürgerlicher Moderne und (scheinbarer) bürgerlicher Ge-
genmoderne. Und nur in dieser unmittelbaren Identität von wertförmi-
ger Vernunft und Vernichtung kann auch der Macher mit dem Denker
zusammenfallen. Die bürgerliche Einheit von Theorie und Praxis ist das
Vernichtungslager, die Atomexplosion, das Flächenbombardement. Darin
besteht der verborgene gemeinsame Nenner von Kant, Hitler und Ha-
bermas, von deutscher Ideologie und US-Pragmatismus, von liberaler
Zwangsfreiheit und totalitärem Autoritarismus. Trotz aller historischen
Gegensätzlichkeit in der Durchsetzungsgeschichte der Wertvergesellschaf-
tung wird dieser gemeinsame Nenner in den großen Krisen und zumal an
den Grenzen des Systems sichtbar. Und in dieser Hinsicht gilt es zusam-
men zu denken, was zusammen gehört.

15.

In vieler Hinsicht stellt der Marxismus nicht die Überwindung, sondern


lediglich die Fortsetzung und Erweiterung der destruktiven aufkläreri-
schen Wertmetaphysik von Subjekt und Geschichte dar. Marx selbst und
erst recht der so genannte Marxismus haben bekanntlich die hegelsche
erweiterte Version der aufklärerischen Fortschrittsontologie und Fort-
schrittsmetaphysik im wesentlichen übernommen, um sie lediglich „ma-
terialistisch" vermeintlich vom Kopf auf die Füße zu stellen: Die „notwen-
dige Entwicklungsgeschichte" verwandelte sich in die politisch-ökono-
mische Geschichte von „Produktionsweisen" mit dazugehörigen Denk-
weisen (historischer Materialismus). Der materialistischen Umdeutung

35
entsprach eine Verlängerung des aufklärerischen Konstrukts: Wie die not-
wendige Entwicklungsgeschichte des zu sich kommenden Weltgeistes sich
in eine notwendige Geschichte von Produktivkräften und Produktions-
verhältnissen verwandelte, so sollte der krönende Abschluss nicht in der
bürgerlichen Gesellschaft, sondern im „Arbeitersozialismus" bestehen.
Der Marxismus postulierte also nur ein weiteres und zusätzliches „ob-
jektiv notwendiges Entwicklungsstadium", das nach dem bürgerlichen
noch kommen sollte, und erwies sich somit selber als bloßer Wurmfortsatz
der aufklärerischen Geschichtsmetaphysik. Zwar bezeichnete Marx gele-
gentlich den Sozialismus/Kommunismus statt als Abschluss der Geschich-
te genau umgekehrt als jenes „Ende der Vorgeschichte", dessen Begriff den
ersten Ansatzpunkt für eine über die aufklärerische Fortschrittsideologie
hinaus gehende Kritik geben kann; aber diese Formulierung entspricht
den bei Marx gerade nicht mit dem Aufklärungsdenken kompatiblen
Momenten seiner Theorie, die (vor allem in Gestalt des Fetischbegriffs)
deshalb auch mit dem historischen Materialismus nicht kompatibel sind.
An der Fetischform des Werts als solcher ist überhaupt nichts „materiell".
Deshalb muss von einem „doppelten Marx" gesprochen werden, einem
„marxistischen" Marx und einem „anderen" Marx jenseits des Horizonts
bürgerlicher Aufklärungsphilosophie.
Hinsichtlich dieses „doppelten Marx" gehört also der historische Ma-
terialismus ganz dem bürgerlich-aufklärerischen Erbe, dem Moderni-
sierungs- und Arbeiterbewegungs-Marx an; dementsprechend auch der
materialistisch gewendete Begriff des „Fortschritts", der im wesentlichen
nur der arbeiterbewegungsmarxistischen Avantgarde-Funktion im kapi-
talistischen Modernisierungsprozess (Herstellung allgemeiner Rechtssub-
jektivität und Staatsbürgerlichkeit etc.) diente.
Damit einher ging folgerichtig die kategoriale Befangenheit des Mar-
xismus auch in den anderen Momenten kapitalistischer Ontologie und
Metaphysik; nicht nur hinsichtlich der objektivierten gesellschaftlichen
Vermittlungsformen von Arbeit und Wert, sondern auch hinsichtlich
der bürgerlichen Subjektform, in die hineinzukommen und in der ge-
sellschaftlich anerkannt zu werden das wesentliche historische Anliegen
der Arbeiterbewegung war. Der materialistischen Wendung der aufkläre-
rischen Geschichtsmetaphysik entsprach notwendig eine materialistische
Wendung der aufklärerischen Subjektmetaphysik (nämlich in Gestalt der
klassensoziologistischen Ideologie), ohne die Überwindung der zugrunde
liegenden historisch-gesellschaftlichen Form denken zu können.

36
Logischerweise konnte so der Marxismus auch das Geschlechterver-
hältnis nur im Rahmen der bürgerlichen Subjektform verhandeln, um die
von der Aufklärungsideologie grundsätzlich schon gestellten, aber noch
nicht gelösten „Aufgaben" zu erledigen, das heißt als abstrakte staatsbür-
gerlich-juristische „Gleichstellungsfrage" (analog zur entsprechenden Lo-
gik der männlichen Lohnarbeiter-Subjekte), während gleichzeitig die De-
legation der abgespaltenen Momente an „die Frau" (die Proletarierin als
„Gebärerin" von „Soldaten der Arbeit") ebenfalls von der Aufklärungside-
ologie übernommen wurde in Gestalt eines von dieser selbst schon ausge-
brüteten biologistischen Materialismus des Abspaltungsverhältnisses.
Ganz ähnlich stellte sich das marxistische Verhältnis zu Rassismus und
Kolonialismus dar: Auch in dieser Hinsicht übernahm die Arbeiterbewe-
gung weitgehend die aufklärerische Idee von der weißen Überlegenheit
und der „zivilisatorischen Mission" des Kapitals, lediglich gemildert durch
sanfte Kritik an den „Auswüchsen" kolonialistischer Gräuel. Auch das
Subjekt des geschichtsmetaphysischen Fortschritts zum Sozialismus als
vermeintlicher Krönung der menschlichen Fortschrittsgeschichte konnte
daher wieder nur ein im Prinzip männliches und westlich-weißes sein.
Der Befangenheit in den kapitalistischen Realkategorien, in den Es-
sentials der Aufklärungsideologie und im Abspaltüngsverhältnis musste
eine ebensolche Befangenheit in den Formen der theoretischen Reflexion
entsprechen. Marx hat in seiner Kritik der politischen Ökonomie den ka-
tegorialen Zusammenhang und Reproduktionsprozess des Kapitals klar
dargestellt, aber erstens beschränkt auf den Kern des Wertverhältnisses
ohne die Dimension des Abspaltung$verhältnisses und ohne die systema-
tische Erfassung der Politikform (ersteres mangels Verständnis, letzteres
mangels Gelegenheit der Ausarbeitung). Ähnlich verkürzt und daher wi-
dersprüchlich, weil eingebettet in die aufklärerische Fortschrittsmetaphy-
sik, musste die marxsche Darstellung des Kolonialismus bleiben.
Zweitens ist die Form der Darstellung eben deswegen eine solche, dass
sie positiv-identitätslogisch gelesen werden kann als lediglich materialis-
tisch-politökonomisch gewendete totalitäre Systemtheorie im hegelschen
Sinne, während die negative Theorie der Fetisch-Konstitution gewisser-
maßen als (das männlich-identitätslogische Ableitungsdenken seit jeher
eher befremdender) „Querschläger" erscheint. Unter Ausblendung dieses
Fremdkörpers konnte der Arbeiterbewegungs-Marxismus die marxsche
Theorie daher positivistisch als Anleitung zum Handeln innerhalb der
Hülle von Wertform und bürgerlicher Subjektform aufnehmen.

37
In dieser Hinsicht bewies sich der Marxismus besonders folgerichtig
als bloßer Wurmfortsatz der Aufklärungsideologie, indem er sich als de-
ren „Erbe" immer konsequent auf die Seite von wertförmiger Rationalität
(„Vernunft") und eben deren „Fortschritt" stellte. Die Irrationalität des-
selben Verhältnisses musste so stets als eine dessen Denkformen äußerli-
che und feindliche missverstanden werden, statt den völlig immanenten
Charakter der subjektivistisch-irrationalistischen Ideologien und ihrer
zerstörerischen Konsequenzen zu erkennen. In der Reduktion auf den ver-
meintlichen soziologischen „Interessen-Rationalismus" in der Wertform
erwies sich das marxistische Denken hinsichtlich des kapitalistisch-auf-
klärerischen Vernunffbegriffs päpstlicher als der Papst, insofern es stets die
abstrakt-universalistischen (und gerade als solche unwahren, weil abspal-
tenden und ausgrenzenden) bürgerlichen Ideale gegen die ideologisch ver-
äußerlichte bürgerliche Irrationalität „verwirklichen" wollte und die dieser
objektivierten Unvernunft der bürgerlichen Vernunft selbst entsprechen-
den Denkbewegungen und destruktiven Handlungsformen als „Verrat" der
bürgerlichen Welt an ihrer eigenen Vernunft statt als deren notwendige in-
nere Konsequenz zu begreifen suchte (exemplarisch bei Lukäcs in seiner
platten Schrift über die vermeintliche „Zerstörung der Vernunft").
Der Arbeiterbewegungs-Marxismus wurde so gerade dadurch zum
Schrittmacher der weiteren kapitalistischen Modernisierungsgeschichte,
dass er die reine identitätslogische Denk- und Handlungsform der idea-
lisierten bürgerlichen Vernunft gegen deren eigene überbordende Irrati-
onalität zu repräsentieren schien. Dies machte seine epochale Stärke aus,
solange sich die Wertvergesellschaftung noch im historischen Aufstieg
befand; aber dann eben auch seine Hinfälligkeit am Ende dieser imma-
nenten Entwicklung des Wertverhältnisses.
Wie in der Aufklärungsideologie und im Realprozess des modernen
warenproduzierenden Systems überhaupt musste die Arbeiterbewegung
somit auch die bürgerliche Spaltung von Theorie und Praxis in der Re-
flexionsweise eines positivistischen Marxismus reproduzieren. Ihre (zu-
meist natürlich auch empirisch männlichen und weißen) Repräsentanten
zerfielen wiederum in „Macher" und kontemplative Theoretiker. Erstere
spalteten die gesellschaftliche Praxis nach dem bürgerlichen Muster und
gemäß der identifizierenden Logik des Werts auf in ökonomisches Han-
deln (Gewerkschaften analog zum Management, inzwischen dessen Be-
standteil) und politisches Handeln (Partei zuerst als Anwärter und schließ-
lich ebenfalls als Bestandteil der politischen Klasse); letztere entwickelten

38
und pflegten einen identitätslogischen marxistischen Begriffsapparat im
Sinne der (soziologisch verkürzt und daher schlecht immanent wahr-
genommenen) Wertabstraktion.

16.

Im Lauf des 20. Jahrhunderts ist das Konzept der aufklärerischen Ge-
schichts- und Subjektmetaphysik immer fadenscheiniger und brüchiger
geworden, ohne auf dem Boden der Wertvergesellschaftung und ihres
Abspaltungsverhältnisses positiv auflösbar zu sein. Erst der Übergang zur
Wertkritik rückt die Überwindung dieser modernen Gesellschaftsform
in den Bereich der Denkmöglichkeit. Eine Scharnier- oder Transit-The-
orie in dieser Hinsicht bildet insbesondere die kritische Theorie Adornos.
Dessen Reflexion stellt die bürgerliche Subjektform (jenseits der klassen-
soziologisch beschränkten Theorie des Arbeiterbewegungsmarxismus) in
zwei Momenten grundsätzlich in Frage: Zum einen als Verkehrsform des
Warentauschs, zum andern als die - damit zusammenhängend gedachte
- Denkform der Identitätslogik, in der die Welt abstrakt gleichnamig ge-
macht und damit vergewaltigt, letzten Endes zerstört wird.
Allerdings bleibt die Kritik Adornos an der aufklärerischen Subjekt-
metaphysik auf halbem Weg stecken, und zwar in dreifacher Hinsicht.
Erstens ist die Kritik an dieser Form unvollständig, weil sie sich auf die
primäre Verkehrsform (Warentausch) beschränkt und weder die Produk-
tionsform (Arbeit) noch die sekundäre Verkehrsform (Rechtssubjektivi-
tät, Politik) systematisch miterfasst, also die negative Totalitätsform des
Werts nur auf der Zirkulationsebene begreift. Zweitens ist die Kritik vor
allem auch deswegen unvollständig, weil Adorno trotz verstreuter Ansätze
und Hinweise ebenso wenig wie Marx bis zur übergeordneten Form des
Abspaltungsverhältnisses vordringt. Drittens schließlich nimmt er seine
Kritik sogar insofern wieder zurück, als er ausgerechnet dieselbe Form des
Zirkulationssubjekts, die für ihn Träger der destruktiven Identitätslogik
ist, gleichzeitig zum unverzichtbaren positiven Träger der Emanzipation
von sich selbst erklärt, was natürlich nur eine Erweiterung und Übergip-
felung der aporetischen aufklärerischen Ideologie darstellen kann, die auf
der aporetischen Realstruktur des Werts beruht.
In derselben Weise, wie bei Adorno die Ablösung von der aufkläreri-
schen Subjektmetaphysik unvollständig bleibt und letztlich misslingt, gilt

39
dies in seiner Theorie auch für die aufklärerische Geschichtsmetaphysik.
Adorno löst das geschichtsmetaphysische Konstrukt nicht auf, sondern
führt es lediglich mit umgekehrtem Vorzeichen weiter: An die Stelle
des aufklärerischen Geschichtsoptimismus tritt ein entsprechender Ge-
schichtspessimismus. Die Fortschrittsgeschichte verwandelt sich in eine
Verfallsgeschichte, gerade weil die Ablösung von der bürgerlichen Sub-
jektform nicht gelingt.
Dies geschieht auf zwei Ebenen, die deutlich zu unterscheiden sind und
die doppelte, noch nicht konsequent aufgelöste Befangenheit Adornos so-
wohl in der Aufklärungsphilosophie als auch im Arbeiterbewegungsmar-
xismus erkennen lassen. Nämlich einmal auf der Meta-Ebene der überhis-
torisch-anthropologischen Ontologie; dabei erscheint die Ablösung des
Menschen von der herkömmlicherweise weiblich konnotierten „ersten
Natur" als grundsätzlich misslungen, indem sie sich in die „zweite Natur"
von Herrschaffsverhältnissen (destruktive Naturbeherrschung und Herr-
schaft des Menschen über den Menschen) verwandelt. Damit wird die
Geschichte überhaupt zu einer Geschichte des Verhängnisses, die mit dem
Rückfall in die „erste Natur" zu enden droht. Dies könnte allerdings auch
mit dem Akzent gelesen werden, dass das abstrakt-universelle „männli-
che" Wert-Subjekt womöglich in die „weibliche" Naturverhaftetheit ab-
gleitet, somit als die Furcht des bürgerlichen Wertsubjekts vor seinen ei-
genen Konsequenzen.
Zum andern denkt Adorno dieselbe Verfallsgeschichte auch auf der
Ebene der historischen kapitalistischen Ontologie. Dabei erscheint ihm
die „Verwirklichung der Philosophie" misslungen, was nichts anderes
heißt, als dass die vermeintlichen (gewissermaßen halluzinierten) eman-
zipatorischen Potenziale der Aufklärungsideologie, an denen er trotz sei-
ner eigenen Beweise des Gegenteils sich festklammert, leider praktisch ge-
scheitert seien und nur noch wehmütig erinnert werden könnten („Ein-
gedenken").
Hinsichtlich der Theorie wäre es (im Gegensatz zu Adornos falscher,
beschönigender und gerade deshalb auswegloser Schein-Auflösung) pa-
radoxerweise gerade die durch und durch identitätslogische Reflexions-
weise von Aufklärung und Marxismus, die sich als „Philosophie" nicht
etwa hätte „verwirklichen" müssen und daran gescheitert wäre, sondern
die sich real und destruktiv eben als Durchsetzungsprozess von Wertver-
gesellschaftung und Abspaltungsverhältnis tatsächlich „verwirklicht" hat,
und zwar negativ.

40
In Bezug auf die Trägerschaft dieser vermeintlich verlorenen Eman-
zipation ist es die Arbeiterbewegung, die laut Adorno „eigentlich" dazu
berufen gewesen wäre, die angeblich befreienden Gehalte des bürgerli-
chen Zirkulationssubjekts (die tatsächlich das Gegenteil von Befreiung
sind) durch dessen transzendierende Verallgemeinerung zu retten und zu
„verwirklichen"; diesen ihren Beruf habe sie jedoch verfehlt und damit sei
im Grunde die historische Möglichkeit vertan. In Wirklichkeit jedoch hat
die Arbeiterbewegung ihren auf die Wertvergesellschaftung beschränkten
Beruf erfüllt und ist gerade deswegen abgestorben.
Adorno bleibt also sowohl in der aufklärerischen als auch in der ar-
beiterbewegungsmarxistischen Geschichtsmetaphysik hängen, lediglich
negativ-pessimistisch gewendet. Denn in der Geschichte des „Verhängnis-
ses" einer misslungenen Ablösung von der „ersten Natur", worauf er die
gesamte vormoderne Menschheitsgeschichte im Grunde reduziert, wäre
es einzig die Geburt ausgerechnet des Wertsubjekts, des identitätslogi-
schen Zirkulationssubjekts gewesen (dessen alter Ego des Arbeitssubjekts
in uneingestandener Ontologisierung implizit vorausgesetzt bleibt), die
eine Möglichkeit geboten hätte, den Lauf dieses Verhängnisses zu stoppen
- während sie ihn, selbst immanent im Sinne von Adornos Geschichtskon-
strukt betrachtet, in Wirklichkeit beschleunigt und zum Kulminations-
punkt geführt hat.
Und indem er den Kampf der Arbeiterbewegung um Anerkennung
in der bürgerlichen Subjektform wie diese Bewegung selber ideologisch
zur möglichen emanzipatorischen Transformation über die Wertverge-
sellschaftung hinaus missversteht, muss ihm deren (immerhin ansatzwei-
se reflektierte) Entpuppung als das, was sie wirklich war, zum Rückfall
in den ohnehin angelegten Gang des Verhängnisses geraten. Aufklärung,
bürgerliches Zirkulationssubjekt und Arbeiterbewegung wären demnach
gewissermaßen nur eine Unterbrechung oder zeitweilige Unbestimmtheit
in diesem Gang gewesen. Eine auf diesem Reflexionsstand sitzen geblie-
bene „orthodoxe" Adorno-Gemeinde kann folgerichtig nicht mehr wei-
terdenken und sich nicht wirklich vom Arbeiterbewegungsmarxismus lö-
sen, sondern diesen nur negativ gewendet fortspinnen, um schließlich an
der historischen Grenze des Wertverhältnisses (und angesichts der damit
verbundenen forcierten Zerstörungsprozesse) wieder unvermittelt in die
Aufklärungsideologie und damit hinter Adornos Reflexionsstand zurück
zu fallen.

41
17.

Parallel zu Adornos Reflexion entwickelten sich zwei andere Stränge von


Theoriebildung, die das Obsoletwerden der aufklärerischen Subjekt- und
Geschichtsmetaphysik allerdings wesentlich affirmativer als Adorno zu
verarbeiten suchten. Strukturalismus (Levi-Strauss, Barthes, Lacan etc.,
in marxistischer Version Althusser) und Systemtheorie (Luhmann) liqui-
dierten die Subjektillusion des Aufklärungsdenkens nur, um die blinde
Objektivität der wertförmigen Vergesellschaftung, also den anderen Pol
derselben Denk- und Handlungsform, neu und weiter gehend zu for-
mulieren. Schon das Aufklärungsdenken selber hatte die Autonomie des
Subjekts und damit seine Geschichtsmächtigkeit strikt auf den stählernen
Rahmen einer unreflektierten Objektivität eingegrenzt, die umstandslos
mit „Natur" und Naturgesetzlichkeit gleichgesetzt wurde. Gerade darin
zeigt sich ja die Aporie dieses Denkens, das unvermittelte Umschlagen
von Autonomie in Heteronomie, von Freiheit in Zwang der Notwendig-
keit. Vorgebliche Freiheit und Autonomie entpuppen sich so als gebunde-
ner Instinkt einer irrationalen „zweiten Natur", einer Pseudo-Natur der
ontologisierten gesellschaftlichen Form, die als Bestandteil der ersten Na-
tur ideologisiert wird.
Strukturalismus und Systemtheorie, letztere sogar direkt auf die the-
oretische Biologie (H. Maturana) zurückgehend, setzen diesen falschen
Naturalismus des Historisch-Gesellschaftlichen in forcierter Weise fort:
Das Aufklärungsdenken wird nicht überwunden, sondern seine Aporie
lediglich durch eine objektivistische Vereinseitigung ausgeblendet. Das il-
lusionäre autonome Subjekt wird nur vom Thron gestoßen, um die von
Anfang an gegebene und mitgedachte quasi-naturalistische Objektivität
in einer dürren, leidenschaftslosen, von den ideologischen Emotionen der
Durchsetzungsgeschichte „befreiten" Apotheose - zu feiern wäre zu viel
gesagt, denn bloße Buchhalter einer sich kybernetisch vollziehenden Fak-
tizität können nichts mehr verherrlichen, sondern bestenfalls wie Luh-
mann eine gewisse sardonische Luzidität an den Tag legen.
Die Aporie von Subjekt und Objekt im Aufklärungsdenken wird weit-
gehend ins Objekt zurückgenommen, wobei letzteres gegenüber dem ab-
strakten Naturalismus der Aufklärung sich zu einer Struktur- und Sys-
tembewegung gewissermaßen verfeinert, die an die Stelle des vormaligen
Subjekts der Geschichte tritt. Der vermeintliche strukturalistische und
systemtheoretische Triumph über die Metaphysik und Subjektideologie

42
des „alteuropäischen Denkens" erweist sich als bloße Vollendung von des-
sen positivistischer Vulgarisierungsgeschichte, in der es zu sich kommt.
Das ehemals emphatische männliche Subjekt der Geschichte legt die
modrig gewordenen Fahnen und Emblemata seiner Freiheit beiseite, um
als eine Art gesellschaftlicher Automaten-Analytiker seine eigene Erbärm-
lichkeit in den „Informationsprozessen" sozialer Maschinen anzuschauen.
Althusser bringt dabei den Klassenkampf als bloßen Strukturprozess mit
mechanischen Vollzugs-Akteuren unfreiwillig auf seinen immanenten
Begriff. Und Lacan soll über die Bewegung von 1968 gesagt haben: „Es
sind die Strukturen, die auf die Straße gegangen sind."
Mit dieser Selbstdemontage des männlich-weißen Aufklärungssubjekts
in seiner Gestalt als kontemplativer Theoretiker ebenso wie als Macher
(die subjektlosen kybernetischen Systemimperative sind nur noch einer-
seits zu konstatieren und andererseits zu vollstrecken) wird das zugrunde
liegende geschlechtliche Abspaltungsverhältnis nicht etwa mitdementiert,
sondern im Gegenteil ebenso wie die Wertform als spezifischer Gegen-
stand endgültig ausgeblendet: Es löst sich in den abstrakten Systemzu-
sammenhang auf als Struktur unter Strukturen. In dieser Hinsicht sind
nun alle Katzen grau und alle erscheinenden Widersprüche werden glatt-
gebügelt in immer derselben affirmativen kybernetischen Logik; von Luh-
mann bis zur Perfektion getrieben als sukzessive Abhandlung sämtlicher
„Bereiche" unter derselben dürren, tautologischen Begrifflichkeit: das Lie-
bespaar und überhaupt das Geschlechterverhältnis ebenso als „System"
bzw. „Subsystem" wie „die Wirtschaft", „die Kultur", „die Religion" usw.
Zusammen mit dem emphatischen Begriff des autonomen Subjekts
verschwindet notwendigerweise auch derjenige der Geschichte. Die His-
torie löst sich in die Zeitlosigkeit einer übergreifenden abstrakten Struk-
tur- und Systemlogik auf, die Natur und Gesellschaft gleichermaßen nach
ewigen Gesetzmäßigkeiten steuert. Veränderungen stellen sich nicht mehr
als von Menschen gemachte Geschichte, sondern als so genannte „Aus-
differenzierung" von strukturellen Logiken bzw. der „Autopoiesis" von
Systemzusammenhängen dar. Krisen werden nicht als Grenzen einer his-
torischen Formation, sondern als „Störungen" und „Kurzschlüsse" in den
Ausdifferenzierungsprozessen wahrgenommen, wie sie die Individuen
nur als eine Art gesellschaftlicher Pantoffeltierchen erleben können.
An die Stelle der sich historisch legitimierenden Kritik tritt das Ach-
selzucken des gesellschaftstheoretischen Kybernetikers. Damit ist das
Endstadium des kontemplativen Theoretikers ebenso wie des Machers

43
erreicht. Die Spur wird verwischt, der kritikable Begriff des Werts oder
der kapitalistischen Verwertungsbewegung verschwindet am Ende seiner
Durchsetzungsgeschichte im ahistorischen Nirwana der Form eines „Sys-
tems überhaupt" und seiner „Strukturalität überhaupt".

18.

Diese vorletzte Verfallsform des Aufklärungsdenkens ist derart unbefriedi-


gend und entlarvend, dass sie in Gestalt der so genannten postmodernen
Theorien oder des „Poststrukturalismus" eine nachfolgende letzte hervor-
bringen musste, in der sich die Ausweglosigkeit der warenproduzierenden
Moderne scheinbar in Wohlgefallen auflöst, wenn auch in ein gewisser-
maßen prekäres. Es waren wiederum vor allem französische (immanent
kritisch an den Strukturalismus anschließende) Theoretiker wie Lyotard,
Derrida und insbesondere Foucault, die mit unterschiedlichen Akzent-
setzungen und anhand weit gestreuten historischen wie zeitgenössischen
Materials die strukturalistische Sterilität und Monotonie zu überwinden
suchten, ohne jedoch auf das zugrunde liegende gesellschaftliche Form-
verhältnis von Wert und Abspaltung zurückzugreifen und damit die Frage
radikaler Kritik zu reformulieren. Im Gegenteil setzen Postmoderne und
Poststrukturalismus die systemtheoretisch-strukturalistische Ausblen-
dung der spezifisch historischen Subjekt- und Formbestimmung positiv
voraus, um sich vor diesem Hintergrund neu zu positionieren und in ge-
wisser Weise auf diesem bereits affirmativ abgesteckten Boden vermeint-
lich wieder handlungsfähig zu werden.
Genau darin besteht auch die Gemeinsamkeit dieses Denkens, die von
ihren Rezipienten nur deshalb meistens abgestritten wird, weil sie den ge-
meinsamen Bezugsrahmen gar nicht als solchen wahrnehmen - so mas-
siv ist überhaupt die Problemstellung eliminiert worden. Zusammen mit
dem klassensoziologisch verkürzten Arbeiterbewegungs-Marxismus wur-
de auch die damit fälschlich in einen Topf geworfene, gänzlich unbegrif-
fene marxsche Fetisch- und Formkritik längst zugeschüttet. So befindet
sich die System- und strukturtheoretische Reflexion zwar auf derselben
Abstraktionshöhe wie der „andere" Marx, jedoch in einer enthistorisier-
ten, form-unkritischen und daher affirmativen Weise.
Das gesamte „Post"-Denken setzt erst recht wie die ordinärste altbür-
gerliche Ideologie die Kategorien des warenproduzierenden Systems als

44

uff
Naturgrundlage der Existenz voraus; jedoch nicht mehr explizit, weil be-
reits jenseits der Durchsetzungs- und Reflexionsgeschichte, sondern nur
noch implizit. In eben diesem Sinne hatten Strukturalismus und System-
theorie ja bereits vorgearbeitet. Das Subjekt wird nun in einer reduzierten,
verstümmelten Form „zurückgeholt", nicht aber die Geschichte.
Nachdem die gesellschaftliche Form und mit dieser jede formationsge-
schichtliche Analyse und Kritik aus der Reflexion verschwunden ist, bleibt
als ahistorisches Substrat eine positivistische Ontologie der „Macht" (Fou-
cault) oder eine ebenso positivistische Ontologie des „Textes" (Derrida)
zurück, deren Charakter als Ontologie ihre Protagonisten gar nicht mehr
wahrnehmen, weil sie als Axiom begründungslos und also auch konstitu-
tionslos (eben: ahistorisch) gesetzt wird. Abgelöst von ihrer begrenzenden
Bestimmtheit verwandeln sich die Begriffe von Macht und Text bzw. „In-
tertextualität" (Julia Kristeva) in Synonyme für die unbestimmte Gesamt-
heit der gesellschaftlichen Realität.
Diese in der Rezeption ineinander verschwimmenden Konstrukte von
Macht und Text bleiben als ahistorische ganz explizit phänomenologisch
beschränkt. Ihre unbestimmte Bestimmung bildet nur eine allgemeine
Nomenklatur für ein Kaleidoskop der Erscheinungen, deren Wesen nicht
mehr benannt werden darf. Sahen sich Strukturalismus und Systemthe-
orie noch bemüßigt, auf dem bereits enthistorisierten Formproblem in-
sofern herumzureiten, als sie affirmativ die angeblich unüberschreitbare
logische Gesetzlichkeit der subjektlosen Zusammenhänge durchkauten,
so wehren die „Post"-Theoreme die ominöse Problemebene nur noch ab,
indem sie schon die Fragestellung als („großtheoretischen") unzulässigen
„Essentialismus" und „Universalismus" denunzieren.
Ihr Blick richtet sich stattdessen auf das Binnengewimmel innerhalb
des nicht mehr als solchen wahrgenommenen gesellschaftlichen Rah-
mens. Deshalb berührt die postmoderne Scheinkritik des Universalismus
den totalitären Anspruch der Wertform gar nicht, der vielmehr blind in
ihre Voraussetzungen eingeht (kritisiert werden nur die universalistischen
Theorien, nicht jedoch der objektivierte negative Real-Universalismus der
kapitalistischen Reproduktions- und Verkehrsform, der allen modernen
Theorien zugrunde liegt); die kulturalistisch beschränkte Interpretation
soll die bloßen Erscheinungen innerhalb der (systematisch ausgeblende-
ten) leeren Form zu ihrem eigenen Wesen erklären und damit eine Bunt-
heit des demokratischen Lebens auf dem grauen Kasernenhof und in den
Folterkellern des ökonomischen Terrors vorgaukeln.

45
Diese längst vorherrschenden offen affirmativen Tendenzen des Post-
modernismus, wie sie die neoliberale Ideologie der kapitalistischen Glo-
balisierung flankieren, verlassen zwar die ursprünglichen Intentionen der
postmodernen Position, sind jedoch folgerichtig. Denn soweit bei Fou-
cault, Kristeva etc. eine Analyse von Rassismus und der Konstruktion von
Alterität geleistet wird, macht diese zwar oberflächliche Mechanismen der
Ausgrenzung sichtbar, ohne sie jedoch mangels eines kritischen Begriffs
des Formganzen auf ihren gesellschaftlichen Grund beziehen zu können,
der systematisch ausgeblendet bleibt.
Macht und Text bilden so die fließende Objektivität, gewissermaßen
das ewige Fluidum oder den Äther aller gesellschaftlichen Beziehungen,
ein Medium oder ein nicht näher bestimmbarer Medienkomplex, in dem
sich stets wechselnde Konstellationen abspielen. Schon seinem Begriff
nach verweist dieser Macht-Text aber gleichzeitig auf die Subjektivität;
er ist gewissermaßen das Subjekt-Objekt - nicht mehr einer Geschichte
(wie bei Lukäcs das Proletariat), sondern einer wogenden „Jeweiligkeit", in
der die Individuen an der Macht weben und den Text umschreiben, ohne
Macht und Text zu sein. Der Fetischismus der Moderne mitsamt seinem
ökonomischen Terror und seiner politischen Menschenverwaltungsform
hat sich aus einem kritikablen Gegenstand in das ewige Wasser des Lebens
verwandelt, in dem das Subjekt schwimmt. Als reduziertes und abgerüs-
tetes deswegen, weil es ja jetzt nicht mehr qua Vernunft als ein Macher
der Form und damit der Geschichte gilt, sondern nur noch als ein an
den Konstellationen der ahistorischen Jeweiligkeit zerrendes und basteln-
des Wesen. Und nur in diesem Kontext der Reduktion und theoretischen
Abrüstung findet dann (zunehmend weniger) eine kritische Analyse zu
Sexismus, Rassismus usw. statt.
Hier gibt es einen gewissen Berührungspunkt der postmodern-post-
strukturalistischen Theorien mit Adorno, wenn auch alles andere als eine
Übereinstimmung. Auch Adorno hatte ja das Wertsubjekt nicht in seiner
ursprünglichen Emphase beschworen, sondern es als Träger der Emanzipa-
tion nur zurückgeholt, um es gleichzeitig als Träger der identitätslogischen
Weltzerstörung zu denunzieren. Dieses schon zurückgestutzte bürgerliche
Subjekt ähnelt in gewisser Weise dem postmodernen, sodass nicht umsonst
der späte Foucault sich positiv auf Adornos Theorie beziehen konnte. Er-
scheint aber bei Adorno die Aporie dieses Subjekts in aller schmerzhaften
Schärfe, so wollen die postmodern-poststrukturalistischen Subjektanima-
teure sich an dieser Aporie gewissermaßen pragmatisch vorbeistehlen.

46
Nicht umsonst hat sich in diesem Zusammenhang der Begriff des
„Spiels" festgesetzt. Das „Spiel der Zeichen" ist gleichzeitig das „Spiel der
Subjekte", die schon keine mehr sind; also eher ein „Spiel mit dem Sub-
jektiven", das nicht mehr als übergreifendes gesellschaftliches Selbstbe-
wusstsein gefasst wird. Aber dieser Spielbegriff hat eben deswegen nichts
Emanzipatorisches gegen den dennoch blind vorausgesetzten bürgerli-
chen Ernst des Wert- und Abspaltungsverhältnisses, sondern er zeigt nur
an, wie das abgerüstet und reduziert zurückkehrende bürgerliche Subjekt
der Altersdemenz verfällt und kindisch wird. Gerade weil es den Ernst der
Fetischform und ihrer repessiven Imperative nicht einmal mehr denken
kann und will, gesteht es sich nun selbst die Unernsthaftigkeit zu. Das
Spiel im ewigen Text und mit der ewigen Macht, das keinen historischen
Namen mehr hat, beschränkt sich auf die Phänomenologie der Dinge, auf
den Habitus der Person als Maske des Werts. Die Maske des Wertsubjekts,
die zum Gesicht geworden ist, betreibt einen sekundären Maskenball, in
dem sie die einstmals eingebildete Souveränität augenzwinkernd simu-
liert, übrigens faktisch immer schon auf den Kommerz schielend.
Keineswegs zufällig greifen die „Post"-Theorien durchwegs auf den ro-
mantisch-irrationalistischen und existentialistischen Strang der bürgerli-
chen Theoriegeschichte zurück, speziell auf Nietzsche und Heidegger. Das
subjektivistische Moment wird aber nicht mehr scheinbar äußerlich dem
objektivistischen entgegengestellt, sondern von vornherein damit ver-
mengt. Die Übermacht der Objektivität als „System" und „Struktur" ist
bereits anerkannt und vorausgesetzt, der Subjektivismus des bürgerlichen
Subjekts kehrt eben nur als reduzierter zurück. Deshalb entfällt auch die
Heroisierung des eigenen Form-Elends (das man immer schon als un-
überschreitbar hinnimmt); was übrig bleibt, ist dessen (postmoderne)
Ästhetisierung. Abgelöst von der Mystifikation und Selbstheroisierung in
den Epochen der Durchsetzungsgeschichte, kann diese Selbstästhetisie-
rung des Wertsubjekts am Ende seiner Entwicklung nur noch eine ober-
flächliche Selbststilisierung sein, die gleichermaßen von Langeweile und
Angst gezeichnet ist.
Spielerisch an diesem „Spiel" ist nur die Unselbständigkeit gegenüber
der blinden Objektbewegung des Systems, ansonsten fällt an den Subjekt-
Spielern eine zunehmende, ihren lemmingartigen Aktivitäten gar nicht
mehr angemessene Verbissenheit auf: je unwirklicher das Subjekt und
sein Wille, desto verbissener. Was das Spiel der Maskenbälle noch an ge-
sellschaftlicher Zugriffs- und Veränderungsmöglichkeit enthalten soll, er-

47
scheint selbst in der eigenen Terminologie der „Post"-Theoreme als eini-
germaßen kläglich: Da ist nur noch von einem „Verschieben" der Baustei-
ne des Textes und der Konstellationen der Macht die Rede, während das
begriffslos gewordene gesellschaftliche Ganze tabuisiert bleibt. Aber selbst
die schon allzu bescheidene Vorstellung eines bloßen „Verschiebens" der
Bauklötzchen im „Spiel" der vom Wert konstituierten Strukturen muss
angesichts der wirklich verbliebenen „Gestaltungsmöglichkeiten" als
überzogen und geradezu anmaßend erscheinen. Je mehr die „Post"-The-
oreme von einem anarchisch-offenen System schwadronieren, desto aus-
wegloser schließt sich der Totalitarismus der Wertform zur Krise.
Der Feminismus, treu und brav den Wegen der offiziellen männlich-
akademischen Wissenschaffs- und Theoriewelt folgend, hat großenteils
die Entwicklung vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus mitge-
macht. Da mangels eines kritischen Begriffs des Wertverhältnisses oder
warenproduzierenden Systems auch kein zureichender Begriff des Ab-
spaltungsverhältnisses gewonnen werden konnte, bleibt die theoretische
Analyse des sozialen Geschlechts ebenso auf die empirisch-soziologische
Erscheinungsebene (und die Abspaltung auf die Struktur- und Zeichen-
ebene) beschränkt wie alle anderen Fragestellungen; dargestellt in der fal-
schen, ahistorischen Ontologie von Macht und Text, in der die wirkliche
logisch-historische Ursache für die geschlechtliche Asymmetrie in der
Moderne ausgeblendet bleiben muss.
Die bloße Dekonstruktion des Geschlechts auf der Zeichenebene, die
an die Stelle der Emanzipation vom Zwang des Geschlechts getreten ist,
verfällt daher der allgemeinen Beliebigkeit des postmodernen „Spiels" in
der tabuisierten Hülle von Wert- und Abspaltungsverhältnis; die habitu-
elle Oberflächlichkeit der Ansprüche eines „Verschieberns" der Konstel-
lationen im Macht-Text erscheint gerade in dieser Hinsicht buchstäblich
als Maskenball der sexuellen Zeichen (etwa in der modisch gewordenen
Theorie von Judith Butler). Gerade weil das Abspaltungsverhältnis das
übergreifende Gesamtverhältnis der Wertvergesellschaftung bildet, wird
in der Behandlung der Geschlechterfrage der reduzierte Verfallscharakter
des in der postmodernen Ideologie „zurückgekehrten", sich selbst nicht
mehr ernst nehmenden Subjekts besonders deutlich.

48
19.

