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Ekstatische Kunst- Besonnenes Wort

Aby Warburg und die Denkräume


der Ekphrasis

Herausgegeben von
Peter Kofler

"
StudicnVorl.ig
Stampato con il contributo del
DIPARTIMENTO DI ANGLISTICA, GERMANISTICA E SLAVISTICA
dell'Universit3. degli Studi di Verona

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des


- DIPARTIMENTO DlANGLISTICA, GERMANISTICA E SLAVISTICA
• der Universität Verona

lncontri Veronesi IX

essay & poesie


Band 25
Herausgeber: Elmar Locher

Die Deutsche Bibliothek-Cip-Einheitsaufnahme

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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

ISBN g78-no65-4788-8
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Titelbild: Gerrit Dou, Der Maler in seiner Werkstatt, 1647, Dresden, Gemäldegalerie

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Diese Ausgabe erscheint in Koproduktion mit dem StudienVerlag

ISBN g78-3-7065-4788-8
Innsbruck-Wien-München-Bozen

StudienVerlag, Erlerstr. 10, A- 6020 Innsbruck


order@studienverlag.at
www.studienverlag.at
Vorwort

Der vorliegende Band versammelt die überarbeiteten Fassungen der Vorträge,


die vom 14. bis 16. November 2007 auf der internationalen Tagung zum Thema
f>Ekstatische Kunst - Besonnenes Wort. Denkräume der Ekphrasis in Deutsch­
land von Wilhelm Heinse bis Aby M. Warburg« an der UniversitätVerona gehalten
wurden. Die Absicht war, die zentralen Begriffe von Warburgs Kultur- und Kunst­
denken für eine interdisziplinäre Erforschung der Beziehungen zwischen Wort
und Bild im untersuchten Zeitraum fruchtbar zu machen.
Beginnen Bilder, passend konstelliert, zu sprechen, dann stellt sich die Fra­
ge, in welchen Worten ihrer stummen Eloquenz zu antworten wäre. Isolde Schif­
fermüller betrachtet unter diesem Gesichtspunkt Warburgs rastlose Suche nach
dem >>Wort zum Bild«1 jene hybriden, magisch komprimierten Wortcollagen1 wel­
che die pathetische Eloquenz der Bilder zugleich aufnimmt und bannt. Um die
Eigenwilligkeit des sprach bildnerischen Gestus geht es auch im Beitrag von Clau­
dia Wedepohl. Warburgs anschauliche verbale Verdichtungen entpuppen sich
dabei selbst als energetisch aufgeladene, janusprofilige Pathosformulierungen,
die nicht nur in den Dienst einer Denkraumfindung genommen) sondern auch
theoretisch reflektiert werden. Dorothee Bauerle-Willert zeigt, auf dieser Linie
weiter denkend, wie sich Warburgs >>kreiselnde Notate« zu seinem Bilderatlas)
pendelnd zwischen Vollendung und Fragment, im Namen des Bedrohlichen, des
irreduzibel Anderen des Bildkunstwerks, das sich dem Greifen wie dem Begrei­
fen verweigert, jeder vor-geschriebenen Ordnung entziehen. Ausgehend von dem
erst in der jüngsten Forschung untersuchten Verhältnis zwischen Illustration
und Text in künstlerischen und kunsthistorischen Publikationen zeichnet Os­
kar Bätschmann die Geschichte der in diesen gestalteten Wort-Bild-Beziehungen
vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, von Albrecht Dürer bis Wassily Kandinsky und
Franz Marc, nach. Ulrich Stadler hingegen befragt die Tauglichkeit der Adjektiva
>arm( und >reich< als Metaphern zur Deskription und Bewertung von Kunstwer­
ken. Der Blick auf das ästhetische Schrifttum des 18. Jahrhunderts, von Johann
Christoph Gottsched bis Immanuel Kant, weitet sich dabei zu einer kritischen
Reflexion über den metaphorischen Charakter ästhetischer Begrifflichkeit. Aus
der Parallelisierung von Wilhelm Heinses und Aby Warburgs Beurteilungen der
Laokoongruppe resultieren für Peter Kofl.er bisher unbedachte >Korrekturen< an
der gleichnamigen Abhandlung Gotthold Ephraim Lessings. Die Enthüllung des
zweiten, dionysischen Gesichts des Laokoon führt zu einer Überschreitung der
Grenzen zwischen Kunstformen und Zeichensystemen. Hans-Georg von Arburg
wendet den warburgschen Begriff der Pathosformel unter semiotischem Aspekt
Claudia Wedepohl