Mit dem Poststrukturalismus hat sich die bürgerlich-marxistische, aus


der Aufklärungsideologie hervorgegangene Theoriegeschichte endgültig
erschöpft; ebenso wie die soziale Reproduktionsfähigkeit des modernen
warenproduzierenden Systems und der darin eingeschlossenen Formen
von Arbeits-, Zirkulations- und Rechtssubjektivität. Die kontemplativen
Denker können nicht mehr weiterdenken, weil die Macher nicht mehr
weitermachen können. Was sich an den sekundären postmodernen Mas-
kenball der buchstäblich eingefleischten Charaktermasken des Werts noch
anschließen kann, ist keine weiter gehende begriffliche Reflexion mehr.
Erst recht ist es im affirmativen Anschluss an diese Theoriegeschichte un-
möglich, das aus der Identitätslogik Herausgefallene, in deren Begrifflich-
keit nicht Aufgehende, wirklich neu zu denken und mitzudenken.
Was als Schlachtruf Lyotards noch einmal den Schatten der Emanzipa-
tion zu beschwören schien („Krieg dem Ganzen, aktivieren wir die Diffe-
renzen" usw.), musste vor dem Hintergrund einer immer schon begriffs-,
geschichts- und subjektlosen ontologischen Strukturtheorie als klägliche
Kapitulation enden. Wenn nicht einmal der Name des Ganzen als eines
historisch Gewordenen mehr genannt werden kann, ist die Parole „Krieg
dem Ganzen" nichts als Hochstapelei. Weder das repressive Realprinzip
der fetischistischen Wertform wird dabei angegriffen noch das im Totali-
tarismus dieser Form nicht Aufgehende an den Dingen und Verhältnissen
entdeckt und berücksichtigt. Stattdessen werden nur diejenigen „Diffe-
renzen" aktiviert, die nichts als tausendfältige Erscheinungen des nega-
tiven Ganzen, der säkularisierten „Eins" kapitalistischer Ontologie sind.
Was so aktiviert wird, läuft trotz aller herrschaftskritischen Intentionen
letzten Endes auf eine kulturalistische Einkleidung der Krisen- und Ver-
nichtungskonkurrenz hinaus.
Theoretisch haben wir es nur noch mit einem müden, einfallslosen Fort-
spinnen der Post-Theorien auf den diversen medialen und akademischen
Feldern von Feuilletonismus, Soziologie, Politologie usw. zu tun. Jenseits
der modernen Theoriegeschichte können Journalismus und akademische
Wissenschaft keinen eigenen Anspruch mehr formulieren, sondern sich
nur noch eklektisch aus den Ruinen des eingestürzten riesigen Gebäudes
von dreihundert Jahren westlicher Geistesgeschichte bedienen, um in der
Endzeit und Eiszeit des modernen Denkens ihre jammervollen intellektu-
ellen Hütten damit notdürftig zu befestigen. Tautologische Leerformeln

49
wie diejenigen einer „Modernisierung der Moderne" (Ulrich Beck) oder
einer „Demokratisierung der Demokratie" (Helmut Dubiel) künden von
einer nicht mehr überbietbaren Inhaltslosigkeit, wie sie längst auch die
so genannte Politik ergriffen hat. In den faden und langweiligen Diskur-
sen einer völlig folgenlosen „pragmatischen Ethik" (Kommunitarismus,
Zivilgesellschaft etc.), die sich als Zersetzungsprodukte des Positivismus
dahinschleppen, wird der entleerte bürgerliche Vernunftbegriff sinnlos
hin- und hergewendet.
An die Stelle der Reflexion tritt zunehmend die intellektuelle „Lebens-
hilfe" für das entsubjektivierte Wertsubjekt, das sich in der universellen
Konkurrenz aufreibt. Und nachdem sich die romantisch-existentialisti-
sche immanente Gegenform des von der modernen Fetisch-Konstitution
beherrschten Denkens in die postmoderne Beliebigkeit aufgelöst hat, geht
sie in eine ebenso eklektische Billig-Esoterik über. Weil sowieso alles egal
ist, liegen die unappetitlichen Endprodukte von Vernunft und Gegenver-
nunft einträchtig nebeneinander in den Regalen des intellektuellen Aldi-
Supermarkts. Wertrationaler Pragmatismus und abergläubische Geister-
seherei wachsen zusammen, weil sie zusammen gehören.
Soweit sich das sekundäre intellektuelle Analphabetentum, das stam-
melnd die Ewigkeit und Unausweichlichkeit des Weltmarkts preist, auf
die Aufklärung beruft, geschieht dies völlig zu Recht, weil es tatsächlich
der aktuelle Zustand der Aufklärung und gleichzeitig ihr Endzustand
ist. Einerseits nimmt diese Anrufung nostalgische Züge an, etwa wenn
ein nur durch besondere Geschwätzigkeit aufgefallener US-Denker „Die
zweite Aufklärung" (Neil Postman) einfordert, um die immerhin noch
konstatierte aktuelle bürgerliche Weltdummheit durch deren eigene
Wurzel zu kurieren. Andererseits wird angesichts der zunehmend kata-
strophalen Krisenereignisse die aufklärerische Phrase von jedem Inhalt
gereinigt und mutiert zur beschwörenden Anbetung des demokratischen
Gewaltapparats; bis hin zur „vernünftig" abwägenden Folterdebatte. So
löst schließlich ein regressiver, autistischer Fanatismus die geistige Quack-
salberei der eklektischen spät- und postaufklärerischen Schwadroneure
und Wunderheiler ab.
Die Vulgarität der westlichen Werte-Huberei wird militant. So fordert
ein französischer demokratischer Bombenphilosoph den „Krieg um die
Aufklärung" (Bernard-Henri Levy) und gibt damit das Muster für die
gesamte ehemalige Links-Intelligentsia vor, die an den Worthülsen ihrer
Geistesgeschichte würgt, um sie als Vernichtungsregen auf die Welt auszu-

50
speien. Im „heiligen Krieg", im Kreuzzug gegen seine eigenen Ausgebur-
ten in einer von ihm selbst durch ökonomischen Terror verwüsteten und
barbarisierten Welt kann der aufgeklärte Ungeist nur noch die Gestalt von
US-Kampfbombern annehmen.

20.

Mit jedem neuen Schub der kapitalistischen Weltkrise, die keine Stabi-
lisierung in einem neuen Regulationsmodell mehr erfährt, sondern das
Weltsystem im freien Fall in das 21. Jahrhundert stürzen lässt, werden die
theoretischen, medialen, politischen, sozialen usw. Äußerungen immer
eintöniger und einsilbiger. Im sukzessiven Weltuntergang der kapitalis-
tischen Ontologie bewirkt die säkularisierte metaphysische „Eins", das
göttliche Nichts des Werts, eine „coincidentia oppositorum": Nicht bloß
Rechts und Links oder Fortschritt und Reaktion etc., sondern überhaupt
Sein und Nichts, Vernunft und Irrationalität, Kritik und Affirmation fal-
len unmittelbar zusammen.
Weil aufklärerische Kritik ihrem Wesen nach die Selbstaffirmation der
destruktiven bürgerlichen Subjektform durch ihren historischen Ent-
wicklungsprozess hindurch war, erlischt sie tatsächlich vor unseren Augen
zusammen mit ihrem Gegenstand. In demselben Maße, wie sich alles und
jedes Denken in wilder Flucht auf die letzte und äußerste Auffanglinie der
Aufklärungsphilosophie zurückzieht, hört es als Denken überhaupt auf zu
existieren. Das Schauspiel einer militanten Wiederentdeckung der westli-
chen Werte, als hätte es die in ihrem Gegenstand befangene Reflexions-
geschichte der letzten 150 Jahre gar nicht gegeben, hat allerdings nichts
Tragisches an sich, noch nicht einmal etwas Lächerliches; es ist einfach
ekelhaft.
Was sich bei dieser letzten Entpuppung, die das Gewaltmonstrum der
globalen demokratischen Selbstvernichtung gebiert, zugleich geltend
macht, ist das nur noch in einem unartikulierten bösartigen Winseln sich
äußernde „ontologische Bedürfnis" des bürgerlichen Subjekts, das nach
seinem natürlichen Tod als Zombi der Aufklärung weiterspukt - gerade
bei den adornitischen wie bei den postmodernen angeblichen Kritikern
der Ontologie überhaupt, soweit sie zur westlich-demokratischen Welt-
vernichtungsgemeinschaft übergelaufen sind. Wenn der ontologische Bo-
den, auf dem sich die von der bürgerlichen Subjektform nicht loskom-

51
mende Scheinkritik der Ontologie noch spreizen konnte, real ins Wanken
gerät, verdampft bei den historischen Idioten der Modernisierung die
bloß angelesene Reflexion. Die denunziatorische Maßlosigkeit, mit der
das Bekenntnis zum noch nicht einmal mehr stinkenden Leichnam des
Aufklärungsdenkens verlangt wird, verweist auf ihre eigene Unwahrheit.
Das Rettende kann sich jetzt nur noch darin finden, tatsächlich die
falsche positive Ontologie der Moderne und ihrer Subjektform zu verwer-
fen und die Schiffe zu verbrennen, weil es kein Zurück zur ontologischen
Sicherheit und Heimat der Aufklärung geben kann. Die Negativität der
emanzipatorischen Kritik kann sich erst vollenden, wenn diese Illusion
aufgegeben wird.

52
Negative Ontologie

Die Dunkelmänner der Aufklärung und die


Geschichtsmetaphysik der Moderne

W E N N IRGEND WÄRE ONTOLOGIE IRONISCH MÖGLICH, ALS


INBEGRIFF VON NEGATIVITÄT... W O L L T E MAN EINE ONTOLOGIE
ENTWERFEN UND DABEI DEM GRUNDSACHVERHALT FOLGEN,
DESSEN WIEDERHOLUNG IHN ZUR INVARIANTE MACHT, so
WÄRE ES DAS G R A U E N . . . ; GUT ERST DAS DER ONTOLOGIE
ENTRONNENE.
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik

Befreiung muss neu gedacht werden. In diesem abstrakten Postulat


stimmen nach dem Ende von Sozialismus und Arbeiterbewegungs-Mar-
xismus die meisten linken Theoretikerinnen und Theoretiker, die noch
solche sein wollen, durchaus überein. Sobald aber das Neue, um das es
angeblich geht, näher bestimmt werden soll, entpuppt es sich regelmäßig
nicht etwa nur als das Alte in neuem Gewand, sondern vielmehr über-
haupt als das Älteste vom Alten; nämlich als Rückfall hinter den Marxis-
mus in die bürgerliche Aufklärungsphilosophie, statt über den Marxismus
hinauszugehen.
Sicherlich war schon der Arbeiterbewegungs-Marxismus in allen sei-
nen Spielarten qua seiner an das moderne warenproduzierende System
gebundenen Subjekt- und Interessenform dem bürgerlichen Aufklärungs-
denken verhaftet geblieben; aber gleichzeitig hatte er es durchaus als bür-
gerliches kritisiert, wenn auch nur in einer klassensoziologisch verkürz-
ten Weise, ohne an eine kategoriale Kritik der Moderne heranzukommen.
Adorno ging mit seiner transitorischen Theorie sogar ansatzweise über
diese Beschränkung hinaus, indem er den soziologistischen („klassenmä-
ßigen") Bezugsrahmen verließ und die Aufklärung in ihrem identitätslo-
gischen, selbstzerstörerischen Charakter kritisierte, ohne allerdings diese

53
Kritik vollenden zu können. Genau dies steht jetzt an, aber genau diese
Aufgabe wird allenthalben verweigert. Egal, aus welchem Stall der Lin-
ken sie kommen, die bisherigen Träger der Kritik von Rang und Namen
scheuen vor dieser Problemhürde zurück wie durchgehende Pferde.
Und in ihrer Pferdepanik galoppieren sie allesamt zurück ins 18. Jahr-
hundert, als hätte es nicht einmal die verkürzte marxistische Kritik des
Aufklärungsdenkens gegeben. Fieberhaft werden die ältesten Phrasen der
kapitalistischen Konstitution dahergestottert, als handelte es sich um die
neuesten aufregenden Entdeckungen der radikalen Kapitalismuskritik. Es
hat etwas Gespenstisches, wie die verbliebene linke Intelligentsia mit den
kapitalistischen Hardlinern darin wetteifert, wer die längst fad und abge-
schmackt gewordenen Essentials der Aufklärungsideologie am lautesten
hinausschreien kann. Worin soll die Auseinandersetzung denn überhaupt
noch bestehen, wenn hüben wie drüben dieselben Parolen gerufen wer-
den? Offenbar geht es um nichts Grundsätzliches mehr, obwohl gleichzei-
tig die Weltkrise des warenproduzierenden Systems zischt und lodert.
So wird Befreiung jedenfalls nicht neu gedacht. Als Erstes muss sich
ein Denken, das dieser Aufgabe gerecht werden will, von der so genannten
Aufklärung selber befreien. Das wird nicht in einem Anlauf gelingen, aber
dann sind eben zwei, drei, viele Anläufe nötig. Statt die in den modernen
Theoriegebäuden sedimentierten Begriffe des Aufklärungsdenkens be-
sinnungslos wiederzukäuen, muss die Kritik sie vielmehr durchschütteln
und ihre leeren, längst vertrockneten Hülsen auf den Müll der Geistesge-
schichte werfen.

Das abstrakte Individuum in der Uniform


der so genannten Subjektivität

Der perfide Verblendungscharakter der aufklärerischen Ideologie macht


sich gerade darin geltend, dass sie permanent die „Autonomie" und „Frei-
heit" des „Individuums" beschwört und ausschließlich für sich reklamiert.
Diese bürgerliche Apotheose der Individualität, auf die noch Adorno und
die späteren Adepten einer falschen Adorno-Orthodoxie zumindest im
Sinne eines bürgerlichen „Ideals" hereingefallen sind, wurde stets in dop-
pelter Weise legitimiert: einmal gegen die sämtlichen, pauschal abquali-
fizierten agrarischen Gesellschaften vormoderner Verhältnisse; zum an-
dern gegen den bürgerlichen Absolutismus der Frühmoderne selbst sowie

54
gegen die staatstotalitären Regimes der kapitalistischen Durchsetzungsge-
schichte im 20. Jahrhundert.
Wie die vormodernen Fetischformen in der polemisch zugespitzten
Aufklärungsideologie ohne jede konkrete Untersuchung apriori als schie-
rer Schrecken angeblich totaler „Naturverhaftetheit" denunziert werden,
so erscheinen sie gleichzeitig als dumpfe Viehherden-Struktur der Gesell-
schaft, die keinerlei Individualität zugelassen habe. Dieses Zerrbild dient
einzig und allein der Ablenkung davon, dass die warenproduzierende Mo-
derne selber noch eine Fetisch-Gesellschaft ist, und zwar erstmals eine
totalitäre, deren Anspruch die Individuen gerade mit größerer Gewalt als
jemals zuvor in eine einheitliche Form presst: in die „Uniform" des Ar-
beits-, Geld- und Konkurrenz-Subjekts.
Individualität gab es in allen historischen Gesellschaften, weil ein Ver-
hältnis des einzelnen Menschen zu einer gesellschaftlichen Form mit der
zweiten Natur an sich schon gesetzt ist und daher mit der Menschwer-
dung zusammenfällt. Stets musste daher auch der einzelne Mensch als
solcher wahrgenommen werden und hatte seine Spielräume, auch wenn
sich diese Individualität auf verschiedene Weise äußerte je nach Maßgabe
der Vermittlung mit unterschiedlichen Fetisch-Verhältnissen der gesell-
schaftlichen Konstitution. Die Spannung zwischen Individuum und Ge-
Seilschaft lässt sich daher überall in ihrem kulturellen Ausdruck nachwei-
sen. Selbst der Begriff „Individuum" stammt ja aus der Antike (und kei-
nesfalls als Prototyp des modernen Individualitätsbegriffs); ebenso zeigt
sich in den agrarischen Zivilisationen des so genannten Mittelalters der
Begriff des menschlichen Einzelwesens (individuitas) auf vielfache Wei-
se. Das gilt auch für die außereuropäischen vormodernen Gesellschaften,
auch wenn sich dort die Individualität in wiederum anderen, dem auf
seine eigene Konstitution fixierten westlichen Auge oft nicht sichtbaren
Formen äußerte.
Was die Aufklärungsideologie als einzigen Begriff des Individuums gel-
ten lässt und für sich bzw. für die kapitalistische Moderne reklamiert, ist
zweifellos das abstrakte „Ich", das heißt die spezifisch moderne Form abs-
trakter Individualität. In diesem Sinne bedeutet „Individuum" bereits die
Form, in der die einzelnen Menschen als unmittelbar identisch mit dem
gesellschaftlichen Zwangsverhältnis gedacht werden: nämlich als sozial
getrennte, gesellschaftlich atomisierte Wesen, die sich (zuletzt bis in die
Intimität hinein) nur noch durch die verdinglichte, tote Beziehungsform
des Geldes als Erscheinungsform der Verwertungslogik miteinander ver

55
mittein können. Diese Form jedoch verweist darauf, dass den sinnlichen,
bedürftigen, sozialen Individuen der gegenüber vormodernen Gesell-
schaften größere Spielraum nur in Gestalt einer umso gnadenloseren Fes-
selung an den modernen verdinglichten Fetischismus gegeben wurde. Die
Individuen können nur deshalb in zunehmender Ungebundenheit von
Familie, Clan, Stand, persönlichem Treueverhältnis usw. handeln, weil sie
in ihrer unmittelbaren Existenz abgestempelt sind als Vollstreckungsor-
gan der Bewegung des allgemeinen Fetischs, nämlich der Verwertungslo-
gik, und weil die in der Vergangenheit relativ lockere Charaktermaske der
gesellschaftlichen Form mit dem Gesicht verschmolzen ist.
Die scheinbare Erweiterung des individuellen Spielraums in der Mo-
derne ist also gleichzeitig eine extreme Verengung. Diese wurde ursprüng-
lich auch als solche erlebt, weswegen ihre Durchsetzung von der europäi-
schen Konstitutionsgeschichte der Moderne im 15./16. Jahrhundert bis zu
den historischen Nachzüglern der Regimes „nachholender Modernisie-
rung" im 20. Jahrhundert nur durch Formen staatsbürokratischer Gewalt
gegen lange anhaltende Widerstände und blutige Aufstände der Menschen
möglich war. So bilden die absolutistischen und die späteren staatstota-
litären Zwangsverhältnisse keinesfalls das äußere Gegenbild des „freien"
und „autonomen" modernen Individuums, sondern vielmehr dessen ei-
gene zwanghafte Verpuppungs-Gestalt. Autonomie und Freiheit beziehen
sich einzig und allein auf den Binnenraum des Wert- und Abspaltungs-
verhältnisses, in dem das Individuum bereits von der Fetischform erfasst
und ihm keinerlei Abweichung mehr gestattet ist. In der Fasson abstrakter
Individualität scheinen der gesellschaftliche Form-Absolutismus und die
reale, sinnliche Existenz des menschlichen Individuums unmittelbar zu-
sammenzufallen.
Auf diese Weise wird den modernen Individuen jegliche Originalität
ausgetrieben: Sie drohen sich in bloße „Exemplare" der Wertform, in
„Menschen von der Stange" zu verwandeln. Je schriller die Rede von der
wunderbaren modern-westlichen „Individualität" wird, desto mehr glei-
chen die real abstrakt gewordenen menschlichen Einzelwesen einander
wie ein Ei dem anderen, bis in den äußeren Habitus, ja bis in die Gedan-
ken und Gefühle hinein, die von Moden und Medien nach Maßgabe des
Verwertungs-Fetischs mechanisch gesteuert werden.
So gesehen ist es offensichtlich, dass die moderne abstrakte Individu-
alität keinesfalls ein „notwendiges" und „fortschrittliches" Durchgangs-
stadium in der Befreiung menschlicher Individualität von irrationalen

56
gesellschaftlichen Zwangsverhältnissen darstellt. Eher im Gegenteil han-
delt es sich darum, dass die Zwanghaftigkeit des Fetischverhältnisses den
Individuen bis auf die Haut nahe gerückt ist. Der Handlungsraum der
bürgerlichen „Freiheit" ist im wesentlichen einer optischen Täuschung
geschuldet, die sich gerade darauf zurückführen lässt, dass im Unter-
schied zu vormodernen Verhältnissen das Individuum und seine gesell-
schaftliche Form nahezu identisch gesetzt werden. Was sich generell über
die Moderne und ihre Aufklärungsideologie sagen lässt, gilt erst recht für
die moderne abstrakte Individualität: Diese bildet keine einmal erreichte
positive Grundlage, von der aus weiter an der (angeblich bloß „unvollen-
deten") Befreiung des Individuums zu basteln wäre, sondern sie gehört
zur Schutthalde des kapitalistischen globalen Ruinenfelds, das abgetragen
und weggeräumt werden muss.
In diesem Sinne ist allerdings auch das Verhältnis des sinnlichen und
sozialen Individuums zu seiner negativen gesellschaftlichen Form neu zu
bestimmen, das in der modernen Konstitution abstrakter Individualität
verdunkelt worden ist. Seit der Aufklärung setzen die modernen Theori-
en der Gesellschaff die Begriffe von Individuum und Subjekt weitgehend
synonym. Diese Sichtweise entspricht genau jener optischen Täuschung,
in der Fetischform und Individualität einander zum Verwechseln ähnlich
sehen, sodass Individualität überhaupt nur in der warenproduzierenden
Moderne als existent gilt. In Wahrheit ist das Subjekt nichts anderes als die
Form, die den Individuen das moderne Wertverhältnis aufzwingt (und
diese Subjektform gleichzeitig qua Abspaltungsverhältnis den Frauen nur
teilweise und bedingt zuerkennt). Das Subjekt ist nichts anderes als der
bewusste (individuelle wie institutionelle) Träger der subjektlosen Ver-
wertungsbewegung.
Dennoch geht das reale Individuum auch in der Moderne nicht in
seiner zwanghaften gesellschaftlichen Fetischform völlig auf. Diese Form
aber ist ja gerade die Subjektform: Nicht etwa in dem Sinne, dass es sich
dabei um eine überhistorische ontologische Bestimmung handelt und der
modernen Subjektform andere Subjektformen in früheren Gesellschaffen
entsprechen würden; vielmehr hat allein die moderne Wertvergesellschaf-
tung überhaupt die „Form Subjekt" hervorgebracht.
Möglicherweise lassen sich in den alten agrarischen Zivilisationen
entsprechende Formen menschlicher Beziehungsverhältnisse gegenüber
Natur und Gesellschaft feststellen (was genaueren Untersuchungen vor-
behalten bleiben müsste), denn zweifellos bringt jede menschliche Gesell-

57
schaff im Unterschied zu tierischen Sozietäten eine aktive Bewusstseins-
beziehung zu ihren Weltgegenständen hervor. Diese darf jedoch ebenso
wenig wie andere gesellschaftliche Formbestimmungen aus der Realität
und dem entsprechenden Begriffsapparat des modernen warenproduzie-
renden Systems auf die gesamte menschliche Geschichte zurückprojiziert
werden. Gerade darin besteht ja die aufklärungsideologische Ontologisie-
rung der erst vom modernen Wert- und Abspaltungsverhältnis hervorge-
brachten gesellschaftlichen Grundbestimmungen. Vor dem 16. Jahrhun-
dert gab es weder Arbeit noch Ökonomie, weder Staat noch Politik, und
erst recht kein (strukturell „männliches") Subjekt: diese Begriffe wurden
teils neu erfunden, teils in ihrer Bedeutung völlig umgewälzt; und viel-
leicht am deutlichsten im Begriff der Subjektivität.
So gesehen kommt nicht dem Begriff des Subjekts, sondern eher dem
des Individuums in gewisser Weise ein überhistorischer Charakter zu.
Freilich nicht etwa im Sinne eines sich gleich bleibenden Substrats, eines
ontologischen „Wesens", das unter den historischen Schichtungen verbor-
gen läge als „eigentliche" sinnliche Wirklichkeit. Die Individualität exis-
tiert nie für sich, sondern immer nur in Bezug auf eine gesellschaftliche
Form. Denn individuell kann man nur als gesellschaftliches Wesen sein.
So bedeutet Individualität nichts anderes als die Spannung zwischen den
realen, sinnlichen einzelnen Menschen und der in sie eingebrannten ge-
sellschaftlichen Form, als die leidvoll gelebte „Lücke", das Nicht-Aufgehen
der Bedürfnisse und Empfindungen in dieser Zwangshülle. Durch viele
Formationen hindurch dringt immer wieder das Quälende, Schmerzhaf-
te, die Zumutung dieses Widerspruchs hindurch, solange die Gesellschaft
von blinden Fetischformen gesteuert wird, in denen sich die Individuen
nicht als solche miteinander zu einer selbst-bewußten Gesellschaftlichkeit
verständigen, sondern gewissermaßen wie in einer Art Trance der von ih-
nen selbst gemachten Objektivierung im Sinne ihrer eigenen Bedürfnisse
und Möglichkeiten irrational und destruktiv handeln.
Der von Marx ahnungsvoll benannte mögliche „Verein freier Men-
schen" wäre also genauer bestimmt ein „Verein freier Individuen", das
heißt eine Gesellschaft von sich selbst bewusst in ihrer Sozial- und Na-
turbeziehung vermittelnden Individuen, die ihre Zwangshaut der zweiten
Natur abgestreift haben. Genau diese Befreiung aber kann in gar keiner
Weise auf der abstrakten Individualität des warenproduzierenden Men-
schen aufbauen, die gerade die knechtende Subjektform der der moder-
nen Individuen ist, in der sie sich selbst und einander wechselseitig quälen.

58
Das abstrakte „Ich" der Moderne bildet die Gewaltform der historisch ex-
tremen, totalitären Wert- und Abspaltungsverhältnisse, in denen sich Leid
und Zumutung bis zur Unerträglichkeit zuspitzen.
Damit wird freilich alle bisherige Gesellschaftskritik, die Befreiung aus-
gerechnet qua „Subjektivität" erreichen wollte, erst in der tiefsten Dimen-
sion ihrer Gebundenheit an das System der Wert- und Abspaltungsgesell-
schaft deutlich. Subjektivität ist nicht der Modus der Befreiung, sondern
im Gegenteil die Form der Fesselung des Individuums. Indem sie sich als
Subjekte begreifen, sind die Menschen schon in die Subjekt-Objekt-Dia-
lektik der modernen Fetisch-Konstitution eingeschlossen.
Auch hier haben wir es wieder mit einer optischen Täuschung zu tun:
Das Subjekt erscheint als Gegensatz zum Objekt und damit vermeintlich
zur Objektivierung durch die anonymen Mächte der gesellschaftlichen
Form, sodass „Subjektivität" gegen deren Zwang angerufen wird. Diese
oberflächliche Betrachtungsweise realisiert nicht, dass das moderne Fe-
tischverhältnis sich nur in polaren Gegensätzen bewegen kann, die den-
noch eine negative Identität bezeichnen. So steht das Subjekt nur insofern
zur Objektivität im Gegensatz, als es deren eigene paradoxe bewusst-be-
wusstlose Tätigkeitsform darstellt, die eben deshalb notwendig ist, weil es
diese Objektivität ja als ein dingliches Dasein „außerhalb" des Bewusst-
seins der Individuen gar nicht gibt (Denken und Handeln sind verding-
licht, aber nicht von den Individuen unabhängige „Dinge"). Sie sind es,
und sie sind es gleichzeitig nicht, soweit sie notwendigerweise nicht darin
aufgehen. Nur deshalb kann ihnen ihre eigene Wahrnehmungs-, Erkennt-
nis- und Handlungsform in ihren Resultaten als fremde, scheinbar äußere
Macht entgegentreten. Diese Form ist gerade die Subjektform (die „Form
Subjekt"), in der sie den Zwang des Fetischverhältnisses vollstrecken. Die
Subjekt-Objekt-Dialektik ist nichts anderes als der Kreislauf der Aggre-
gierung, in dem die Individuen sich durch ihre eigene Tätigkeit von sich
selbst entfremden und auf immer höherer Stufenleiter der Entwicklung
ein sie beherrschendes, sie schließlich selbst vernichtendes Resultat als
scheinbar äußere Objektivität herstellen.

59
Klassen und Klassenkämpfe als reine Formen
bürgerlicher Subjektivität

Ironischerweise hat gerade der Marxismus ungewollt und eigentlich


verräterisch diese moderne Subjekt-Objekt-Dialektik auf den Punkt ge-
bracht, und zwar positiv-affirmativ statt kritisch. Das Proletariat in der
marxistischen Version der Aufklärungsideologie ist das klassische Sub-
jekt-Objekt-Ding, die Reinform des bürgerlichen Bewusstseins; nicht
erst in der berühmten Formulierung von Lukács, der die „Klasse" als das
„Subjekt-Objekt der Geschichte" begreifen wollte. In der Tat ist die an
die Wertform gefesselte Bewusstseinsform, wie sie in den form-konstitu-
ierten „Interessen" zum Ausdruck kommt, stets beides zugleich: Objekt
oder objektiviertes Dasein vor aller eigenen Reflexion; ein Wesen, das sich
bereits blind selber in einer bestimmten Form vorfindet, die als solche
nicht reflektiert, ja nicht einmal als distinkte wahrgenommen wird - und
andererseits bewusster Handlungsträger in eben dieser Form, der deren
„Gesetze" exekutieren muss.
Insofern existiert dieses gesellschaftliche Wesen oder Subjekt-Objekt
„an sich", also objektiviert, unabhängig von seinem eigenen individuel-
len Bewusstsein. Indem es seine form-konstituierten Interessen verfolgt,
also seiner objektivierten Form gemäß die Welt wahrnimmt, denkt und
handelt, wird es „für sich", also „bewusst"; aber eben nur im Sinne dessen,
was es „an sich" schon objektiv ist. Es ist genau der soziale und ideolo-
gische Vollzug jener hegelschen Reflexion der Wertvergesellschaftung, in
der diese die Bewegung des „zu sich" kommenden Weltgeistes alias des
sich verwertenden Werts (der säkularisierten, verdinglichten Gottheit der
Moderne) als prozessierenden Systemzusammenhang beschreibt. Marx
hat nicht bloß mit der hegelschen Ausdrucksweise kokettiert, wie er selbst
meinte, sondern mit seiner Begrifflichkeit einer Entwicklung des prole-
tarischen Bewusstseins von der „Klasse an sich" zur „Klasse für sich" die
scheinbare Selbstbewegung der Wertform bloß „materialistisch" entmys-
tifiziert, ohne sie jedoch an diesem Punkt kritisieren zu können. Deshalb
gehört gerade die Klassentheorie zu den an den Wertfetisch und die dazu-
gehörige Aufklärungsideologie gebundenen Bestandteilen der marxschen
Reflexion.
Daraus erhellt auch, dass sich die klägliche „Subjektsuche" der radi-
kalen Linken nach dem Zweiten Weltkrieg nur blamieren konnte, weil
sie den logischen Zusammenhang der Subjekt-Objekt-Dialektik nicht

60
durchschaute. Wollte der westliche Marxismus noch die „proletarische
Subjektivität" anrufen, so machte die neue Linke mit einer ganzen Se-
rie von Surrogaten für das entschwindende Subjekt-Objekt (Randgrup-
pen, Frauen, Subsistenz etc.) weiter, ohne jemals aus der Gefangenschaft
in der vom Wert-Abspaltungsverhältnis konstituierten Bewusstseinsform
herauszukommen: Stets wurde das Subjekt gerade durch die Frage nach
seiner „objektiven" Bestimmung gesucht, ohne zu merken, dass es sich
dabei um eine den eigenen Anspruch auf Befreiung von vornherein de-
mentierende Paradoxie handelt; um eine Bestimmung, die zwar „richtig"
ist, aber eben nur als (ebenso unbewusste wie affirmative) Beschreibung
des Fetischverhältnisses.
Die Suche nach dem Subjekt konnte gar nichts anderes sein als die
hoffnungslose Suche nach dem Punkt, an dem sich die Parallelen im Un-
endlichen schneiden: die Suche nach einer logisch unmöglichen „Objekti-
vität" der Befreiung, eben nach einem Subjekt-Objekt, das über die nega-
tive Objektivierung hinausführen soll, obwohl sie diese ja selber ist. Diese
dem androzentrischen, identitätslogischen Abspaltungssubjekt entspre-
chende paradoxe „Befreiungstheorie", die doch nur die Systemlogik wi-
derspiegeln kann, bleibt bis heute auf den bloß scheinbaren, immanenten
Gegensatz von Subjekt und Objekt bzw. Objektivierung fixiert, während
die tatsächliche Sprengung des „eisernen Gehäuses" nur von einem Meta-
Standpunkt aus möglich wäre: Radikale Kritik hieße dann nicht etwa, das
Subjekt (oder ein bestimmtes prädestiniertes Subjekt-Objekt) gegen die
knechtende Objektivierung mobilisieren zu wollen, sondern vielmehr
durch die „Lücke" in den realen Individuen hindurch die sich ihres eige-
nen Nicht-Aufgehens in den Fetischformen bewusst werdende „organi-
sierte Individualität" gegen das zwanghafte Subjekt-Objekt-Verhältnis der
modernen Form-Konstitution zur Geltung zu bringen.
Der Verfall der modernen Subjektivität in allen ihren sozialen Varian-
ten gegenüber der überwältigenden, weltzerstörenden Objektivität, die sie
selber hervorgebracht hat, zeigt, wie unhaltbar das Subjekt-Objekt-Ding,
die destruktive Bewegungsform des modernen warenproduzierenden Sys-
tems geworden ist. Aber eben weil die Befreiung davon nicht wieder „ob-
jektiv" angelegt sein kann, kann sie auch nicht in der Form des Subjekts
vollzogen werden. Solange die Individuen sich weiterhin an die Form des
Subjekts fesseln lassen, können sie nur noch ihren eigenen Untergang her-
beiführen.

61
Gleichheit zum Tode: die negative Universalität
der Rechtsform als Selektionsmechanismus

Was für den Begriff der Individualität gilt, lässt sich ebenso für den Begriff
der Universalität feststellen. Auch in dieser Hinsicht ist die Aufklärungs-
ideologie samt ihren Objektivierungen als fundamental unwahr und bar
jedes emanzipatorischen Kerns zu destruieren. Wird die moderne Indi-
vidualität seit den Parolen der Französischen Revolution der „Freiheit"
(Autonomie) zugeordnet, so der moderne westliche Universalismus der
„Gleichheit". Die Ideologie der Gleichheit suggeriert die unbeschränkte
Anerkennung aller Individuen gleichermaßen als „Menschen überhaupt",
ausgestattet mit unveräußerlichen Rechten (ursprünglich als „Naturrecht"
firmierend), die sich in universellen „Menschenrechten" ebenso wie in der
Form nationalstaatlicher Rechtssysteme darstellen sollen. Darauf beruft
sich bekanntlich der aktuelle westliche Menschenrechts-Imperialismus
mehr denn je zur Rechtfertigung seiner globalen Brutalitäten.
Wie jedoch die vielbeschworene Individualität nichts anderes ist als das
abstrakte „Ich", das bloß abstrakte und in die moderne Subjektform des
Werts eingeschlossene Individuum, ebenso ist der moderne westliche Uni-
versalismus ein abstrakter und damit negativer. Wie die Individuen nur
„frei" und „autonom" sind, soweit sie ihre Entscheidungen im Rahmen der
kapitalistischen Form treffen und kompatibel mit der „Notwendigkeit"
der blinden Verwertung des Werts und deren Pseudo-Naturgesetzen blei-
ben, ebenso sind sie nur „gleich", soweit sie eben gleichermaßen der Wert-
form unterworfen und deren Vollzugssubjekte sind. Der „Mensch über-
haupt" ist der bloß abstrakte Mensch; der Mensch, soweit er Subjekt des
Werts sein kann. Ausschließlich darauf bezieht sich seine „Anerkennung"
als Mensch, und allein in diesem Sinne kann er universelle „Menschen-
rechte" besitzen und Rechtssubjekt im Rahmen staatlicher Strukturen
sein. Außerhalb davon, das heißt außerhalb des gnadenlos eingrenzenden
Universums der Wertform, hat er demzufolge nichts Menschenähnliches
mehr und steht auf der Stufe von Tieren oder von bloßer Materie. Die
Rechtsfähigkeit, also auch die Menschenrechtsfähigkeit, ist somit gebun-
den an die Verwertungsfähigkeit, die Arbeitsfähigkeit, Verkaufsfähigkeit,
Finanzierungsfähigkeit, mit einem Wort: an die „Rentabilität" der Exis-
tenz, die sonst „objektiv" für ungültig erklärt wird.
Da die Wertvergesellschaftung für sich allein in ihrer Negativität und
Destruktivität von universellen Konkurrenzverhältnissen keinen Tag

62
lang reproduktionsfähig wäre, musste sie ihre eigene Universalität schon
durch das geschlechtlich besetzte Abspaltungsverhältnis dementieren. Ur-
sprünglich war das Rechtssubjekt, auch das Menschenrechts-Subjekt, des-
halb ausschließlich ein männliches. Zwar setzte sich schließlich die juris-
tisch-staatsbürgerliche Gleichstellung der Frauen in den meisten Staaten
durch (erst im 20. Jahrhundert), aber eben nur soweit sie Wertsubjekte
sind, während die weiterhin als „weiblich" definierten abgespaltenen Mo-
mente außerhalb der Universalität weitgehend rechtsfreie Räume bleiben
oder sich der Rechtsform des abstrakten Universalismus sperren und sie
ad absurdum führen. In vielen Einzelfällen, Ausführungsbestimmungen,
Details und im „Ungeschriebenen" zwischen den Zeilen (also im Rahmen
der Interpretationsfähigkeit) bricht die verminderte Rechtsfähigkeit der
Frauen immer wieder durch, wo das abstrakte Wert-Universum an die
ihm nicht gänzlich anverwandelbaren, sperrigen Momente der sinnlichen
Realität stößt.
Die Wertvergesellschaftung bedarf der abgespaltenen Momente, um in
der sinnlichen und sozialen Welt überhaupt existieren zu können, aber
ihr abstrakter Gleichheits-Universalismus will diesen Sachverhalt nicht
wahrhaben. Das Versprechen des westlichen Rechts-Universalismus ist
ein mörderisches: Es ist das Versprechen, die Menschen „gleich" zu ma-
chen und sie „anzuerkennen" als Angleichung an die Wertform, um nach
Prokrustes-Manier alles an ihnen abzuschneiden, was nicht in diese Form
passt. Weil sich aber letzten Endes die sinnliche Welt nie ganz in dieser
Form negativer Universalität „gleich machen" lässt, treibt der Todes- und
Zerstörungstrieb des entsinnlichten Wertsubjekts nicht nur zu einer Ver-
nichtung der für seine eigene Reproduktion notwendigen abgespaltenen
Momente, sondern zur Weltvernichtung überhaupt. Erst dann ist die Welt
als vernichtete voll und ganz frei und gleich und universell.
Die auf den Zustand der Wertsubjektivität reduzierte Anerkennung
des Menschen ist daher identisch mit seiner grundsätzlichen Nichtaner-
kennung als ein darin nicht aufgehendes und darüber hinaus bedürftiges
sinnliches und soziales Wesen. Der universelle Einschluss ist gleichzeitig
ein universeller Ausschluss. Soweit die ausgeschlossenen Momente, Dinge
und Wesen dennoch für die gesellschaftliche Lebensfähigkeit nötig sind
und der Todestrieb des Wertsubjekts sich noch nicht vollendet hat, wer-
den sie abgespalten, ansonsten einfach ausgeblendet oder eben annihiliert.
Das Anerkennungsverfahren des westlichen abstrakten Universalismus
ist so notwendigerweise ein Selektions- und Eliminationsverfahren, was

63
nicht zufällig an das ebenso bürokratische wie barbarische „Anerken-
nungsverfahren" für Asylbewerber erinnert, von denen bekanntlich die
meisten abgelehnt werden. Auch die Assoziation an die Selektionsram-
pe von Auschwitz ist keine böswillige, sondern trifft die Natur der Sache.
Auschwitz war die äußerste Zuspitzung des „Anerkennungsverfahrens"
westlicher Menschenrechte.
Jeder hat das Recht, Wertsubjekt zu sein, der „abstrakten Arbeit" (Marx)
sein Leben zu opfern, sich selbst oder eine Sache zu verkaufen usw. - aber
nur, soweit er dazu „fähig" ist oder für fähig erklärt wird; ansonsten ist
er weniger als nichts. Wir erkennen dich so an, dass dir die Spucke und
der Atem wegbleiben. Als der Wert- und Geldform vorgängiges sinnliches
und soziales Wesen ist der Mensch vom Wert- und Rechtsuniversalismus
noch keineswegs per se anerkannt, sondern erst einmal ein Stück Natur,
ein Stück Fleisch. Die westlichen Aufklärungsideologen haben schon im-
mer so getan, als kämen die Individuen direkt aus dem Mutterleib in der
„natürlichen" Form des Rechtssubjekts zur Welt. Diese Form ist jedoch
so wenig „natürlich" wie ein Mietvertrag oder die Blaupause einer Inter-
kontinentalrakete. Sie ist weder „natürlich" noch gesellschaftlich primär,
sondern eine sekundäre, abgeleitete Form des Wertverhältnisses als Pro-
duktions- und Zirkulationsverhältnis.
Die Aufklärungsideologen haben die Beziehung von Wertsubjekt (im
engeren Sinne des Produktionsverhältnisses) und Rechtssubjekt auf den
Kopf gestellt. Als stumme Bedingung geht in das „rechtliche" Anerken-
nungsversprechen in Wirklichkeit die Verwertungsfähigkeit ein. Eben
deshalb können sich die Individuen erst durch ein selektives Anerken-
nungsverfahren in Menschen und in anerkannte Rechtssubjekte verwan-
deln, sie sind es keineswegs „an sich" schon in ihrer leiblichen Existenz.
Das Selektionsverfahren kann „objektiv" (nach Verwertungsgesetzen und
Marktlagen) sein und es kann „subjektiv" (ideologisch, staatstechnisch)
vollstreckt werden. Die schreienden Widersprüche der Wertvergesell-
schaftung gehen in ihrer ganzen Irrationalität und mord-ideologischen
Verarbeitung ebenso in dieses Selektionsverfahren ein wie die Binnenrati-
onalität der Betriebswirtschaft.
Deshalb ist der abstrakte westliche Rechtsuniversalismus im Prinzip
mit der Sklaverei ebenso vereinbar wie mit der rassistischen, antisemiti-
schen und nationalistischen Ausgrenzung oder Vernichtung. Da zwischen
der leiblichen Existenz und der Rechtsfähigkeit als anerkanntes Wertsub-
jekt eine systematische Lücke klafft, in der das Anerkennungs- als Selekti-

64
onsverfahren wirkt, kann diese leibliche Existenz ebenso verworfen oder
anderer Verwendung zugeführt werden wie eine vom Markt nicht „aner-
kannte" Ware, von der sich ihre kapitalistische „Überflüssigkeit" heraus-
stellt.
Wenn die Gründerväter der USA die Sklaverei der Schwarzen für rich-
tig oder sogar naturgesetzlich hielten und die Vormacht von „freedom and
democracy" ihren ökonomischen take off der Sklavenarbeit verdankte, so
war das ebenso wenig eine Verletzung des abstrakten westlichen Univer-
salismus wie die Tatsache, dass die Repräsentanten der Französischen Re-
volution die Erhebung der Schwarzen auf Haiti niederkartätschen ließen,
obwohl diese sich (naiverweise) auf die Gleichheitsprinzipien der Fran-
zösischen Revolution selbst beriefen. Die entweder unreflektierten oder
geradezu perfiden Ideologen des westlichen Universalismus bis hinauf zu
Habermas u. Co. stellen diese Tatsachen regelmäßig als („zeitbedingte")
bloße Inkonsequenz und als bloß mangelnde Vollendung des Universalis-
mus-Projekts dar, weil sie systematisch den vorgängigen objektiv-subjek-
tiven Selektionscharakter der „Anerkennung" ausblenden.
Solange sie nur in der Form der Sklaverei als Verwertungsobjekte ren-
table Verwendung finden konnten, wurde das Anerkennungsverfahren
für die US-Schwarzen eben negativ beschieden. Die „Sklavenbefreiung"
andererseits kam nicht als endliche Konsequenz eines an sich schon die
leibliche Existenz anerkennenden Universalismus-Prinzips, sondern weil
die Sklaverei für den Verwertungsprozess in den USA dysfunktional ge-
worden war. Dies ist allerdings keineswegs bloße Entwicklungsgeschichte,
die den Sklavenstatus für immer hinter sich gelassen hätte. Heute spuckt
der globale Verwertungsprozess immer mehr absolut „Überflüssige" aus,
die deshalb im weiteren (permanenten) Anerkennungsverfahren des
abstrakten Universalismus wegselektiert werden. Aus der Masse dieser
als Nicht-Subjekte objektivierten, bloß leiblichen, nicht mehr „anerken-
nungsfähigen" Menschen bilden sich neue Sklaven- und sklavenähnliche
Verhältnisse, soweit sie nicht schierem Elend und Hungertod überlassen
werden.
Das schmutzige Mitgefühl der gegenwärtigen westlichen Freiheits-
kämpfer gibt, wenn man das Kleingedruckte liest, den Herausgefallenen
dieser Welt keinesfalls das Versprechen, dass sie in ihrer leiblichen Exis-
tenz per se anerkannt werden. Vielmehr lautet das Versprechen in seiner
ganzen abgründigen Gemeinheit lediglich: Es tut uns ja so unendlich leid,
dass ihr (womöglich durch eigene Schuld, weil ihr euch nicht genügend