„Wort und Bild«: Aby Warburg als Sprachbildner

Wort u. Bild als höhere Einheit sollen als seelische Dokumente nach
dem Wesen der europäischen Menschen (bzw. des Menschentums
überhaupt) befragt werden
(Aby Warburg an Edwin Seligman, 1927)

Ich habe mir sch on seit Jahren das Zie! gesetzt, die bildhaften Elemente als Doku­
ment zur Psychologie des geschichtlichen Ablaufs zu lesen, wobei jedenfalls das
erreicht wird, dass das Wort der eigenen Zeit dem Kunstwerk zugesellt und es so
der kunstgeschichtlichen Beredsamkeit ersc hwert wird, sich zwischen Kunstwerk
und Betrachter aufzupflanzen.1

In dieser mehr oder minder polemischen Stellungnahme aus dem Jahr 1927
lässt Aby Warburg seine vier Jahre zuvor geradezu als »Ekel« vor der ästhetisie­
renden Kunstgeschichte bezeichnete Abneigung gegen das »PathoS<i der Histo­
riographie deutlich erkennen.2 Dass der immer wieder Distanz zum Objekt an­
mahnende Warburg, der jegliches Pathos - sei es im Ausdruck des gestaltenden
Künstlers,3 im Einfühlungsbedürfnis des Betrachters4 oder eben im Urteil des
))Kritikers(< - strikt ablehnte, überrascht allerdings kaum.5 Die subjektive sprach­
liche Nachzeichnung eines Werkes der bildenden Kunst, zugespitzt })aestheti­
sierende Seelenmassage« genannt16 gehörte für ihn jener })Richtung der Kunst­
geschichte [an], die die Beschreibung des Einzelkunstwerks zum Selbstzweck
macht u. damit auch dem Besitzer das Recht auf persönlichsten Kunstgenuss
implicite einräumt.«7

1 Aby M. Warburg an Bernhard Schmeidler, 9.6.1927. Warburg Institute Archive (in der Folge
WIA), General Correspondence (in der Folge GC).
2 >)Ausserdem hatte ich vor der ästhetisierenden Kunstgeschichte einen aufrichtigen Ekel bekom­
men. Die formale Betrachtung des Bildes - unbegriffen als biologisch notwendiges Produkt
zwischen RcJ igion[s]- und Kunstübung- (was ich freilich erst später einsah) - schien mir ein so
steriles Wortgeschäft hervorzurufen, dass ich nach meiner Reise in Berlin im Sommer 1896 zur
Medizin umzusatteln versuchte.« Vortragsnotizen, Kreuzlingen, 1923. WIA, III.93+I.[8].
3 Künstlerisches Pathos nennt er, Italienische Kunst und internationale Astro!o,gie 1m Palazzo SchifanoJa
zu Ferrara, in: ders., Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge
zur Geschichte der europäischen Renaissance, Reprint der von Gertrud Bing unter Mitarb. v.
Fritz Rougemont cd. Ausg. (Leipzig, Berlin, 1932), neu hrsg. v. Horst Brcdekamp und Michael
Diers (Berlin 1998), 459-481; hier: 461, despektierlich >)Muskelrhetorik«.
Warburg, Leonardo-Vortrag, Hamburg, 1899. WIA, III.49.2.(A], spricht von »subjektivem Ge­
schmacb< mit dem >1Endziel des Genusses«. Seine Kritik bezieht sich aufden »Drang nach platter
Besitzergreifung durch unmittelbare Annäherung«, der sich gegen »Distanz haltende« Objek­
tivierung in der künstlerischen Darstellung wende. Moderne Kunst, 1902. WIA, III.27.2.2.[1].
>)Durch komplementäre Einfühlung" werde ))die Abkehr vom Objekt (von objektiver Besonnen­
heit) beschleunigt.« Zettelkasten: Aesthetik-Aphorismcn. WIA, IIl.2.I.[Ae] , 412 (24.7.1901).
Warburg benutzt für Forschungsliteratur durchgängig den Begriff »kritische Literatur<;.
f\by M. Warburg an Otto Lauffer, rr.11.r925. WIA, GC.
7 Aby M. Warburg an Edwin Seligmann, r.11.1927. WIA, GC.

23
l
Schon im Jahr 1903 hatte Warburg einen Brief an Adolph Goldschmidt ent­
worfen, in dem er die auf Superlative ausgerichtete »landläufige, enthusiastische,
biographische Kunstgeschichte« (die er historisch aus den Traditionen der Mi­
rabilienliteratur und der panegyrischen Heroenverehrung, speziell des Künst­
lergenies, sowie dem platonisierenden Idealismus herleitet) dem Sammlertum
der »besitzenden Klasse« zuordnet. 8 In expliziter Absetzung von den Vertretern
dieser )>Richtung der Kunstwissenschafo< plädiert er für größtmögliche Objekti­
vität, in deren Zeichen es allein der »zeitlich dazu gehörigen Stimme«, also der his­
torischen Textquelle, erlaubt sein sollte, das Kunstwerk zum Sprechen bringen.9
Für den Hamburger Kulturwissenschaftler hieß das, dass allein die Methode,
welche die »soziologischen Bedingtheiten« der Entstehung eines Werkes berück­
sichtigt, Wissenschaftlichkeit gewährleistet.'° Ihre Durchsetzung betrachtete er,
wie aus einem ebenso polemisch formulierten Brief an Carl Justi deutlich wird,
als persönliche Aufgabe. Justi gegenüber spricht Warburg drei Jahre nach dem
Goldschmidt-Briefvon einem )>Kampfe gegen die Anti-Historiker<'i in dem zu de­
monstrieren sei, >)daß man das Kunstwerk nur durch die eigene Zeit und nicht
durch se!bstbespiegelnden Egoismus begreift«."
In ihrer Radikalität war die Forderung, allein Dokumente sprechen zu lassen,
selbstverständlich für Warburg nicht einlösbar. u Die Tatsache, dass es ihm letzt­
lich auch nicht um eine kompromisslose Auslegung der immer wieder plakativ
gesetzten Formel »Wort und Bild« ging, sondern um eine »philologisch« genannte
historische Genauigkeit, die - sprichwörtliche - Detailgenauigkeit, wird aus der
folgenden Untersuchung deutlich werden. Dabei richtete er sein Hauptaugenmerk
aufden sprachlichen Ausdruck, mit dem der »Kritiker'< seine Ergebnisse vorträgt,
denn Wissenschaftlichkeit definierte sich für Warburg ganz entscheidend über
die vermittelnde Sprache. Sich von dem als »phantastisch«, )>poetisch«, )> senti­
mental<< oder )>moralisch(< bezeichneten Stil der Enthusiasten distanzierend, ent­
wickelte er eine eigene, neuartige Ausdrucksweise, deren spezifische Merkmale
vor allem die pointierende syntaktische und terminologische Verdichtung sowie
ein hoher Grad an Anschaulichkeit sind. Dass seine oft nur mühsam hervorge­
brachte idiosynkratische Sprache keineswegs zufällig war, sondern von Warburg