65
angestrengt und nicht genügend die westlichen Werte etc. angenommen
habt) aus der Verwertungsfähigkeit und damit aus dem Universalismus
des Werts herausgefallen seid; und wir wollen alles tun, was in unserer
Macht steht, damit ihr wieder oder überhaupt hineinkommt (wenn ihr
euch selber kräftig am Riemen reißt und alle Zumutungen dankbar hin-
nehmt wie ein Geschenk). Es wäre doch wunderschön, wenn alle Men-
schen im Zustand der wunderbaren Wertsubjektivität (Arbeits- und
Marktfähigkeit) als Träger unveräußerlicher Menschenrechte anerkannt
werden könnten.
Das heißt jedoch im Klartext auch: Ob die Wiederherstellung eures An-
erkennungs-Status gelingt, ist eine offene Frage (vielleicht, weil ihr euch
nicht genügend anstrengt, dieser Ehre teilhaftig zu werden). Bedingung
bleibt Bedingung. Das Versprechen ist deshalb immer schon eine Drohung:
Wenn die Bedingung nicht erfüllt werden kann (und für die Mehrzahl der
Menschen ist sie heute „objektiv" gar nicht mehr erfüllbar, selbst wenn sie
sich bis zur Selbstaufgabe anstrengen), muss leider, leider auch die Aner-
kennung ausbleiben. Das Ende der bloß noch physikalischen Existenz der
„Überflüssigen" als Kollateralschäden des Weltmarkts ist abzusehen.
Übrigens gilt dies keineswegs nur für die „überflüssigen" Massen der
Dritten Welt. Ein Gang durch deutsche Sozialämter oder US-amerika-
nische Sozialbehörden genügt, um empirisch feststellen zu können, wo
die Grenzen der westlich-universalistischen Anerkennungsfähigkeit als
Mensch verlaufen. Die Fähigkeit, Rechtssubjekt zu sein, ist hier zwar noch
nicht gänzlich eliminiert, weil diese Menschen weiterhin als abstrakte
„Staatsbürger", „Wahlberechtigte" usw. geführt werden, und somit Mik-
ro-Bestandteil des „Souveräns", des ideellen Gesamt-Subjekt-Objekts,
bleiben; aber diese Rechtsfähigkeit ist dennoch bereits reduziert, was sich
am Umgang mit diesen minderen Wertsubjekten deutlich ablesen lässt:
sie geraten immer mehr in den Status von Unmündigen, nicht mehr voll
Zurechnungsfähigen, von einer Art sprechender Tiere oder unbrauchbar
gewordener sprechender Werkzeuge, von „Wilden" oder Kindern, die mit
„du" angeredet werden.
Gerade die USA als einzige globale Supermacht von „Freiheit und
Gleichheit" haben am Ende des 20. Jahrhunderts unter den Deckmänteln
von „Jobs" (Elendstätigkeiten und persönlichen Bedientenverhältnissen)
und „Strafvollzug" millionenfach sklavenähnliche Verhältnisse neu her-
vorgebracht, in denen das abstrakte Recht in terroristische Willkür um-
schlägt. Flüchtlinge und Asylbewerber, die oft noch nicht einmal mehr

66
irgendwelche Staatsbürger sind, sondern „Staatenlose" ohne Pass, ver-
lieren den Status des Menschen qua Rechtsfähigkeit vollständig (worauf
übrigens schon Hannah Arendt hingewiesen hat) und werden buchstäb-
lich wie Tiere behandelt, sei es in „illegalen", völlig rechtlosen Beschäfti-
gungsverhältnissen, sei es in KZ-ähnlichen Internierungslagern.
Weil es aus dieser Logik auf dem Boden der Wertvergesellschaftung
kein Entkommen gibt, ist das Anerkennungs- und damit Selektionsver-
fahren immer schon auch „subjektiv" umkämpft. Die universelle Konkur-
renz als untrennbarer Bestandteil des Rechts-Universalismus ist daher als
Kampf um die Marktfähigkeit notwendigerweise auch ein Kampf um die
Anerkennungsfähigkeit, weil alle wissen, dass es nie für alle reicht. Das
hat nichts mit der Kapazität der sinnlich-materiellen Ressourcen zu tun,
sondern mit der mangelnden Aufnahmekapazität der gesellschaftlichen
Reproduktionsform, die ja gerade die Grundlage und Voraussetzung des
abstrakten Rechtsuniversalismus und somit die Bedingung von dessen ei-
gener Logik ist.
Unter dieser Bedingung muss die immanente Tendenz entstehen, die
Rechts-Universalität in ihrer Funktion als Selektionsmechanismus nicht
allein den vorgängigen blinden Verwertungsgesetzen zu überlassen, son-
dern gewissermaßen als Rückversicherung im hochnotpeinlichen Aner-
kennungsprozess nationale, rassistische usw. Kriterien beizufügen. Inso-
fern ist es ebenso wenig wie die Existenz der (alten und neuen) Sklaverei
in den USA eine Inkonsequenz des Denkens, wenn sich in den Äußerun-
gen nahezu sämtlicher Geistesheroen der Aufklärungsideologie rassisti-
sche und antisemitische Ausfälle zuhauf finden lassen. Auch das ist keine
Verletzung des modernen Universalitätsprinzips, sondern dessen eigene
innere Konsequenz als Selektionsmechanismus.
Der abstrakte Universalismus der Wertvergesellschaftung und ihres
Aufklärungsdenkens bildet als negative, mörderische „Gleichheit" in gar
keiner Weise eine Grundlage, auf der emanzipatorisch weitergebaut wer-
den könnte. Für die „Gleichheit" gilt dasselbe wie für die „Freiheit". Auch
in dieser Hinsicht gibt es nichts zu „vollenden" oder weiterzuentwickeln,
sondern das ganze Verhältnis kann nur noch niedergerissen werden. Die
Existenzfähigkeit der sinnlich-sozialen Individuen gerade in ihrem qua-
litativen Verschiedensein als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit, die
deshalb gar keines juristischen Status irgendeiner „Anerkennung" bedarf,
ist nur im fundamentalen Gegensatz zum westlichen Ausgrenzungs-Uni-
versalismus zu erkämpfen. Allein die Rechtsform selber und als solche, al-

67
lein die „Notwendigkeit" eines besonderen Status der Anerkennung sagt
schon, dass es sich um keine Voraussetzung und um keine Selbstverständ-
lichkeit, sondern um ein Resultat handelt, das immer erst entschieden
werden muss und die Möglichkeit, ja die massenhafte Wirklichkeit des
Gegenteils in sich einschließt.
Die Kehrseite der Anerkennung ist immer schon die Ausgrenzung.
Das besinnungslose Denken der Emanzipation im Gehäuse der bürgerli-
chen Rechtsform und deren Prinzip abstrakter Universalität gleicht daher
ebenso wie hinsichtlich der bloß abstrakten, unwirklichen Individualität
wiederum dem Versuch, empirisch den Punkt zu erreichen, wo sich die
Parallelen im Unendlichen schneiden. Fazit: An der Aufklärung ist nichts,
aber auch gar nichts zu retten. Die Aufklärungsideologie kann samt der
zugrunde liegenden gesellschaftlichen Konstitution nur noch von Grund
auf verworfen werden.

Aufklärung und Gegenaufklärung: die Polarität kapitalis-


tischer Entwicklung und die Identität der Gegensätze

Verschiedene Aspekte einer emanzipatorischen radikalen Kritik der Auf-


klärung sind zwar immer wieder aufgetaucht, aber nie konsequent zu Ende
gedacht worden, meistens nur bruchstückhaft oder (wie bei Adorno) im
entscheidenden Moment wieder auf die vom Wert gesetzte Subjektform
zurückbiegend, das missverstandene Ideal gegen die Wirklichkeit einkla-
gend etc. Der Grund dafür lässt sich leicht erklären: Es ist die Tatsache,
dass gegen Aufklärung und Moderne immer schon „Gegenaufklärung"
und „Antimoderne" von einem rechten, reaktionären, elite-ideologischen,
irrationalen, rassistisch-antisemitischen usw. Herrenmenschen-Stand-
punkt aus geltend gemacht werden. Das emanzipatorische Denken fällt
also deswegen immer wieder auf die Aufklärung herein und auf deren
Essentials zurück, weil es sich davor fürchtet, auf der „falschen Seite" zu
landen oder entsprechend gedeutet zu werden. Wer will im Namen der
Emanzipation schon „zurück ins finstere Mittelalter" (oder gleich gar in
die Steinzeit), wer will schon Reaktionär geschimpft werden oder in den
Geruch kommen, dem westlichen Universalismus mit ethnischen „Diffe-
renzen" oder Rassenkunde und der abstrakten Individualität mit dump-
fer Hordengemeinschaft begegnen zu wollen?
Genau diese Furcht verhindert stets den entscheidenden Durchbruch

68
gegen die Aufklärungsideologie und stellt das kritische Denken still, sobald
es diese Demarkationslinie der bürgerlichen Ontologie zu überschreiten
droht. Es ist insoweit eine berechtigte Furcht, als die Motive konservativer
Kulturkritik und eines reaktionären „Antikapitalismus" immer wieder als
Interferenzen bis in die aufklärerische Linke hinein erscheinen; es gibt ide-
ologische Wanderungsbewegungen von links nach rechts und umgekehrt,
sodass es zu den Evergreens innerlinker Polemik gehört, sich gegenseitig
als Reaktionäre oder als bürgerliche Aufklärer zu denunzieren, ohne die
gemeinsame Wurzel dieses Gegensatzes offen zu legen.
Damit wird aber gerade der innere Zusammenhang von Aufklärung
und Gegenaufklärung, Moderne und Antimoderne etc. verdunkelt. Statt
eine Meta-Kritik dieses inneren Zusammenhangs, dieser negativen Iden-
tität der beiden Seiten von moderner Geschichte und Wertvergesellschaf-
tung zu entwickeln, flüchtet das Denken so in der Regel auf die vermeint-
lich bessere, lichtere Seite, um nicht den „Dunkelmännern" zu verfallen.
Damit dieser affirmative Reflex endlich überwunden werden kann, bedarf
es einer gänzlich veränderten Sichtweise, die den Blick auf das Ganze der
Wertvergesellschaffung, auf das gemeinsame Bezugssystem der Gegen-
sätze innerhalb dieser Form richtet, statt sich auf eine Parteinahme für
jeweils eine der beiden Seiten vergattern zu lassen. Das gesellschaftliche
Ganze, die übergreifende Wert- und Abspaltungsform gilt es zu verwer-
fen, die diese Gegensätze und diese immanent kämpfenden Parteien über-
haupt erst (durch das Bewusstsein und die Handlungen der Individuen
hindurch) hervorgebracht hat.
Wertkritik impliziert schon ihrem Begriff nach, sich nicht mehr auf
die immanente Auseinandersetzung um eine (real gar nicht mehr mögli-
che) weitere Durchsetzungsgeschichte des Werts einzulassen, sondern die
radikale Kritik auf der Meta-Ebene anzusiedeln. In dieser Hinsicht muss
der Begriff der Wert- und Abspaltungskritik aber erst entfaltet werden.
Ansatzweise ist dies bis jetzt vor allem im Hinblick auf den so genannten
Klassenkampf zwischen „Kapital und Arbeit" geleistet worden. Der Arbei-
terbewegungsmarxismus setzte diesen Gegensatz absolut, ontologisierte
die Arbeit und blieb so auf die Bewegungsform eines Gegensatzes inner-
halb der kapitalistischen Kategorien beschränkt. Aus wertkritischer Sicht
verwandelt sich dieser soziale Gegensatz in einen bloß relativen und im-
manenten, in einen Spezialfall der universellen bürgerlichen Konkurrenz.
Die Arbeit ist nichts als die Tätigkeitsform oder der „lebendige" Aggregat-
zustand des Kapitals selbst; „Kapital und Arbeit" bilden gemeinsam eine

69
übergeordnete negative Identität; der Begriff der Arbeit macht nur einen
Aspekt im Begriff des Kapitals aus, das sich als gemeinsames Bezugssys-
tem aller von ihm konstituierten sozialen Kategorien darstellt. Kritisiert
und überwunden werden muss das Kapital nicht als isolierte soziale Kate-
gorie, sondern als die Systemform von Wert und Abspaltung, die von der
Arbeiterbewegung stattdessen positiv-ontologisch verstanden wurde.
Bei dieser historischen Kritik des Klassenkampfs als bloßer Bewegungs-
und Entwicklungsform des Kapitals selbst kann die begriffliche Entfaltung
auf der Meta-Ebene jedoch nicht stehen bleiben. Denn der Gegensatz von
„Kapital und Arbeit" bildet nur einen Aspekt in einem ganzen System von
Polaritäten, in denen sich die Wertvergesellschaftung darstellen und be-
wegen muss. Es gilt, diese Polarität als solche begrifflich zu erfassen, statt
nur ihre einzelnen Erscheinungsformen analytisch durchzugehen.
Das Wertverhältnis ist an sich eine negative Identität, die als solche
nicht bei sich bleiben kann. Es muss sich deshalb permanent in imma-
nente polare Gegensätze aufspalten, wie es bereits in seiner eigenen Vo-
raussetzung auf einer Spaltung beruht, nämlich eben der geschlechtlich
bestimmten Abspaltung aller nicht in der Wertform aufgehenden Gegen-
stände, Lebensmomente usw. Das Wertverhältnis als Abspaltungsverhält-
nis ist an sich schon eine in sich gespaltene, als Polarität gesetzte Identität.
Diese negative Identität bildet die Wurzel, aus der immer neue Spaltungen
und damit Polaritäten erwachsen.
Dabei handelt es sich nicht um in sich ruhende, komplementäre Dua-
lismen wie etwa in den mythisch dargestellten Formen vormoderner Kul-
turen, sondern um bis zur Erbitterung feindliche Polaritäten, die einen
permanenten Vernichtungskampf austragen, obwohl sie nur zwei Seiten
derselben Identität bilden. Diese Polaritäten bilden insofern den Modus,
in dem sich der Todestrieb der Wertsubjektivität manifestiert: Der Kampf
feindlicher Gegensätze bis zur Erschöpfung und schließlichen Vernich-
tung ist die einzig mögliche Existenz- und immanente Bewegungsform
des Wert- und Abspaltungsverhältnisses. Dabei schlagen die polaren Ge-
gensätze immer wieder ineinander um und zeigen ihre negative Identität,
bis sie am Endpunkt der Modernisierungsgeschichte in dieser Zerstörungs-
Identität unmittelbar zusammenfallen. Dies gilt sowohl für die Struktur
als auch für die historische Dynamik des in sich gebrochenen Gesamt-
verhältnisses. Schon auf der Ebene des übergreifenden, geschlechtlich
bestimmten Abspaltungsverhältnisses lässt sich eine Reihe von solchen
Polaritäten erkennen:

70
Subjekt - Objekt
Männlichkeit - Weiblichkeit
Öffentlichkeit - Privatheit

Dieses System feindlicher Polaritäten setzt sich fort auf dem Boden des
androzentrisch definierten Wertverhältnisses selbst, also innerhalb des
abstrakten Universalismus von Freiheit und Gleichheit:
Politik - Ökonomie
Staat - Markt
Macht-Geld
Planung - Konkurrenz
Arbeit - Kapital
Theorie - Praxis

Bekanntlich hat sich die gesamte Modernisierungsgeschichte des Werts


im engeren (politisch-ökonomischen) Sinne als permanenter Kampf die-
ser Polaritäten bewegt. „Markt oder Staat?", dieser Evergreen bürgerlicher
Scheinalternativen im Gehäuse der Wertform, die doch immer nur die
unheilbare Schizo-Struktur dieser ihrer selbst nicht bewussten Gesell-
schaft darstellen, wird auch heute noch unverdrossen abgeleiert. Wie die
Wertkritik jenseits des bloß immanenten Klassenkampfs von Lohnarbeit
und Kapital agieren muss, so auch jenseits des ewigen Tauziehens zwi-
schen Markt und Staat. Gegenstand der Kritik kann nur das gemeinsa-
me Bezugssystem des Werts selbst sein, eben jenes übergeordnete Wert-
Abspaltungsverhältnis, das die Gegensätze von Arbeit und Kapital, von
Markt und Staat usw. überhaupt erst aus sich heraus gesetzt hat und deren
negative Identität bildet.
Der Gegensatz von Aufklärung und Gegenaufklärung, Moderne und
Gegenmoderne gehört derselben Klassifizierung von immanenten Polari-
täten des Wert-Abspaltungsverhältnisses an. Nimmt man nicht bloß das
basale Abspaltungsverhältnis für sich und das Wertverhältnis für sich in
den Blick, sondern das übergreifende, in sich gebrochene Gesamtverhält-
nis der negativen Identität, so lassen sich eine ganze Reihe weiterer Pola-
ritäten erkennen, die gerade auf die Schizo-Struktur der Aufklärung als
Reflexionsform des Werts verweisen:
Fortschritt - Reaktion
Vernunft (Rationalität) - Irrationalismus
Zivilisation - Barbarei

7i
Kultur - Natur
Freiheit - Knechtschaft
Demokratie - Diktatur
Individuum - Gesellschaft
Gleichheit - Differenz
Gesellschaft - Gemeinschaft

Es gibt eine Fülle von Bezügen, in denen sich die feindlichen Polari-
täten auf verschiedenen Ebenen bewegen, von Ebene zu Ebene springen,
sich wechselseitig durchdringen und nur in dieser dynamisierten Gegen-
sätzlichkeit das negative Ganze ausmachen. So bildet nicht nur der Ge-
gensatz von Subjekt und Objekt, von (identitätslogischer) Männlichkeit
und (abgespaltener) Weiblichkeit oder von Markt und Staat die Bewe-
gungs- und Existenzform des Wert-Abspaltungsverhältnisses, sondern
eben auch der Gegensatz von Aufklärung und Gegenaufklärung, von Mo-
derne und Gegenmoderne. Dieser Gegensatz ist die Moderne der Wert-
vergesellschaftung, die als immer schon gespaltene und negative gar nicht
zu einer positiven, in sich ruhenden Identität gelangen kann. Weit davon
entfernt, ein vor- oder außermodernes Bewusstsein darzustellen, sind Ge-
genaufklärung und Gegenmoderne integrale Bestandteile von Aufklärung
und Moderne selbst, die nur in der Polarität zu ihrer eigenen immanenten
Negation überhaupt existieren kann.
Dies lässt sich auch historisch-empirisch zeigen. Die Gegenaufklärung
ist aus der Aufklärung selber hervorgegangen, nicht als bloß äußere Ge-
genreaktion, sondern gewissermaßen wie Athene aus dem Haupt des Zeus:
Bei den gegenaufklärerischen und „antimodernen" Ideen, wie sie sich in
der romantisch-existentialistischen Geistesgeschichte niedergeschlagen
haben und in politischen Ausdrucksformen wirkmächtig geworden sind,
handelt es sich ursprünglich um Gedanken der Aufklärung selber in ihrer
originären aporetischen Struktur. Das gilt nicht nur für Antisemitismus
und Rassismus, sondern auch für Nationalismus, Biologismus, Autorita-
rismus, Irrationalismus als Kehrseite der wertförmig konstituierten Ver-
nunft usw. Diese immanenten Momente der Aufklärung wurden isoliert
und haben sich scheinbar verselbständigt, ohne doch je zu einer eigen-
ständigen Bewusstseinsform zu gelangen; vielmehr bilden sie eben den
immanenten Gegenpol der „aufgeklärten" Bewusstseinsform des Subjekt-
Objekts selber.
Wie der romantisch-existentialistische Strang in verschiedenen Gestal-

72
ten und unter verschiedenen Namen immer wieder das Subjekt von seiner
eigenen Objektgestalt qua Heroisierung und Ästhetisierung (nicht zuletzt
einer Ästhetisierung der Politik) ablösen wollte, um der Aporie vermeint-
lich zu entkommen, so haben Gegenaufklärung und Gegenmoderne über-
haupt die „dunkle" Seite des Aufklärungsdenkens in ihren verschiedenen
Bestimmungen zu isolieren versucht, um zu einer vermeintlich wider-
spruchsfreien positiven Identität in der negativen Formhülle zu gelangen.
Das Resultat konnte immer nur die Zuspitzung dieser Negativität bis zur
Vernichtung sein; der Vernichtungsfeldzug ist eben die Bewegungsform
der gesellschaftlichen Aporie.
Vor dem Hintergrund dieses Ursprungs wird auch deutlich, dass und
warum bürgerliche Aufklärung und bürgerliche Gegenaufklärung teils
nach identischen Mustern vorgehen, die sich lediglich in der inhaltlichen
Besetzung mehr oder weniger unterscheiden; teils aber auch direkt inein-
ander umschlagen und jeweils zur Erscheinungsform ihres immanenten
Gegenteils werden können. So idealisierten die Vertreter der Aufklärung
wie die der Gegenaufklärung für die eigene Legitimation vormoderne
Gesellschaftszustände: die einen die antiken Republiken, die anderen das
so genannte Mittelalter. Und das Umschlagen von Fortschritt in Reakti-
on, von Vernunft in Irrationalität, von Demokratie in Diktatur usw. hat
die gesamte Modernisierungsgeschichte begleitet; nicht etwa als bloße
„Wechsellagen" im Machtkampf von einander äußerlichen Kräften, son-
dern als Erscheinung der negativen Identität, das heißt als Erscheinung
des Reaktionären am Fortschritt selbst (etwa in der Weiterentwicklung
des bürokratischen Apparats des Absolutismus durch die französische
Revolution, worauf schon Tocqueville hingewiesen hat), des Irrationalen
an der Vernunft selbst (etwa in der Externalisierungslogik der Betriebs-
wirtschaft, im Umschlagen der ökonomischen Konkurrenz in Krieg usw.),
des Diktatorischen an der Demokratie selbst (etwa im Vollzug von „Not-
standsgesetzen", in der Behandlung von Flüchtlingen und Sozialhilfeemp-
fängern, in der bürokratischen Menschenverwaltung überhaupt, bis hin
zu den heutigen antisozialen Gegenreformen). Rein phänomenologisch
wurde dieses Umschlagen immer wieder bemerkt und skandaliert, aber
eben nie auf den Begriff gebracht, weil sonst der faule Zauber des im-
manenten Gegensatzes nicht mehr als paradoxe Selbstrechtfertigung der
Aufklärung hätte funktionieren können.
Wie der Fortschritt von Wertvergesellschaftung und Aufklärung stets
reaktionäre Momente aufwies, so waren umgekehrt auch Reaktion und

73
Gegenaufklärung im krassen Gegensatz zu ihrer ideologischen Idealisie-
rung vormoderner, bäuerlicher usw. Zustände immer auch ein eigener
Motor des Fortschritts zur und in der Wert- und Abspaltungsform (stre-
ckenweise in Konkurrenz zur Arbeiterbewegung, aber eben nur als Kon-
kurrenz, das heißt in derselben gemeinsamen Form). Die Romantik etwa
hat keineswegs nur das so genannte Mittelalter verklärt, sondern auch in
vielen Aspekten die positive Ideologisierung der modernen abstrakten In-
dividualität vorwärts gebracht.
Auch der Nationalsozialismus als vermeintliche Inkarnation alles reak-
tionären, gegenaufklärerischen Denkens war in Wirklichkeit gleichzeitig
die deutsche Form des fordistischen Schubs in der globalen Wertverge-
sellschaffung. Die Nazis modernisierten in diesem Sinne die Industrie,
den Krieg, das Geschlechterverhältnis, den Konsum und das Subjekt. Die
NS-Formierung Deutschlands bildete auf allen gesellschaftlichen Ebenen
den Prototyp der demokratisch-ökonomistischen deutschen Nachkriegs-
gesellschaft; bis zur Lächerlichkeit deutlich im „Volkswagen", aber eben
auch in der weiteren Entwicklung der kapitalistischen Subjektform. Ge-
rade der Kern der NS-Ideologie, der Antisemitismus, ist ein spezifisches
Produkt der Moderne und ihrer Aufklärung, das in jedem Krisenschub
der „Modernisierung" abgerufen wurde. Es ist verräterisch, dass sowohl
die staatstragenden Demokraten als auch eine aufklärungsideologisch be-
fangene radikale Linke den NS am liebsten auf die antimodernen, agrar-
romantischen Elemente seiner ideologischen Legitimation reduzieren
möchten, weil „Moderne" und „Modernisierung" für sie positiv besetzt
sind und für das „Gute", angeblich Emanzipatorische der Aufklärung ste-
hen. Diese modernisierungsideologische, aufklärerische Heuchelei hat
mit den historischen Tatsachen nichts zu tun.
Wenn die negative Identität von Fortschritt und Reaktion, von Aufklä-
rung und Gegenaufklärung am Ende des 20. Jahrhunderts zu einer unmit-
telbaren wird, so in erster Linie deswegen, weil jetzt die innere Dynamik
der Wertvergesellschaftung ausgebrannt ist. Die einst bitter feindlichen
Polaritäten fallen im Krisensturz zusammen, und zwar auf allen Ebenen.
Der Markt übernimmt in Gestalt von Konzern-Organisationen immer
mehr Staatsfunktionen; die Staatsapparate umgekehrt werden als Quasi-
Profitunternehmen immer stärker marktwirtschaftlich ausgerichtet. Die
Öffentlichkeit wird in Form kapitalistischer Medien privatisiert; das Pri-
vate umgekehrt im vulgären Inhalt dieser Medien voyeuristisch öffentlich
gemacht (vom persönlichen Elend der Opfer bis zum Sexualleben der Po-

74
litiker). Auch der Fortschritt ist jetzt nicht mehr bloß partiell und tempo-
rär, sondern voll und ganz identisch mit der Reaktion: alle Reform ist nur
noch Gegenreform, und das dazugehörige offizielle Denken verwirft die
Ideologien des 20. Jahrhunderts nur, um zu denen des 18. Jahrhunderts
(und damit zu den Wurzeln der repressiven Moderne) zurückzukehren.
Die rassistische Ausgrenzung ist längst offizielle demokratische Freiheits-
und Rechtspolitik (einschließlich brutalster Polizei- und Abschiebungsge-
walt bis hin zur Rechtfertigung der Folter) geworden, die sich nur noch in
Nuancen vom Denken und Handeln rechtsradikaler Banden unterschei-
det usw.
In Deutschland zeigt sich zum Beispiel die zunehmende unmittelbare
Identität von Aufklärung und Gegenaufklärung spezifisch an der geistes-
und publikationspolitischen Entwicklung der „Suhrkamp-Kultur". Die-
ser Verlag, der in der Nachkriegsgeschichte geradezu symbolisch für eine
linksbürgerlich-aufklärerische intellektuelle Offensive im „republikani-
schen" Widerspruch zur antimodern-gegenaufklärerischen Hypothek der
deutschen Geschichte stand, beherbergt heute Haus- und Starautoren wie
Martin Walser, Botho Strauss und Peter Sloterdijk (letzterer avancierte
sogar in durchaus symbolischer Ablösung von Habermas zum Spiritus
Rector der Verlagsprogrammatik), die jene intellektuelle „Wende" reprä-
sentieren, in der inzwischen ganz ungeniert und wortmächtig Auschwitz
relativiert, reaktionäre Kulturkritik im Stil einer Eloge von „Thron und Al-
tar" betrieben und biologistisch die „Menschenzüchtung" erörtert wird.
Diese Wende stellt keinen „Verrat an der Aufklärung" dar, sondern die
Entpuppung der Aufklärung selber in der neuen Weltkrise der Wert- und
Abspaltungsgesellschaft. Deshalb handelt es sich auch nicht um ein aber-
mals spezifisch deutsches Phänomen, sondern um die Richtung des intel-
lektuellen Mainstreams in der gesamten westlichen Welt. Das System von
„freedom and democracy" führt seinen Weltkrieg gegen die von ihm selbst
hervorgebrachten Terror-Gespenster im Namen eines kulturalistischen
Rassismus (Huntington, Fukuyama & Co.), angeführt von einer Figur wie
Präsident Bush, der das Zusammenfallen von Aufklärung und Gegenauf-
klärung geradezu verkörpert.
Die Beispiele für die zunehmend deutliche unmittelbare Identität die-
ser beiden Pole ließen sich beliebig fortsetzen. Die Aufklärung enthüllt,
dass sie immer schon ihr vermeintliches Gegenteil enthalten und aus sich
heraus gesetzt hat, das sie jetzt in sich zurückholen muss und irreversibel
in der negativen Identität selber ist. Zwar wirkt die alte feindliche Polari-

75
tät formell noch weiter, aber die Gegensätze verblassen zusehends, weil
das Gemeinsame der negativen Identität unübersehbar wird. Deshalb
kann die immanente Polarität nicht einmal mehr systemkonform schein-
emanzipatorisch besetzt werden. Es ist in keiner Weise mehr tragfähig
(und sei es auch nur in einem taktischen oder vermeintlich „realpoliti-
schen" Sinne), auf der fadenscheinig gewordenen immanenten Differenz
von Aufklärung und Gegenaufklärung herumzureiten; vielmehr kann das
emanzipatorische Denken nur noch das Gemeinsame kenntlich machen,
um das negative Gesamtverhältnis zu durchbrechen.
Die emanzipatorische Antimoderne hat mit der bürgerlichen nichts
zu tun, weil ihre Kritik als Meta-Kritik beide Seiten der modernen Po-
laritäten gleichermaßen trifft: Sie verwirft den abstrakten Universalis-
mus zusammen mit der Nation, den Rassenideologien usw.; den Markt
zusammen mit dem Staat; die abstrakte Individualität zusammen mit
der Gemeinschaffsideologie; die moderne Vernunft zusammen mit dem
modernen Irrationalismus; die bürgerliche Romantik zusammen mit der
bürgerlichen Klassik; die abspaltende Männlichkeit zusammen mit der
abgespaltenen Weiblichkeit; den repressiven Fortschritt zusammen mit
der repressiven Reaktion; mit einem Wort: die Aufklärung zusammen mit
der immanenten Gegenaufklärung.

Bürgerliche Geschichtsmetaphysik des „Fortschritts"


und bürgerlicher Geschichtsrelativismus

Es fragt sich, welches Verständnis von Geschichte eine solche emanzipa-


torische Antimoderne herausbilden wird. Die Idee eines „gesetzmäßigen"
(pseudo-naturgesetzlichen) Fortschritts von aufeinander brav aufbauen-
den Entwicklungsstufen mit der Moderne als Krönung ist ebenso ausge-
schlossen wie die Verklärung und Romantisierung von irgendwelchen
vormodernen Fetischverhältnissen. Genau in diesem Sinne wird auch
der so genannte historische Materialismus unhaltbar, der sich als bloßer
Wurmfortsatz der aufklärerischen Geschichtsmetaphysik erwiesen hat.
Den identitätslogischen Modus zu überwinden, heißt auch, kein geschlos-
senes System der Geschichte mehr aufzustellen, das dem Schein nach in
sich aufginge. Die aufklärerische Geschichtsmetaphysik ist ebenso wenig
wie die moderne „Form Subjekt" durch eine andere zu ersetzen; sie ist also
nicht nur ihrem Inhalt nach, sondern auch als Denkform zu überwinden.

76
Alles, was Marx als „historischer Materialist" gesagt hat, ist im wesent-
lichen richtig; aber es gilt eben nur für den Kapitalismus, für die moderne
Wertvergesellschaffung, und ist in Bezug auf die vormodernen Gesell-
schaftsformationen nichts als Projektion. Dass das Schema in dieser Hin-
sicht hinten und vorne nicht aufgeht, ist schon oft bemerkt worden, auch
von Marxisten; aber dieses Problem wurde nie begrifflich durchdrungen,
sondern immer nur entweder für den Absprung von der radikalen marx-
schen Ökonomiekritik legitimatorisch benutzt oder durch allerlei „dialek-
tisches" begriffliches Flickwerk notdürftig überdeckt.
Die nahe liegendste Art und Weise, sich das Problem vermeintlich vom
Hals zu schaffen, ist die Position eines historischen Relativismus und Ag-
nostizismus. Könnten wir nicht einfach sagen, dass wir allein die historische
Aufgabe haben, uns den Kapitalismus als destruktive Wert-Abspaltungsge-
sellschaft vom Hals zu schaffen, und dass wir den Rest der Geschichte dem
undurchdringlichen Nebel der Vergangenheit und deren Toten überlassen
können? Dann hätten wir eine Theorie nur für die Wertvergesellschaftung
der Moderne und für die übrige Geschichte gar keine Theorie mehr.
Aber so billig ist der identitätslogische Modus wohl doch nicht zu über-
winden. Es gehört zum Menschsein, sich ein Bild von der Vergangenheit
zu machen. Archäologie, historische Textkritik, Quellenforschung usw.
werden nicht zusammen mit der Wertlogik aufhören. Rein empirische
Untersuchungen sind aber eine logische und praktische Unmöglichkeit,
sie bedürfen stets eines begrifflichen Rahmens. Zusammen mit dem iden-
titätslogischen Modus kann nicht das begriffliche Denken der Geschichte
überhaupt aufhören.
Vor allem aber ist ein historischer Relativismus und Agnostizismus
gar nichts Neues und auch gar keine Überwindung der aufklärerischen
Geschichtsmetaphysik, sondern vielmehr deren Bestandteil. Schon das
19. Jahrhundert brachte jenen hermeneutischen Historismus hervor, des-
sen Credo der deutsche Historiker Leopold von Ranke in den berühmten
Worten auf den Punkt brachte, dass „jede Epoche gleich nah zu Gott" sei,
also ihre jeweils eigene Logik und Berechtigung habe, die nicht am Maß-
stab der Moderne gemessen werden dürfe. Wie Rankes heutiger Zunft-
kollege Reinhart Kosellek jüngst gezeigt hat, findet sich die Spur dieser
geschichtstheoretischen „Relativierungspolitik" schon im Aufklärungs-
denken des 18. Jahrhunderts selber. Das deutet daraufhin, dass der histo-
rische Relativismus nicht unbedingt im Gegensatz zur historischen Apo-
theose der bürgerlichen Vernunft steht.

77
Tatsächlich sind die Kernaussagen dieses Relativismus und Agnostizis-
mus eher banal. So heißt es, dass wir über die vormodernen und vor-
geschichtlichen Zustände keine sicheren Aussagen machen könnten, weil
wir eben nicht in der Haut der vergangenen Menschen stecken. Auch
der etwas reflektiertere Hinweis, dass in jede Geschichtstheorie der ei-
gene „Standort" in der Geschichte mit eingeht, weil er den Blickwinkel
bestimmt, löst das Problem nicht zur Genüge. Das liegt vor allem daran,
dass all diese Relativierungen schlicht affirmativen Charakter tragen: Es
ist ein Geschichtsrelativismus nach dem gemütlichen Motto „leben und
leben lassen", der die aufklärerische Geschichtsmetaphysik nur ergänzt
und flankiert. Dabei schimmert die hegelsche Entwicklungs-Hybris durch
alle Knopflöcher: Es hat etwas widerwärtig Gönnerhaftes, den vergange-
nen Gesellschaftszuständen ihr jeweils eigenes Recht, ihre eigene „Nähe
zu Gott", ihren eigenen Modus zuzugestehen; etwa so, wie der von sei-
ner Vernunft übel zugerichtete bürgerliche Erwachsene dem Stadium der
Kindheit betulich einen neckischen „Eigenwert" zuspricht. Letzten Endes
läuft es darauf hinaus, dass die wunderbare Moderne ihren Eigenwert und
ihr Daseinsrecht besitzt wie die Vergangenheit auch, die allerdings den
Vorteil hat, tot und begraben zu sein und sich gegen solche Jovialität nicht
mehr wehren zu können.
Was am bloßen Geschichtsrelativismus fehlt, ist das Salz in der Sup-
pe, nämlich die radikale Kritik. Aus der Perspektive einer grundsätzlichen
Kritik an der Aufklärungsmoderne kann es aber keine joviale Versöhnung
mit der vormodernen Geschichte geben, in der die Moderne ja wurzelt.
Das Paradigma einer emanzipatorischen Antimoderne ist also bestimmt
nicht durch Verklärung oder auch nur Beschönigung, sondern durch ra-
dikale Kritik ebenso der vormodernen Gesellschaftsformen; eine Kritik,
die in die radikale Kritik der Moderne logisch eingeschlossen ist. Darin
unterscheidet sie sich grundsätzlich von der aufklärerischen Kritik an der
Vormoderne qua Selbstaffirmation der Moderne ebenso wie von der ge-
genaufklärerischen Kritik der Moderne qua Affirmation der vormoder-
nen Agrargesellschaft. Die Position der emanzipatorischen Antimoderne
rechtfertigt dagegen die Kritik der Moderne durch die darin eingeschlos-
sene Kritik der Vormoderne und umgekehrt.
Die grundsätzliche Kritik an den vormodernen Formationen kann sich
durchaus auf ein bestimmtes Wissen stützen. Mag die Quellenlage auch
mehr oder weniger dürftig sein, und mögen wir auch das Weltbewusstsein
der vorvergangenen Zustände kaum nachvollziehen können, so lässt sich

78
doch zweifelsfrei beweisen, dass es sich in der einen oder anderen Weise
stets um Herrschaftsverhältnisse mit destruktiven Potenzialen gehandelt
hat. Ebenso beweisen lässt sich aus den Dokumenten und Artefakten das
immer währende Leiden an diesen Verhältnissen, in denen die Individuen
auch in der vormodernen Vergangenheit niemals aufgehen konnten.
Die affirmativen, ideologischen Theorien der Modernisierungsge-
schichte haben daraus gewöhnlich den Schluss gezogen, dass „der Mensch"
eben so sei und die Menschheitsgeschichte immerfort eine Leidensge-
schichte sein müsse. Umgekehrt wird eine emanzipatorische Antimoder-
ne in ihre Kritik des modernen Wert- und Abspaltungsverhältnisses die
Kritik dieser falschen Ontologie der Geschichte und damit überhaupt die
Kritik aller bisherigen Geschichte einschließen, also einen historischen
Bruch höherer Ordnung vollziehen. Die Kritik der vormodernen Zustän-
de ist im Gegensatz zum (selber aufklärerischen) Geschichtsrelativismus
nicht nur erlaubt, sondern sogar notwendig; aber eben nicht vom Stand-
punkt und mit dem Maßstab der warenproduzierenden Moderne, son-
dern allein vom Standpunkt und mit dem Maßstab einer ebenso radika-
len Kritik dieser Moderne selbst.
Um die Dimension der Kritik gebracht, erweist sich der gemeinsame
affirmative Nenner der diversen, scheinbar gegensätzlichen bürgerlichen
Geschichtstheorien oder „Geschichtsphilosophien". Ob als ps'eudo-ge-
setzmäßige Fortschrittsgeschichte, in der die vormodernen Gesellschaften
als Finsternis der Naturverhaftetheit und Unvernunft abqualifiziert wer-
den; ob umgekehrt als reaktionäre Verherrlichung und Romantisierung
vormoderner Fetisch- und damit Herrschaftsverhältnisse; ob als gönner-
hafte „Anerkennung" der historischen Eigenheit in der bloßen Relativie-
rung; oder ob als ewige Wiederkehr des Gleichen von naturnotwendigem
Leiden und Herrschaft ideologisiert: Stets ist der wirkliche Inhalt der Ge-
schichte und der historischen Formationen diesem Denken letzten Endes
so gleichgültig wie die Weltgegenstände überhaupt der Wertabstraktion
gleichgültig sind, stets geht es nur um ein quid pro quo, um die Instru-
mentalisierung der Geschichte für die Legitimation des Bestehenden, so
widersprüchlich und gegensätzlich diese Instrumentalisierungen auch
sein mögen.

79
Geschichtstheorie und verkürzte Herrschaftskritik

Erst in der Negativität der Kritik wird wieder ein Begriff der Gesamtge-
schichte möglich, in dem Geschichtstheorie in eins fällt mit emanzipato-
rischer Herrschaftskritik. Dieser Begriff kann sich freilich nicht im bis-
herigen, bloß soziologischen Verständnis von „Herrschaftsverhältnissen"
erschöpfen. Zwar haben Marxismus und Anarchismus immerhin nicht
grundsätzlich die sonstige bürgerliche Ontologie des Herrschaffsbegriffs
geteilt. Herrschaft sollte perspektivisch überhaupt abgeschafft werden.
Aber diese Idee blieb insofern schlechte Utopie, als sie nicht in einer ein-
lösbaren Weise dargestellt wurde - geschuldet der marxistischen wie an-
archistischen Befangenheit in den Formen des Wert- und Abspaltungs-
verhältnisses.
Der Marxismus siedelte diese Utopie sowieso erst weit jenseits aller
realen gesellschaftlichen Konflikte in einer unbestimmbaren Zukunft an,
während die Entwicklung der „historischen Notwendigkeit" zunächst
durch das Staat und damit Herrschaft gewordene Proletariat (dessen
„Diktatur") hindurchgehen sollte. Nur in den lichtesten Augenblicken
wurde diesem Staat das Attribut zugewiesen, dass er „schon keiner mehr
sei"; womit allerdings nur in einer paradoxen Formulierung der Wider-
spruch zugekleistert wurde. Real erwiesen sich die Staatsdiktaturen des
Proletariats an der kapitalistischen Peripherie als ordinäre bürgerliche
Modernisierungsdiktaturen. Der Anarchismus dagegen wollte zwar stets
die „Herrschaft" und damit den Staat unmittelbar abschaffen, aber eben
deshalb auch ohne Vermittlung mit der Abschaffung des Wert- und Ab-
spaltungsverhältnisses (und insofern gerade nicht über den Arbeiterbe-
wegungsmarxismus hinausgehend).
In beiden Fällen erschien „Herrschaft" nur in ihrer soziologischen und
subjektiven Dimension, also verkürzt um das Formproblem. Deshalb
konnten Marxismus wie Anarchismus den bürgerlichen Begriff der De-
mokratie ganz naiv positiv adaptieren, obwohl darin schon etymologisch
der Begriff von Herrschaft enthalten ist. Indem die Abschaffung der Herr-
schaft als endliche „Selbstregierung" oder „Selbstbeherrschung des Volkes"
sich realisieren sollte, wurde in Wirklichkeit der Begriff der Herrschaft erst
im Sinne der versachlichten Imperative von Wertverhältnis und Abspal-
tung zu sich gebracht, wie es längst vorher schon die militantesten Ideolo-
gen der Aufklärung (Kant, Bentham, Hegel u. Co.) vorgedacht hatten. Die
linke Herrschaftskritik konnte sich so nur selber ad absurdum führen.