WIA, IIl.57.2+[1-4] . Leicht vom Original abweichend publiziert in: Ernst H . Gombrich, Aby
Warbur,g. Eine intellektuelle Biographie (Frankfurt am Main 1981), 181 f. Nach der Herleitung
der Richtungen unterteilt Warburg die J>enthusiastischen Kunstgeschichtler<( in: ))phantastisch
sehnsüchtige", ;>poetisch heroisch rekonstruierende«, ))(sentimental heroisch) religiös politisch
rekonstruierende«, >>moralisch heroisch reconstruierende«, ))als das Milieu überragende Per­
sonefü1 und »Attribuzlel'«,
9 Aby M. Warburg an Edwin Seligmann. WIA, GC.
WIA, 111.57.2.3.[4].
n Aby M . Warburg an CarlJusti, 3.8.1906. WIA, GC.
Auch in seinen Bildbeschreibungen hatte er, wie seine ehemals engste Mitarbeiterin Gertrud
Bing, A.M. Warburg, in: Aby M. Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigun,gen, hrsg. v. Dieter
Wuttke (Baden-Baden, 31992), 437-454; hier: 439, feststellt, >lästhetische Doktrinen« noch nicht
vollkommen überwunden.
als eine zentrale Form des menschlichen Ausdrucks - obgleich selten explizit
themati siert - auch theoretisch reflektiert wurde) ist die Ausgangsthese der fol­
gen den Ü berlegungen.'3
)>Sprache« ist innerhalb des warburg'schen Werkes ein großes Thema. Drei
Aspekte dieses Themas, denen im Folgenden nachgegangen werden soll, lassen
sich ungefähr folgendermaßen umschreiben:
1. Die Beschreibung als eine phänomenologisch vorgehende sprachliche Nach­
zeichnung psychologischer Konstellationen, die sich in einem spezifischen
historischen Moment bildprägend auswirken.
2. Die Metaphernbildung, die - analog zu der zwei Extreme menschlichen Aus­
drucksvermögens (Bild und Zeichen) ausgleichenden Symbolschöpfung - Wort
und Bild sprachlich verschmilzt.
3. Die Begriffsprägung, die, wie beispielsweise Warburgs bekanntes Komposi­
tum »Pathosformel« (emotionales Pathos und rationale Forme!) zeigt) von einer
Metapher ausgeht.

Warburgs bekanntestes Beispiel einer Pathosformel ist die als Ninfafiorentina


bezeichnete, im sogenannten i>Nymphenfragment« thematisierte »laufende Frau«.
Obgleich der Begriff der Pathosformel offiziell erst 1905 von Warburg eingeführt
wurde, war er konzeptionell schon in dem zwischen 1900 und r9or im Dialog mit
dem Literaten Andre Jolles entstandenen Versuch über Domenico Ghirlandaios
Fruchtkorb tragende Dienerin im Chor von Santa Maria Novella entwickelt. An
diesem Text lassen sich alle drei soeben umrissenen >sprachlichew Aspekte sei­
ner kulturwissenschaftlichen Methode hervorragend veranschaulichen) denn
die Ninfa ist als ins Auge springendes >bildhaftes< Phänomen nicht nur das ent­
scheidende Detail der Chorfresken, sie ist für den Hamburger Gelehrten auch ein
spannungshaltiges Symbol ihrer Epoche. Doch mehr noch: man kann an War­
burgs Nymphenbrief zeigen, wie seine auf theoretische Reflexionen aufbauende
Sprachbildung funktioniert, ja wie die Metapher für ihn als spannungsgeladene
Verbindung polarer Gegensätze zur Denkfigur wurde.

13 Gertrud Bing, die der Heidelberger Akademie der Wissenschaften eine »Abhandlung über die
Sprache Warburgs<< zusagte, war wohl die erste, die die Bedeutung von Warburgs Stil als eigent­
lichen Zugang zu seinem Werk erkannte. Da ihre Abhandlung nie geschrieben wurde, sind ihre
Überlegungen lediglich in Umrissen aus ihren knappen Skizzen von Warburgs Leben und Werk
zu rekonstruieren. Vgl. ebd., 440. Warburgs Sprache wird ferner in folgenden Publikationen
thematisiert: Gombrich, Aby Warburg, (Anm.8), i8-34; Roland Kany, MnemosynealsPrngramm. Ge­
schichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und
Benjamin (Tübingen 1987), 178; Charlotte Schoell-Glass, >Contact bekommen1. Warburg schreibt,
in: Cora Bender, Thomas Hense!, Erhard Schüttpelz (Hrsg.), Schlangenritual. Der Transfer der
Wissensformen vom Tsu'ti'kivc der Ho pi bis zuAbyWarburgs KreuzlingerVortrag (Berlin 2007),
283-295; Martin Treml, Warburgs Nachleben. Ein Gelehrter und (s)eine Denkfigur, in: M.T., Daniel
Weidner (Hrsg.), Nachleben der Religionen. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur Dia­
lektik der S<ikularisicrung (München 2007), 28-31; Thomas Hensel, Aby Warburgs Graphien oderWie
aus der Kunstgeschicht� eine Bildwissenschaft wurde (im Druck). Meine Überlegungen wurden ihrer­
seits durch Gespräche mit Christopher Johnson und Davide Stimilli bereichert. überdies danke
ich Benjamin Steiner für anregende Diskussionen und die kritische Lektüre dieses Textes.

25
l
l Sprachbildung

Warburgs früh einsetzendes und anhaltendes Interesse für die Psychologie


der Sprachbildung ging, wie vor allem Roland Kany überzeugend dargelegt hat,
mit größter Wahrscheinlichkeit aufden Einfluss seines Bonner Lehrers Hermann
Usener zurück.14 Bei dem klassischen Philologen, der als Vorreiter einer verglei­
chenden Kulturwissenschaft religions- und sprachgeschichtliche Phänomene
komparatistisch untersuchte) hörte Warburg im Wintersemester 1886/87 ein Kol­
leg über »Mythologie«. '5 Thema der Vorlesung war die Mythenbildung, die der auf
Giambattista Vicos Principj di una scienza nuova (1725) rekurrierende Usener unter
explizitem Verweis aufTito Vignolis Studie Mythus und Wissenschaft (1880) grund­
sätzlich psychologisch erklärte.10 Weiter forciert worden sein muss Warburgs
Idee) eine ))vergleichende Betrachtung« der »Gebiete(< Sprache und Kunst anzu­
stellen, durch die Lektüre von Wilhelm Wundts Völkerpsychologie,'7 über die er auf
Hermann Osthoffs Arbeit über das Suppletivwesen stieß.18 Osthoffs sogenann­
te »Urwurzeln« der Sprache inspirierten ihn nämlich dazu, analoge, »primitiv«
genannte »Urworte« (»Kärnpfern1, i>Gehen«, »Laufern11 »Tanzen11, >>Greifen<1) oder
»Urwurzeln« ())Laufo, »Greif«, ))Tod«) der Gebärdensprache zu definieren, '9 für de­
ren Deutung er die als Suppletivwesen bezeichnete, von Osthoff psychologisch
gedeutete ))Intensifikatiorn< durch Wortstammwechsel fruchtbar machte. io Ein
anschauliches Beispiel dafür (sowie generell für Komposita aus unterschiedlichen
morphologischen Komponenten, nach denen Warburg fast obsessiv suchte) ist
seine eigene, auf den Wechsel des Wortstamms »grei:fo: Greifen - Ergriffenheit­
Begreifen beruhende Schöpfung ))vom Greiftier zum Begriffsmenschen<1. Dieses

14 Vgl. Kany, MnemosyJH als Programm, (Anm. 13), 2, 169, 173 f. und 185.
15 Vgl. ebd„ 67?9 und 185. Vgl. auch Bernd Vil!hauer, Aby Warburgs Theorie der Kultur. Detail und
Sinnhorizont (Berlin 2002), 28-31.
16 Vg l. Kollegmitschrift, Usener, 1886/87. WIA, Ill.31.I.1.[40]. Vgl. auch Kany, Mnemosyne als Pro­
gramm, (Anm. 13), 73 f.

Mythus und Sitte, Bd. l, 2: Die Sprache (Leipzig 1890). Vgl. Zettelkasten 5r: Philosophie- Psycho­
17 Wilhelm Wundt, VO!kerpsyrhologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache,

logie. WIA, III.2.1.[05 1/028361].