80
Auch historisch bleibt diese verkürzte Kritik von Herrschaftsverhält-
nissen dem Aufklärungsdenken und dessen falschen Ontologisierungen
verhaftet. Einerseits konnte der Begriff der Herrschaft mit seiner Reduk-
tion auf den Staat nur soweit auf vormoderne Verhältnisse ausgedehnt
werden, wie auf diese ganz im Sinne der aufklärerischen Geschichtsklitte-
rung der Staatsbegriff projektiv ausgedehnt wurde, während Staatlichkeit
als solche in Wirklichkeit erst ein Produkt der Moderne ist. Andererseits
musste dort, wo selbst das vernageltste Aufklärungsdenken in den frühen
Gesellschaffszuständen von Sammlern und Jägern etc. keinen Staat zu
entdecken vermochte, dieser so genannten „Urgesellschaft" eine „Herr-
schaffsfreiheit" bescheinigt werden, zu der auf höchster Stufenleiter der
Entwicklung und damit in einer höheren Form der Sozialismus/Kommu-
nismus zurückkehren würde.
Die Ungereimtheiten dieser Herrschaffskritik lassen sich erst auflösen,
wenn das Herrschaffsverhältnis als Formverhältnis kritisiert wird, also
jenseits einer bloß äußerlichen soziologischen Betrachtung von politisch-
ökonomischen Klassen- und Willensverhältnissen. In diesem Sinne enthält
die Kritik des Wert- und Abspaltungsverhältnisses, indem sie den marx-
schen Begriff der Fetisch-Konstitution aufgreift und weiterentwickelt,
bereits einen neuen, negativen Begriff der bisherigen Gesamtgeschichte,
die eben deshalb im marxschen Sinne als „Vorgeschichte" zusammenge-
fasst werden kann. Nicht mehr soziologisch verkürzt als „Geschichte von
Klassenkämpfen", sondern form-reflektiert als „Geschichte von Fetisch-
verhältnissen" verstanden, wird auf einer bestimmten Abstraktionsebene
ein negativ übergreifendes Gemeinsames von vormodernen und moder-
nen Gesellschaffen erkennbar. So gesehen handelt es sich natürlich auch
bei den so genannten „Urgesellschaften" um Fetisch-Konstitutionen und
damit um Herrschaftsverhältnisse, indem sich der Begriff der Herrschaft
nicht mehr bloß an äußeren Unterordnungsverhältnissen von Personen,
sondern an der gemeinsamen Unterwerfung unter entfremdete, verselb-
ständigte Formverhältnisse festmacht (z.B. auch Totemismus, Ahnenkult
usw.).

81
Negative Ontologie als negative Geschichtstheorie

Erst in diesem Sinne eines negativen Begriffs der bisherigen Geschichte als
Geschichte von Fetischverhältnissen gewinnt die marxsche Aussage, aus
den modernen ließen sich die vormodernen Gesellschaftszustände retros-
pektiv bestimmen wie die Anatomie des Affen aus der Anatomie des Men-
schen, in einer über die Aufklärungsideologie hinausführenden Weise ihre
eigentliche Bedeutung. Die Moderne erscheint dabei nicht mehr als posi-
tive Basis für einen Absprung aus gebundenen Zuständen, sondern genau
umgekehrt als Extremform der Bindung, die aus Gründen der Selbster-
haltung nur noch gesprengt werden kann; nicht als Aufgang der Befreiung
als Resultat einer stetigen, „gesetzmäßigen" Höherentwicklung, sondern
als Zuspitzung der Destruktivität von Fetischverhältnissen überhaupt bis
zur drohenden Weltvernichtung.
Wir haben dem Kapitalismus für keinerlei „zivilisatorische Mission" zu
danken, sondern ihn einzig und allein abzuschaffen als bösartige Zusam-
menfassung einer negativen Leidensgeschichte der Menschheit (der auch
kein positiver metaphysischer Sinn dieses Leidens abzugewinnen ist wie
etwa in der SM-Religion des Christentums). Es liegt nicht das geringste
„Verdienst" im Sinne einer positiven Grundlage darin, dass das moderne
Wert- und Abspaltungsverhältnis die Menschheit bis an die Schwelle einer
Überwindung der Vorgeschichte von Fetischverhältnissen buchstäblich
getrieben und gebombt hat, sondern diese Ausgangslage ist eine rein ne-
gative (bei Walter Benjamin finden sich in einer teils noch mystifizierten
Form Gedanken in diese Richtung).
Aus dieser Umwertung der Geschichte erhellt auch das Verhältnis ei-
ner weiterentwickelten Wert- und Abspaltungskritik zum Begriff der ge-
sellschaftlichen Ontologie. Sowohl im engeren philosophischen als auch
im weiteren allgemeinen Sprachgebrauch ist dieser Begriff schillernd und
mehrdeutig, weil er indirekt auf das in den Fetischformen nicht als sol-
ches fassbare Fetischverhältnis verweist. Einerseits werden darunter in ei-
nem quasi anthropologischen (naturalisierenden) Sinne überhistorische
angebliche Menschheitsbedingungen verstanden, wie sie „den Menschen"
oder sein „Wesen" schlechthin ausmachen sollen; andererseits scheint es
sich auch um historische Ontologien zu handeln, um Daseinsbedingun-
gen, wie sie zwar bestimmten Epochen als übergreifende zukommen sol-
len, nicht jedoch der gesamten Geschichte überhaupt. Immer aber han-
delt es sich um (insofern ideologische) positive und damit affirmative

82
Ontologisierungen bestimmter bereits vorgefundener Bestimmungen, sei
es eine meta-historische Ontologisierung der Herrschaft und der Arbeit,
sei es eine historische Ontologisierung im Sinne einer spezifisch moder-
nen Ontologie des (zirkulativen) Subjekts und seiner sonderbaren trans-
zendentalen „Freiheit".
Im Gegensatz dazu enthält der Begriff der Fetisch-Konstitution als
Bestandteil der Wert- und Abspaltungskritik zwar ein ontologisches Mo-
ment im Sinne des marxschen Begriffs der „Vorgeschichte", aber eben ein
rein negatives. Alle bisherige Geschichte, nicht die menschliche Geschich-
te überhaupt (weil „der Mensch" angeblich seinem Wesen nach nicht an-
ders könne), ist eine Geschichte von Fetischverhältnissen, mit deren Be-
griff allerdings auch schon ihre radikale Kritik gesetzt ist - und somit die
Möglichkeit ihrer Überwindung.
Diese negative Ontologie einer Vorgeschichte von Fetischformen kann
kein identitätslogisches System der Geschichte als gesetzmäßigen Prozess
einer positiven Höherentwicklung mehr darstellen. Übergreifend ist sie
nur als der Begriff eines in sich gebrochenen negativen Ganzen von Ver-
hältnissen, in denen auf je verschiedene historische Weise der Widerspruch
von sinnlich-sozialen Individuen und deren eigener negativer Form von
Fetisch-Konstitutionen sich abspielt und durch qualvolle Kämpfe hin-
durch immer wieder neu formiert wird. Da waltet kein teleologisches
Naturgesetz und kein götüicher Plan, sondern es handelt sich um ein in
seinen historischen Veränderungen diskontinuierliches Kontinuum von
mit sich selbst zerfallenen Gesellschaftsformen, in dem sprunghafte Meta-
morphosen stattfinden, die keinem mechanischen Gesetz folgen, weil sie
Produkte des Bewusstseins in seiner Auseinandersetzung mit sich selbst
und mit der Natur sind, keine Prozesse bloß in der Natur.
Deshalb bildet das Moment der negativen Ontologie, das dieses negati-
ve Kontinuum reflektiert, eben auch nur ein Moment in einer bestimmten
historischen Kritik (nämlich des Wert-Abspaltungsverhältnisses), und in-
sofern das Moment einer Kritik, die ihren eigenen historischen Standort
weiß und mitreflektiert: also gerade keine Geschichtsphilosophie. Es gibt
nur eine einzige Geschichtsphilosophie, und das ist die positive Ontolo-
gie der bürgerlichen Aufklärung. Geschichtsphilosophie ist ihrem Begriff
nach identitätslogisch, also kausalistisch-entwicklungsschematisch und
totalitär; und die marxsche Theorie ist nur soweit geschichtsphilosophisch,
wie sie historisch-materialistisch argumentiert, also im Gegensatz zu ihrer
eigenen Begrifflichkeit von Fetischverhältnissen aufklärerisch bleibt.

83
Das (negative und destruktive) Erreichen der Grenze des Kontinuums
von „Vorgeschichte" ist eher eine Art Quantensprung als ein Resultat kau-
saler Prozesse - wie überhaupt das Entwicklungsschema der aufkläreri-
schen Geschichtsmetaphysik parallel läuft zum mechanistischen, kausa-
len Weltbild der damals zeitgenössischen Physik. Naturverständnis und
Gesellschaffsverständnis stehen immer in Beziehung zueinander, und in-
sofern wirft die negative Ontologie der Wert-Abspaltungskritik zwangs-
läufig auch ein anderes Licht auf die physikalische und biologische Natur.
In demselben Maße, wie die Gesellschaftskritik die Naturwissenschaft der
Quantenphysik einholt, kann vielleicht in Zukunft auch das Rätsel der
physikalischen Natur zumindest besser verstanden werden.

Das Ende der Ahnengalerie


und die Überwindung der positiven Theorie

Aus der Sicht einer notwendigen radikalen Kritik von Aufklärung und
„westlichen Werten" müssen natürlich auch die Koryphäen der Aufklä-
rungsphilosophie neu und negativ bewertet werden. Dass sich die seichten
Denker des linken Demokratismus ebenso wie die offiziellen Einpeitscher
der westlich-demokratischen, weltkriegerischen Propagandamaschine
positiv auf Kant und Konsorten berufen, liegt in der Natur der Sache.
Wenn aber eine sich als wertkritisch verstehende Reflexion davon nicht
so weit abliegt, indem sie die Herren Kant, Hegel etc. mehr oder weniger
beweihräuchernd in ihrer „Denkleistung" anerkennt (und das gilt in der
einen oder anderen Weise auch für die bisherige Entwicklung des wertkri-
tischen Ansatzes), dann zeigt sich darin wieder die Befangenheit im iden-
titätslogischen Modus und in der aufklärerischen Geschichtsmetaphysik.
Nur scheinbar stößt sich diese Art des Umgangs mit der Aufklärungs-
philosophie (für die in dieser Hinsicht Kant stellvertretend stehen kann)
von der bloß affirmativen der demokratischen Ideologen ab, indem dar-
auf verwiesen wird, dass etwa die heutigen ethischen Feld-, Wald- und
Wiesendenker Kant gar nicht verstehen würden, weil sie nicht einmal be-
merken, dass dieser sich mit dem Konstitutionsproblem der modernen
Wertvergesellschaftung begrifflich herumschlägt und die darin liegenden
Antinomien bzw. Aporien aufzeigt. Stattdessen würden diese Ideologen
die von Kant problematisierte Konstitution von Wertform und Rechts-
form bereits als blinde Voraussetzung nehmen, wie sie inzwischen auch in

84
das Alltagsbewusstsein eingesunken ist, und das von Kant aufgeworfene
Problem gerade deswegen nicht mehr wahrnehmen.
Das ist zwar richtig, aber bei weitem nicht ausreichend für die Bewer-
tung von Kant und dessen Art der „Problemerkennung". Das Denken von
Kant erscheint dabei nämlich in seiner schieren Reflexionsleistung gerade-
zu als eine Art Vorläufer der Wertkritik, die über die Zwischenstufen He-
gel und Marx vermeintlich an dieser Reflexionskette weiterstricken kann.
Was dabei unterschlagen oder als irgendwie unwichtig beiseite getan wird,
ist die Tatsache, dass Kant eben nicht nur reflexiver Denker, sondern auch
militanter Durchsetzungsideologe der Wertvergesellschaffung war.
In dieser Unterschlagung zeigt sich die noch nicht überwundene Befan-
genheit in der Wert-Abspaltungsform und ihrem Denkmodus. Wie schon
im eigenen Denken einer auf diese Weise verkürzten Wertkritik, so wird
auch bei der Bewertung von Kant u. Co. die entscheidende Differenz von
bloß positiver Reflexion oder (im hegelschen Sinne) einem bloß „in sich
reflektierten Bewusstsein" der Sache einerseits und ihrer radikalen theore-
tischen und praktischen Kritik andererseits eingeebnet. Die unabdingbar
widerständige Eigenleistung der Kritik, die sich gerade gegen einen bloß
„notwendigen", in einer objektivierten Logik angelegten Gang der Dinge
auflehnt, verschwindet; und so kann Kant, bei dem zwar das Wort „Kri-
tik" in den Titeln seiner Hauptwerke erscheint, der aber eben das genaue
Gegenteil eines Kritikers der Wertvergesellschaftung ist, in die Ahnenreihe
des kritischen Denkens „an und für sich" aufgenommen werden.
Diese Sichtweise ist auch deswegen möglich, weil sich ein selber noch
identitätslogisches Denken der Wertkritik auch noch im Status der Kon-
templation vollzieht, also in systematischer Trennung von der gesellschaft-
lichen Reproduktion, obwohl es in gewisser Weise (die jedoch nicht mit-
reflektiert wird) auch wieder dazu gehört. Natürlich hat auch eine nicht
mehr identitätslogisch verfahrende Wertkritik die vom Wert gesetzte
Trennung von Theorie und Praxis als Ausgangspunkt und muss sich mit
der gesellschaftlichen Praxis in einem komplexen Prozess erst vermitteln.
Aber der kontemplative Status kann ansatzweise (allerdings keineswegs
vollständig) auch im theoretischen Denken selbst überwunden werden,
wobei es schon aufzuhören beginnt, ein rein theoretisches im kontemp-
lativen Sinne der bürgerlichen Spaltung zu sein; und zwar eben dadurch,
dass es ein tatsächlich kritisches auf der Ebene der Theorie selbst statt ein
nur positiv reflexives wird. Die Differenz besteht dabei auch darin, dass
der kontemplative Status als solcher (und damit ein weiteres Moment der

85
bislang „schweigenden Dimension" von modernen Fetisch-Verhältnissen)
in die Kritik einbezogen wird.
Zunächst einmal heißt das, die reale negative Identität von Theorie und
Praxis in der bürgerlichen Konstellation ihrer Trennung und feindlichen
Polarität aufzudecken. Denn gerade in der objektivierten Negativität ihrer
Abspaltung von der reproduktiven Praxis ist die kontemplative Theorie
(als selber gesellschaftliche und auf die Gesellschaft reflexiv bezogene Tä-
tigkeit) dennoch gleichzeitig eine Form gesellschaftlicher Praxis sui gene-
ris; eine abgespaltenes Moment der gesamten Praxis und somit in dieser
Spaltung eine Praxis zweiter Ordnung; allerdings ohne dies bewusst zu
wissen und mitzureflektieren. Gerade darin besteht ja die polarisierende
Spaltung und damit der kontemplative, vom Handeln abgespaltene Cha-
rakter der bürgerlichen Theorie. Das marxsche Diktum über die Akteure
von Fetischverhältnissen gilt auch in dieser Hinsicht: „Sie wissen es nicht,
aber sie tun es." Soweit sich die Wertkritik nicht bis zu einer Kritik dieses
Charakters erweitert hat, fehlt ihr diese Reflexionsebene ebenfalls, sodass
sie hinsichtlich des theoretischen Denkens so verfahren muss, als hätte sie
es wirklich mit einer bloßen „Geistesgeschichte" zu tun, deren praktische
Relevanz außer Betracht bleibt.
Tatsächlich aber ist die Theorie auch als kontemplativ getrennte immer
schon indirekt, als Praxis zweiter Ordnung, auch gesellschaftspraktisch
wirksam und geht selber objektivierend in die Verhältnisse ein. In dieser
Hinsicht gilt dasselbe wie für die Subjekt-Objekt-Dialektik überhaupt: Es
ist keineswegs so, dass auf der einen Seite nur die rein objektiven Ver-
hältnisse stehen und auf der anderen Seite das rein diese Objektivität re-
flektierende theoretische Denken, das qua Reflexionsleistung seinem Ge-
genstand mehr oder weniger nahe kommt und gerecht wird. So erscheint
es dem kontemplativen Theoretiker, aber das ist eben der fetischistische
Schein.
Wie die in Fetischformen verselbständigten Verhältnisse nicht objektiv
sind, sondern bloß objektiviert, also durchaus selbst gemacht, wenn auch
in einem nicht durchschauten Modus, ebenso geht in dieses „Machen"
auch die kontemplativ getrennte Theorie mit ein. Sie reagiert nicht nur,
sondern agiert auch; sie reflektiert nicht nur die einmal herausgebildeten
Verhältnisse, sondern schafft sie auch gleichzeitig mit. Sie ist Reflexion auf
vergangene Objektivierungen, aber gleichzeitig auch Kopfgeburt zukünfti-
ger Objektivierungen. Die objektivierten Fetischverhältnisse sind also nie
reine Kopfgeburt, aber auch nie bloß äußere Objekte des Denkens. Auch

86
die kontemplative Theorie „verwirklicht" sich in gewisser Weise, indem
sie zur Programmatik wird und sich institutionell inkarniert, selbst wenn
alle Institutionen, Verkehrsformen usw. andererseits in großem Maße
Produkte blinder Praxisprozesse unabhängig von der Theorie sind.
In diesem Sinne müssen die Aufklärungsphilosophen eben auch als
Durchsetzungsideologen, um nicht zu sagen als Durchsetzungsverbre-
cher der Wert- und Abspaltungsgesellschaff verstanden werden. Sie sind
allesamt Schreibtischtäter einer durch das Wertsubjekt unerträglich zu-
gespitzten Leidensgeschichte der Menschheit. Und als solche sind sie mit
ihren in die kapitalistische Objektivierung eingegangenen Geistestaten
auch durchaus präsent und für diese Täterschaft ist ihnen der Prozess zu
machen. Beschönigend von „Zeitgebundenheit" zu reden, heißt in dieser
Hinsicht dem Objektivierungsprozess das Wort reden. Natürlich ist jedes
Denken „zeitgebunden", aber deswegen noch lange nicht zu rechtfertigen.
Es kommt darauf an, welchen Stellenwert dieses Denken in der Geschich-
te hat.
Man könnte vielleicht einwenden, dass eine schlechthinnige Verdam-
mung der Aufklärungsdenker mit diesen Herren selber ungerechtfertig-
terweise identitätslogisch verfahre, als gingen sie völlig in ihrer negativen
geistigen Täterschaff auf. Bis zu einem gewissen Grad muss man sich wohl
tatsächlich so vermeintlich „ungerecht" zu ihnen verhalten, um diese las-
tende ideelle Hypothek endlich abzuschütteln. Wie die wehrhaften Demo-
kraten bekanntlich die Parole ausgeben: „Keine Freiheit für die Feinde der
Freiheit" (und damit allemal mehr die emanzipatorische Kritik als ihre
rassistische Verwandtschaft meinen), so könnte die Wert-Abspaltungskri-
tik nach dem Motto verfahren: „Keine Befreiung vom identitätslogischen
Verfahren für die Ideologen der Identitätslogik", weil man diese sonst nie-
mals los wird.
Natürlich geht in diese vermeintliche Hybris auch der historische
Standort der Wert-Abspaltungskritik als unvermeidlich den Blickwinkel
bestimmend ein: Wenn es wirklich so ist, dass wir an der Grenze der „Vor-
geschichte" von Fetischverhältnissen stehen, dann hat alles dieser Vorge-
schichte affirmativ zugehörige (also in den Fetischverhältnissen befangene,
diese rechtfertigende und mitkonstituierende) Denken sein Verfallsdatum
erreicht und muss in dieser Hinsicht negiert werden.
Das heißt aber nicht, dass das Denken an einem absoluten Nullpunkt
steht und alles bisherige Denken restlos auf die Müllkippe der Geschichte
geschüttet werden kann. Das Denken hat nie nur die knechtende Form,

87
sondern immer auch das Leiden daran gedacht und dargestellt, in wel-
cher verzerrten oder unklaren Weise auch immer. In dieser Hinsicht gilt es,
die Resultate des Denkens neu zu differenzieren, unter dem neuen Blick-
winkel die bisherige „Geistesgeschichte" anders zu sortieren. Und dabei
kommen die Aufklärungsdenker, die militant die moderne Subjektform
und damit die moderne Leidens- und Zumutungsgeschichte affirmiert
haben, unvermeidlich viel schlechter weg als bei einer bloß der immanen-
ten Durchsetzungsgeschichte der Moderne zugehörigen Kritik, die dem
Wert-Abspaltungsverhältnis zu seinem Selbstbewusstsein verholfen hat
statt es zu überwinden.
Gerade insofern kann die Wert-Abspaltungskritik ihre Überwindung
des identitätslogischen Modus in bestimmter Hinsicht auch an der Ausei-
nandersetzung mit der Epoche der Aufklärung erproben. Zum einen, in-
dem sie bislang wenig beachtete dissidente Ideen jenseits des immanenten
Widerstreits von Aufklärung und der dazugehörigen Gegenaufklärung ins
Licht rückt, sich mit den zeitgenössischen gesellschaftlichen Widerstän-
den, sozialen Bewegungen usw. in anderer Weise als die aufklärerische Ge-
schichtsmetaphysik befasst. Die Epoche der Aufklärung geht keineswegs
in der Aufklärung auf.
Zum andern gilt es auch die innere Widersprüchlichkeit der Aufklä-
rungsphilosophie selber herauszuarbeiten. Aber eben nicht in der bis-
herigen Weise, wie etwa selbst noch Adorno ein vermeintlich „gutes",
emanzipatorisches Moment aus dem herrschaftsideologischen, repressi-
ven Ideenkorpus herauszufiltern versuchte. Vielmehr kann es nur noch
darum gehen, zu zeigen, wie sich die Aufklärung in auf ihrem Boden un-
überwindbare Antinomien und Aporien verstrickt, und damit ungewollt
enthüllt, wie der Totalitarismus der Wertvergesellschaftung nicht aufgeht
und auch gar nicht aufgehen kann.

88
r
Tabula rasa

Wie weit soll, muss oder darf


die Kritik der Aufklärung gehen?

Radikale Kritik hat gegen die Schwerkraft des scheinbar übermächtigen


Bestehenden anzukämpfen, das sich im allgemeinen Bewusstsein und da-
mit auch in der theoretischen Sphäre der Gesellschaft sedimentiert hat;
nicht allein auf der Ebene der Reflexion als solcher, sondern auch in den
intellektuellen Gewohnheiten und Vorurteilen, den Imaginationen und
Idealen, aber auch in den institutionellen Beschränkungen, Tabugrenzen
usw. Umso mehr gilt dies, wenn es sich darum handelt, die radikale Kritik
selbst radikal zu kritisieren, sie umzuwälzen, ihr ein neues Paradigma zu
geben. Dabei stellt sich das Problem des Reibungswiderstands in Potenz,
weil dann die Sedimentierung eines Bestehenden im doppelten Sinne zu
sprengen ist: einerseits im allgemeinen Bewusstsein der offiziellen Gesell-
schaft, andererseits im allgemeinen Bewusstsein der bisherigen, zu trans-
formierenden Kritik selbst.
Die Wissenssoziologie verschiedener Provenienz zeigt, wie sehr in der
Entwicklung der Wissenschaft und ebenso in der Entwicklung der kriti-
schen Theorie, sowohl in deren Verhältnis zur offiziellen Wissenschaft als
auch auf ihrem eigenen Boden, ganz andere Faktoren und Motive wirk-
sam sind als bloß die reine Reflexion, Wahrheitsfindung und intellektuelle
Redlichkeit. Das Webersche Postulat der Wertfreiheit und das Habermas-
sche Postulat des herrschaftsfreien Diskurses sind gleichermaßen illusio-
när. Unter der Bedingung von Fetischverhältnissen im allgemeinen und
der kapitalistischen Konkurrenz-Subjektivität im besonderen richten sich
Schranken der Reflexion nicht nur auf der Inhaltsebene, sondern auch auf
der Beziehungsebene auf.
Da gelten ungeschriebene Gesetze der Reputation, Identitäten werden
verteidigt, Aversionen entwickelt, Idiosynkrasien ausgedrückt und Riva-
litäten ausgetragen. Es gibt so etwas wie eine theoretische Etikette, die
festlegt, was „seriös", „wissenschaftlich", „methodengerecht" usw. ist und
was nicht. Damit wird keineswegs bloß eine formale Grenze gezogen, son-
dern auch eine inhaltliche, keineswegs bloß eine correctness des Umgangs
gepflegt, sondern auch ein Commonsense verteidigt. Die offizielle Wis-
senschaft wie die kritische Theorie in ihrem jeweiligen Ist-Zustand schot-
ten sich gegen Eindringlinge und Emporkömmlinge ab, nicht anders als
sonstige bürgerliche Institutionen und geschlossene Gesellschaften; sie
wehren sich gegen Pfuscher und Scharlatane ebenso wie gegen Erneue-
rer und Umwälzer, und das eine wird nicht unbedingt vom anderen un-
terschieden. Der „Schlag ins Kontor" stößt zuerst immer auf vehemente
Ablehnung. Dabei gibt es gewiss unterschiedliche Grade der Abwehr. Von
dem, was gerade noch erträglich ist oder als lediglich abseitig, exzentrisch
usw. gilt bis zur Unerträglichkeit spannt sich ein weiter Bogen.
Aber auch jede Erneuerungs- und Umwälzungsbewegung selber er-
scheint wieder als in sich gebrochen und aufgesplittert. Ein avantgardisti-
scher Durchbruch gelangt nie in seiner ursprünglichen Version und Ge-
stalt bis zur Oberfläche des gesellschaftlichen Bewusstseins als schließlich
durchgesetztes neues Paradigma. Und die Bewegung erfolgt ungleichmä-
ßig und ungleichzeitig: Bis eine Transformation ihr Ziel erreicht hat, sind
viele Anläufe nötig. Immer wieder gibt es deswegen Auseinandersetzun-
gen, nötige und unnötige, oft quälende. Auch die transformierende Kritik
selbst folgt unvermeidlich nicht allein kognitiven Gesichtspunkten oder
einem reinen Weg der Wahrheit. Nicht alle machen alles mit, einige ge-
hen seitwärts, manche finden eine Grenze, wo vielleicht noch gar keine ist.
Wann es „genug" ist und wo „übers Ziel hinaus" geschossen wird, muss
sich erst herausstellen.
Nicht selten erscheint die Abwehr zuerst als Form- und Stilkritik. Jeder
Vorstoß über die bisherigen Grenzen hinaus ist mit einer Art Entdecker-
freude und mit einem gewissen aggressiven Gestus verbunden, in dem
sich die Selbstbehauptung des Neuen gegen die lähmende Schwerkraft
des Alten reflektiert. Und fast jedes theoretische Rückzugsgefecht beginnt
damit, dass Bedenkenträger auftreten, die am Angriffsschwung keinen
Gefallen mehr finden, während andere sich davon überhaupt erst für die
neue kritische Theorie gewinnen lassen, weil sie sich gerade in der zuspit-
zenden Weiterentwicklung mit ihren eigenen Fragestellungen wieder fin-
den können. Das bremsende Bewusstsein dagegen, das die transformie-
rende Kritik entweder grundsätzlich abwehrt oder von einem bestimmten
Punkt ab nicht mehr mitzieht und Halt machen will, stört sich erst einmal

90
dem Gestus nach „gutbürgerlich" am angeblich „triumphalistischen" Stil,
am aggressiven Impetus, an der polemischen Formulierung, an der Zu-
spitzung, an der „Einseitigkeit", an den theoretischen Tischmanieren usw.
In der Entwicklung wertkritischer Theorie über den „Marxismus" hin-
aus war es bislang vor allem der Übergang zur kategorialen Arbeitskritik,
der eine identitäre Blockade und eine formale Diffamierungskampagne
seitens der Zurückbleibenden herausforderte: „Jetzt seid ihr zu weit ge-
gangen", das war der Subtext einer Gegenrede, die sich ganz ähnlicher To-
poi bediente, wie sie normalerweise die akademischen Platz- und Block-
warte gegen umstürzlerische Thesen verwenden. Die Arbeitskritiker, so
tönten die marxistischen Arbeitsontologen, hätten Marx „nicht gelesen"
(oder jedenfalls nicht richtig), das Verfahren sei methodisch und philolo-
gisch „unsauber", die Widersprüche in der marxschen Theorie bloß „kon-
struiert", die historische Einordnung eigentlich „unzulässig" usw. Die alles
andere als relativierende harte Negation der Kategorie „Arbeit" rief selbst
bei wohl wollenden, aber teils noch dem Arbeiterbewegungs-Marxismus
verhafteten Kommentatoren gewissermaßen die Furien der Relativierung
auf den Plan. Je dürftiger und apologetischer die inhaltlichen Gegenargu-
mente, desto heftiger die Flucht in die Anmaßung oberlehrerhafter Zeug-
nisbemerkungen: „So kann man damit nicht umgehen". An den Knoten-
punkten der Entfaltung wertkritischer Theorie, so hat sich bisher gezeigt,
können unerwartete Schwierigkeiten auftreten, Verirrungen der Kritik
ebenso wie identitäre Blockaden.
Die Bremsspur scheint sich zuerst im zunehmenden Hang zu einer
Art akademischen Betulichkeit und Ausgewogenheit zu zeigen, was eine
umso heftigere apodiktische Zuspitzung auf der anderen Seite herausfor-
dern könnte. Aber solange die Fragen nicht klar genug herausgearbeitet
und daher die Grenzen nicht genau gezogen sind, lässt sich auch keine
endgültige Abgrenzung formulieren, wohl aber eine Auseinandersetzung
vorantreiben. Der polemische Schwung darf nicht dazu verführen, in blo-
ßer Umkehrung der identitären Blockade jegliche Antikritik an der dem
Anspruch nach transformierenden Kritik ebenso von vornherein abzu-
blocken und den diskursiven Charakter von Theoriebildung zu negieren.
Ein bloß widerstandsloses Fortschreiten wäre fatal, weil die Transformati-
on der Kritik damit einer unerlässlichen reflexiven Instanz beraubt würde.
Nicht jede Relativierung ist bremsend, nicht jeder die Komplexität einkla-
gende Einwand theoretisch reaktionär. Auch das Zaudern kann produktiv
sein, auch das Begehen von Seitenwegen neue Erkenntnis zu Tage för-

9i
dern. Und selbst die identitäre Blockade hat ihre Bedeutung, wenn auch
eine unglückliche, indem sie die transformierende Kritik zu begrifflicher
Schärfe und Präzision zwingt. In die Komplexität von Theoriebildung
spielen schließlich auch Unterschiede des Temperaments und der Vorge-
hensweise hinein, die nicht von vornherein einen feindlichen Gegensatz
implizieren (und off nur durch mangelnde Reflexion und Selbstreflexion
auf dieser Ebene ins wütende Ressentiment umschlagen).
Im Fortschreiten der transformierenden Kritik über die Denk- und
Handlungsformen der warenproduzierenden Moderne hinaus stellt sich
also immer von neuem die alte Frage: Was ist was? Was ist identitäre Blo-
ckade und was produktiver Einwand, was inhaltlicher Bruch und was bloß
ein anderer Stil, was Apologetik und was notwendige Differenzierung der
Kritik? Diese Fragen können nicht dekretorisch oder idiosynkratisch vor-
ab entschieden werden, sondern nur „an der Sache selbst", also im diskur-
siven wie apodiktischen, polemischen wie relativierenden Herausschälen
des Inhalts. In demselben Maße, wie die Antikritik identitär und damit,
was den Inhalt angeht, in Bezug auf den gesellschaftlichen Gegenstand
der Kritik apologetisch wird, ist sie vielleicht argumentativ nicht mehr er-
reichbar; aber man kann so viel Zutrauen zur Eigendynamik der transfor-
mierenden Bewegung haben, dass diese dennoch über alle Bremsversuche
hinweggehen wird, bis sie ihr historisches Ziel erreicht hat.
In diesem Sinne ist leicht erkennbar, dass die Laufbahn der „schöpfe-
rischen Zerstörung" des alten, kategorial an seinen Gegenstand gebun-
denen Paradigmas von Gesellschaftskritik noch keineswegs vollendet ist.
Es müssen noch einige heilige Kühe geschlachtet werden. Das betrifft vor
allem die Essentials der so genannten Aufklärung, jener philosophischen
Bewegung des 18. Jahrhunderts, in der sich die Konstitution der moder-
nen Welt und ihres warenproduzierenden Systems als positive Reflexion
darstellt, wie sie explizit oder implizit bis heute nicht nur die wiederkäu-
ende Apologetik, sondern auch die zu kurz greifende, ebenso wiederkäu-
ende Kritik durchtränkt und bestimmt. Gerade in dieser Hinsicht kann
die radikale Begriffszertrümmerung nicht gemäßigt, sondern sie muss
konsequent zu Ende geführt werden.
Sicherlich geht es bei der Aufklärungskritik im allgemeinen noch mehr
als bei der Arbeitskritik im besonderen ans Eingemachte des bürgerlichen
Bewusstseins einschließlich seiner „linken" und „marxistischen" Deriva-
te oder Wurmfortsätze. Deshalb gilt es einerseits, alle Winkel und Ecken
genau auszuleuchten, besonders sorgfältig zu argumentieren, alle Ebenen
zu berücksichtigen und kein Schlupfloch für klammheimliche Apologetik
offen zu lassen. Das kann jedoch gerade nicht heißen, auf zuspitzende
Thesen zu verzichten, ganz im Gegenteil. Denn andererseits muss die Kri-
tik der Aufklärung sogar besonders aggressiv verfahren, da erst an diesem
Punkt die Quelle aller Lähmung und Verblendung des emanzipatorischen
Denkens in der Moderne erreicht wird. Die entscheidende Frage ist: Was
bleibt vom Denken der bürgerlichen Moderne, und was ist ersatzlos abzu-
schaffen? Mit anderen Worten: Wie weit darf und muss die harte Negation
überhaupt gehen? Zentral dabei ist das Schicksal des Aufklärungsdenkens.
Gibt es hier etwas zu retten oder nicht? Wenn ja, was, und wenn nein, was
bedeutet das?
Die folgende Auseinandersetzung bezieht sich auf teils publizierte
(und entsprechend kenntlich gemachte), teils mündliche und interne, auf
teils explizite, teils implizite oder virtuelle, auf teils im engeren Kreis der
Aufklärungskritik selbst, teils außerhalb davon geltend gemachte oder
überhaupt in der theoretischen Sphäre virulente Argumentationen, die
dieses Problem der Reichweite und „Zulässigkeit" von radikaler Aufklä-
rungskritik in emanzipatorischer Absicht betreffen. Es geht darum, die
Logik der radikalen Negation in ihrem grundsätzlichen Verhältnis zu den
nicht negierbaren Errungenschaften der Geschichte klarer zu bestimmen
und den Defensivstrategien des männlichen „abendländischen Subjekts"
auf die Spur zu kommen.

Feindschaft oder Erbschaft?