18 Hermann Osthoff, Vom Supp!etivwesen der indonermanischen Sprachen. Akademische Rede zur Feier
des Geburtsfestes des höchstseligen Großherzogs Karl Friedrich am 22. November 1899, bei
dem Vortrag des Jahresberichts und der Verkündung der akademischen Preise gehalten (Heidel­
berg 1899). Vgl. Zettelkasten 51: Philosophie- Psychologie. WIA, III.2.1.[058/028362-364]. Die
Notizen zum Suppletivwesen wurden von Warburg unter dem Stichwort ))Ausdrucksstil« in seine
Zettelsammlung eingeordnet; dort findet sich auch der Hinweis aufWundts Bd. I, 2 (Sprache) der
)!Völkerpsychologie« [05r/028359] sowie aufUseners ))Götternamen<( und ))Griechische Etymo­
logie<( [051/028364].
r9 WIA, III.113 .9.[r9] ; Aby Warburg, Mnemosyne. Einleitung, in: ders., Der Bilderatlas Mnemosyne,
hrsg. v. Martin Warnke (Berlin 2000), 3-6; hier: 3.
))Mntatis mutandis läßt sich ein ähnlicher Prozeß [wie der von Osthoffbei Adjektiven und Ver­
ben nachgewiesene Wortstammwechsel in der Komparation oder Konjugation ohne daß die
Vorstellung der energetischen Identität der gemeinten Eigenschaft oder Aktion darunter leidet,
sondern eine Intensivierung der ursprünglichen Bedeutung bewirkt] auf dem Gebiet der kunst­
gesta\tenden Gebärdensprache feststellen.« Warburg, Mnemosyne, (Anm. 19), 3. Vgl. Kany, Mne­
mosyne als Pro,grnmm, (Anm. 13), r 6 9 u n d 176.
wie derholt zitierte formelartige dictum ist ein Wortspiel mit Derivationsstamm­
[ormen, deren Recherche sich in einem von Warburgs Zettelkästen nachweisen
läss t. " Es umschreibt nicht nur knapp die Evolutionsstadien (Greiftier und Be�riffs­
mensch)1 sondern auch die von Warburg definierten Extreme menschlichen Ver­
haltens (instinktives Gre[fen und reflektiertes Be9feifenJ. Während die angedeutete
diachrone Abfolge eigentlich eine Metapher der Kulturgenese ist, spielt die Formel
auch auf die synchron existierenden Pole des Verhaltenspektrums an. 22

II Symbol und Metapher

Anscheinend war Warburg bereits von Hermann Usener mit der grundsätz­
lichen Analogie von Symbol und Metapher vertraut gemacht worden; in seiner
Kolleg-Mitschrift notierte er1 dass »[z]u der Personification [„.] als zweiter Vor­
gang die Metapher« komme. ))Die metaphorische Darstellung besteht darin,
daß das Fremde, Unverstandene unserer Vorstellung nahe gebracht wird, durch
Uebertragung einer unbekannten Vorstellung auf dieselbe.«23 Diese Bemerkung
steht in engstem Zusammenhang mit den von Tito Vignoli dargelegten Thesen
zum Ursprung des Mythos, die Warburg wohl noch im selben Semester studierte.
In seinem Exemplar der Studie Mythus und Wissenschaft markierte er unter anderem
gerade jene Passage, die von der Rückführung der »directe[n] Personification von
Naturerscheinungen« und der »indirecte[n]« Metaphernbildung auf einen »ein­
heitlichen, allumfassenden causale[n] Act der geistigen Thätigkeit« handelt.'4
Konkret auf die Zeit der Arbeit an seiner Dissertation (1890-1892) datierbar
sind Warburgs erste eigene theoretische Reflexionen über die Analogie von Sym­
bol und Metapher. Sie stützten sich nachweislich auf die Lektüre von Friedrich
Theodor Vischers Das Symbol und Alfred Bieses Das Metaphorische in der dichterischen
Phantasie und Das Associationsprincip und der Anthropomorphismus in der Aesthetik.25
21 Vgl. Zettelkasten rn: Ikonologie- Probleme, WIA, lll.2.I.[000/042301; 000/042425].
22 In den Aphorismen sowie in der Kladde mit dem Titel »Symbolismus aufgefaßt als (Funktion der
Schwerkraft im geistigen Haushalt) Umfangsbestimmung(( verwendet Warburg den Terminus
))Greifmensch<{ (im Gegensatz zu l>Denkmensch{<). In seiner Einführung zum Vortrag von Karl
Reinhardt verwendet Warburg, Per monstra ad sphaeram. Sternglaube und Bilddeutung. Vortrag in
Gedenken an Franz Roll und andere Schriften 1923 bis 1925, hrsg. v. Davide Stimilli (München,
Hamburg 2008), 59-60; hier: 60, im Oktober 1924 die zitierte Formel.
23 WIA, III.3I.I.I.[87].
24 Tito Vignoli, Mythus und Wissenschaft. Eine Studie (Leipzig 1880). Das Exemplar in der Warburg
Institute Library (DAN 50) enthält Warburgs handschriftlichen Vermerk 1>gekauft W.S. 86<<.
Ebd., 16.
25 Friedrich Theodor Vischer, Das Symbol, in: Philosophische Aufsätze (Leipzig 1887), 153-193; Al­
fred Biese, Das Metaphorische in der dnhterischen Phantam. Ein Beitrag zur vergleichenden Poetik
(Berlin 1889); ders„ Das Assodatwnsprinop und der Anthropomorphismus in der Aesthetik. Ein Beitrag
zur Aesthetik des Naturschöncn (Kiel 1890). In seinen als J>Grundlegende Bruchstücke<< bekann­
ten .Fragmenten zur Ausdruckskunde notierte Warburg im Jahre 1897 neben einem von ihm
selbst am IO. März 1890 niedergeschriebenen Aphorismus zur Differenzierung von ))causaler«,
>)poetischer<< und »wissenschaftlicher Ideenassociation«, in die Zeit der Niederschrift falle eben
jene Lektüre von >Nischers Symbol und Bieses das Metaphorische in d[er] Dichter-Phantasie und