Wie nicht anders zu erwarten, stößt die weitergehende radikale Kritik der
bürgerlichen Aufklärungsphilosophie auf breiten Widerstand beim ge-
sellschaff skritischen Publikum (denn was soziale Bewegung war und jetzt
auf die erneute theoretische Reflexion zurückgeworfen wurde, ist erst ein-
mal nur Publikum). Was als Konsequenz eines transformierenden Durch-
gangs durch das obsolet gewordene bisherige Denken emanzipatorischer
Gesellschaftskritik gewissermaßen aus der reinen theoretischen Reflexion
entwickelt zu werden schien, nämlich eben die Negation des Aufklärungs-
denkens, seiner philosophischen Begründungen und seiner Ideologien in
einer neuen, wertkritischen Dimension, erlangte spätestens seit dem 1 1 .
September unverhoffte unmittelbare Aktualität in Bezug auf den realen
Krisenprozess der kapitalistischen Weltgesellschaft. Denn just in demsel-

93
ben Augenblick, in dem diese neue Ebene der Kritik sich als immanentes
Erfordernis der theoretischen Reflexion eröffnete, besann sich das offiziel-
le bürgerliche Weltbewusstsein mit zähnefletschender Krisenmilitanz auf
die Grundlegung seiner „westlichen Werte" im 18. Jahrhundert, um sich
im Gespensterkrieg mit seinen eigenen Dämonen zu legitimieren.
Die radikale Kritik der Aufklärungsideologie in neuer Qualität kann
daher nicht in einer Situation relativer gesellschaftlicher Windstille als
„interessanter Gedanke" im Rahmen des Glasperlenspiels bürgerlicher
theoretischer Esoterik wahrgenommen werden; sie erscheint unmittelbar
als Kriegserklärung auf höchster Abstraktionsebene. Und damit wird sie
ebenso unverhofft gleichzeitig auf eben dieser Ebene auch zum Casus Bel-
li innerhalb der marxistisch inspirierten Restlinken; noch weitaus mehr,
als es schon die Arbeitskritik war. Denn ein Teil der übrig gebliebenen
radikalen Linken, zumindest der deutschen, hat unter dem Eindruck der
fortschreitenden Barbarei in der globalen Krisengesellschaft seine Wur-
zeln und seine intellektuelle Heimat in der westlichen Moderne entdeckt,
um nun desto fanatischer ein feierliches, den offiziellen demokratischen
Katechismus noch übertreffendes Bekenntnis zur so genannten Aufklä-
rung als Ausgangs- und Endpunkt alles „erlaubten" emanzipatorischen
Denkens abzuleiern und jede Absicht, sich an den heiligen Kühen des
Westens zu vergreifen, als angeblich reaktionäre Komplizenschaft mit der
Barbarei, als „faschistisch", als irrationale Sehnsucht nach dem „Idiotis-
mus des Landlebens", als Rückfall in die vormodernen „Schrecken der Na-
tur" usw. zu denunzieren.
Diese linksbürgerlich-aufklärerische Suada, die noch einmal alle Re-
gister des längst obsoleten geschichtsideologischen Denkens der kapita-
listischen Modernisierungsbewegung zu ziehen versucht, ist natürlich
intellektuell nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Genausogut könnte man
sich mit den päpstlichen Weltkommentaren zum Osterfest oder mit Do-
kumenten von Al Kaida auf der Ebene gesellschaftstheoretischer Reflexi-
on auseinandersetzen. Aber der ideologische Druck ist so groß und die
Wurzeln des Aufklärungsdenkens sitzen so tief, dass sich in der „Stunde
der Not" gerade für viele scheinbar theoretisch reflektierte Linke nicht die
Zuspitzung radikaler Kritik aufdrängt, sondern im Gegenteil die Verteidi-
gung des „bürgerlichen Erbes", das ungefähr so viel wert ist wie die Erb-
schaft der unerträglich hässlichen, bereits irreparabel verfallenden und
noch immer nicht abbezahlten fordistischen Reihenhäuser.
Aber sogar im Umkreis einer Position, die den Abschied von der Auf-

94
klärung und ihrem Erbe in emanzipatorischer Absicht ausdrücklich für
unverzichtbar erklärt, werden im gleichen Atemzug starke Zweifel an der
Notwendigkeit eines klaren und entschiedenen Bruchs laut. Der Abschied
nimmt allzu höfliche Züge an und wird von derart endlosen Komplimen-
ten begleitet, dass Zweifel an seinem Charakter als Abschied aufkommen.
Man kann auch vor lauter diplomatischer Zurückhaltung auf der Tür-
schwelle verhungern oder so lange an der Kriegserklärung feilen, dass sie
nie abgeschickt wird. Jedenfalls ist es auffallend, dass selbst die als not-
wendig erklärte Aufklärungskritik von viel mehr Skrupeln begleitet wird
als etwa die Arbeitskritik. Hier scheint ein Punkt getroffen, der weitaus
schmerzhafter ist. In so genannten Chartanalysen, wenn solche denn auf
Umwälzungsprozesse kritischer Theorie anzuwenden wären, würde man
von einer „Widerstandslinie" sprechen müssen.
In den bisherigen Auseinandersetzungen, die sich nicht bloß auf das
„Wie", sondern eigentlich auch stets auf das „Was" der notwendigen Auf-
klärungskritik bezogen, haben sich bereits im Vorfeld der inhaltlichen
Bestimmungen zwei Topoi der Relativierung oder sogar der Antikritik
herausgebildet. Zum einen heißt es, die Aufklärungskritik müsse stets be-
denken, dass sie selbst dem Aufklärungsdenken entstamme und an ihm
Teil habe. Zum andern wird als weitere Schlussfolgerung dieses Einwands
geltend gemacht, das Aufklärungsdenken sei eben weit genug, seine ei-
gene Kritik in sich zu fassen. Das klingt trotz aller aufklärungskritischen
Einsicht im Einzelnen fast schon wie der Abschied vom Abschied, bevor
überhaupt der Gegenstandsbezug des Abschieds genauer geklärt worden
ist.
Natürlich ist es kaum zu bestreiten: Das Schwierige an einer Ausei-
nandersetzung mit der Aufklärung besteht zunächst einmal darin, dass
jegliches Verhältnis zu ihr, auch ein kritisches, selber a priori schon von
der Aufklärung, ihrer Denkweise und ihrem Begriffsapparat bestimmt
oder gefärbt sein muss. Es handelt sich bei den aufklärerischen Essentials
eben nicht um irgendwelche Ideen, die neben anderen Ideen stehen wür-
den, nicht um eine Denkschule neben anderen Denkschulen, nicht um
bestimmte Themen neben anderen Themen und ebenso wenig um ein
einzelwissenschaftliches oder historisches Paradigma neben anderen, son-
dern um den Modus aller Ideen, Denkschulen, Themen und Paradigmen
überhaupt in der modernen Welt seit dem 18. Jahrhundert. Eine wirklich
radikale Kritik der Aufklärung ist daher nur möglich, wenn sie sich nicht
nur auf einzelne Inhalte des Aufklärungsdenkens bezieht, sondern auch

95
den Modus, die Form, die Methode oder grundsätzliche Herangehenswei-
se dieses Denkens zerstört und seine innere Mechanik offen legt.
Ein wichtiger Aspekt dieser Mechanik ist das Denken in der Katego-
rie des „Fortschritts" oder, neutraler und gewissermaßen „methodisch"
gesprochen, der „Entwicklung"; am weitesten „entwickelt" in der Archi-
tektur des hegelschen Systemdenkens. Diese Denkweise macht sich die
logische Selbstverständlichkeit zunutze, dass alle Dinge und Verhältnis-
se dieser Welt endlich sind und einen Prozess in der Zeit durchlaufen.
Eingeschmuggelt in diese banale Selbstverständlichkeit ist jedoch eine
bestimmte positive Bewertung, nämlich erstens, dass jeweils spätere Ent-
wicklungszustände auch „höhere", „bessere" etc. seien, obwohl an sich
auch das genaue Gegenteil der Fall sein kann; und zweitens, dass die Ent-
wicklungsbewegung von einem ontologischen positiven Prinzip getragen
werde, dass sie also stets „etwas" transportieren oder mitnehmen müsse,
das nicht verworfen werden kann.
Diese Bewertung ist keineswegs zwingend, aber sie ist in den moder-
nen Entwicklungsbegriff eingesunken. Die positive Konnotation dieses
Begriffs folgt allerdings einem ideologischen Motiv, nämlich der Apolo-
getik der Wertvergesellschaffung, ihrer Subjektform und ihrer philoso-
phischen Protagonisten, eben der Aufklärer, die damit die Stellung ihres
gesellschaftlichen Gegenstands und ihre eigene in der Geschichte gewis-
sermaßen wasserdicht machen wollten. Jegliche Aufklärungskritik sollte a
priori in die Rolle des Hasen beim Wettlauf mit dem Igel gedrängt werden.
Deshalb besteht das erste Erfordernis einer wirklich transzendierenden,
das kategoriale Gefängnis aufbrechenden Aufklärungskritik darin, die
aufklärerische Entwicklungslogik zu negieren, also den plumpen Trick
des Igels offen zu legen und sich darauf erst gar nicht einzulassen. Bloß
weil die Moderne eben die Moderne ist, also die jüngste Stufe fetischisti-
scher gesellschaftlicher Formationen, muss sie nicht per se einen „höhe-
ren" Gesellschaftszustand darstellen und nicht per se ein zu bewahrendes
emanzipatorisches Moment enthalten.
Ist diese Falle der Ausgangskonstellation erst einmal aufgedeckt, kann
die emanzipatorische Feindschaft gegen die apologetische Aufklärungsi-
deologie in aller Unbefangenheit und damit auch Härte formuliert werden.
Die obigen apriorischen Relativierungen erscheinen dann auf eigentümli-
che Weise paradox. Radikale Kritik der Aufklärung kann natürlich ihrer-
seits inhaltlich kritisiert werden und muss sich argumentativ behaupten,
aber sie muss nicht erst einmal ihre Existenzmöglichkeit beweisen. Die

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apriorische Frage nach ihrer Existenzmöglichkeit ist der bauernschlaue
Trick des Igels, der gar nicht erst zum realen Wettlauf antreten will. Vom
eigenen Standpunkt der Kritik aus besteht die Paradoxie gerade darin, sich
selber a priori gewissermaßen zum dummen Hasen zu machen, der die
Bedingungen des Gegenstands seiner Kritik annimmt und diese dadurch
als Kritik zu dementieren droht.
Eine Kritik, die sich erst einmal fragt, ob sie überhaupt existieren kann,
nimmt sich schon zurück, kaum dass sie ein Bein auf die Erde gesetzt hat.
Seit wann beginnt Feindschaft mit der Versicherung der Blutsbrüderschaft,
Abschied mit der Erklärung der Unverabschiedbarkeit und radikale Kritik
mit der Feststellung, dass sie schon immer in ihrem Gegenstand enthalten
sei? Das Aufklärungsdenken als theoretische Reflexion der Wertabstrakti-
on ist einzig und allein weit genug, alle Gegenstände, Bedürfnisse, Ideen
oder Epochen in sich in dem Sinne aufzunehmen und „aufzuheben", als
diese der Logik des Werts anverwandelt und damit in ihrer Eigenqualität
vernichtet werden. Die Kritik dieses Modus einer bloß scheinbar univer-
sellen Aufnahmefähigkeit selber ist jedoch in diesem Denken nicht nur
nicht enthalten, sondern geradezu denkunmöglich gemacht. Insofern ist
die Idee dieser Kritik schon in ihrer ersten abstrakten Embryonalform
bereits der Anfang vom Ende des Aufklärungsdenkens; aber nur in dem
Maße, wie sie nicht a priori relativiert und in der geschilderten paradoxen
Weise zurückgenommen wird.
Wenn ich weiß, dass der Gegenstand meiner Kritik, den zu überwinden
ich allen Grund habe, mich mit allen Fasern festhält, muss mein Impuls
doch darin bestehen, mich notfalls gewaltsam loszureißen, nicht aber da-
rin, mich salbungsvoll dieses Festgehaltenwerdens zu vergewissern. Das A
und O der Kritik, die diesen Namen verdient, kann nur die Negation sein.
Ob überhaupt und in welcher Hinsicht vom zu negierenden Gegenstand
etwas übrig bleibt und mitgenommen werden kann, und was das vielleicht
wäre, das kann erst a posteriori im inhaltlichen Durchgang durch den ne-
gatorischen Prozess festgestellt werden. Die erwähnten Topoi der Antikri-
tik und Relativierung jedoch legen ein genau umgekehrtes Vorgehen nahe:
Die Ernsthaftigkeit und argumentative Haltbarkeit der Aufklärungskritik
soll sich ausgerechnet darin erweisen, dass a priori, vor jeder inhaltlichen
Auseinandersetzung, unabhängig von der Sache selbst postuliert wird, die
Kritik könne und dürfe nur sein, wenn sie „etwas" von ihrem Gegenstand
beibehalte oder sich überhaupt immer schon im Rahmen dieses Gegen-
stands bewege.

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Eine solche Haltung kann eigentlich nur eingenommen werden, wenn
nicht die Unbedingtheit der Kritik, sondern die Unbedingtheit des zu Be-
wahrenden, der Affirmation, des „Willens zur Rettung" (geradezu eine
„Sucht des Rettens") den Ausgangspunkt bildet; wenn nicht offensiv nega-
torisch, sondern defensiv positivierend verfahren und die radikale Kritik
der Aufklärung in Wirklichkeit erst einmal als erschreckend und geradezu
als peinigend erlebt wird. Die Kritik droht damit vom a priori affirmativ-
legitimatorischen Entwicklungsbegriff des Aufklärungsdenkens wieder
eingefangen zu werden.
Gewiss handelt es sich bei dem, was hier grundsätzlich zu negieren
ist, nicht um einen äußeren Gegenstand, wie er vielleicht trotz aller Ver-
innerlichungsprozesse noch in der Arbeitskategorie gesehen werden
konnte. Vielmehr geht es jetzt um den Modus der Weltbetrachtung und
Weltbehandlung, um das Denken des Denkens selbst, um die Überwin-
dung der Vermittlungsform des Bewusstseins, die in bestimmter (wenn
auch selbstquälerischer) Weise das eigene gesellschaftliche Selbst zu sein
scheint. Deshalb ist durchaus Misstrauen des kritischen Denkens gegen
sich selbst am Platz.
Aber was bedeutet denn in dieser Hinsicht die mit merkwürdig erhobe-
nem Zeigefinger ausgesprochene Mahnung: Bedenke, oh Kritiker, dass du
selbst ein Geschöpf der Aufklärung bist, dass du notwendigerweise Fleisch
vom Fleische dessen bist, gegen das du dich wendest? Wenn es so ist, und
es ist selbstverständlich so, dann muss die Kritik in der Tat misstrauisch
gegen sich selbst sein, aber in welcher Hinsicht? Doch nicht in dem Sinne,
dass sie Angst haben müsste, vielleicht „zu weit gegangen" zu sein, bevor
sie überhaupt richtig angefangen hat! Sondern logischerweise einzig und
allein in dem Sinne, dass sie nicht weit genug gehen könnte, dass sie wo-
möglich vor den entscheidenden Konsequenzen zurückschreckt, dass sie
alsbald abbiegt, sich verdrückt und zurück zu den vermeintlichen ägypti-
schen Fleischtöpfen der aufklärerischen Selbstversklavung möchte.
Die Aufklärungsideologie kann man nicht abmurksen wie eine boshaf-
te und herrschsüchtige alte Tante, nach deren Erbschaff man aber schielt.
Im Grundsätzlichen des gesellschaftlichen Modus und der dazugehörigen
Reflexionsform muss es heißen: Es gibt nichts zu erben, es gilt etwas los-
zuwerden. Und zwar gründlich.

98
Die Ikonen der Aufklärung

Es hat etwas Merkwürdiges an sich, wie der Duktus der Kritik plötzlich
ausgerechnet dann bescheiden werden soll, wenn es ans Eingemachte
geht. Wo es in früheren Etappen der Wertkritik „erfrischend" hieß, heißt
es jetzt „bedenklich" oder „abstoßend", um nicht zu sagen „brenzlig". Ir-
gendwie beginnt es nach Weihrauch zu stinken. Wie es scheint, nähern wir
uns respektlos dem Allerheiligsten, wo auf einmal Respekt vom Feinsten
verlangt wird. Neige das Haupt, beuge das Knie; und vergiss bloß nicht,
vorher die Waffen abzugeben, denn im Tempel rasselt man nicht mit dem
Säbel und spielt nicht mit dem Revolver.
Ehrfurcht ist ein im wesentlichen religiöses Gefühl; und in den meisten
Religionen gibt es als äußeren Gegenstand der Verehrung Götzenbilder
oder Ikonen. Dieses Verhältnis lässt sich natürlich auch auf die irdische
Geschichte übertragen in Form einer geistigen und politischen Ikonogra-
fie oder Hagiografie. Fetischverhältnisse haben immer ihre Ahnengaleri-
en, Heiligenbildchen und Devotionalien, die wenig mit einem Respekt für
persönliche Leistungen und viel mit abergläubischer Selbsteinordnung
in einen unreflektierten Traditionszusammenhang zu tun haben. Jede
herkömmliche Denkschule, jede Epoche von Herrschaftszuständen, jeder
Staat und jede Institution, sogar jeder Fußballverein haben in gewisser
Weise ihre eigenen Ikonen, Gründerväter, Vordenker, Helden, Madonnen
usw. Der Bruch mit einem bestimmten Verhältnis oder Zusammenhang
ist daher notwendig auch und gerade ein Bruch mit seiner spezifischen
Frömmigkeit. Denn diese ist es ja nicht zuletzt, die dem befreienden Ge-
danken andere als bloß kognitive Grenzen setzt.
Zweifellos stellt auch die Aufklärung selber den Bruch mit einer be-
stimmten Frömmigkeit dar, ja in gewisser Weise sogar den Bruch mit al-
lem, was bis dahin Religion hieß, also dem Fetischbewusstsein der alten
agrarischen Zivilisationen. In seiner Kritik an der zugespitzten Aufklä-
rungskritik nimmt Anselm Jappe diesen Sachverhalt auf, um gewisserma-
ßen den Spieß umzudrehen: „Aber in einem Punkt scheint die Aufklä-
rungskritik tatsächlich zutiefst aufklärerisch zu bleiben, ja aufklärerischer
als die Aufklärung selbst zu sein: in dem Wunsch, Tabula rasa zu machen,
im Ikonoklasmus, im Bruch mit allen Traditionen. Wenn man ,sich nur
mit Zorn und Ekel vom geistigen Gesamtmüll des Abendlands abwenden'
kann..., dann bleibt tatsächlich nur noch der völlige Neuanfang, ohne
auf irgendetwas Überliefertem aufbauen zu können" (Anselm Jappe, Eine

99
Frage des Standpunkts. Anmerkungen zur Aufklärungskritik, in: Krisis
26/2003).
Ich will hier zunächst nur den Begriff des Ikonoklasmus herausgreifen,
der Bilderstürmerei. Was soll schlecht daran sein? Die Ikonen welcher Art
auch immer sind nicht die Welt, sondern sie repräsentieren oder symboli-
sieren nur ein bestimmtes Weltverständnis und Weltverhältnis. Natürlich
weckt der Vorwurf des Ikonoklasmus gewisse negative Assoziationen: Wer
dächte dabei nicht unwillkürlich an die viel beschworene Barbarei der Ta-
liban, die vor den Augen der Weltöffentlichkeit historisch wertvolle Bud-
dha-Statuen mit Kanonen zusammenschossen? Die Barbarei liegt hier
allerdings in der historischen Ungleichzeitigkeit. „Historisch wertvoll" im
Sinne eines musealen Kunstwerks oder denkmalgeschützten Artefakts
kann natürlich nur ein Gegenstand sein, der seiner frommen Verehrung
längst schon entkleidet ist und daher unmittelbar weder positive noch
negative Affekte mehr zu wecken vermag, sondern nur noch abgelöste äs-
thetische Empfindungen und antiquarische Interessen in einem übrigens
bereits spezifisch modernen Sinne.
Für die Taliban waren die Buddha-Statuen natürlich kein solcher Ge-
genstand historischen oder ästhetischen Interesses, sondern ein unmit-
telbar drohendes Symbol und aktuelles Ärgernis feindlicher, zu über-
windender Prinzipien. Dass es sich dennoch objektiv um bloße Barbarei
und nicht um einen umwälzenden oder gar befreienden Akt gehandelt
hat, liegt allein daran, dass die Taliban keinerlei transzendierende Bewe-
gung, neue Gesellschaftlichkeit oder Zukunft der Menschheit darstellen,
sondern nichts als Zerfallsprodukte der Moderne selbst sind: wie alle ge-
genwärtigen pseudo-religiösen und ethnischen Fundamentalismen eine
ebenso erschreckende wie destruktive Regression, als würden einem Teil
der Menschen plötzlich wieder Schwänze oder ein Ganzkörperfell wach-
sen. Denn ungeachtet dessen, dass es im negativen Kontinuum von Fe-
tischverhältnissen keinen positiven „Fortschritt" der gesellschaftlichen
Beziehungen zu „höheren" Zuständen gibt, kann es auch niemals ein
„Zurück" in frühere Zustände geben; der reaktionäre Impuls stellt immer
nur ein Krisenmoment der jeweiligen Formation selber dar und die Re-
gression kann immer nur gespenstisch unwirkliche Züge eines untoten
Wesens annehmen.
Es handelte sich in diesem Falle also um einen nicht nur ungleichzei-
tigen, sondern auch ahistorischen, bloß regressiven Ikonoklasmus. Das
ändert jedoch nichts daran, dass auch jeder wirkliche historische Bruch,

100
jeder geistige und soziale Umsturz, jede historische Kraft, die mit einer
Zukunft schwanger ging, innerhalb von Fetischverhältnissen stets mit ir-
gend einer Art von Ikonoklasmus einhergehen mussten, weil sich sonst
das Neue nicht gegen das Alte hätte durchsetzen können. Ob Bonifati-
us die Donarseiche fällte, ob die Protestanten die katholischen Heiligen
aus ihren Kirchen hinausschmissen oder Voltaire die Religion überhaupt
mit dem Schlachtruf „écrasez l'infâme" attackierte, stets wurden die Bil-
der und Symbole der zu versenkenden Epoche rabiat abgeräumt. Es gibt
keinen Grund, anzunehmen, dass es an der historischen Grenze von Fe-
tischverhältnissen überhaupt mit der Moderne und ihren Ikonen anders
ablaufen könnte. Gerade weil wir über die Form einer fetischisierten ge-
sellschaftlichen Synthesis nicht hinaus sind, muss das mehr oder weniger
brachiale Sich-Hinauskämpfen aus dieser Form selber noch mit einer iko-
noklastischen Begleitmusik einhergehen.
Insofern geschieht mit der Aufklärung in gewisser Weise einfach das-
selbe, was die Aufklärung ihrerseits mit den Ikonen des vormodernen Be-
wusstseins veranstaltet hatte, obwohl sie natürlich zu ihrer Zeit ebenfalls
zunächst Fleisch vom Fleische dessen sein musste, wogegen sie sich wand-
te. Sich nun seinerseits derart gegen die Aufklärung zu wenden, ist aber
insofern weder die Wiederholung noch die Übergipfelung der aufkläreri-
schen Vbrgehensweise, als es ja dem Gegenstand nach darum geht, dies-
mal die Aufklärung selber samt ihren Ikonen als konstitutives Moment
der säkularisierten Religion oder irdischen Realmetaphysik des Wert- und
Abspaltungsverhältnisses zu destruieren. Der Haltung nach ist es aber
ebenfalls keine spezifisch aufklärerische Aktivität, jedenfalls soweit von
Ikonoklasmus als solchem die Rede ist. Denn derartige Akte haben eben
schon immer in der Geschichte zu Umsturzbewegungen gehört.
Es gibt trotzdem einen bedeutsamen Unterschied zu allen früheren
Ikonoklasmen. Denn die Ikonen der Aufklärung sind anderer Natur als
die historischen Götzenbilder und Devotionalien. Noch in einem weit
eminenteren Sinne als etwa der islamische Gott lässt das realmetaphy-
sische Wesen des Werts kein Bild von sich machen, keine handgreifliche
Devotionalie und keine Gegenständlichkeit über die banale Mystifikation
des Geldes hinaus. Die Realabstraktion spottet aller sekundären Symbole
und Bilder, sie ist sich selbst als leere Abstraktion genug, während aller
sinnliche und sinnbildliche Ausdruck und alle physische Darstellung ihr
nur als gleichgültige, unwesentliche Materiatur dient. Die Ikonen der Auf-
klärung sind deshalb unmittelbar von ebenso abstrakter Natur wie das,

101
was sie darstellen: Es handelt sich nicht um Bilder im eigentlichen Sinne,
sondern um die theoretisch-philosophischen positivierenden Reflexions-
gestalten des Wert-Abspaltungsverhältnisses. Darin drückt sich auch die
Versachlichung der neuen, jüngsten und letzten Fetischform und ihrer
Unterwerfungsforderungen aus.
Die Qualitäten von Abstraktifizierung (Realabstraktion), Säkularisie-
rung und Versachlichung schließen es aus, einen personalen oder gegen-
ständlichen Ikonoklasmus hinsichtlich der Aufklärung zu versuchen. Es
wäre bloß albern, etwa Kant-Büsten feierlich zu zertrümmern. Der Ge-
genstand abergläubischer Verehrung sind die Geistesgrößen des männ-
lichen bürgerlichen Pantheons nicht in ihrer unmittelbaren personalen
Gestalt und deren Abbild, sondern allein als Träger des affirmativen Re-
flexionsgehalts.
Deshalb ist auch eine weitere, bei dem Vorwurf des Ikonoklasmus sich
möglicherweise aufdrängende Assoziation unangebracht, nämlich der
Gedanke an die berüchtigte Bücherverbrennung. Dieser Akt, der immer
nur einer der Barbarei sein kann, ging in der Geschichte der Fetischfor-
mationen in den seltensten Fällen mit einem bloßen Bildersturm vorwärts
drängender Kräfte einher; eher im Gegenteil waren es zumindest in der
Geschichte des „christlichen Abendlands" öfter Versuche der jeweiligen
Reaktion, als umstürzlerisch empfundene Gedanken buchstäblich auszu-
löschen. Dass Bücherverbrennung die Menschenverbrennung impliziert,
ist zu Recht gesagt worden.
Aufklärungskritik aber kann nicht bloß deshalb keine Bücherver-
brennung sein, weil sie umstürzend statt reaktionär ist, und weil sich ihr
spezifischer Ikonoklasmus auf keinerlei krude Gegenständlichkeit mehr
bezieht, sondern vor allem auch deshalb, weil es sich um einen Bilder-
sturm an der Grenze von Fetischverhältnissen überhaupt handelt, nicht
mehr innerhalb dieses Kontinuums. Auf der Tagesordnung steht ja der
Bruch mit einer solchen Art von Verhältnis selbst, der jeden bloßen Fana-
tismus und damit jeden bloß äußerlichen, verdinglichten Vernichtungs-
willen per definitionem ausschließt. Insofern geht die Aufklärungskritik
zwar als Auseinandersetzung auf der Fetisch-Ebene noch unvermeidlich
mit ikonoklastischen Momenten einher; aber als Kritik des Fetischismus
überhaupt, die kein neues Fetischverhältnis mehr kreiert, unterscheidet
sie sich auch qualitativ von allen früheren Ikonoklasmen. Sowohl vom
Gegenstand wie von der Intention her verlangt die radikale Kritik an der
negativen Qualität des spezifisch modernen Fetischismus, der katastro-

102
phisch an die Grenze der „Vorgeschichte" im marxschen Sinne überhaupt
geführt hat, ein Hinausgehen über jede Art von veräußerter symbolischer
Bindung, die der Reflexion entzogen ist. Nur dort, wo eine Fetischform
durch eine andere ersetzt wird, kann Ikonoklasmus als buchstäblicher Bil-
dersturm stattfinden oder gar die Reaktion der Bücher- und Menschen-
verbrennung mit sich bringen.
Aufklärungskritik muss die Frömmigkeit der Moderne zerstören, aber
diese äußert sich unmittelbar als Devotheit gegenüber der gesellschaftli-
chen Form und ihrer Reflexionsform. Genau in diesem Sinne finden die
ewigen Verbeugungen vor den philosophes und vor allem vor Kant statt,
wie sie von liberalen wie konservativen und linken Theoretikern rituell
betrieben werden; bis in die radikale Linke und sogar in die Aufklärungs-
kritik selbst hinein. Vorgeschobene Bastionen dieses Frömmigkeits-Boll-
werks werden von gewissen Schutzbehauptungen gebildet, die wiederum
apriorisch vor jedem Inhalt liegen bzw. die Kritik ins Leere laufen lassen
sollen, bevor sie überhaupt begonnen hat.
So wird die polemische Attacke gegen die Aufklärung und ihre Iko-
nen gewissermaßen halb ironisch und halb pietätvoll als angeblich un-
angemessen abgewehrt, weil sie überhaupt Tote zu misshandeln scheint.
Pietätvoll nach dem alten Motto: De mortuis nil nisi bene - du betreibst
Leichen-, Friedhofs- und Denkmalsschändung; so etwas tun anständige
Theoretiker nicht. Und ein wenig krampfhaft ironisch: Die Welt sei doch
längst über jene Zeiten hinaus, die Bedingtheit eines Kant sei heute nicht
mehr gegeben - du prügelst auf tote Hunde ein; und so etwas gehört sich
nicht für reflektierte Kultiviertheit.
Soweit hier das Moment historischer Bedingtheit angesprochen wird,
ist damit implizit der Rückfall in jene aufklärerische Entwicklungslogik
verbunden: Der Subtext dieser Antikritik meint, zu „seiner Zeit" sei Kant
eben „dran" gewesen und habe eine bestimmte (angeblich notwendige)
Stufe der Entfaltung reflexiven Denkens oder des „theoretischen Fort-
schritts" repräsentiert; heute müsse man natürlich darüber hinausge-
hen, aber man könne doch nicht die Geschichte als Geschichte angreifen.
Womit in diesem Kontext natürlich Kant wieder als früherer Baumeister
eines Denkgebäudes erscheint, das nicht etwa niederzureißen wäre, son-
dern an dem doch irgendwie weitergebaut werden soll: also Kontinuität
statt Bruch. Oder der Bruch erscheint auf paradoxe Weise seinerseits ge-
brochen; als Bruch, der schon keiner mehr ist.
Zwar kann man tatsächlich nicht die Geschichte als Geschichte kriti-

103
sieren; wohl aber die Geschichte als Gegenwart. Dass Kant alles andere als
ein toter Hund, sondern in seiner aufwendigen Architektur eines theoreti-
schen Gesamtkunstwerks von beinharter Affirmation ein lebendiger Geg-
ner ist, und die von ihm explizit gemachte Reflexionsform hinabgesun-
ken bis in die Bewusstlosigkeit des Alltagsdenkens einer kapitalistischen
Menschheit, - dieser entscheidende Sachverhalt wird nur in der merk-
würdigen Manier zugegeben, dass ausgerechnet deshalb radikale Kritik
die Kantsche reflexive Bewusstheit irgendwie ehrfürchtig „anerkennen"
müsse, um mit der inzwischen gesellschaftlich sedimentierten Form die-
ser Reflexion fertig zu werden, statt mit Kant als dem Träger und Vorden-
ker der bewussten Reflexion dieser inzwischen bewusstlos-objektivierten
Denk- und Handlungsform so polemisch-aggressiv zu verfahren und ab-
zurechnen, wie es deren weltzerstörendem Charakter angemessen ist.
Eine Variante dieser falschen Pietät in der Aufklärungskritik besteht
darin, den Aufklärern im allgemeinen und Kant im besonderen zu be-
scheinigen, sie hätten sich gewissermaßen durch ihre inneren Widersprü-
che, ihre aporetische Argumentation und die Unhaltbarkeit ihrer Schluss-
folgerungen schon selbst widerlegt und die pietätlose „posthume Polemik"
habe sich damit eigentlich erledigt, weil man diese Herren doch bitteschön
nicht mehr kritisieren könne, als sie sich „objektiv" schon selbst kritisiert
hätten. Wenn bloße Selbstwidersprüchlichkeit und Unhaltbarkeit oder
ein „schlechtes Ende" Kriterien der Kritik sein sollen, dann war allerdings
Nero der erste Kritiker des imperialen Prinzips und Hitler der erste Anti-
faschist. Hier wird implizit wieder ein objektivistischer Standpunkt ein-
genommen, der an der spezifischen Qualität von Kritik als „ungesicherter
Negation" vorbeigeht und das negatorische Moment allein im objektiven
„Geschichtsvollzug" sieht, der bloß auszudrücken wäre - also abermals
und erst recht ein Rückfall in die Aufklärungslogik. Kant hat durch seine
Offenheit und Bewusstheit einer affirmativen Reflexion des Wertverhält-
nisses ebenso wenig die Kritik vorweggenommen wie etwa de Sade durch
seine offene Propaganda von Menschenquälerei und Vernichtungswillen
(wie überhaupt Kant und de Sade durchaus verwandte Gestalten sind, die
an derselben Logik der Realabstraktion mitgestrickt haben).
Die Wertkritik als Kritik der Aufklärung hat nicht den geringsten
Grund, ausgerechnet mit diesem Gegenstand in pietätvoller und ob-
jektivistischer Manier anders zu verfahren als etwa in der polemischen
Abnabelung vom Arbeiterbewegungsmarxismus; ganz im Gegenteil. Die
theoretische Polemik gegen den Gesamtkomplex des Aufklärungsdenkens

104
und seiner Ideologie muss die schärfste von allen bisherigen Polemiken
werden. In diesem, und nur in diesem Sinne gilt für die Aufklärungskritik
mehr als je zuvor in der Geschichte des Denkens die unbekümmerte Pa-
role: Ikonoklasmus now!

Der eigentliche Gegenstand negatorischer Kritik

Nun ist der Vorwurf des Ikonoklasmus bei Anselm Jappe in einen weit dar-
über hinaus gehenden assoziativen Kontext eingeordnet, gekennzeichnet
mit Stichworten wie „Tabula rasa machen" usw. Der Versuch, den Spieß
umzudrehen, sieht den selber aufklärerischen Charakter der Aufklärungs-
kritik vor allem darin, dass diese die Logik impliziere: „Bruch pur, ab
morgen wird alles anders" (a.a.O.). Nun haben sich aber die Bilderstürme
schon in der Vergangenheit immer nur auf bestimmte Symbole bezogen,
nicht auf „alles"; und der Bruch mit der aufklärerischen Frömmigkeit der
Moderne kann eben allein den fetischistischen Denk- und Handlungs-
modus meinen, nicht schlechthin alle beliebigen Hervorbringungen aller
bisherigen Geschichte.
Deshalb ist es ein quid pro quo, wenn es in der Gleichsetzung von radi-
kaler, „ikonoklastischer" Aufklärungskritik mit der Aufklärung selbst und
ihrer Logik heißt: „In der Vorstellung, alles besser machen zu können und
aus der eigenen Vernunft heraus, oder was man dafür hält, die Welt neu
machen zu können, drückt sich bestens die Hybris und der Machbarkeits-
wahn der industriellen Warengesellschaft aus, für welche die Welt nur ein
Material ist, in dem sich die reine Form zu ihrem höheren Ruhm reali-
sieren kann. Die revolutionären Bewegungen der letzten 210 Jahre haben
dementsprechend, als konzentriertester Ausdruck der aufklärerischen Lo-
gik, auch diese Vorstellung des völligen Neuanfangs auf die Spitze getrie-
ben (und wirken damit natürlich off sympathisch gegenüber den Refor-
misten, die vieles an den schlecht bestehenden Verhältnissen rettenswert
fanden): sei es die französische Revolution mit ihrem neuen Kalender, sei
es die russische mit ihrem ,neuen Menschen', sei es die spanische, in der
Buenaventura Durruti erklärte, das Proletariat würde nur Ruinen erben,
aber das würde ihm keine Angst machen, sei es die chinesische Kultur-
revolution mit ihrer radikalen Ablehnung der ,vier alten: Ideen, Kultur,
Sitten, Gebräuche' und ihren Verwüstungsorgien. Atatürks Reformen, die
sich auch auf Schrift und Sprache, Nachnamen und Zeitrechnung bezo-

105
gen, sind ein anderes Beispiel. Stets wandte sich der neue Staat ,voll Zorn
und Ekel' vom Müll der Vergangenheit ab, um eine neue Welt nach sei-
nem Ebenbild zu schaffen." (a.a.O.)
Hier werden ikonoklastische Momente vermengt mit einem ganz ande-
ren Grundzug von Aufklärungsdenken und moderner Verwertungslogik,
der nicht mehr bloß eine Erscheinung des transformatorischen Bruchs
meint, sondern die spezifisch moderne destruktive Reproduktionsform.
Was dabei durcheinander geworfen wird, muss aber genau unterschieden
werden. Der wie immer ikonoklastische Bruch mit der Frömmigkeit eines
jeweils zu überwindenden Zustands ist stets eine zeitlich und ihrem Ge-
genstand nach begrenzte Aktion, gebunden an einen bestimmten, keines-
wegs permanenten transitorischen Prozess.
Der aufklärerische Bruch hat jedoch mit dem Verwertungsprinzip ein
dämonisches, permanent als Reproduktionsform sich vollziehendes Welt-
vernichtungsprogramm frei gesetzt und entfesselt: die Auflösung der sinn-
lichen Welt in die Realabstraktion der Wertform. Deshalb waren die eher
ikonoklastischen Momente des bürgerlich-revolutionären Bruchs mit der
Agrargesellschaff in ihrer Zerstörungswirkung geradezu geringfügig und
harmlos im Vergleich mit dem permanenten reproduktiven Vollzug des
Kapitalismus auf seinen eigenen Grundlagen, jenseits der einstigen revo-
lutionären Übergänge. Das moderne warenproduzierende System ist die
erste Gesellschaft, die in ihrem „normalen" alltäglichen Gang mehr Ver-
wüstungen anrichtet als jede noch so schwere Geburt einer neuen Forma-
tion in der Vergangenheit, einschließlich ihrer eigenen.
Es ist doch etwas seltsam, der Kritik an dieser reproduktiven Zerstö-
rungslogik und an deren Reflexionsform mitsamt dem ikonoklastischen
Impetus gegen die dazugehörige Aufklärungs-Geistesheroik zu unterstel-
len und vorzuwerfen, sie liefe ob ihrer Konsequenz auf ein ebensolches
Programm hinaus, das schließlich sogar alle kulturellen Inhalte auslö-
schen wolle: „Es gibt genug Grund, sich von der Aufklärung mit Zorn und
Ekel abzuwenden. Aber nicht unbedingt vom ganzen ,Abendland'. Und
was soll das schon heißen? Von seinen Philosophen? Das ist oft berechtigt.
Aber auch von seiner Musik? Von seiner Literatur? Von der traditionellen
Architektur?" (Jappe, a.a.O.).
Die Assoziationskette der Antikritik und Relativierung scheint sich
hier zu vollenden: Wer die Aufklärung radikal-ikonoklastisch ablehnt, so
wird suggeriert, der will nicht bloß nach Art der Taliban kostbare kunst-
gegenständliche Symbole zerstören, sondern überhaupt die Kultur- und

106
Geistesgeschichte ruinieren, die schöne Literatur in der Manier des päpst-
lichen Index zensieren und den Genuss der Musik Beethovens oder Mo-
zarts verbieten; ja der will eigentlich Messer und Gabel abschaffen und
überhaupt „zurück in die Steinzeit". Die Retourkutsche kann an diesem
Punkt wieder zurückgeschickt werden, denn diese Art der frei assoziie-
renden Antikritik war natürlich schon immer die Spezialität des bürger-
lichen Bewusstseins selbst, um den Zumutungen der Moderne die Weihe
des Fortschritts und der Notwendigkeit zu verleihen. So haben die Apolo-
geten gegen die „maschinenstürmerischen" Ludditen des frühen 19. Jahr-
hunderts ebenso argumentiert wie gegen die Atomkraftkritiker des späten
20. Jahrhunderts: Ihr wollt zurück zur Natur, zum Faustkeil, zum Affen;
ihr negiert zusammen mit unserer Zumutungslogik eigentlich auch das
Rad, das Alphabet, die Kunst der Fuge und den Flaschenzug.
Aber es kann sicher nicht um das Hin- und Herschicken der Retour-
kutsche gehen. Was ist eigentlich das Problem, das sich hinter dieser As-
soziationskette, diesem Vorwurf und Gegenvorwurf des Wunsches nach
„Tabula rasa" verbirgt? Unbestritten ist im Kontext einer beiderseits als
notwendig erachteten Kritik der Aufklärungslogik wohl, dass diese Logik
als Freisetzung und Reflexionsform des kapitalistischen Verwertungsprin-
zips ein Juggernaut-Rad in Gang gesetzt hat, das alle kulturellen Inhalte,
alle Momente eines „guten Lebens" und schließlich sogar die planetari-
schen biologischen Naturgrundlagen überrollt und vernichtet. Die stritti-
ge Frage besteht offensichtlich darin, worauf sich die Kritik dieser Zerstö-
rungslogik beziehen kann und soll, ohne ihrerseits zerstörerisch zu sein.
Was also muss genau kritisiert, negiert, selber zerstört und überwunden
werden, um den Lauf der Zerstörung zu stoppen?
Die polemischen Formeln vom „geistigen Gesamtmüll des Abendlands"
und vom „Baggerfahrer mit der Abrissbirne" haben anscheinend sämtli-
che geschmackvollen Innenarchitektinnen im Feld der bisherigen Wert-
kritik rebellisch gemacht. Nun ist aber der Bezug dieser Formeln eindeu-
tig und unzweideutig angegeben. Sie beziehen sich nicht auf „alles", nicht
auf alle und jede menschliche und natürliche Hervorbringung (wie es die
Wertlogik in ihrer destruktiven Potenz tut), sondern sehr bestimmt auf
die sich selbst reflektierende Form des Zerstörungsprinzips selbst, näm-
lich auf die „unbewohnbaren Ruinen der abendländischen Subjektivität"
(Robert Kurz, Blutige Vernunft. 20 Thesen gegen die so genannte Aufklä-
rung und die westlichen Werte, in: Krisis 25/2002). Es ist doch einigerma-
ßen überraschend und befremdend, wie dieser klare Bezug assoziativ auf

107
Musik und Architektur, auf Produktivkräfte und Errungenschaften aller
Art, auf die Kultur überhaupt ausgeweitet wird. Hier besteht offensicht-
lich Klärungsbedarf.
Es ist auch nicht zu akzeptieren, dass die starken und polemischen
Metaphern an sich für derart pejorative, den eigentlich benannten Ge-
genstand assoziativ verlassende Interpretationen verantwortlich gemacht
werden, weil sie eben „so klingen" würden und im übrigen angeblich
diskussionswillige Interessenten etwa aus dem Dunstkreis „orthodoxer"
Adorno-Adepten durch ihre polemische Zuspitzung verschrecken könn-
ten. Alles, was einem ganz grundsätzlich nicht passt und nicht schmeckt,
„klingt" immer gerade so, wie man es zwecks leichterer Abwehr heraushö-
ren will, und „überhört" wird demzufolge alles, was die Abwehr schwierig
machen könnte, und wenn es der eigentliche Gegenstand ist. Es gibt eine
Art von bürgerlichem Diskussionsverständnis (unter Einschluss gerade
desjenigen einer affirmativ gewordenen Adorno-Pfingstgemeinde), das
unter dem Vorwand der Sprachsitten und Stilmanieren gewisse Tabug-
renzen ziehen, seine Claims abstecken und seine Identität samt deren Iko-
nen schützen will, ohne sich der Auseinandersetzung um des Pudels Kern
stellen zu müssen.
Nehmen wir also nicht die Assoziationsketten der pejorativen Inter-
pretationen, sondern einzig und allein die wirkliche, schwarz auf weiß
nachprüfbare Aussage, um ohne Wenn und Aber zum Kern des Pudels zu
gelangen. Dieser Kern ist die moderne bürgerliche, strukturell männliche
Subjektform. Darum geht es eigentlich, nicht um die Musik, Architektur
und jeglichen kulturellen Inhalt etc. Deshalb sollte auch genau über die-
sen Punkt gestritten werden, und nicht über etwas anderes, was höchs-
tens indirekt und vermittelt dazu gehört oder überhaupt nicht auf diesem
Blatt steht.
Ist diese bürgerliche Subjektform der Moderne mitsamt ihren Wurzeln
auszureißen, radikal zu negieren und ersatzlos zu überwinden oder nicht,
das ist der Punkt. Die Gegenposition wäre, dass diese Subjektform als sol-
che emanzipatorische Momente hätte, die „mitzunehmen" wären, sodass
von dieser Subjektform „etwas", womöglich sogar das Wesentliche, nach
dem Durchgang durch die Kritik übrig bliebe. Was natürlich die Kritik zu
einer halb apologetischen Veranstaltung zurückfahren und sie eben eher
in eine Art „Rettungsprojekt" verwandeln würde. Retten oder abschaffen,
das ist hier die Frage. Oder ein bisschen retten und ein bisschen abschaf-
fen, und was ein bisschen mehr und in welcher Hinsicht?

108
Die Subjektform ist nichts anderes als jener allgemeine Modus des
modernen kapitalistischen Weltverhältnisses, die allgemeine Denk- und
Handlungsform der Wertvergesellschaftung. Dabei handelt es sich ei-
nerseits um jene den Individuen als herrschaftlicher, verselbständigter
Gesamtzusammenhang oder fetischistische Totalität gegenübertretende
Form des objektivierten „automatischen Subjekts" (Marx): das abstrakte,
unheimlich inhaltsleere Formprinzip, dessen rastlose objektivierte Selbst-
bewegung als jenes Juggernaut-Rad der Verwertung des Werts über Natur
und Gesellschaft walzt. Andererseits ist diese Form aber eben gleichzeitg
auch die Form der individuellen und institutionellen Handlungsträger;
und als solche ist sie im engeren Sinne Subjektform oder „Form Subjekt".
Diese Form der Handlungsträger ist wiederum eine strukturell wesentlich
männliche, abspaltende: das Subjekt der Wert-Abspaltungslogik.
Als Prozess lässt sich das Werden dieser Subjektform bis auf die früh-
moderne „politische Ökonomie der Feuerwaffen" und deren neuartige
Potenz der Vernichtung zurückführen; aber als bewusste Konstitution
und theoretische Reflexionsform findet sie sich eben erst in der Aufklä-
rung, mit unterschiedlichen Akzentsetzungen. So hat die schottisch-an-
gelsächsische Aufklärung, etwa in den Theoremen eines Adam Smith
oder Jeremy Bentham, vor allem den realökonomistischen Aspekt dieses
Subjekts, die Figur des homo öconomicus, ebenso herausgearbeitet wie
die übergreifende Form des „automatischen Subjekts" (die „unsichtbare
Hand" des Marktes bei Adam Smith). Die französische Aufklärung von
Montesquieu bis zu Rousseau und zu den Tugendpredigern der Revoluti-
on von 1789 hingegen hat sich mehr auf den staatlich-juristischen Aspekt,
auf die Figur des homo politicus der Moderne kapriziert. Die deutsche
Aufklärung schließlich mit Kant an der Spitze (und mit Hegel gewisser-
maßen als Vollender der System-Architektur) hat die jener erscheinenden
Polarität von homo öconomicus und homo politicus zugrunde liegende
abstrakte Subjektform als solche, als Wesensform, und ihre systemischen
Konsequenzen ebenso positivierend wie militant vorwärts verteidigend
dargestellt.
Ging die objektiv-realgesellschaftliche Konstitution ursprünglich aus
der „politischen Ökonomie der Feuerwaffen" ungefähr seit dem 15. Jahr-
hundert hervor, so finden sich die philosophisch-ideologischen Momente
ihrer Ur-Konstitution vor der begrifflichen Vollendung im Aufklärungsdis-
kurs nicht nur im Protestantismus der Frühmoderne, sondern lassen sich
zumindest in bestimmten Aspekten bis in die griechisch-römische Antike

109
zurückverfolgen. Dabei muss freilich klar sein, dass die Antike nicht ein-
fach a posteriori dem modernen Konstitutionsprozess zugeschlagen wer-
den kann; dieser hat sich vielmehr nur die scheinbar passenden Elemente
herausgeholt und damit das moderne Verständnis der Antike überhaupt
erst geschaffen. Als vermeintliches Kontinuum einer wert-abspaltenden
„Zivilisation" ist das so genannte Abendland natürlich ein Geschichtskon-
strukt der Aufklärung selbst. Soweit dieses Konstrukt und seine bis auf die
westliche Antike zurückgreifende Legitimationsideologie in die Konstitu-
tion der modernen kapitalistischen, männlich-wert-abspaltungslogischen
Subjektform eingegangen ist, kann insofern mit einer gewissen Berech-
tigung von „abendländischer Subjektform" gesprochen werden. Und es
lässt sich leicht nachweisen, dass die ideologische Reflexionsform dieses
Verhältnisses bereits seit dem Protestantismus, endgültig ausgebildet aber
in der Aufklärung, wesentlich objektivistisch und offen oder versteckt mi-
sogyn, schwulenfeindlich, rassistisch und antisemitisch bestimmt ist.
Um die Negation bzw. um den Grad oder das „Wie" und vielleicht so-
gar das „Was" der Negation dieser Subjektform also geht es einzig und
allein, und darauf muss umso unbarmherziger herumgeritten werden, als
diese primäre Ebene der Kritik (im Unterschied zur Kritik der sekundären
Form-Affirmationen des Arbeiterbewegungs-Marxismus) in der bisheri-
gen Entwicklung der wertkritischen Theorie eben noch keineswegs klar
freigelegt worden ist. Die Kritik der kapitalistischen Subjektform, jener
„Form Subjekt", wie sie vom Arbeiterbewegungs-Marxismus aus dem bür-
gerlichen Denken übernommen wurde, noch bei Adorno sehr zweideutig
bestimmt und letzen Endes doch wieder affirmiert wird, um bis heute von
der Linken positiv besetzt zu bleiben, ist als Kritik des Kerns der moder-
nen Fetischform bei weitem nicht ausreichend und konsequent zu Ende
geführt.
Ein erster theoretischer Vorstoß zur grundsätzlichen Subjektkritik (vgl.
Robert Kurz, Subjektlose Herrschaft. Zur Aufhebung einer verkürzten
Gesellschaftskritik, in: Krisisl3/1993; auch abgedruckt in diesem Buch)
wurde im wertkritischen Zusammenhang zunächst nicht weitergeführt.
Das lag vor allem daran, dass das Geschlechterverhältnis als Abspaltungs-
verhältnis auf der Ebene der Wert- und Subjektform nicht systematisch
in die wertkritische Theoriebildung einbezogen war. Wertkritik und Ab-
spaltungskritik liefen weitgehend unvermittelt nebeneinander her. Wie
es dem geschlechtlich konnotierten Herrschaffsverhältnis der Moderne
und damit der Struktur der meisten modernen Denkschulen entspricht,

110
war der wertkritische Zusammenhang ursprünglich ein wesentlich män-
nerbündischer, die Theoriebildung demzufolge stark objektivistisch be-
1
stimmt und mit einem kontemplativen Zug versehen .
Radikale Subjektkritik ist jedoch nicht zu leisten, ohne die Abspal-
tungskritik systematisch in die Wertkritik einzubeziehen und damit die
männerbündisch-objektivistischen Tendenzen im eigenen Denken end-
gültig abzuservieren. Gerade in diesem Sinne müssen wir unsere Herkunft
bewusst und unzweideutig explizit reflektieren (nicht bloß gewisserma-
ßen augenzwinkernd als bereits gegessen unterstellen) und auf bestimmte
Weise dem eigenen Theoriebildungsprozess gegenüber misstrauisch sein
ob der noch nicht genügend aufgedeckten Fallen des aufklärungsideolo-
gischen Modus. Das Abspaltungsverhältnis ist das Zentralverhältnis der
modernen Fetisch-Konstitution, das ein Wertverhältnis überhaupt erst
möglich macht. Da die Subjektform wesentlich durch die geschlechtliche
Abspaltung bestimmt ist, kann sie in dem gerade an diese Subjektform
gebundenen, strukturell „männlichen" Modus von Theoriebildung auch
nicht grundsätzlich kritisiert werden, oder es handelt sich nur um eine
oberflächlich bleibende Scheinkritik (was allerdings jeweils nachzuweisen
wäre).
Dieser „männliche" Modus von moderner Theoriebildung ist zwei-
felsfrei von der Philosophie der Aufklärung begründet worden, die damit
keineswegs bloß einen „objektiven", vorgefundenen Gegenstand gewisser-
maßen neutral-kontemplativ reflektiert hat; so erscheint es bloß in ihrem
eigenen, bis heute und zunächst bis in die männerbündische Wertkritik
hinein (jedenfalls in ihren Anfängen) fortwirkenden Modus. Vielmehr hat
die Aufklärungsphilosophie das moderne, strukturell „männliche" und in
jeder Hinsicht destruktive Subjekt auch mitkonstituiert, wie überhaupt
erst blinde Strukturprozesse und apologetische Reflexion zusammen den
historischen Realprozess bilden. Die philosophische Konstitution der
„Form Subjekt" bildet gleichzeitig nicht etwa nur einen Aspekt der Auf-
klärung, der kritisch abgezogen werden könnte, um dann im Kern etwas

1 In jenem Aufsatz von 1993 wird zwar bereits der affirmative Gehalt der Kantschen Re-
flexion benannt, diese jedoch immer noch in eine Geistesgeschichte fortschreitender „Er-
kenntnis" eingeordnet und damit ein Moment jener Ikonisierung beibehalten, die den
objektivistischen Modus deckt. Als Bestandteil der Konstitution selbst muss die Kantsche
Reflexion jedoch Gegenstand radikaler Kritik statt einer „Anerkennung" ihres Reflexions-
gehalts werden; erst dann kann die selbst noch bei Adorno wirksame Positivierung des
männlich-abspaltungslogischen Erkenntnissubjekts durchbrochen werden.

111
Positives, zu Rettendes übrig zu lassen, sondern sie macht das Wesen des
gesamten Aufklärungsdenkens aus, das somit auch entsprechend wesent-
lich verworfen werden muss.
Abspaltungskritik, Subjektkritik und Aufklärungskritik bilden eine un-
verzichtbare Einheit, keines dieser Momente ist ohne das andere möglich.
Entsprechend unverkürzt muss die Kritik verfahren, wenn das neue wert-
abspaltungskritische Paradigma vollendet werden soll - was keinen Ab-
schluss der Theoriebildung überhaupt bedeutet, sondern nur den vorläu-
figen Abschluss in der „schöpferischen Zerstörung" des alten Paradigmas.
Es kann und soll nun zwar verschiedene Positionen, Akzentsetzungen
und Aspekte im Kontext der wert-abspaltungskritischen Theorie geben;
diese können jedoch nicht in quasi postmoderner Beliebigkeit als unver-
mittelbar gegensätzliche nebeneinander stehen, sondern sie müssen auf
einer grundsätzlichen Ebene miteinander vereinbar sein, also auch eine
gemeinsame Verbindlichkeit einschließen.
Eine friedliche Koexistenz mit dem abspaltenden „männlichen" Modus
von Theoriebildung ist ausgeschlossen. Für die moderne kapitalistisch-
abendländische" Subjektform, die sowieso nur noch in ihren Verfallsge-
stalten existiert, darf somit kein Rettendes wachsen, wenn die Emanzipa-
tion vom weltzerstörenden Zwangsverhältnis der Wertvergesellschaffung
ernsthaft als Option gelten soll. Wahrscheinlich ist das gar nicht strittig;
aber dann sollte die Subjektkritik nicht nur in ihrer Konsequenz durchge-
halten, sondern auch sorgfältig begrifflich abgegrenzt werden von ande-
ren Fragen, die kulturelle Errungenschaften der Menschheit schlechthin
betreffen. Tabula rasa ist zu machen mit der kapitalistisch-abendländi-
schen Subjektform und mit der Gebundenheit durch eine Fetischform
überhaupt, deswegen aber nicht mit allem und jedem, was die Menschheit
trotz ihrer fetischistischen Gebundenheit und durch diese hindurch bis-
lang hervorgebracht hat.

Die Artefakte der Geschichte

Ich will allerdings nicht bestreiten, dass die Frage nach der Eingrenzung
der Subjektkritik und ihrer Abgrenzung vom destruktiven, wert-abspal-
tungslogischen Tabula-rasa-Prinzip durchaus legitim ist. So wenig das
„Überlesen" des eigentlichen Bezugs der Abriss-Metaphern zu akzeptieren
ist, so sehr muss doch gleichzeitig anerkannt werden, dass diese A b - und

112
Eingrenzung allein mit dem Hinweis auf den expliziten Gegenstand des
Abriss-Impetus, die kapitalistisch-abendländische männliche Subjekt-
form nämlich, noch keineswegs geleistet ist. Die eigentlich legitime Frage,
die sich herausschälen lässt, ist folgende: In welchem Verhältnis stehen
die Subjektform und damit deren Negation zu den im weitesten Sinne
kulturellen Inhalten der menschlichen Geschichte? Diese Inhalte können
als Artefakte der Geschichte bezeichnet werden, sowohl der modernen als
auch der vormodernen. Dabei handelt es sich um Erzeugnisse aller Art,
geistige wie gegenständliche, um so genannte Produktivkräfte, um Kul-
turtechniken im weitesten Sinne, um „Potenzen", die aus der Geschichte
der menschlich-gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der irdischen
Materie und dem physischen Dasein, aber auch mit sich selbst, mit der
eigenen Gesellschaftlichkeit, und mit den metaphysischen Problemen der
eigenen Herkunft, des Todes usw. hervorgegangen sind.
Zunächst ist hier die Betonung auf den Begriff des Inhalts zu legen.
Es handelt sich um Inhalte (auch künstlerische, architektonische usw.
Formen können hier als Inhalte gelten), die zwar unter dem Diktat ei-
ner fetischistischen gesellschaftlichen Formbestimmung und damit einer
Bewusstseinsform stehen (der Subjektform in der Moderne), aber darin
nicht aufgehen. Es gehört zum Wesen der „Geschichte von Fetischverhält-
nissen", dass die Inhalte nie in der Form aufgehen, dass Form und Inhalt
in einen Gegensatz treten und die Inhalte immer wieder gewaltsam nach
Prokrustes-Manier der Form angepasst werden bis zu ihrer Zerstörung.
Das gilt sowohl für Inhalte, Artefakte, Kulturtechniken usw. der Vergan-
genheit als auch für die von der jeweiligen Fetischformation selbst her-
vorgebrachten.
Aus dieser Spannung und diesem Gegensatz von Form und Inhalt folgt
natürlich nicht, dass die (kulturellen) Inhalte welcher Art auch immer per
se „gut" oder im Verhältnis zum Formzwang immer schon der bessere Teil
des menschlichen Daseins, der Form gegenüber autonom und von dieser
stets eindeutig abtrennbar wären. Trotz aller Spannung durchtränkt, färbt
und prägt die Fetischform die Inhalte, die ihrerseits diese Form nicht nur
verändern, sondern auch sprengen können; am deutlichsten gefasst in
jener berühmten, allerdings nur auf den modernen Kapitalismus selbst
passenden Formulierung von Marx, dass die „Produktivkräfte" (Inhalt)
die „Produktionsverhältnisse" (Form) in die Luft sprengen würden. Wie
damit (im Gegensatz zur eigenen Auffassung von Marx) noch keinerlei
per se positive Bewertung dieses Inhalts bestimmt ist, sondern eben nur

113
1
seine Sprengkraft, so gilt dies überhaupt für das Verhältnis von kulturel-
len Inhalten und gesellschaftlichen Formen in der bisherigen „Geschichte
von Fetischverhältnissen".
Die sexuelle Verstümmelung kleiner Mädchen etwa kann kaum als po-
sitiver „kultureller Inhalt" geltend gemacht werden, und schon gar nicht
als wunderbare Widerstandspotenz einer noch nicht vom Wertverhältnis
versauten vormodernen Agrarkultur gegen die modernen Zumutungen;
wie überhaupt die älteren Fetischverhältnisse ebensolche Zumutungs- und
Herrschaftsverhältnisse sind, und demzufolge in ihren Herrschaft, Unter-
werfung und Selbstunterwerfung einschließenden Bewusstseinsformen
ebenso hart zu negieren wie die moderne Subjektform. Deren radikale
Kritik schließt die radikale Kritik aller bisherigen Fetischformen in sich.
Immer schon hat das nicht aufgehende Verhältnis von Form (Bewusst-
seinsform als Denk- und Handlungsform) und Inhalt in der bisherigen
„Geschichte von Fetischverhältnissen" auch zu destruktiven, repressiven
und selbstrepressiven Inhaltsbestimmungen geführt, ohne dass deswegen
all und jeder Inhalt dieser oder allein dieser negativen Qualität unterlie-
gen musste.
Aber auch die positiven, nicht schlechthin zu negierenden kulturellen
Inhalte, Potenzen und Errungenschaften dieser Geschichte werden für
immer die Kainsmale ihrer Entstehungsverhältnisse an sich tragen, was
gerade dann nicht verdrängt werden kann, wenn diese Potenzen in eine
von fetischistischen Zwangsstrukturen befreite Menschheit notwendiger-
weise mit hinübergenommen werden. In diesem Sinne wäre aus wert-ab-
spaltungskritischer und aufklärungskritischer Sicht Walter Benjamins be-
rühmte Sequenz zu verstehen: „Die Beute wird, wie das immer so üblich
war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter.
Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Be-
trachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das
ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen
bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen
Genien, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist nie-
mals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu
sein" (Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen).
In Wahrheit kann dieser Gesichtspunkt erst jenseits des so genannten
historischen Materialismus geltend gemacht werden, der nichts anderes
ist als die Projektion der spezifisch kapitalistischen Dialektik auf die Ge-
schichte und deren Positivierung zu einem formationslogischen „Fort-

114
schritts"-Kontinuum. Nach dem Bruch mit dem aufklärerischen Erbe
stellt sich das Problem vollkommen anders dar. Der Bruch mit der kapita-
listischen Subjektform ist notgedrungen der Bruch mit gesellschaftlichen
Fetischverhältnissen überhaupt. Eine in diesem Sinne befreite Menschheit
steht vor der ungeheuren Trümmerwüste der vergangenen Inhalte aller
Art, aus der sie ebenso notgedrungen teils aneignend, teils verwerfend
und vermutlich mühsam „entsorgend" einen veränderten Umgang mit
der Natur und mit sich selbst heranbilden muss.
Diese Trümmerwüste ist natürlich nicht das Resultat eines aufklärungs-
kritischen Ikonoklasmus, sondern das Resultat der Aufklärung selbst, der
kapitalistischen Destruktivkräfte und ihrer vermutlich final noch einmal
gesteigerten Vernichtungswut. Und das Herausgreifen von Inhalten ande-
rerseits ist logisch und praktisch unausweichlich; ein absoluter Nullpunkt,
eine Tabula rasa der Geschichte auf der Inhaltsebene wäre ein Ding der
Unmöglichkeit. Selbst innerhalb von Fetischverhältnissen konnte kein
noch so blindwütiger Bruch mit der Vergangenheit, noch nicht einmal
der aufklärerisch-kapitalistische, „alles" wegfegen und bei einer virtuellen
Nullzeit beginnen; stets wurden in Wahrheit wesentlich die Artefakte der
Geschichte angeeignet, neu gruppiert und in eine andere Richtung ge-
dreht. An der Bruchstelle der Geschichte von Fetischverhältnissen ist das
nicht anders, nur dass sich diese Frage mit veränderten Bezügen und sehr
viel bewusster stellt.
Dabei lassen sich bereits aus dem bisher Gesagten einige Kriterien ent-
wickeln. So wird die Aneignung von Artefakten der Geschichte erstens
deren barbarische Abkunft nicht verdrängen und verleugnen, sondern
sie im Benjaminschen Sinne als „Eingedenken" bewahren. Zweitens geht
diese Aneignung mit einem Prozess des Verwerfens einher, eben weil es
keine „unschuldigen" Inhalte gibt und ein bestimmter Teil davon derart
formvergiftet ist, dass er ebenso wie die (und zusammen mit der) Form
völlig negiert werden muss. Aber das ist eben drittens erst herauszufin-
den; dafür kann es kein abstrakt-allgemeines Muster der Aussortierung
geben, das ja selber wieder nur eine Fetischform darstellen würde. End-
lich kann es viertens eben deswegen kein Präjudiz im Hinblick auf eine
Scheidung der Inhalte in moderne und vormoderne geben; weder in dem
Sinne, dass die vormodernen Artefakte nicht neu entdeckt und angeeignet
werden könnten, noch umgekehrt in dem Sinne, dass die modernen als
kapitalistische in toto zu verwerfen wären, also in dieser Hinsicht Tabula
rasa gemacht werden müsste. Jedes abstrakt-allgemeine Apriori hinsicht-

115
lieh der Inhalte ist zusammen mit der Fetischform als Kriterium hinfällig
geworden.
Dabei lassen sich drei Ebenen oder Erscheinungen von Artefakten der
Geschichte unterscheiden: Werke der intellektuellen, im weitesten Sinne
philosophischen (unter Einschluss der religiösen, politischen etc.) Refle-
xion; künstlerische Produkte aller Art nach den verschiedenen Gattungen
und Formen (Musik, Literatur, Malerei, Architektur usw.); und schließ-
lich Kultur- und Produktionstechniken im weitesten Sinne.
Zwar gibt es eigentlich keine strikte Trennung zwischen diesen Ebe-
nen und Erscheinungen. Aber für die intellektuellen und künstlerischen
Werke gilt in der Regel, dass sie nicht reproduzierbar im engen Sinne der
inhaltlichen Kreation sind (im Unterschied zu ihrer bloß technischen
Reproduzierbarkeit); es handelt sich um Denkmäler. Wir können nicht
mehr wie Aristoteles oder Augustinus und nicht einmal mehr ganz wie
Marx denken; aber wir können diese Werke lesen und ihre Gedanken er-
kennen, allerdings von einem anderen historischen Standort aus. Ebenso-
wenig können wir eine Musik wie die gregorianischen Gesänge, die Kom-
positionen Mozarts und Beethovens oder die so genannte traditionelle
(anonyme) „Volksmusik" hervorbringen, weil diese Musiken allesamt an
eine bestimmte Zeit und deren Weltverhältnis gebunden sind; aber wir
können sie spielen, anhören und in gewisser Weise genießen, Elemen-
te daraus entnehmen und in andere Zusammenhänge bringen etc. Die
Kultur- und Produktionstechniken hingegen sind ihrer Natur nach auf
technische Reproduzierbarkeit angelegt, aber auch sie können natürlich
weiterentwickelt (oder eben abgeschafft) werden.
Was heißt das in Bezug auf die fetischistische Bewusstseinsform im all-
gemeinen und die moderne Subjektform im besonderen? Alle diese Inhalte
und Artefakte sind im Kontext einer bestimmten Fetischform entstanden,
aber sie befinden sich eben nicht allesamt in derselben Übereinstimmung
mit dieser Form noch konstituieren sie per se eine solche Form. Gewiss
stellen gerade die intellektuellen Erzeugnisse off ganz unmittelbar die Fe-
tischform und deren Affirmation als Reflexionsgestalten dar. In diesem
Sinne handelt es sich gewissermaßen um negative Denkmäler. Als solche
sind sie nicht abschaffbar, denn ihre Zerstörung oder ein „Verbot" ihrer
Kenntnisnahme wäre ja der Rückfall in fetischisierte Zwangsverhältnisse.
Jenseits der Fetischformen können keine Inhalte mehr verboten werden.
Die Zerstörung dieser negativen Denkmäler des Denkens selbst besteht
in ihrer intellektuellen und praktischen Widerlegung. Sie bleiben dann

116
in derselben Weise übrig, wie man die menschenfeindlichen Erzeugnisse
der vergangenen Herrschaftsarchitekturen als eine Art Mahnmale stehen
lässt.
Das gilt nun ganz besonders und in verschärfter Weise für die Werke
der Aufklärung, und zwar umso mehr, je deutlicher sie mit der Konsti-
tution der männlich-abspaltenden kapitalistischen Subjektform überein-
stimmen oder direkt damit zusammenfallen. Kant kann man insofern
lesen, wie man das Nazi-Reichsparteitagsgelände in Nürnberg besichtigt.
Je mehr sich das vergangene Denken jedoch auf kulturelle, ästhetische,
natürliche usw. Inhalte eingelassen und mit den entsprechenden Proble-
men herumgeschlagen hat, desto weniger deckt es sich mit der Reflexi-
onsform des Fetischsubjekts und in desto geringerem Maße verfällt es der
„Tabula rasa" der Subjektkritik. Im Pantheon der Aufklärungsphilosophie
wird dies off nicht viel weiter führen als eben auf die Widersprüche und
Aporien dieses Denkens, die seine Unwahrheit und seinen apologetischen
Charakter aufdecken.
Aber darüber hinaus sollte die Aussage ernst genommen und ebenfalls
nicht „überlesen" werden, dass „die Epoche der Aufklärung keineswegs in
der Aufklärung aufgeht" (Robert Kurz, Negative Ontologie. Die Dunkel-
männer der Aufklärung und die Geschichtsmetaphysik der Moderne, in:
Krisis 26/2003), das heißt sich nicht im aufklärerischen Denken der Re-
flexionsform bürgerlicher Subjektivität erschöpft. Je weiter sich der Blick
vom Pantheon der Aufklärer entfernt, desto mehr erscheinen auch gegen-
läufige und widerständige Momente, die jedoch nicht mit der immanen-
ten Reaktion von bürgerlicher Gegenaufklärung und Romantik gleichge-
setzt werden können. Was das romantisch-gegenaufklärerische Denken
mit der Aufklärung selbst zu einer negativ-polaren Identität zusammen-
schließt, ist gerade der gemeinsame, nur jeweils anders besetzte und ak-
zentuierte positive Bezug auf die „Form Subjekt", der eine gemeinsame
Formvergiftung ausmacht. Insofern es um die grundsätzliche Negation
dieser Form geht, verfällt die Gegenaufklärung eben demselben Verdikt
wie die Aufklärung selbst, deren Derivat sie nur ist.
Überall hingegen, wo das Denken an die Grenzen der männlich-ab-
spaltungslogischen Subjektform als solcher stößt und sich auf gegenüber
dieser Form sperrige Inhalte einlässt, kann es einzelne positive Elemente
enthalten, mit denen entsprechend auch nicht „Tabula rasa" zu machen ist,
ohne dass sie jedoch natürlich die heute notwendige Subjektkritik erset-
zen könnten oder diese sich aus ihnen einfach zusammensetzen ließe. Die

117
Erforschung der historischen Dissidenz in diesem Sinne (also quer zum
bürgerlich-immanenten Scheingegensatz von Aufklärung und Gegenauf-
klärung) bildet ein wichtiges Feld in einer wert-abspaltungskritischen
und aufklärungskritischen Geschichtstheorie und Geschichtsschreibung,
die erst noch herauszuarbeiten ist (Materialien dazu finden sich in den
bislang von der Wertkritik weitgehend ignorierten feministischen his-
torischen Untersuchungen). Aber daraus lässt sich keine Traditionslinie
entwickeln und darauf keine Ahnengalerie der Kritik bauen, sondern es
können nur die Spuren einer untergegangenen partiellen Nicht-Überein-
stimmung sichtbar gemacht werden.
So lassen sich im modernen wie im vormodernen Denken, und vor-
zugsweise wohl in den Seitenzweigen und Dissidenzen, in den abgestor-
benen oder unterdrückten Inhalten durchaus Reflexionsmomente einer
Leidensgeschichte der Fetischverhältnisse finden. Das gilt umso mehr
für die künstlerischen Inhalte, die sich nicht in derselben Weise wie die
philosophischen Reflexionen der Aufklärung mit der Affirmation der Fe-
tischform decken, und die schon immer auch das Leiden an dieser Form
ausgedrückt haben, obwohl sie keineswegs von der männlich-abspal-
tungslogischen Formvergiftung verschont geblieben sind. Nicht umsonst
wollte Adorno ja in der Kunst sogar einen letzten Rückzugsort des mög-
lichen „Nichtidentischen" erkennen, obwohl die Kunst als vom übrigen
gesellschaftlichen Lebensprozess getrennte Sphäre an sich schon in dieser
Getrenntheit form-kontaminiert ist. Auch in dieser Hinsicht gilt es, die
Widersprüche zu erforschen und offen zu legen, die Spannung von Inhalt
und Subjektform kenntlich zu machen, ohne den Inhalt per se als neutral
oder unbeeinflusst und vermeintlich unschuldig zu affirmieren.
Bei den philosophischen und künstlerischen Inhaltsbezügen, insofern
es sich um Denkmäler handelt, kann deren positiver oder negativer Fort-
bestand als relativ unproblematisch erscheinen. Anders verhält es sich
freilich mit jenen Artefakten der Geschichte, die in Gestalt von Kultur-
und Produktionstechniken weiter oder im Kontext einer kritischen Er-
neuerung als wieder entdeckte praktisch angewendet werden und in den
realen Reproduktions- und Lebensprozess eingehen. In dieser Hinsicht
stellt sich die Frage der kritischen Negation oder des Beibehaltens und der
Weiterentwicklung von Inhalten in einem ganz anderen Sinne.
Zum einen hat hier der Bezug auf die Inhalte eine ganz existentiel-
le Bedeutung für die weitere gesellschaftliche Entwicklung, je nachdem,
wie die Entscheidung ausfällt. Kultur- und Produktionstechniken können,

118
weil sie keine bloßen Denkmäler sind, sondern unmittelbar Praxis- und
damit Lebensfragen, nicht als negative bestehen bleiben, sondern in ih-
rer Negativität nur abgeschafft werden, das heißt schlicht aufhören. Sie
können umgekehrt überhaupt nur als positiv oder notwendig befundene
aufgenommen, neu aggregiert und weiterentwickelt werden.
Zum anderen kann es eben deswegen nicht so sein, dass die Artefak-
te der Geschichte in ihrer inhaltlichen Gestalt als Kultur- und Produk-
tionstechniken samt und sonders mit der Fetischform zusammenfallen,
unter deren Herrschaft sie hervorgebracht worden sind. Das Brauen von
Bier und das Keltern von Wein wurde vor Jahrtausenden wahrscheinlich
in Mesopotamien erfunden, aber wir müssen nicht die gesellschaftliche
Bewusstseinsform der alten vorderasiatischen Kulturen haben und nicht
an ihre Götterwelt glauben, um diese Techniken in Grundzügen reprodu-
zieren zu können. Dasselbe gilt selbstverständlich für die Schrift und vie-
les andere. Lesen und schreiben wird man bis ans Ende der Tage. Zahllose
Kultur- und Produktionstechniken, Naturwissen, mathematische Kennt-
nisse usw. wurden durch ganz verschiedene Fetischformen hindurch
überliefert und weiterentwickelt, und das gilt sicher auch für eine vom
Zwang der Subjektform befreite Gesellschaft. So wenig die Inhalte von
der gesellschaftlichen Form unabhängig sind, ebenso wenig sind sie per se
und absolut nur in dieser Form darstellbar.
Gerade in Bezug auf die kapitalistischen Artefakte wird sicherlich ein
„Programm der Abschaffungen" sehr weit greifen müssen, weil die kapi-
talistische Formvergiftung der Dinge inzwischen ungeheuer weit fortge-
schritten ist. Trotzdem kann das eben auch hinsichtlich der kapitalistischen
Artefakte im weitesten Sinne nicht heißen, ein Tabula-rasa-Programm
starten zu wollen. Das Fahrrad und die Taschenlampe müssen ebenso
wenig notwendigerweise zusammen mit der männlich-wertabspaltenden
Subjektform abgeschafft werden wie der Reißverschluss (oder ist Auf-
knöpfen erotischer?). Und warum sollten das Telefon oder das Internet
oder überhaupt die Anwendung der Elektrizität verschwinden? Oder be-
stimmte medizinische Techniken, selbst wenn die Krankenkasse ebenso
wie das Hospital als Formen der Restriktion und Entfremdung aufhören?
Die Abschaffung des Individualverkehrs wiederum muss nicht notwendig
bedeuten, nie und nirgends jemals wieder einen Verbrennungsmotor zu
benutzen.
Sicherlich sind die kapitalistischen Produktivkräfte in einem viel grö-
ßeren Ausmaß aggregiert und vergesellschaftet als alle früheren; alle ein-

119
zelnen Technologien befinden sich in einem weit reichenden Verkettungs-
zusammenhang. Und gemäß der Wertabstraktion, die alle Sinnlichkeit
negiert, ist dieser Zusammenhang gleichzeitig als ein System von Destruk-
tivkräften ausgeprägt. Das kann jedoch nicht heißen, die Aggregierung
von Technologien, Fertigkeiten und Kenntnissen per se und „en bloc" zu
verwerfen. Das wäre eine selber totalitäre Negation nach demselben Prin-
zip einer inhaltlichen Tabula-rasa-Logik und bloß die Umkehrung des na-
iven arbeiterbewegungsmarxistischen Produktivkraft-Fetischismus. Die
Negation von Inhalten und Artefakten kann nicht apriorisch einsetzen,
unabhängig von der Bestimmung dieser Inhalte. Auch die Aggregierun-
gen und Verkettungszusammenhänge müssen im Einzelnen und in ihrer
Spezifik durchforstet, aussortiert, umgruppiert, teils negiert und teils an-
ders zusammengesetzt werden usw.
Die Kritik oder umgekehrt das Aufgreifen der Inhalte, der Artefakte
der Geschichte, kann immer nur selber wieder inhaltlich sein, also je spe-
zifisch, qualitätsabhängig mit bestimmten Gründen, aber nie bloß abs-
trakt-allgemein in Bezug auf die Subjektform (was nur deren negative
Reproduktion wäre). Die Teflonpfanne kann nicht deshalb verworfen
werden, weil sie ein Abfallprodukt der kapitalistischen Raumfahrt-Tech-
nologie, damit des militärisch-industriellen Komplexes und überhaupt
der bürgerlichen Subjektform ist; aber sie muss natürlich abgelehnt wer-
den, wenn sie Krebs hervorrufen kann. Daraus lässt sich jedoch keine
Theorie machen, oder es wäre eben nur die „Theorie der Teflonpfanne",
und somit mangels Verallgemeinerungsfähigkeit gar keine Theorie. Auch
die Aggregierungen industrieller Produktionsprozesse, informationaller
Vernetzungen und Steuerungstechnologien sind nicht per se derart eindi-
mensional oder monolithisch, dass das Urteil unabhängig von der inhalt-
lichen Durchdringung, Aussortierung etc. aufgrund einiger dürrer, apri-
orischer Allgemein-Aussagen über den Zusammenhang von Form und
Inhalt gefällt werden könnte.
Somit lässt sich das strittige Problem zunächst in die Formel fassen:
Tabula rasa ja, nämlich mit der wert-abspaltungslogischen Subjektform
(ebenso wie mit dem bloß abgespaltenen und damit reduzierten, als weib-
lich konnotierten Bewusstseinsmoment); Tabula rasa also mit der das
Dasein vergewaltigenden abstrakten Allgemeinheit oder Realabstraktion,
überhaupt mit der Form eines Fetischverhältnisses. Hingegen Tabula rasa
nein, was die Inhalte angeht, die Artefakte der Geschichte. In dieser Hin-
sicht gibt es keine eindeutige allgemeine Bestimmung, sondern nur einen

120
Prozess der Transformation, des Aussortierens, des Verwerfens und der
Weiterentwicklung, der kritischen Durchdringung ohne absolute Positi-
vierung oder Negativierung.
Weder können also die Inhalte bzw. Artefakte der Geschichte grund-
sätzlich allein deshalb verworfen werden, weil sie überhaupt von einer
fetischistischen Bewusstseinsform und in der Moderne von der Subjekt-
form hervorgebracht worden sind. Noch kann allerdings umgekehrt die
Subjektform auch nur im geringsten damit gerechtfertigt und letztlich
„gerettet" werden, dass sie überhaupt möglicherweise zu übernehmen-
de Inhalte/Artefakte kreiert hat. Das wäre nicht viel intelligenter als das
Argument des fordistischen Fortschrittsbewusstseins, die Nazis könnten
doch so übel nicht gewesen sein, weil sie immerhin die Autobahn gebaut
hätten; selbst wenn bestimmte Artefakte des Kapitalismus - im Unter-
schied zur Autobahn - tatsächlich in eine post-fetischistische Gesellschaft
transformierbar sind.

Der ontologische Bruch: Entfetischisierung


Der Streit über die reproduktiven Inhalte, wie er sich schon jetzt bei einer
virtuellen Erörterung eines Prozesses der Prüfung, des Aussortierens, des
Verwerfens oder Aneignens zeigt, kann sich anhand seiner Gegenstände
gar nicht auf die Ebene einer abstrakten Allgemeinheit begeben. Denn
die Gegenstände der Welt, die Gegenstände von Natur und Gesellschaft
befinden sich an sich selbst in keinem Zustand der Allgemeinheit; dieser
wurde ihnen stets nur durch die gesellschaftliche Fetischform oktroyiert.
Hinsichtlich der Inhalte gibt es nur die Bestimmtheit des Einzelnen und
Besonderen oder das Allgemeine nicht als abstraktes, sondern bloß gewis-
sermaßen als Binnen-Allgemeinheit innerhalb eines besonderen Gegen-
standsbereiches; etwa die relative Allgemeinheit hinsichtlich des Pflan-
zenreiches und des Umgangs mit floralen Lebewesen, eine Ebene, auf der
sich gewisse Gemeinsamkeiten ergeben, ohne jedoch eine absolute oder
abstrakte Allgemeinheit als reale zu konstituieren. Ganz zu schweigen von
einer abstrakten Allgemeinheit noch höherer Ordnung, wie sie allein die
totalitäre Fetischform der Wertvergesellschaftung hervorgebracht hat.
Damit ist auch schon ein Hinweis gegeben, worauf sich die gesell-
schaftliche Auseinandersetzung jenseits der Fetischverhältnisse beziehen
wird: nämlich eben auf die konkrete Bestimmtheit von Inhalten, auf das

121
Abwägen und den Prozess des Herausfindens in dieser Hinsicht, nicht auf
abstrakt-allgemeine Bestimmungen von Gesellschaftlichkeit, die dann
aus dem realen Lebensprozess verschwunden sein werden.
Sicherlich ist der Bruch mit der Form von Fetischverhältnissen über-
haupt so etwas wie ein ontologischer Bruch. In diesem Sinne könnte man
mit Walter Benjamin davon sprechen, dass es darum geht, „das Kontinuum
der Geschichte aufzusprengen" (Benjamin, a.a.O.), auch wenn der Benja-
minsche religiöse Terminus des „Messianischen" dabei mit Vorsicht zu ge-
nießen ist. Es geht jedenfalls gerade nicht darum, einen „neuen Menschen"
zu kreieren, gewissermaßen aus der Retorte einer Art Meta-Modernisie-
rung. Die Ideologie vom „neuen Menschen" ist ein positives Konstrukt,
eine schlechte Utopie, wie der Mensch eigentlich sein solle, und zwar mit
Kriterien, die sich leicht dechiffrieren lassen als die Zwangsmale der Wert-
Abspaltungsform und ihres totalitären Anspruchs. Das Aufsprengen des
Kontinuums von Fetischverhältnissen hingegen ist an sich rein negativ; es
geht allein darum, etwas loszuwerden, nämlich die Zwangsform einer jede
Inhaltlichkeit vergewaltigenden abstrakten Form-Allgemeinheit.
Diese Negativität der Befreiung ist eine Befreiung zum unbefangenen
Umgang mit der Eigenqualität der Inhalte aller Art. Damit entsteht erst
durch die Negation hindurch im positiven Umschlag ein Kriterium, das
hinsichtlich dieser Inhalte gerade keinen totalitären Anspruch vermittelt
und in diesem Sinne keine chinesische Mauer zwischen Vergangenheit
und Zukunft errichtet. Zu diesen Inhalten gehören auch die Menschen
selber, in ihrem Gewordensein wie in ihrem Werden, in ihrer Verschieden-
heit. Dazu gehört ferner die Einsicht, dass Krankheit und Leid zwar gelin-
dert, aber nicht gänzlich abgeschafft werden können; und dass der Tod
zwar hinausgeschoben, aber nicht schlechthin überwunden werden kann.
Es geht um die Abschaffung der unnötigen Leiden und der gesellschaft-
lich selbst erzeugten, um den angemessenen Umgang mit den natürlichen
wie den historisch-gesellschaftlichen Inhalten; nicht um die abstrakte, de-
struktive Positivität einer schlechthin neuen Welt, wie sie allein aus der
Anmaßung des Verwertungsimperativs und seiner leeren, selbstbezügli-
chen Form entspringt.
Der ontologische Bruch, das „Aufsprengen des Kontinuums" der bis-
herigen Geschichte kreiert keinen Nietzscheanischen „Übermenschen", so
kalt, herren-unmenschlich und letztlich verrückt, wie er nur die Apothe-
ose des wert-abspaltungslogischen Subjekts darstellen könnte. Der Bruch
in seiner Negativität ist viel bescheidener, gerade deswegen aber auch

122
durchschlagender: Er beinhaltet nichts anderes als die Entfetischisierung
und damit die Entformalisierung des gesellschaftlichen Bewusstseins. An
die Stelle der alten tritt keine neue Form der abstrakten Allgemeinheit, an
die Stelle des alten Prinzips kein neues.
Das ent-prinzipialisierte gesellschaftliche Bewusstsein ist nichts anderes
als das Bewusstsein, das Wissen, die Empfindungsfähigkeit des bisherigen
homo sapiens, minus den eisernen Ring eines formierten Zwangsverhält-
nisses um den Kopf. Die Institutionen einer entfetischisierten Gesellschaft,
„Räte", exekutieren kein Formprinzip mehr (Selbstverwaltung auf der
Basis von Warenproduktion wäre ein Widerspruch in sich), sondern sie
verhandeln ohne formale Vorbedingung über die qualitative Verschieden-
heit der Gegenstände ihrer Reproduktion. Die Instanz der organisierten
Gesellschaftlichkeit der Individuen und damit die Synthesis der Repro-
duktion erscheint als lebendiges Bewusstsein, offen und unabgeschlossen,
in freiem Bezug auf die Gegenstände; nicht mehr als geschlossene, tote
Form, die auf dem Bewusstsein liegt wie ein Alp. Und dieser Alp ist nach
dem Durchgang durch die Modernisierungsgeschichte in seinen Verfalls-
formen an deren Ende kenntlich und gewissermaßen „ r e i f geworden für
seine Abschaffung. Insofern bedeutet Entfetischisierung auch Entrituali-
sierung der Gesellschaft, denn jedes fetischisierte Zwangsverhältnis geht
mit starren Ritualen auf allen Ebenen einher, in denen sich die Selbst-
entfremdung als groteskes Verhalten äußert, ob in religiösen Unterwer-
fungsgesten oder im versachlichten Ritual an der Supermarktkasse, im
Einwohnermeldeamt oder im Personalbüro.

Das ontologische Bedürfnis

Das theoretische Problem beim jetzigen Stand der Reflexion scheint nun
gerade darin zu bestehen, dass die absolute Negation der Form und der
freie, nicht-apriorische Bezug auf die Inhalte (auch die aus der Vergan-
genheit überkommenen) nicht auseinander gehalten werden. Die Sub-
jektform ist eben nichts äußerliches und sie hat den Inhaltsbezug völlig
durchtränkt. Die mehr oder weniger klare Apologetik und Affirmation
dieser „falschen" Form des Selbst geht einher mit einem ontologischen
Bedürfnis, das in irgendeiner Weise auf die falsche Kontinuität des Be-
wusstseins setzen möchte, die aber nur eine Kontinuität der Form sein
könnte, mit der gerade gebrochen werden muss.

123
Noch innerhalb der Kritik zeigt sich dieses ontologische Bedürfnis als
Drang zur Konstruktion einer positiven Entwicklungslogik, einer Ahnen-
galerie, einer generativen Abfolge, in die man sich irgendwie einordnen
kann. Dieses Bedürfnis hat sich das Aufklärungsdenken zunutze gemacht,
um seine wert-abspaltungslogische Affirmation abzusichern. Deshalb
auch die große Scheu, das Aufklärungsdenken zu kippen. Man möchte
einen historischen Boden unter den Füßen haben. Aber der ontologische
Bruch mit der „Geschichte von Fetischverhältnissen" ist in diesem Sinne
bodenlos.
Die kulturellen Inhalte als Artefakte der Geschichte, auch als positive,
können in ihrer spezifischen Bestimmtheit keinen solchen Boden abge-
ben. In ihrer Besonderheit bleiben sie, abgetrennt und relativ unabhän-
gig gemacht von jenem gesellschaftlichen Bewusstsein, das sie erzeugt hat
oder das sie aufgreift (vom Ackerbau bis zur lyrischen Form des Sonetts),
nichts als tote Gegenstände oder zusammenhanglose Techniken und Re-
zepte. Erst das Bewusstsein, das nur ein gesellschaftliches sein kann, verle-
bendigt die Artefakte und stellt den historisch-gesellschaftlichen Zusam-
menhang her. Auf dieser Bewusstseinsebene aber muss der ontologische
Bruch stattfinden, der sich primär nicht auf die Artefakte, sondern auf
die Bewusstseinsform selbst bezieht. Umgekehrt kann eben deshalb dieser
Bruch nicht aus einem positiven Bezug auf bestimmte Artefakte der Ge-
schichte erfolgen, das ist gar nicht sein Feld. Eine von Fetischverhältnissen
befreite Gesellschaft kann und muss Artefakte der Geschichte in verschie-
denster Hinsicht aufgreifen, aber darin besteht nicht der Bruch.
Deshalb scheint es mir ein Missverständnis zu sein, wenn Anselm Jap-
pe mit Blick auf bestimmte Artefakte der Geschichte wie „Verbesserun-
gen in der Landwirtschaft oder der Seefahrt oder dem Transportwesen..."
und etwa „kulturelle Fortschritte, wie die Verfeinerung des Rhythmusge-
fühls in der Entwicklung der europäischen Lyrik ab 1100" (Jappe, a.a.O.)
oder an anderer Stelle die „traditionelle Architektur" usw. behauptet: „Der
nicht wertförmige Mensch liegt also nicht nur in der Zukunft, sondern ist,
wenngleich in der Form von disjecta membra, bereits vorhanden" (a.a.O.).
Aber diese „disjecta membra" sind für sich genommen leblos, daraus lässt
sich kein post-wertförmiger Mensch als Homunculus von Artefakten, Po-
tenzen und Errungenschaften zusammensetzen.
Dass auch aus den vormodernen Agrargesellschaften viele einzelne
Momente für ein „gutes Leben", über die der Kapitalismus hinweggewalzt
ist, neu aufgegriffen werden können, von einem konkret bezogenen statt

124
abstrakt-verselbständigten Zeitbegriff bis zu einer menschlichen Maßen
und Lebensbedürfnissen entsprechenden statt wert-funktionalistisch ab-
straktifizierten Architektur, will ich gerne zugestehen. Aber darin besteht
nicht das Problem. Denn diese „disjecta membra" können ebenso wenig
einen Leitfaden für den ontologischen Bruch mit der Fetischform bilden
wie einen Boden für eine andere Weise der Vergesellschaftung abgeben.
Weder die Positivierung noch die Negation bestimmter Artefakte und In-
halte reichen an die eigentliche Problemstellung heran. Bewegungen, die
immer nur gegen die Atomkraft hier, den Individualverkehr da und die
Luftverschmutzung dort anrennen, ohne die Subjekt- und Reprodukti-
onsform als solche ins Visier zu nehmen, greifen ebenso zu kurz wie der
umgekehrte Impuls, positive einzelne Errungenschaften eines möglichen
guten Lebens wie agrarische Geruhsamkeit hier oder ästhetische Errun-
genschaften dort zu beschwören.
Das Problem des Bruchs mit der Fetisch- und Subjektform wird nur
verschoben, wenn Jappe dasselbe ontologische Bedürfnis auf die vormo-
derne Agrargesellschaft statt auf die Aufklärung verlegt und damit die
Aufklärungslogik bloß auf den Kopf stellt: Der ontologische Bruch soll
dann dadurch vermieden werden, dass der positive ontologische Boden
geradezu agrarromantisch in der Vorvergangenheit verortet wird. Jappe
formuliert also seine Antikritik an der radikalen Aufklärungskritik im
Unterschied zu den Apologeten der Moderne weniger um der Aufklärung
willen, sondern eher, um die vormoderne Agrargesellschaff als weitgehend
positiven Bezugsrahmen und geradezu als Maßstab der Aufklärungskritik
zu retten; ein Impetus, der anscheinend bei den post-situationistischen
Gruppen in Frankreich vorherrschend ist. Der Vorwurf, Tabula rasa ma-
chen zu wollen, richtet sich unter diesem Gesichtspunkt natürlich in ers-
ter Linie dagegen, dass in die radikale Kritik von Aufklärung und Sub-
jektform die ebenso radikale Kritik aller vormodernen Fetischformen mit
eingeschlossen wird, was aber unabdingbar ist.
Es wird hier ein komplementäres Defizit der aufklärungs-apologeti-
schen wie der agrarromantischen Antikritik an der radikalen Aufklärungs-
kritik deutlich. Für das aufklärungs- und modernisierungsideologische
Denken ist der Bruch mit der Agrargesellschaff der positive Aufgang einer
Befreiungsbewegung, die zwar im weiteren ihrerseits Strukturbrüche in
sich enthalten könne, aber als solche auf dem einmal gewonnenen onto-
logischen Boden weiterzuführen sei. Soweit dennoch zugestanden wird,
dass ein Bruch mit Aufklärung und Subjektform nötig ist, bleibt dieser

125
inkonsequent und bloß nachgeschobene Beteuerung. Jappe dreht diese
Logik einfach um und sieht in jenem aufklärerisch-modernen Bruch mit
der Agrargesellschaff selber den Sündenfall, der nun durch den Bruch mit
der Moderne bloß rückgängig zu machen sei, damit der eigentliche onto-
logische Boden des „Fortschritts" in den vormodernen Kulturen wieder
gewonnen werden könne. Das Zugeständnis, „irgendwie" müsse natür-
lich auch mit den vormodernen Fetischformen gebrochen werden, bleibt
ebenso im Status einer nachgeschobenen Beteuerung.
Damit ist aber gar nichts gewonnen. Beide Optionen gehen am eigent-
lichen Problem des Bruchs vorbei und verbleiben innerhalb der negativen
historischen Kontinuität. Das kommt daher, dass in beiden Fällen die not-
wendige Tabula-rasa-Logik des Bruchs mit der Fetisch- und Subjektform
verdunkelt und vermengt wird mit der Frage des viel weniger eindeutigen
Bezugs auf die Artefakte der Geschichte.
Die unüberwundene Modernisierungsideologie ist noch in ihren re-
flektiertesten und sogar partiell aufklärungskritischen Versionen (etwa
adornitischer Provenienz) daran zu erkennen, dass sie sich nicht bloß po-
sitiv (inwieweit allzu positiv, muss erst inhaltlich herausgearbeitet werden)
auf bestimmte Artefakte, „Potenzen" und Errungenschaften der Moderne
bezieht, sondern in Verbindung damit die Negativität der männlich-ab-
spaltungslogischen Subjektform vernebelt, um die radikale Kritik dieser
Form zu bremsen und zu unterlaufen.
Die agrarromantische Ideologie ihrerseits wird umgekehrt daran kennt-
lich, dass sie sich nicht allein positiv auf bestimmte Artefakte, „Potenzen"
und Errungschaffen der kapitalistisch platt gemachten Vormoderne be-
zieht (inwieweit allzu blauäugig, ist ebenfalls erst inhaltlich zu klären),
sondern dabei in ganz ähnlicher Weise die Negativität der vormodernen
Fetischformen im Unbestimmten lässt, um diesen doch noch irgendetwas
abgewinnen zu können, sie womöglich partiell zu revitalisieren und sie
jedenfalls ebenso der radikalen Kritik zu entziehen.
Ob so oder so, die scheinbar evidente Abwehr einer in ihrem Bezug
nicht hinreichend klar bestimmten Tabula-rasa-Logik kann auf diese Wei-
se indirekt zur Apologie der Form werden. Und da es ein Zurück zu den
vormodernen Formen sowieso nicht geben kann, droht das form-apolo-
getische Moment in solchen Argumentationen letztlich nur das wert-ab-
spaltungslogische Subjekt (auf dem Feld der Theorie: das objektivistische
männliche Philosophenkönigs-Subjekt) unfreiwillig zu flankieren.
Dass es bei der Antikritik gegen die Tabula-rasa-Logik radikaler Auf-

126
klärungskritik in Wirklichkeit nicht um diese oder jene (modernen oder
vormodernen) Artefakte, kulturellen Errungenschaften usw. geht, son-
dern eben um die gesellschaftliche Bewusstseinsform, wird ganz deutlich,
wenn Jappe als positives Kriterium nicht nur einzelne Potenzen, Erkennt-
nisse usw., sondern plötzlich ein „Wesen" der (vormodernen) Geschichte
benennt: „Es gibt keine Natur, die als Maßstab anzurufen wäre, an der
die Falschheit der Warengesellschaft sich als solche erweist, und erst recht
keine Natur, die als normative Setzung dienen kann im Sinne eines Aus-
gangspunkts, von dem sich zu entfernen Sünde sei. Aber es gibt eine ,Na-
tur' im Rahmen der Menschheitsentwicklung. So wie von einer ,relativen
Ontologie' (obwohl das eigentlich ein Oxymoron ist) im Rahmen der
geschichtlichen Fetischverhältnisse gesprochen werden kann - also Um-
stände, die nicht zu ,dem Menschen' als solchen gehören, die aber mehr
oder weniger in allen Formen der bisherigen Vorgeschichte' aufgefunden
werden können - so kann auch von einer binnengeschichtlichen ,Natur'
gesprochen werden. Jenes ,sozial-sinnliche' Wesen, das sich heute gegen
die Zumutungen des Kapitalismus wehrt, hat sich im Wesentlichen von
der neolithischen Revolution bis zur Ankunft der industriellen Revolu-
tion mit erstaunlicher Konstanz und Einheitlichkeit erhalten. In diesem
Rahmen kann es als ,natürlich' betrachtet werden..." (Jappe, a.a.O.).
Hier ist auf einmal nicht mehr bloß die Rede von bestimmten „gu-
ten" Inhalten und Artefakten als „disjecta membra", sondern von der
Kontinuität eines „Wesens", das nur als die Durchgängigkeit einer vor-
modern-agrarischen Bewusstseinsform gefasst werden kann, die aber
gerade ebenso wie die moderne als fetischistische zu negieren ist. Wenn
die „Falschheit" der Warengesellschaft nicht an den „disjecta membra"
vormoderner Artefakte zu messen ist, so ist sie es umso weniger an der
Bewusstseinsform eines vormodernen „gesellschaftlichen Naturwesens".
Schon die Wortwahl verweist auf jene „zweite Natur" des Formzwangs,
die unmöglich in emanzipatorischer Absicht positiviert und als Maßstab
genommen werden kann. Die Formebene als solche bildet zwar ein ge-
meinsames Merkmal der Konstitution, das nicht nur die verschiedenen
vormodernen Formationen, sondern mit diesen zusammen auch die mo-
derne unter eine gemeinsame Bestimmung fasst; aber eine einzig und al-
lein negative.
Wenn Jappe sich dabei auf das Moment der Nicht-Übereinstimmung
der Individuen mit den Fetischverhältnissen beruft, vor allem den mo-
dernen, dann scheint mir auch darin ein Missverständnis zu liegen. Die-

127
se Nicht-Übereinstimmung existiert zwar, aber allein in Bezug auf die
jeweilige Fetischform und deren Leidensverhältnisse. Sie zeigt, dass die
Individuen in den Formzuständen nicht aufgehen. Aber dieses Nicht-Auf-
gehen kann keineswegs als selbständige positive Bestimmung von ihrer
Vermittlung mit der Negativität der Fetischverhältnisse abgetrennt und
zu einem „ontologischen Wesen" der Vormoderne gemacht werden, auf
das zu bauen wäre. Es gibt zwar die Nicht-Übereinstimmung, aber es gibt
kein solches Wesen.
Das Leiden ist kein Wesen. Erlebtes Leiden kann Ausgangspunkt und
negativer Maßstab der Kritik werden, aber es ist kein eigenes Sein, das
unabhängig von dem, woran gelitten wird, als positiver Wesensgrund an-
gerufen werden könnte. Dann hätten wir es gerade mit dem ideologischen
Konstrukt einer von den aufklärerisch-modernen Verirrungen bloß frei
zu legenden „menschlichen Natur" zu tun, selbst wenn dieses Substrat
laut Jappe seinerseits wieder ein historisches Produkt in einem allerdings
nahezu ahistorischen Kontinuum seit dem Neolithikum sein soll. Damit
sind wir natürlich wieder bei der bloßen Umkehrung der Aufklärungsi-
deologie selbst gelandet, die ja ebenfalls die angeblich immer schon ka-
pitalistische „menschliche Natur" unter den vormodernen Verirrungen
freilegen wollte.
Ein weiteres Missverständnis in diesem Zusammenhang ist es, wenn
Jappe das Nicht-Aufgehen der Individuen in der Form und das Leiden
daran mit dem „abgespaltenen Bereich" und diesen überdies noch mit
jenem vormodernen „Wesen" identifiziert. Die Abspaltung ist aber zum
einen erst in der Moderne zusammen mit der Subjektform entstanden,
auch wenn ähnlich wie bei dieser a posteriori bestimmte Momente vor-
moderner Gesellschaffen (patriarchalische Geschlechterverhältnisse in
anderen Konstellationen) als mit eingegangene erkannt werden können.
Zum andern bildet die Abspaltung aus demselben Grund nur die Kehrsei-
te der Subjektform; beides gehört zusammen als Meta-Bestimmung der
kapitalistischen Konstitution. Deshalb ist das Abgespaltene in seiner Re-
duziertheit ebenso negativ wie die Subjektform selbst und kann erst recht
nicht als positiver Grund und Maßstab dienen. Die Großhölle des kapi-
talistischen Verwertungsprozesses ist nicht vom Boden der abgespaltenen
familialen Kleinhölle aus zu kritisieren, und noch viel weniger vom ima-
ginären Standpunkt eines agrarischen Blutsbandenwesens. Nicht zuletzt
das Mutterwesen wäre als ontologischer Grund der Befreiung ein ebenso
grauenhafter Flop wie das Arbeitswesen. Zusammen mit der „Männlich-

128
keit" ist auch die „Weiblichkeit" abzuschaffen. Gerade in dieser Hinsicht
gilt umso mehr: Ikonoklasmus now!
All das bedeutet natürlich letzten Endes, dass radikale Kritik keinen
apriorischen positiven Maßstab haben kann, dass sie immer ungesichert
ist, sich nie „von selbst" aus einem ontologischen Grund zwingend ergibt
oder überhaupt „abgeleitet" werden könnte. Das ontologische Bedürfnis
ist unerfüllbar. Nur durch die Negation hindurch, als mögliche (aber nicht
notwendige, nicht garantierte) Konsequenz des Leidens, kann ein quali-
tativ neuer positiver Zustand erreicht werden, im positiven Umschlag der
Negation selber (die sich eben nicht auf „alles", sondern präzise auf die
Subjektform/Abspaltungsform bezieht); nicht aber dadurch, dass die Ne-
gation ihrerseits schon auf einen positiven Zustand, einen ontologischen
Grund, eine Wesensbestimmung aufbauen könnte.

Hannibal Lecter oder die „Potenz" der Distanzfähigkeit

Wie es scheint, ist die Umkehrung der Aufklärungslogik mit agrarroman-


tischen Zügen eher eine französische Spezialität, während sonst die Form-
Apologetik weniger diesen Umweg wählen als vielmehr direkt irgendein
positives Moment in der modernen Subjektform selber entdecken wird
und erhalten möchte. In Deutschland ist die agrarromantische Reaktion
in der Linken viel stärker diskreditiert als irgendwo sonst, weil sie als zen-
trales Moment der Nazi-Ideologie gilt; und damit möchten nicht einmal
die Neonazis selber mehr etwas zu tun haben. Jegliche Natur- und Agra-
rideologie kann so per se als „faschistisch" erscheinen, und diese vernich-
tende Abqualifizierung wurde seit den 80er Jahren in der BRD nicht nur
zum Hauptargument bei der Abgrenzung der radikalen Linken von den
Grünen, sondern auch (neben dem Antisemitismusvorwurf) zur denun-
ziatorischen Allzweckwaffe innerhalb der Linken selbst.
Diese krude „Ideologiekritik" geht zum größten Teil an der Sache vor-
bei und ist längst zum identitätspolitischen Autismus einer sterilen Szene
verkommen; insoweit ist Jappe völlig recht zu geben. Die Nazis waren viel
mehr fordistische Modernisierungsideologen und Einpeitscher der abs-
trakten Individualität als Agrarromantiker und Naturschützer. Das will
gerade die selber modernisierungsideologische Linke in Deutschland
nicht wahrhaben, für die der Begriff der Moderne zum Frömmigkeits-
Vokabular eines immer schon positiven Aufklärungsbezugs gehört. Blut-

129
und Boden-Ideologie, Rassenkunde und Antisemitismus überschneiden
sich zwar immer wieder mit Agrarromantik und Naturideologie, sind
aber nicht damit identisch. Tatsächlich entstammt die Nazi-Terminologie
hauptsächlich dem spezifischen Kulturalismus der deutschen Romantik
und der entsprechenden deutschen Folge-Ideologien und ist auf einer
ganz anderen Bezugs- und Abstraktionsebene angesiedelt als die ökolo-
gische Kritik etwa von Greenpeace, die zwar hinsichtlich der gesellschaft-
lichen Form unreflektiert bleibt und in ihrer falschen Unmittelbarkeit
viel zu kurz greift, aber eben nicht als NS-kompatibel denunziert werden
kann.
Jene bürgerlich-aufklärungsfrommen, modernisierungsideologischen
und anti-agrarromantischen Teile der deutschen radikalen Linken, die
mit einer derart billigen Denunziation der grün-ökologischen Ideen da-
vonkommen wollen, verfallen selber der falschen Unmittelbarkeit und
den falschen Alternativen der Wertvergesellschaftung, wenn sie im blo-
ßen Umkehrschluss die kapitalistische Zerstörung der Naturgrundlagen
fast schon abfeiern als geradezu „antifaschistische Tat". Sie beweisen da-
mit nur, dass sie die emanzipatorische Kritik der abstrakten Arbeit min-
destens genauso verfehlen wie die Agrarromantiker, grünen Demokraten
oder Greenpeace-Pragmatiker. Keineswegs zufällig ist ein Großteil die-
ser Modernisierungs-Linken unter dem Eindruck der Barbarisierung in
der Weltkrise der dritten industriellen Revolution zum demokratischen
westlichen Gesamtimperialismus übergelaufen und einer bellizistischen
Hassideologie gegen die zerfallende Dritte Welt erlegen, wobei primitivste
rassistische Ausfälle zum guten aufklärerischen Ton gehören.
Es ist hier nicht der Ort, den Verirrungen und Gemeinheiten dieser
prowestlichen Linken, die schon keine mehr ist, im Einzelnen nachzuge-
hen. Wesentlich ist, dass die damit verbundene falsche, selber verkürzte
Kritik von Naturideologie und Agrarromantik mit einer geradezu fana-
tischen Apologie der modernen kapitalistischen Subjektform (und damit
der abstrakten, zerstörerischen Allgemeinheit des Weltbezugs) einhergeht.
Dieses bislang eher verborgene zentrale Moment aller linken Aufklä-
rungsfrömmigkeit ist in den heftigen Auseinandersetzungen nach dem 11.
September ganz offen zutage getreten. Und genau hier ist auch der eigent-
liche Casus Belli zu suchen, der jede Vermittlung unmöglich macht und
die Frontlinie inkompatibler Positionen markiert. Jede, auch nur die ge-
ringste Apologie der modernen wert-abspaltungslogischen Subjektform
muss ebenso grundsätzlich zurückgewiesen werden wie die reaktionäre

130
Apologie vormoderner Fetischformen oder die agrarromantische Kon-
struktion eines positiven vormodernen „Wesens" der zweiten Natur. Die
„Form Subjekt" bildet ebenso wenig einen positiven ontologischen Grund
der Emanzipation wie die Bewusstseinsformen der Agrargesellschaften.
In diesem Punkt ist die Tabula-rasa-Linie strikt durchzuhalten.
Die Unklarheit, die in dieser Hinsicht bis in die Debatten der Wert-
Abspaltungskritik hineinreicht, ist eng mit dem Begriff der „Potenzen"
verbunden. Soweit dieser Begriff unter jene Bestimmung fällt, die ich als
Artefakte der Geschichte im weitesten Sinne zu fassen versucht habe, kann
es sich nur um solche Potenzen handeln, die als Inhalte von der Fetisch-
form in der einen oder anderen Weise abgelöst und in einen veränderten
gesellschaftlichen Kontext gebracht werden können. Die Fähigkeiten der
symbolischen Darstellung von Tönen (Notenschrift) oder der Verhüttung
von Eisen sind solche Potenzen ebenso wie diejenigen, die Nieren-Trans-
plantationen oder die Produktion von Mikrochips ermöglichen usw. Der-
artige Potenzen dürfen jedoch nicht verwechselt werden mit der Struktur
der Fetischform selbst als negativer, destruktiver Denk- und Handlungs-
form. Durch diese Form hindurch können trotz ihrer Blindheit und De-
struktivität nicht oder nicht völlig darin aufgehende, in andere Bezüge
transformierbare Inhalte entwickelt werden; aber die Form selbst bleibt
als solche rein negativ, ihre Modi und Strukturen stellen keinerlei trans-
formierbare „Potenz" dar.
Diese begriffliche Abgrenzung ist bis jetzt offenbar äußerst unscharf
geblieben, sodass besonders der Begriff der „Potenzen", der im Unter-
schied zu handgreiflich-gegenständlichen Artefakten erst einmal nicht
getrennt von der Subjektform wahrgenommen wird, ein apologetisches
Moment hinsichtlich dieser Form zu transportieren scheint. So wird etwa
die besondere oder gesteigerte Distanzfähigkeit des modernen Menschen
als eine solche zu rettende Potenz der Subjektform geltend gemacht, ex-
plizit oder implizit angelehnt an das Paradigma vom angeblichen „Zivili-
sationsprozess" (Norbert Elias).
Gegen dieses Argument sind prinzipiell dieselben Gründe ins Feld zu
führen wie gegen das Argument von der „Potenz" der modernen abstrak-
ten Individualität. Erstens ist die Distanzfähigkeit als solche ebenso we-
nig wie die Individualität als solche eine spezifische Errungenschaft der
Moderne. Wie mit der Konstitution einer „zweiten Natur" überhaupt ein
Verhältnis des einzelnen Menschen zu einer gesellschaftlichen Form und
damit die Existenz von Individualität gesetzt ist, so auch mit der Mensch-

131
werdung überhaupt ein Distanzverhältnis zur Natur und ein Distanzver-
hältnis der Gesellschaftsmitglieder untereinander. Ohne Distanzfähigkeit
keine Kultur, noch nicht einmal eine steinzeitliche. Die Annahme einer
schlechthinnigen „Distanzlosigkeit" aller vormodernen Gesellschaft ist
ebenso wie die komplementäre Annahme ihrer schlechthinnigen „Indi-
vidualitätslosigkeit" pure bürgerlich-aufklärerische Ideologie, die alle
Menschheit vor dem 18. Jahrhundert in der unterschiedslosen Dämme-
rung der „Naturverhaftetheit" vegetieren sieht, nur um die spezifische
Barbarei und Borniertheit der modernen Subjektform irgendwie als
„Fortschritt" rechtfertigen zu können.
Wie die Individualität steht allerdings auch die Distanzfähigkeit in
ausnahmslos allen bisherigen Fetischverhältnissen unter dem Bann einer
zwanghaften gesellschaftlichen Form. Dieser Bann ist in der modernen
Subjektform nicht geringer geworden, sondern hat sich vielmehr uner-
träglich gesteigert. Es geht also gerade darum, die Individualität wie die
Distanzfähigkeit von der Subjektform und damit von einer bannenden
Fetischform überhaupt zu befreien. Das ist so ziemlich das Gegenteil der
Option, ausgerechnet der Subjekt-Fetischform selbst eine zu „rettende"
spezifische Distanzfähigkeit als positive Errungenschaft zusprechen zu
wollen.
Tatsächlich „steigert" sich die Distanzfähigkeit in der wert-abspal-
tungslogischen modernen Subjektform nur in einem rein negativen
Sinne, nämlich zu jenem abstrakten Subjekt-Objekt-Verhältnis, das den
Todestrieb des Wertsubjekts exekutiert. Das lässt sich an populären zeitge-
nössischen Sinnbildern des „Bösen" zeigen. Die schlimmsten und grauen-
haftesten Charakteristika des Wert-Abspaltungssubjekts spiegeln sich seit
dem Aufkommen der kapitalistischen Kulturindustrie im 20. Jahrhundert
oft ungeschminkt und unfreiwillig in den popkulturellen Imaginationen.
Besonders die immer wieder in neuen Variationen kreierten Monster und
übermenschlichen Großverbrecher werfen ein Licht auf das vermeintlich
„gute" bürgerliche Subjekt selbst, und zwar gerade hinsichtlich seiner an-
geblichen „Potenzen".
Was die famose „Potenz" der spezifischen modern-bürgerlichen Dis-
tanzfähigkeit angeht, so wird sie zum Beispiel neuerdings auf ebenso ein-
drucksvolle wie unappetitliche Weise von der kannibalischen Figur des
Hannibal Lecter kulturindustriell dargestellt. In einer treffenden Rezen-
sion der Neuverfilmung dieses Stoffs heißt es dazu: „Das Beunruhigende
an der Figur des mordenden Psychiaters liegt nun aber gerade nicht in

132
einem kompromisslos boshaften Charakter, sondern vielmehr in ihrer
Ambivalenz, den beiden Seelen, die auf unheimlich harmonische Weise
in derselben Brust zusammenspielen und die in den beiden Teilen des
Namens Hannibal Lecter ihren Ausdruck finden: die hannibalisch-ani-
malische, rohe, triebhafte, zerstörerische Seite, die wie ein siamesischer
Zwilling immer von einer sehr kantianisch anmutenden Ratio (!) begleitet
wird - einer zähmenden, sich über alles Sinnlich-Triebhafte erhebenden
Vernunft, die das Wilde neben sich kühl und emotionslos analysiert. Lek-
toriert. Die bissigen Morde des Kannibalen Hannibal können so gerade
nicht als Schandtaten eines unzurechnungsfähigen Psychopathen klassi-
fiziert werden, sondern erscheinen dem erschauernden Betrachter viel-
mehr als bewusste, vollkommen kontrollierte Handlungen, die zu jedem
Zeitpunkt der genauen lecture des Intellektuellen Lecter unterstehen..."
(Alexandra Stäheli, ,Red Dragon oder Hannibal zum Hors-d'oeuvre, in:
Neue Zürcher Zeitung, 31.10.2002).
Besser könnten die Logik und das Weltverhältnis des Wert-Abspal-
tungssubjekts nicht dargestellt werden. So „liebt" man heute, so baut man
Häuser, so reist und speist man, so bezieht man sich auf die Geschichte.
Die als „triebhaft" beschriebene „kannibalische" Seite bildet allerdings
nicht etwa den Naturgrund, der von der inhaltslosen Form „rational lekto-
riert" wird, sondern sie ist das Sinnlich-Triebhafte im Zustand eben dieser
„Lektorierung"; und der ist ziemlich grauenhaft. Die leere, selbstgenügsa-
me Form von Wertabstraktion und Abspaltungslogik ist und bleibt jedem
sinnlich-sozialen Inhalt, auch dem intimsten Gefühl und der Sexualität
gegenüber absolut transzendent.
Die „Distanzfähigkeit" wird hier zum unüberbrückbaren Abgrund. Es
ist einerseits jene Distanz, die Prokrustes seinen Mitmenschen gegenüber
einnimmt, und es ist andererseits die Distanz zur gesamten Welt und allen
Dingen, an der Tantalus leidet. In letzter Instanz erweist sich das männ-
lich-abspaltungslogische Wertsubjekt als vollkommen beziehungsunfähig.
Die Absolutheit der Distanz schlägt allerdings in eine ebenso absolute Dis-
tanzlosigkeit um, in eine autistisch bedingte Aufdringlichkeit, die den Ge-
genstand der unmöglich gewordenen Zuneigung schließlich buchstäblich
in der Pfanne landen lässt. Die Unmöglichkeit, den Gegenstand oder die
Person als andere mit eigener Qualität gelten zu lassen, macht die unmit-
telbare Einverleibung zur Ultima Ratio. Die Entsorgung des immer schon
gescheiterten Verhältnisses findet dann auf dem natürlichsten Wege statt.
Darin besteht die eigentliche Dialektik des Wertsubjekts. Und soweit das

133
eigene Selbst ein sinnlich-triebhaftes ist, kann es ebenso nur auf autokan-
nibalistische Weise bewältigt werden. Der kapitalistische Todestrieb lässt
sich auch als Prozess eines fortschreitenden Autokannibalismus beschrei-
ben.
Diese Logik kann durchaus mit kultureller bürgerlicher Feinsinnigkeit
einhergehen. Gleich zu Beginn von „Red Dragon" finden wir Hannibal
Lecter im klassischen Konzert, und mit geschulter Kultiviertheit hört er
den falschen Ton heraus, der einem allzu mittelmäßigen Streicher ent-
flieht. Die Missbilligung des Kenners lässt diesen alsbald das Unangeneh-
me des Lapsus mit dem Nützlichen des leiblichen Wohls verbinden. Denn
jener unglückselige Musikus ist nur allzu wohlgenährt. Die hannibalische
Kennerschaft erweist sich so als eine doppelte. Ließe sich eine bessere Me-
tapher finden für das moderne Verhältnis von Geist und Geld, für alle bil-
dungsbürgerliche Attitude, alle aufgeklärte Feierabendästhetik und alles
kapitalistische Mäzenatentum?
Man sollte meinen, dass Hannibal Lecter als Imago des Wertsubjekts
ein Symbol des Äußersten darstellt, das von der Wirklichkeit nicht ein-
geholt werden kann. Dem ist jedoch keineswegs so; die Hannibal Lecters
gibt es inzwischen wirklich und leibhaftig. Im Dezember 2002 wurde die
deutsche Öffentlichkeit durch den Fall des „Kannibalen von Rotenburg"
aufgeschreckt. Die Einzelheiten sind im Prinzip nicht unappetitlicher als
die sonstige kapitalistische Realität: „Es gab Tage, da kümmerte sich der
höfliche Armin M. um den Rottweiler der Nachbarn und um ihr Pony.
Es gab Tage, da kam er zum Kaffee rüber, da trank er sein Bier in der
Kneipe, da kellnerte er beim Familienfest eines Kollegen. Und es gab den
Tag, an dem er einen Menschen schlachtete und dessen Fleisch aß. Armin
M., 41, sagt heute der Polizeipsychologe, sei psychisch gesund (!)... Was
sich im Frühjahr vergangenen Jahres im Keller eines ... Fachwerkhau-
ses in Rotenburg an der Fulda abspielte, macht hartgesottene Ermittler
fassungslos. Und es zwingt den Blick auf die dunkelsten Hinterhöfe des
Internet, in denen zahllose, scheinbar völlig normale Mitbürger ihre Per-
versionen in immer krasseren Formen austauschen. Bis es ernst wird. Bis
schließlich die allerletzte Grenze überschritten ist... Am 9. März 2001 war
der Chip-Spezialist Bernd Jürgen B., 43, dazu bereit. B. hatte die letzten
Dinge geregelt, sein Auto verkauft, ein Testament aufgesetzt, einen Tag
Urlaub genommen (!)... Vieles spricht dafür, dass der ordentliche, unauf-
fällige B., ausgerüstet nur mit Handy und ein paar tausend Mark, direkt
nach Rotenburg ... fuhr, um seinen Bekannten aus dem World Wide Web

134
zu besuchen... Im einsamen Gutshof in Rotenburg-Wüstefeld hatte M.
längst alles vorbereitet. Nach dem Tod seiner Mutter vor vier Jahren hatte
er zwei Kellerräume bauen lassen, einer davon wurde der Schlachtraum.
Dort postierte M., der an normalen Arbeitstagen die Computer der Raif-
feisenbank wartete, den Berliner Ingenieur vor einer Videokamera. B. zog
sich nackt aus, dann ließ er sich von M. den Penis abschneiden, die blu-
tende Wunde wurde fachgerecht abgebunden. Anschließend versuchte der
nette Nachbar vom Gutshof, das Geschlechtsteil gemeinsam mit seinem
Opfer zu verspeisen. Während die Kamera lief, tötete der Ex-Soldat seinen
Besucher dann mit Stichen und Schnitten in den Hals, er hängte ihn an
den Füßen auf und zerlegte den Leichnam. Das Fleisch packte M. porti-
onsweise in seine Tiefkühltruhe" (Conny Neumann, Sven Röbel, Wilfried
Voigt, „Ich will dich schlachten", in: Der Spiegel 51/2002).
Es ist wirklich kein einziges Klischee des deformierten bürgerlichen
Mannes und Abspaltungssubjekts ausgelassen: Computerexperte, leis-
tungswillig und angepasst (für den Horrortrip in den Tod nimmt das
Opfer sogar Urlaub, damit alles seine Richtigkeit hat), kapitalistischen
Verhältnissen entsprechend in der Tat „psychisch gesund", was kein ande-
rer als der Polizeipsychologe kompetent bestätigen kann, geschmackvolles
Fachwerkhaus (vermutlich ein Dorado für Innenarchitektinnen), Ex-Sol-
dat (Oberfeldwebel) und familiär schwerstens normalitätsbelastet: „Der
Vater war Polizist, der Bruder zog später fort und wurde Pfarrer. Armin M.
blieb bei seiner Mutter, die er pflegte, bis sie starb" (a.a.O.).
Zumindest hinsichtlich der Phantasien handelt es sich keineswegs um
einen absoluten Ausnahmefall. In der postmodernen Normalität tummeln
sich solche Figuren geradezu und haben bereits eine Art Modetrend etab-
liert: „Fest steht, dass M. nach der Tötung des 43-jährigen Berliners weite-
re Opfer suchte. Er antwortete in mehreren Kannibalen-Foren im Netz (!),
etwa im August auf die Nachricht von Michael ,from germany', der seinen
Körper anbot, 24 Jahre, 1,85 Meter, 75 Kilo. ,You are interested?' ,Franky"
war interessiert. ,I will butchering and eating your fine flesh!'...Und im
September schrieb er an Hänsel, der einen ,Extremmetzger' suchte: ,Ich
werde dich fachmännisch schlachten und zerlegen und auch mit ande-
ren Kannibalenfreunden komplett verspeisen. Dein Metzgermeister.' Am
7. September 2001 meldete sich unter ,darmopfer@gmx.de' sogar ein ge-
wisser Bernd, der wünschte, lebendig verspeist zu werden... (Die) vielen
tausend Angebote auf den Tummelplätzen des Web kennen keine Gren-
zen. Auch nicht, wenn es darum geht, Menschen zu foltern und aufzu-

135
fressen, vornehmlich junge, schlanke Männer... Mittlerweile ist es unter
den Liebhabern blutiger und perverser Folterungen auch Mode geworden,
harmlose Hobbyclubs zu schocken oder sich hinter deren sanften Labels
zu verbergen. So plauderten angebliche Menschenfresser schon mal unter
der Rubrik ,Aldi-Fanclub'... Vor etwa zwei Jahren war eine besonders ra-
biate Internet-Plattform der erklärte Spitzenreiter derartiger Darstellun-
gen. Dort stieß man schon mal auf das Privatvideo eines Ehepaares, das
nackt eine Leiche zerteilte und sich vornehmlich mit deren Geschlechtsteil
vergnügte. Oder auf Unfall-Aufnahmen stöhnender Opfer mit abgetrenn-
ten Gliedmaßen - Filme, die offensichtlich aus Polizeiarchiven stammten.
Inzwischen aber birgt die einschlägige Adresse längst nicht mehr genug
Horror. Eher etwas für Manta-Fahrer, sagen die ganz Harten... Was treibt
Menschen zu solchen Phantasien, und was treibt manche am Ende zur
Tat? Psychologen und Kriminologen quer durch die Republik versuchen
in diesen Tagen, am Fall Armin M. zu erklären, was nicht zu erklären ist...
Und der Fall wird seine Fans haben. ,Nicht wenige Menschen in Deutsch-
land', sagt der Wiesbadener Kriminologe Rudolf Egg, .würden viel Geld
bezahlen, um den Videofilm anzuschauen, den die Polizei beschlagnahmt
hat'..." (a.a.O.).
Es ist ganz ähnlich wie bei den Selbstmordattentätern und Amokläu-
fern: Auf einen, der es tut, kommen Millionen, die in ihrer Phantasie da-
mit spielen oder sich wenigstens an den Bildern des Grauens delektieren
möchten. Genau genommen stellen Kannibalismus und Autokannibalis-
mus nur Varianten des Amoklaufs dar. Es ist dieselbe Logik von Zerstö-
rung und Selbstzerstörung in einem, die hier waltet. Und es ist mit Sicher-
heit das Endstadium der Ich-AG, das die „Kannibalenfreunde" zelebrie-
ren, wenn sie sich zum Schlachtakt treffen wie zur Hausmusik oder zum
Eisenbahnspielen im Hobbykeller. Der Mann, der zusammen mit seinem
Schlächter seinen eigenen abgeschnittenen Penis als Henkersmahlzeit ver-
speist, symbolisiert nur den Leistungsmenschen der New Economy, der
sich selbst auf dem Altar der Betriebswirtschaft opfert und das für eine
geile Sache hält.
Das moderne Subjekt-Objekt ist hier bei seiner letzten noch denkbaren
Erscheinungsform angekommen, die seine Selbstdemontage auf schauer-
liche Weise vollendet. Es ist das äußerste Maß an Weltdistanz, die in eine
ebenso extreme Selbstdistanz umschlägt. In jeweils anderer Weise stellten
auch ein Adolf Eichmann oder der inzwischen hingerichtete Oklahoma-
Attentäter Timothy McVeigh die vom Wert-Abspaltungsverhältnis konsti-

136
tuierte „Distanzfähigkeit" dar. Das Sinnbild ist längst real geworden, und
das Grauen, das auf dem Grund des Konkurrenzsubjekts lauert, bricht in
der Weltkrise des warenproduzierenden Systems an den Individuen mehr
und mehr unmittelbar an die Oberfläche durch. Die Auflösung des an
seiner Subjektform zerbrechenden Selbst in den Realökonomismus der
leeren Form gebiert das Monster, das Alien, das in jedem gutbürgerlichen
Wesen steckt. Und immer schön die Contenance bewahren und bei der
Mahlzeit nicht kleckern! Soviel zur Distanzfähigkeit des Wert-Abspal-
tungssubjekts als „emanzipatorischer Potenz".

Die Zertrümmerung des Alleszertrümmerers


Verabschieden wir uns also von der Illusion, der Subjektform als solcher
irgendeine positive, zu „rettende" Potenz zusprechen zu wollen. Konzen-
trieren wir uns darauf, einerseits die konkret-inhaltliche Auseinanderset-
zung um das Aussortieren, die Aneignung oder die Negation der inhaltli-
chen Potenzen, der Artefakte der Geschichte, zu organisieren. Das betrifft
zunächst vor allem die Frage der Produktivkräfte im weitesten Sinne, das
Verhältnis von vormodernen und modernen Errungenschaffen sowie
das spezifische Verhältnis von Produktivkraft und Destruktivkraft in der
warenproduzierenden Moderne. Und konzentrieren wir uns gleichzeitig
darauf, andererseits die radikale Kritik der modernen Subjekt- und Re-
produktionsform voranzutreiben, um in dieser Hinsicht tatsächlich Ta-
bula rasa zu machen. In diesem letzteren Sinne ist die Konsequenz eines
Vorgehens zu bestimmen, das ich als die Logik der Negation bezeichnen
möchte.
Diese Logik ist eigentlich sehr einfach, aber sie wird durch die Unbe-
stimmtheit im Verhältnis von Form und Inhalt verdunkelt. Die Wert-Ab-
spaltungsgesellschaft stellt an sich ein Tabula-rasa-Programm dar; sie ist
an sich eine Negation, nämlich letzten Endes die brutale Negation aller
sinnlichen und sozialen Welt. Es kann sich nur darum handeln, die Welt
von dieser objektivierten diabolischen Verneinung zu befreien. Emanzi-
pation ist immer die Befreiung von etwas Negativem, emanzipatorische
Negation somit in ganz bestimmter Weise eine Negation der Negation.
Insofern handelt es sich genau darum, Tabula rasa zu machen mit der
kapitalistischen Tabula-rasa-Logik. Um nichts anderes geht es.
Kant ist halb bewundernd, halb im ahnungsvollen Schrecken bekannt-

137
lich als philosophischer „Alleszertrümmerer" bezeichnet worden. Diese
Charakterisierung ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn das Kantsche
Räsonnement stellt nichts anderes als die reine Reflexionsform des de-
struktiven, weltzerstörenden realen Wertabspaltungs- und Aufklärungs-
subjekts dar, und eben nicht dessen Kritik. Die Kritik, wenn sie denn eine
ernsthafte sein soll, besteht daher ganz präzise darin, den „Alleszertrüm-
merer" selbst und in der praktischen Folge die realgesellschaftliche „Alles-
zertrümmerung" ihrerseits - zu zertrümmern.
Nun ist deutlich zu sehen, dass die Zertrümmerung des Alleszertrüm-
merers selber keine Alleszertrümmerung sein kann, denn der Alleszer-
trümmerer ist eben nicht „alles", auch wenn ihm (seiner Logik) die Ten-
denz innewohnt, alles zu werden und damit die Welt in seine Formleere
aufzulösen, sie als sinnliche zu vernichten. Die Zertrümmerung des Alles-
zertrümmerers selbst ist gerade identisch mit der Rettung von „allem", so-
weit es der aufklärerisch-kapitalistischen Alleszertrümmerung entrissen
werden kann. Es geht darum, distanzfähig zu werden zur kapitalistischen
Art der Distanzfähigkeit und dazu auch real und radikal auf Distanz zu
gehen. Die vorgängige und vorgefundene kapitalistische Distanzfähig-
keit ist eine reine Destruktionspotenz, und diese als positive und trans-
formierbare zu beschwören, heißt gerade die entscheidende Distanz zu
verfehlen und die wirklichen Potenzen zu verraten. Wie minus mal minus
plus ergibt, so ergibt erst die emanzipatorische Negation der kapitalisti-
schen Negativität jene positive Freiheit des angemessenen Umgangs mit
der Eigenqualität der Inhalte, statt diese weiterhin der wert-abspaltungs-
logischen Alleszertrümmerung auszusetzen.
Daraus erhellt, welche Rabulistik und Verdrehung es im Grunde wäre,
der emanzipatorischen Negation ausgerechnet ob ihrer Konsequenz vor-
zuwerfen, sie sei im Grunde auch nichts anderes als eine „Alleszertrümme-
rung" - weil sie eben den Alleszertrümmerer zertrümmern will! Was kann
diese Antikritik anderes bedeuten, als die Subjektform oder die Fetisch-
form überhaupt und damit den Alleszertrümmerer indirekt in Schutz zu
nehmen? Das merkwürdig assoziative Argument läuft darauf hinaus, sich
die Welt nur im (vielleicht irgendwie gemilderten) abspaltungslogischen
Modus vorstellen zu können, weil sonst vermeintlich alles nichts wäre,
was aber nur darauf hinausläuft, mindestens ein Moment genau jener Lo-
gik beibehalten zu wollen, die tatsächlich „alles" in „nichts" verwandelt.
Wir sehen hier eine genau umgekehrte Negation der Negation, nämlich
die zumindest partielle Negation der emanzipatorischen Negation, den

138
Versuch also, den Zertrümmerern des Alleszertrümmerers in den Arm zu
fallen, um „etwas" von ihm zu retten, irgendeine „Potenz", die sich doch
immer wieder nur als Moment der destruktiven Alleszertrümmerung ent-
puppen könnte. Auch hier ergibt minus mal minus plus, aber dieses plus
ist selber ein anderes minus, eine absolute Negativität, die sich selbst als
totalitäres Positivum gesetzt hat, nämlich eben das männliche Wert-Ab-
spaltungssubjekt, dem der Garaus zu machen ist und sonst gar nichts. In
diesem Punkt jedenfalls kann es keine Relativierung geben, da müssen wir
uns schon ohne Wenn und Aber entscheiden.

Das Subjektive an der Subjektkritik


oder die Dialektik der Softies

Wie die gesellschaftliche Fetisch-Konstitution im allgemeinen und die


moderne Subjektform im besonderen ein paradoxes Verhältnis darstellen,
so muss sich auch noch die befreiende Abschüttelung dieser Form in ge-
wisser Weise auf die Paradoxie einlassen. Das kann zu Irritationen führen,
weil natürlich die eigene Subjektform als „Feind" nicht so leicht dingfest
zu machen ist wie ein äußerer Gegenstand, obwohl diese Form nie nur
innerlich ist, sondern immer gleichzeitig auch den entfremdeten Indivi-
duen als äußere Macht entgegentritt. Auch in dieser Hinsicht ist die Logik
der Negation begrifflich zu schärfen, um der Apologetik kein Schlupfloch
zu lassen.
So könnte man gegen die bisherige Argumentation mit einigem Recht
geltend machen, dass sie so tut, als wäre sie nicht selbst noch die Argu-
mentation eines Subjekts, wenn auch eines, das die Kritik dieser Form for-
muliert. Das macht ja gerade das paradoxe Moment dieser Konstellation
aus. Nun kann und soll natürlich nicht abgestritten werden, dass es sich
genau so verhält. Aber was folgt daraus? Die Antikritik könnte weiter mit
einigem Recht sagen: Du versteckst dich, du tust so, als wärest du schon
jenseits der Fetischform, als wärest du gar kein männlich-abspaltungslo-
gisches Subjekt mehr und würdest dessen Kritik gewissermaßen „von au-
ßen" formulieren. Also wirf dich nicht als „Drübersteher", Meta-Feminist
und Subjektfresser in die Brust, sondern - ja, was?
Zunächst ist zu fragen, worauf solche Antikritik hinauswill. Wenn es
nur um die Schwierigkeiten geht, zusammen mit dem geschichtlichen
Kontinuum der Fetischverhältnisse die männlich-abspaltungslogische

139
Subjektform „aufzusprengen", dann kann es sich auch nur um das Pro-
blem handeln, wie, mit welchen Mitteln und auf welche Weise man dieses
„eiserne Gehäuse" der Form los wird. Ein Streit darüber könnte gar keine
besondere Schärfe gewinnen, es wäre nur eine Debatte über Modalitäten,
Taktiken, Herangehensweisen und vor allem über die theoretische Dar-
stellungsweise hinsichtlich einer unstrittigen gemeinsamen Zielsetzung.
Wir stehen ja erst am Anfang der Subjekt- und Abspaltungskritik und ih-
res Modus theoretischer Reflexion, also kann es gar nicht anders sein, als
dass unsere Darstellung dieser Kritik noch von diesem Modus gefärbt ist.
Wenn jedoch gar keine Vorschläge damit verbunden sind, wie dem
Wert-Abspaltungssubjekt am besten der Garaus zu machen ist, um in der
theoretischen Darstellung der radikalen Kritik voranzukommen, sondern
obiger Vorwurf erst mal so stehen bleibt, ist er zumindest interpretations-
fähig. Der Subtext muss nicht, könnte dann aber lauten: Tu doch nicht
so, als würdest du ernsthaft die Subjektform in allen ihren Aspekten an-
greifen, als ginge das überhaupt! Es geht ja gar nicht, also „steh dazu", ver-
suche nicht ein anderer zu sein, als du bist und wir alle sind! Mach mal
halblang, und im übrigen: „Etwas" vom Subjekt muss bleiben, was immer
das ist...Womit wir dann allerdings wieder bei der Grundsatzfrage der
Negation wären. Schwangerschaft light geht nicht, Subjektkritik light geht
auch nicht.
Tatsächlich lässt sich sehr wohl etwas über die Modalitäten der Trans-
formation aussagen. Zwar kann kein realer gesellschaftlicher Standpunkt
jenseits der tief in die Individuen eingegrabenen Formbestimmung einge-
nommen werden, das ist evident. Aber es lässt sich durchaus ein immanen-
ter Ausgangspunkt und ein Weg der Kritik und Transformation aufzeigen.
Dass die Individuen nicht in der Fetischform aufgehen „wie die Ameisen
im Ameisenhaufen" (Anselm Jappe) äußert sich, und zwar eben als Leid.
Nicht zuletzt ist es ein ständiges Leiden am Geschlechterverhältnis der
Abspaltung, das auf Beziehungsunfähigkeit hinausläuft. Das Leiden ist
der konkrete Ausgangspunkt. Die Verarbeitung dieses Erfahrungsgehalts
kann einen zunächst virtuellen Standpunkt „außerhalb" konstituieren:
nämlich die kritische Reflexion der eigenen geschlechtlichen und gesell-
schaftlichen Beziehungsverhältnisse. Es wäre lächerlich, diese Möglichkeit
abstreiten und die tatsächliche Existenz der Kritik in die Unwirklichkeit
abdrängen zu wollen.
„Virtualität" meint hier nicht im postmodernen Sinne die Beliebigkeit
eines „anything goes" oder die Einebnung der Differenz von Realität und

140
medialer Darstellung, sondern die distanzierte, kritische Selbstwahrneh-
mung in der noch unüberwundenen kapitalistischen, wert-abspaltungs-
logisch konstituierten Realität; also jenes Einnehmen der Distanz zur de-
struktiven kapitalistischen „Distanzfähigkeit". „Virtuell" in diesem Sinne
ist Kritik ihrem Wesen nach, denn es ist ja die erst einmal gedankliche Ne-
gation eines realen, noch unüberwundenen Verhältnisses. Man kann real
in diesem Verhältnis „stecken", es jedoch aufgrund der Leidenserfahrung
negieren, das heißt einen ideell oder virtuell transzendenten Standpunkt
einnehmen, von dem aus die Kritik praktisch zu werden trachtet. Der
postmoderne Virtualitätsbegriff meint so ziemlich das Gegenteil, näm-
lich den Ersatz der Kritik durch eine bloß andere „Wahrnehmung" der
Realität, die als beliebig interpretierbar gilt.
Der virtuelle Standpunkt der Kritik in diesem gerade nicht postmo-
dernen Sinne ermöglicht es einerseits, einen sicherlich schwierigen Pro-
zess der praktischen Transformation zu beginnen, vom eigenen Alltags-
verhalten bis zur Umwälzung der gesellschaftlichen Institutionen. Dass
dieser praktische Prozess widersprüchlich, diskontinuierlich usw. verläuft,
ändert aber nichts daran, dass der virtuelle Standpunkt der Kritik es an-
dererseits ermöglicht, auf dem relativ eigenständigen Feld der Theorie
bereits die Logik der Kritik an der Subjektform ganz grundsätzlich zu
entfalten und in aller Schärfe und in allen wesentlichen Aspekten zu for-
mulieren; auch wenn diese Kritik noch nicht erschöpfend sein kann, weil
sie ihre Vollendung erst in den Erfahrungen negatorischer Praxis findet.
Hier wird das transformatorisch zu wendende Moment der bürgerlichen
Aufspaltung gesellschaftlicher Reflexion in einen Gegensatz von Theorie
und Praxis sichtbar.
Das obige Argument, wenn und soweit es im Horizont bloß abweh-
render Antikritik erscheint, richtet sich aber gerade gegen die theoreti-
sche Ausformulierung des virtuellen Standpunkts der Kritik, ja eigentlich
sogar gegen dessen Möglichkeit. Als selber theoretisches Argument wäre
es bereits der Ansatz zu irgendeiner Apologie der Subjektform. Es wäre
damit eine Entscheidung impliziert hinsichtlich eines Konflikts, der in
der männlich-abspaltungslogischen Brust tobt. Denn die Erfahrung des
Leidens muss keineswegs „objektiv" zum Standpunkt der Kritik führen;
diese Erfahrung kann auch - besonders von der „männlichen" Position
aus - zu einer kompensatorischen Affirmation des Leidensverhältnisses
führen, die sich nicht zuletzt aus der strukturellen männlichen Suprema-
tie speist: in praktischer Hinsicht als Ausleben der Abspaltung im Alltag;

141
auf dem Feld der Theorie als jenes Philosophenkönigtum, das sich nicht
allein als Haltung manifestiert, sondern sich im theoretischen Modus
selbst objektiviert hat.
Wenn man schon leidet, so wenigstens im falschen Bewusstsein der Re-
flektiertheit, die man dem abgespaltenen Teil voraus hätte. Das ist wahres
„Drüberstehertum"! Das Bewusstsein der vermeintlichen Überlegenheit
noch im Leiden und durch das Leiden hindurch leistet die Kompensation,
die auf der unmittelbar geschlechtlichen Ebene als unreflektierte Hete-
rosexualität erscheint, in gesellschaftlicher und in theoretischer Hinsicht
als quasi naturwüchsige Affirmation des Abspaltungssubjekts. Also alltag-
spraktisch und noch mehr in der objektivistisch-kontemplativen Theorie-
Form: Der Tantalus-Aspekt wird kompensiert durch den Prokrustes-As-
pekt, und dahinter lauert bereits - Hannibal Lecter.
Nun ist mit dieser Bestimmung des Widerspruchs und seiner möglichen
Implikationen noch keine klare Verteilung der Verhaltensweisen festgelegt.
Wer die theoretische Kritik konsequent ausformuliert, kann trotzdem in
der Alltags- und Beziehungspraxis weitgehend männlich-abspaltungslo-
gisch handeln. Und umgekehrt: Wer in mancher Hinsicht alltagspraktisch
oder im Kontext sozialer Bewegungen gelernt hat, abspaltungslogische
Verhaltensweisen zurückzunehmen, kann trotzdem in der Theoriebildung
zäh am Modus der Abspaltung und damit an der Apologie der Subjekt-
form (oder eines ihrer Momente) festhalten. Natürlich sind auch andere
Kombinationen möglich. Das Verhältnis als Widerspruchsverhältnis kann
sich nur in einer widersprüchlichen Bewegung auflösen.
Hier aber haben wir es einzig mit der theoretischen Formulierung der
radikalen Kritik zu tun. Und dabei gilt: Dass wir gesellschaftlich-praktisch
alle nicht über die abspaltungslogische Subjektform hinaus sind, ist kein
Argument gegen die theoretische Formulierung der radikalen Kritik an
dieser Form. Erst recht nicht ist es ein Argument, dass man diese Kri-
tik in ihrer Konsequenz gar nicht formulieren „könne" oder „dürfe". Und
schon gar nicht ist es ein Argument, dass „etwas" an dieser Subjektform
in emanzipatorischer Absicht erhalten und in eine post-wertförmige Ge-
sellschaft mitgenommen werden „müsse".
Es gibt noch einen anderen Aspekt dieser möglichen Antikritik. Da-
bei könnte wieder einmal der Spieß umgedreht und gesagt werden: Ge-
rade in dem Maße, wie du derart nach dem Tabula-rasa-Prinzip die arme
Subjektform und das arme männliche Abspaltungswesen niedermachst,
beweist du dich unfreiwillig selber als männliches Subjekt, mit allen At-

142
tributen der Militanz und in voller Rüstung der Form. Du willst gewis-
sermaßen unbarmherzig die Abspaltung abspalten und in der Pose eines
Übersubjekts auftreten.
Aber ein solches Argument liefe wiederum darauf hinaus, die unaus-
weichliche Logik der emanzipatorischen Negation abzuwehren und ra-
bulistisch zu verdrehen. Folgte man dieser Verdrehung, dann wäre im
Grunde überhaupt niemals eine Negation und Abschüttelung negativer
Formverhältnisse möglich. Denn in der Tat ist eine Negation und aktive
Überwindung gar nicht denk- und machbar, wenn die Kritik der Subjekt-
form nicht selber ein Moment des Subjektiven hat, wie sie ja als emanzi-
patorisch verarbeitete Konsequenz des Leidens selber aus der Subjektform
heraus erst entsteht.
Um gegen jemand oder etwas Krieg führen zu können, muss man sich
noch auf demselben Boden befinden. Um mit der Form fertig zu werden,
muss man sie in gewisser Weise mit ihren eigenen Waffen schlagen. Das
Subjektive an der Subjektkritik ist als Dialektik der Negation unerlässlich.
Gerade in diesem Sinne müssen wir nicht bloß passiv zugeben, dass wir ja,
ach!, noch nicht über die Subjektform hinaus sind, sondern diese Imma-
nenz aktiv gegen die Form selber kehren.
Das heißt eben nicht, dass die Negation und das zu Negierende deshalb
identisch und somit die Negation zu relativieren oder überhaupt zu ver-
werfen wäre. In einer solchen Kennzeichnung kämen nur der mangelnde
Wille oder die mangelnde Fähigkeit zum Ausdruck, sich in die Logik der
emanzipatorischen Negation hineinzudenken. „Subjektiv" bleibt die radi-
kale Kritik allein deshalb, weil und soweit sie sich gegen die Subjektform
selbst richtet, also in der negatorischen Potenz gegenüber dem negativen
Realprinzip, dem (und dem allein) gegenüber das subjektive Moment als
bewusst zerstörerisches zu wenden ist. Das heißt, dass dem destruktiven,
wertförmig-abspaltungslogischen Subjekt selber gegenüber (noch) nicht
ein anderer, das Andere respektierender, die Eigenlogik der Dinge berück-
sichtigender Bezug möglich ist, sondern allein sein eigener und destrukti-
ver, eben um die Destruktion selbst zu destruieren. Es geht natürlich nicht
darum, den Mörder zu ermorden oder den Vergewaltiger zu vergewalti-
gen, sondern darum, das Morden und Vergewaltigen (auch im weiteren,
übertragenen Sinne der kapitalistischen Destruktivkraffentwicklung) zu
stoppen, was nicht ohne ein Moment der „Gegenzerstörung" abgeht, das
erst in einer von der Fetisch- und damit Subjektform befreiten Gesell-
schaft gegenstandslos würde.

M3
Entsubjektivierung dagegen ist von Anfang an im Hinblick auf die In-
halte des Weltbezugs angesagt. Der transitorische Prozess wird also einer-
seits das subjektive Moment gegen das Subjekt selbst wenden, gleichzeitig
aber den Gegenständen und sozialen Beziehungen gegenüber bereits die
Momente des nicht mehr Subjektiven, das heißt nicht mehr negativ Ob-
jektivierenden herausentwickeln. Eben deshalb ist das negatorisch-eman-
zipatorische subjektive Moment gegenüber dem Subjekt selbst keineswegs
identisch mit diesem, also mit der Subjektform und deren Konsequenzen:
Verhält sich letztere subjektiv-negatorisch zur Welt und positivierend zu
sich selbst, so erstere genau umgekehrt nicht-subjektiv und inhaltsbezo-
gen zur Welt und subjektiv-negatorisch zur Subjektform als solcher.
Das heißt, negativ-transformatorisch subjektiv zu werden gerade ge-
gen das, worin das Subjekt seinem eigenen Begriff nach niemals in seinem
eigenen positiven Sinne Subjekt sein konnte, sondern immer nur Ge-
genstand der Selbstobjektivierung; somit gegen das, was stets im blinden
Fleck seiner Selbstwahrnehmung verborgen lag: Also Subjekt allein noch
in dem Sinne, das Subjekt abzuschaffen; und ausschließlich für diesen
Zweck, diesen Akt und in diesem historischen Augenblick oder dialekti-
schen Umschlagspunkt ist Subjektivität sogar unbedingt gefordert. Das ist
aber bereits durch die Umkehrung der Negation vom Weltbezug und ne-
gativen Selbstbezug der Individuen auf die Subjektform selbst eine Sub-
jektivität, die schon keine mehr ist. Der falsche und vorschnelle generö-
se „Verzicht" auf das subjektive Moment ausgerechnet in dieser Hinsicht
wäre in Wahrheit nichts anderes als der „Verzicht auf den Verzicht", also
gerade in der Pose der selbst ernannten Subjektlosigkeit in Bezug auf die
Zerstörung der Form der tatsächliche Wille, diese Subjektform am Leben
zu lassen.
Das Subjekt ist ja sowieso immer schon Objekt in seiner Selbstobjek-
tivierung; deshalb kann es sich auch immer, wenn es ernst wird, auf die
Objektseite zurückziehen. Je subjektiver, desto objektiver: Ich bin klein,
mein Herz ist rein, ist niemand darin als der Weltgeist allein. Nie ist es das
Subjekt gewesen, immer nur die Objektivität, und umso subjektiver im
banalen bürgerlichen Sinne darf man dann nach Herzenslust sein. Gera-
de diese Fähigkeit des Abspaltungssubjekts zur Camouflage muss brutal
durchbrochen werden, ganz ohne alle Contenance, auch wenn es dabei
spritzt und ziemlich viel gekleckert wird.
Einmal also müssen Mann und Frau gemeinsam „männlich" sich
aufmandeln gegen die abspaltende Männlichkeit; mit genau der Rück-

144
sichtslosigkeit, die das Wertsubjekt selber an den Tag legt, und die es bloß
normalerweise möglichst geräuschlos abarbeiten möchte. Es wäre eine
hoffnungslose Illusion, sich einzubilden, dass sich die Subjektform ohne
diesen Durchgang durch die harte und offene Negation irgendwie sanft
überwinden oder gar bloß mildern ließe. Wenn sich der Kapitalismus als
Reproduktionsform nicht auf vegetarische Weltbehandlung umschulen
lässt, so eben auch nicht das Subjekt dieser Form. Das Raubtier muss ab-
geschossen werden. Da versagen auch alle dieser Form gegenüber groß-
mütterlich wirkenden chinesischen Strategeme und Philosopheme, die
etwa „Handeln durch Nichthandeln" propagieren und die Haltung nahe
legen, am Ufer des Flusses kontemplativ darauf zu warten, dass der Feind
ohne Schlag und Schuss ganz von selbst als Leiche vorbeitreibt. Womit
immer man auf diese Weise fertigwerden könnte, mit der Subjektform
jedenfalls nicht!
Die Antikritik gegen das Subjektive an der Subjektkritik fällt auf sich
selbst zurück, denn der Verzicht auf genau dieses Moment des Subjekti-
ven wäre ja seinerseits nichts anderes als der Versuch, so zu tun, als befän-
de man sich schon jenseits der Fetisch- und Subjektform, als könne man
mitten in der Subjektform und in Bezug auf diese gemütliches Nicht-Sub-
jekt schon sein. Damit wäre allerdings keine Transformation gewonnen,
sondern nur jene „Selbstlosigkeit" im Sinne von Hannah Arendt, wie sie
auf dem Grund der „Form Subjekt" immer schon gelauert und gerade in
dessen schlimmsten Gräueltaten sich geäußert hat. Die „Sehnsucht, kein
Subjekt mehr sein zu müssen", ist gerade dann, wenn sie sich ausgerech-
net darauf bezieht, eben gegen das Subjekt selbst nicht subjektiv sein zu
müssen, nichts anderes als die Sehnsucht danach, kampflos männliches
Abspaltungssubjekt sein und bleiben zu können, ohne die Qual dieses
Verhältnisses erleiden zu müssen: „obenauf zu sein, am besten in der im-
mer währenden Missionarsstellung, ohne sich „ o b e n a u f fühlen zu müs-
sen, unbelastet von der Last der Überlegenheit überlegen sein dürfen.
So kann allerdings die einschlägige Antikritik an der Subjekthaftigkeit
der radikalen Subjektkritik nicht bloß aus der Perspektive der Kritik als
Mangel und Inkonsequenz verstanden werden, sondern auch als aktive
Gegenwehr des Abspaltungssubjekts selbst. Es gibt ja für diese Abwehr
nicht nur die Option des seinerseits gepanzerten Auftritts, der blanken
Affirmation, in der das Subjekt „dazu steht", das zu sein und sein zu wol-
len, was es ist. Auch auf der Ebene des direkten Geschlechterverhältnisses
gibt es nicht bloß den sekundären Chauvi, sondern auch und immer wie-

145
der den Softie, den Männergruppen-Mann, der sich eine Emanzipation
erschleichen möchte, die dann in Wahrheit gar keine ist. Es ist der hartge-
sottene Abspaltungs-Hetero, der die panisch abgewehrten homosexuellen
Impulse im Keller des Unbewussten eingemauert hat wie eh und je, sich
aber äußerlich mit den Acessoires des Schwulen und der Weiblichkeit be-
hängt wie einen Weihnachtsbaum mit Lametta. Die Softies und Männer-
gruppen-Männer spielen mit den Attributen der Weiblichkeit nur; nicht
um das Verhältnis der Abspaltung zu überwinden, sondern um es auf be-
sonders perfide Weise zu zementieren. Es ist der Mann, der ungebrochen
„männlich" sein und sich auch noch dazu das „Weibliche" unter den Nagel
reißen, der also „alles haben" will; wie umgekehrt die Frau, die ebenfalls
„alles haben" will, den Beruf und die Karriere samt Ellbogen-Konkurrenz
ebenso wie gleichzeitig abgespaltenes „Weibsein", Familie, Kinder und
bürgerliche Häuslichkeit. Was natürlich beiderseits nur schief gehen kann,
weil es eben bekanntlich kein richtiges Leben im falschen gibt.
Ich will und kann hier gar nicht weiter auf die damit verbundenen Pro-
bleme praktischer Verhaltensweisen im alltäglichen Geschlechterverhält-
nis eingehen, die sich sowieso nicht in erster Linie durch theoretische Er-
örterung lösen lassen. Vielmehr geht es auf der Ebene kritischer Reflexion
allein darum, wie sich die „Dialektik der Softies" in der theoretischen Ar-
gumentation und hinsichtlich der Subjektkritik bzw. deren Abwehr oder
Denunziation darstellen kann. Als positivierender theoretischer Apologet
des Subjekts könnte der Softie - aus dem die Abspaltungsseele spricht wie
aus dem Ökonomen die Warenseele - die Strategie verfolgen, sich in die
Rolle der verfolgenden Unschuld zu versetzen; ungefähr wie der Antise-
mit sich stets als von Juden verfolgt und umzingelt darstellt. Das Abspal-
tungssubjekt in der Mimikry der „Weiblichkeit" müsste ganz ähnlich die
harte Negation der Subjektform, die Tabula-rasa-Logik der Subjektkritik
anklagen, allzu „männlich" und kriegerisch zu verfahren, die „Männlich-
keit" nicht hinter sich gelassen zu haben usw. Womit natürlich der Sach-
verhalt auf den Kopf gestellt und die Negation des Subjekts paradoxer-
weise gerade unter Berufung auf die Subjektkritik hintertrieben würde.
Demgegenüber wäre die alte Autonomen-Parole „Gefühl und Härte" zu
mobilisieren: Gefühl für die Inhalte und Beziehungen, Härte gegen die
Subjektform - und das eine bitte nicht mit dem anderen verwechseln!

146
Es gibt keine Dialektik der Aufklärung.
Jenseits des Hegeischen „Aufhebungs"-Begriffs

Diese Überlegungen treffen allerdings auch das bisherige positive Ver-


ständnis von Dialektik in den anspruchsvollsten gesellschaftskritischen
Theorien. Wenn etwa Adorno und Horkheimer von „Dialektik der Auf-
klärung" sprechen, meinen sie dabei mit Sicherheit nicht eine Dialektik
von Form und Inhalten, das heißt von Negation der destruktiven Form
(Subjektform) und positiver Transformation der kulturellen Inhalte. Zum
Beispiel ist nur am Rande überhaupt von den berühmten „Produktivkräf-
ten" die Rede. Es ist den Vordenkern der „Frankfurter Schule" sehr wohl
bewusst, dass die Berufung auf bestimmte Artefakte, inhaltliche Potenzen,
Techniken usw. im Kontext der von ihnen aufgeworfenen Problemstellung
bloß banal wäre und an der Sache vorbeiginge. Wenn sie von „Dialektik
der Aufklärung" sprechen, dann ist damit im wesentlichen ein Verhältnis
oder ein Prozess innerhalb der Subjektform selbst gemeint. Darin besteht
eben die Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz ihres Denkens: Einer-
seits sehen sie die in dieser „Form Subjekt" a priori angelegte Tendenz
der Destruktion und der Auflösung aller sinnlichen Welt in die Realab-
straktion; damit kommen sie an die Kritik der Form als solcher heran.
Andererseits aber gilt ihnen die Konstitution dieser Form weiterhin als der
ursprüngliche und eigentliche Aufgang der Emanzipation, sodass sich ihr
Denken in eine unlösbare Aporie verstrickt.
Dabei ist allerdings festzuhalten, dass Adornos und Horkheimers
„Dialektik der Aufklärung" letzten Endes eine durchaus negative ist. Sie
machen keine Milchmädchenrechnung von „Subjektkritik light" auf,
sondern stehen zu der für sie unlösbaren Aporie. Die emanzipatorische
Potenz sehen sie eher in der unwiederbringlichen Vergangenheit des Sub-
jekts, während die Gegenwart als wesentlich durch die Entfaltung seiner
Destruktionspotenz gekennzeichnet erscheint. Insoweit mündet die kri-
tische Theorie auf dieser Stufe zweifellos in den Kulturpessimismus, der
eben keineswegs bloß eine Spezialität des rechten, gegenaufklärerischen
Denkens darstellt, sondern auch eine mögliche Konsequenz des linken,
noch der Aufklärungslogik verhafteten Denkens selbst, soweit es sich auf
eine gewisse Reflexionshöhe hinaufgearbeitet hat. Diese Konsequenz ist
im übrigen weit redlicher als das Räsonnement aller heutigen orthodo-
xen Adorno-Adepten und positiven Subjektbeschwörer (besonders nach
dem 1 1 . September), die jene Dialektik noch einmal umkehren und der

147
kapitalistischen Subjektform gerade in ihrer Agonie abermals jene Befrei-
ungspotenz andichten möchten, die Adorno und Horkheimer schon vor
fast sechzig Jahren dahingeschwunden sahen.
Die Aporie ist erst auflösbar durch die Erkenntnis, dass es gar keine
Dialektik der Aufklärung gibt und das moderne Subjekt als solches rein
negativ zu bestimmen ist (denn Aufklärung meint ja im Kern nichts an-
deres als die positive Reflexion eben dieser Form). Soweit in einem neuen,
ganz anderen, wert-abspaltungskritischen Sinne von historischer Dialek-
tik zu sprechen wäre, könnte es sich erstens nur um jenes Widerspruchs-
verhältnis von Form und Inhalt handeln; und zweitens würde sich diese
Bestimmung dann auf alle bisherige „Geschichte von Fetischverhältnis-
sen" beziehen und könnte keine spezifische „Dialektik der Aufklärung"
mehr sein. Das moderne Verständnis von Dialektik bezieht sich aber eben
überhaupt nur auf die Formdialektik von Subjekt und Objekt, letzten En-
des auf das Weltverhältnis des Wert-Abspaltungssubjekts und auf dessen
Verhältnis zu sich selbst. Und in diesem eingeführten Sinne ist die Dialek-
tik als emanzipatorische gänzlich zu verwerfen; sie kann allein negativ auf
den immanenten Selbst- und Weltzerstörungsprozess der Subjektform
bezogen werden.
In seiner „Negativen Dialektik" schlägt Adorno durchaus Töne an, die
gewissermaßen in die richtige Richtung gehen; etwa wenn es gleich in der
Vorrede heißt, er empfände es als seine Aufgabe, „mit der Kraft des Sub-
jekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen" (7. Auflage
1992, S. 10). Aber er geht damit nur bis zur Grenze seiner Aporie, ohne sie
aufzulösen, denn der Begriff der „Kraft des Subjekts" ist in seinem rein
negativen Bezug auf die Subjektform als solche hier nur implizit gefasst
und wird nie explizit. Die notwendige Subjektwerdung gegen das Subjekt
selbst wird nicht unzweideutig in ihrer rein negatorischen Bestimmung
herausgearbeitet, sondern bleibt befangen im positiven Bezug auf die „ge-
bieterische Freiheit des Subjekts" (a.a.O., 31), die sich dann doch wieder
in der Form des unüberwundenen Subjekts selbst von dessen destruktiver
Konsequenz befreien soll. So muss immer wieder vergeblich die Vernunft
eben dieses Subjekts angeklagt werden, dass sie „jene Entfaltung zur Frei-
heit verbietet, die in seinem eigenen Begriff liegt" (a.a.O., S. 47). Aber in
diesem Begriff und der diesem zugrunde liegenden Realität findet sich
eben keinerlei positive „Freiheit", sondern nichts als der fetischistische
Formzwang, der bloß in der Orwellschen Sprache der Aufklärung als pa-
radoxale „Freiheit" deklariert worden ist.

148
Mit anderen Worten: Jene „Kraft" soll negatorisch sein, ohne das We-
sentliche zu negieren. Negatorische Subjektivität gegen das Subjekt selbst
wird nicht als transformatorische Überwindung des Subjekts verstanden,
sondern eigentlich als dessen (vergebliche) Selbstheilung oder endlich
doch noch gelingende „Verwirklichung", was an die berüchtigten „Selbst-
heilungskräfte des Marktes" erinnern könnte. So fällt die inkonsequente
Negation schließlich wieder auf die Aporie zurück, in immer neuen und
quälenden Anläufen, etwa wenn es heißt: „Die universale Herrschaft des
Tauschwerts über die Menschen, die den Subjekten a priori versagt, Sub-
jekte zu sein, Subjektivität selber zum bloßen Objekt erniedrigt, relegiert
jenes Allgemeinheitsprinzip, das behauptet, es stifte die Vorherrschaft des
Subjekts, zur Unwahrheit" (a.a.O., S. 180).
Hier erscheint die Negativität des Tauschwerts vollends zumindest dem
Wunsch nach als dem Subjekt äußerlich, sodass jene tatsächlich im Be-
griff des Subjekts liegende Selbstobjektivierung als abziehbar vom weiter-
hin positiv verstandenen Subjekt imaginiert werden muss, wenn nur der
Tauschwert abgezogen würde - ganz so, als könne oder „solle" jedenfalls
dann die „wahre Vorherrschaft des Subjekts" gestiftet werden. Auf Schritt
und Tritt stolpert Adorno immer wieder über dieselbe Aporie, weil er sich
zu keiner eindeutig negativen, transformatorischen Bestimmung der Sub-
jektwerdung gegen das Subjekt durchringen kann, sondern die Negation
stets auf dem ontologischen Boden des positiven Subjekts selbst verharren
soll. Insofern bleibt Adorno trotz seiner Polemik gegen das ontologische
Bedürfnis selber in diesem Punkt der Ontologie verhaftet, nämlich eben
der Ontologie des (aufklärerischen) Subjekts.
Was hier verfehlt wird, ist die Negation der Negation im emanzipa-
torischen Sinne, nämlich die Negation der in der Subjektform selbst lie-
genden Welt-Negation. Adorno möchte eigentlich letztere negieren, aber
weil er an einem unbestimmten positiven Begriff der Subjektform festhält,
stürzt er immer wieder ab in die umgekehrte Negation der emanzipatori-
schen Negation; er holt nur aus, um im selben Atemzug wieder gewisser-
maßen gegen das Ausholen auszuholen, sodass der Schlag nie fällt. Damit
entkommt er auch letzten Endes nicht der hegelschen geschlossenen Sys-
tem-Dialektik, in der die Negation der Negation immer schon und von
vornherein die Affirmation der Subjektform und die Negation der sinnli-
chen Welt bedeutet.
In der marxistischen Vulgärdialektik wird die hegelsche in ihrer positi-
ven Logik ungebrochen weitergeführt, bloß auf den ebenso vulgären Ma-

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terialismus von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bezogen
statt auf den objektiven Idealismus des Weltgeistes und die Geschichte
seiner Entäußerung. Es scheint dann so, als würde sich die Negation der
Negation auf einen fortschreitenden, nunmehr materialistisch gewende-
ten Geschichtsprozess beziehen, in dem eben eine Formation mit Not-
wendigkeit aus der anderen hervorgeht, diese negiert und von ihr doch
etwas mitnimmt, nämlich die jeweiligen „materiellen Produktivkräfte",
die zu eng für die alte Formation geworden seien.
Wie jedoch in dieser Logik ungebrochen und unbegriffen der alte auf-
klärerische, von Hegel vollendete Fortschritts- und Entwicklungsbegriff
als Moment der bürgerlichen Konstitution selbst (statt der Geschichte
überhaupt) enthalten ist, so entgeht den „materialistischen" Dialektikern
auch, dass sie ebenso ungebrochen die Logik der kapitalistischen Subjekt-
form beibehalten. Denn egal ob in der objektiv-idealistischen oder in der
materialistisch gewendeten Version: Die dialektische Negation der Nega-
tion bedeutet in Wahrheit die Kontinuität der Subjektform, die auch noch
in der materialistischen Version implizit mit enthalten ist. Die hegelsche
Negation der Negation ist immer schon eine Negation der emanzipatori-
schen Negation, bevor diese überhaupt als solche formuliert ist.
Bloße Produktivkräfte, Artefakte, disparate Inhalte, Techniken usw.
können gar keine Dialektik konstituieren, sondern immer nur die Be-
wusstseinsform kann es. Erst in ihrer Zuspitzung als moderne Subjekt-
form konstituiert diese eine subjektiv-objektive Dialektik, deren Struktur
und Dynamik Hegel affirmativ herausgearbeitet hat. Das Subjekt, sowohl
als Form der Individuen als auch als „automatisches Subjekt" der gesell-
schaftlichen Gesamtbewegung, das bei Hegel als Weltgeist, Wille etc. figu-
riert, ist auch in der materialistischen Version stumm als unreflektierter
Träger der „Produktivkraftentwicklung" enthalten. In beiden Fällen bildet
es den eigentlichen Träger der Dialektik und der Negation der Negation,
die als „Aufhebung" bezeichnet wird.
In seiner berühmten dreifachen Bedeutung entspricht der Begriff der
Aufhebung exakt sowohl der zur Entwicklungstheorie fortgebildeten
aufklärerischen Geschichtsmetaphysik als auch der damit verbundenen
Anforderung einer bloß immanenten Selbstbewegung des Wert-Abspal-
tungssubjekts.
Aufhebung heißt bekanntlich erstens Aufbewahrung oder Konservie-
rung: Darin ist die durchgängige, über alle Veränderungen hinweg sich
erhaltende Identität des sich entwickelnden Bewegungssubjekts festge-

150
schrieben (des Weltgeistes bei Hegel und des „automatischen Subjekts"
der Wertverwertung bei Marx, die bewusste Reflexion des dazugehöri-
gen männlich-kontemplativen Erkenntnissubjekts eingeschlossen). Die-
ses Subjekt bleibt in der Entäußerung dennoch bei sich, um als „für sich"
werdendes immer wieder zu sich selbst zurückzukehren.
Zweitens meint Aufhebung das Höherheben, das Erklimmen einer
neuen Stufe sowohl der objektiven Entwicklung als auch der Erkenntnis
(was bei Hegel in eins fällt). Die Rückkehr des Werts und des Wertsub-
jekts aus der Entäußerung in die niemals überwundene Identität findet
als Prozess des „Für-sich-Werdens" auf immer höherer Stufenleiter statt,
bis der erleuchtete Endzustand der „in sich reflektierten" Form und ih-
res Bewusstseins „an und für sich" erreicht ist; faktisch identisch mit der
Weltvernichtung, dem Armageddon der kapitalistischen Durchsetzunsg-
geschichte.
Drittens bedeutet Aufhebung auch in einem gewissen Sinne Beseiti-
gung oder Überwindung, aber eben gerade nicht des Trägers der ganzen
Veranstaltung, nämlich des Subjekts. Beseitigt werden sukzessive die Welt
und der sinnliche Bezug zu ihr auf immer höherer Stufenleiter. Das leere
Formsubjekt oder die „Form Subjekt" hingegen steht als solche nie in der
Perspektive des Bruchs, sondern immer nur in der Perspektive der Kon-
tinuität, wie sie durch die anderen Bedeutungsebenen des Aufhebungs-
begriffs gewährleistet wird. Die materialistische Wendung dieses Begriffs
durch den Marxismus ändert an diesem selbst-affirmativen, auf die Wert-
Identität zurückgebogenen Charakter der Aufhebungsbewegung nichts;
was ja auch dem affirmativ immanenten, auf die bloße Anerkennung in
der Form bezogenen Charakter des Arbeiterbewegungs-Marxismus ent-
spricht.
Wie die immanente Bewegung, so ist auch das Resultat tautologisch:
Am Ende steht nicht der Bruch mit Subjektform und Wert-Abspaltungslo-
gik, sondern das „in sich reflektierte Bewusstsein" der Subjektform selbst,
ihre eigene positive Bewusstheit, also sozusagen der nunmehr bewusste
Vollzug der bislang bloß naturwüchsigen fetischistischen Konstitution.
Und das wäre dann das ziemlich dicke Ende der Geschichte, die Aufhe-
bung des Fetischbewusstseins in sich selbst, das Paradox einer bewuss-
ten Bewusstlosigkeit. In der marxistischen Version wäre es das „Zusich-
kommen" der kapitalistischen Kategorien in der Form des Arbeiterstaats,
der vermeintliche Ruhestand der Kategorien als „in sich reflektierten", in
Wahrheit der Zustand der Welt als einer physisch ruinierten. Auf der Ebe-

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ne des Erkenntnissubjekts wäre es der Zustand des „in sich reflektierten"
Philosophenkönigs, der mit allem einverstanden sein kann, weil er alles
weiß und nichts mehr von sich aus tun muss, also gewissermaßen ins Nir-
wana der Kontemplation seiner selbst eingetreten ist.
Als positiver Begriff der Kritik taugt der Begriff der Aufhebung somit
nur für die immanente Durchsetzungsgeschichte, für die Entwicklung
des Wert- und Abspaltungsverhältnisses auf seinem eigenen Boden und
innerhalb der Grenzen seiner fetischistischen Identität, also bloß als ein
anderer Name für „Modernisierung" oder fortschreitende In-Wert-Set-
zung der Welt und fortschreitende Abspaltung, bis zur vollen Entfaltung
des darin enthaltenden Todestriebs gegen die eigene physische Existenz.
Es ist deshalb keine willkürliche und spitzfindige Begriffshuberei, kein
bloßer Streit um Worte, sondern es geht um die Sache selbst, wenn der
bislang in den wert-abspaltungskritischen Texten noch unproblematisch
verwendete Begriff der Aufhebung verworfen wird, um an seiner Stelle
von Überwindung und Bruch zu sprechen.
Das wäre auch das Ende der modernen Dialektik, die Überwindung
der Subjekt-Objekt-Bewegung, die in Selbstzerstörung mündet. „Dialek-
tik der Aufklärung" wäre insofern nicht der Widerspruch zwischen einem
an sich emanzipatorischem Gehalt des Subjekts und dessen destruktivem
Umschlag, in diesem Sinne gibt es sie nicht, sondern nichts anderes als
die an sich immer schon destruktive Selbstbewegung des Subjekts, die
gestoppt werden muss. Die identitäre Kontinuität der Subjektform ist zu
brechen, um die Fesseln der Aufklärungslogik zu sprengen und deren Ver-
blendungspotenz zu entkommen. Ceterum censeo subjectum delendum
esse.

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Über den Autor

Robert Kurz, geboren 1943, studierte Philosophie, Geschichte und Pä-


dagogik. Er arbeitet heute als freier Publizist, Autor und Journalist. Ro-
bert Kurz ist Mitbegründer und Redakteur der Theoriezeitschrift „EXIT!
- Krise und Kritik der Warengesellschaft". Seine Arbeitsgebiete umfassen
die Modernisierungs- und Krisentheorie, die kritische Analyse des ka-
pitalistischen Weltsystems, die Kritik der Aufklärung und das Verhältnis
von Kultur und Ökonomie. Er veröffentlicht regelmäßig Aufsätze in zahl-
reichen Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der
Schweiz.
Sein Buch „Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des
Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie" löste sofort eine gro-
ße Kontroverse aus: „Von brennender Aktualität ... die meistdiskutierte
Neuerscheinung" (Frankfurter Rundschau); „Eine aufregende Analyse des
Weltwirtschaftssystems im letzten Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende"
(Süddeutsche Zeitung); „Kurz' Buch ist ein wirtschafts-philosophischer
Thriller" (Capital).
Über das Buch „Weltordnungskrieg" heißt es unter anderem: „Entstan-
den ist eine ungemein scharfe Analyse der Globalisierungskrise. ... Sich
mit Kurz auseinander zu setzen heißt, an Schärfe in der Beobachtung und
Analyse zu gewinnen." (Publik Forum)

Buchveröffentlichungen u.a.:
Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernenso-
zialismus zur Krise der Weltökonomie (1991)
Honeckers Rache. Zur politischen Ökonomie der deutschen Vereinigung
(1991)
Der letzte macht das Licht aus. Zur Krise von Demokratie und Marktwirt-
schaft (1993)
Die Schmerzgrenze der Marktwirtschaft (1997)
Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft (1999)
Feierabend - zwölf Attacken gegen die Arbeit (2000)
Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des
Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung (2003)
Die antideutsche Ideologie (2003)

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