27
Ein Hauptthema des Literaturhistorikers Biese, dessen Einfluss auf Warburg of­
fensichtlich ebenfalls erstmals von Kany richtig eingeschätzt wurde)26 ist der das
Wesen der Metapher charakterisierende Anthropomorphismus, die sprachliche
Verschmelzung zweier) vom menschlichen Standpunkt aus als solche empfun­
dener Gegensätze: Inneres und Äußeres1 Natur und Geist oder Erfahrungswelt
und Welt der Erscheinungen. Warburg, der seinerzeit den Anthropomorphismus
selbst begrifflich zu erfassen versuchte, nennt ihn »Beseelung« (»Benennung«,
»Umschreibung<i, »Bezeichnung«) der unbeseelten Außenwelt. 27 Als Versuch ei­
ner Ordnung jenes Chaos1 mit welchem jedes Subjekt vermeintlich konfrontiert
ist, stellt er für den Kulturwissenschaftler eine Form der »Ursachensetzung<i dar
- einen Grundakt menschlichen Verhaltens, der aufAusgleich der (von ihm »Pole«
genannten) oppositionellen Extreme subjektivierender Aneignung und objekti­
vierender Relativierung der Außenwelt zielt. Anthropomorphismus war somit die
treffende Bezeichnung für ein Ausgleichprodukt der sich polar gegenüber stehen­
den Extreme des Verhaltensspektrums, ein tertium comparationis von Symbol und
Metapher. Da Symbol und Metapher gleichwohl nicht identisch sind, versuchte
Warburg in einem weiteren Schritt, den Unterschied zwischen ihnen sowie dem
Bild zu definieren:

1. Symbol: ))Löwe d[es] Lucas((.


II. Vergleichung (Metapher): »geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen
er verschlinge«.

III. Bild: d[er] Löwe in d[er] Wüste.

ad 1 Theileigenschaft auf d[ie] l(enntnis d[er] äußerlichen Beziehung eines zweiten


Objektes zum gegebenen gegründet.

ad II Theileigenschaft, isoliert u. dauerhaft durch ldentification d[er] Eigenschaft


mit einem lebenden Träger derselben.

ad III Zurückgreifen auf d[as] Erinnerungsbild ohne lsolierungstendenz.2�

Solche und ähnliche Formulierungen flossen in Warburgs frühe Versuche


ein, Ausdrucksphänomene auf der Basis psychischer Mechanismen zu syste­
matisieren und in geometrischen Schemata und Tabellen zu erfassen. Verschie­
dene Versuche dieser Art sind in einigen zwischen 1896 und l90I unter dem Titel
Symbolismus aufgefaßt als Umfangsbestimmung gesammelten Schemata erhalten.
Hier bildet )>Sprache<( neben »Kunsti< eine eigene Kategorie; ))Abbild und Form«

Jdeenassociation und Anthropomorphismus((.


26 Vgl. Kany, Mnemosync als Programm, (Anm. r3), 150.
27 WIA, llI.2.1.[Ae] , Nr. 164 (29.3.r89r); Nr. 193 (rr.6.1891). Zahlreiche weitere Aphorismen enthal­
ten die Begriffe ))Anthropomorphismus{< oder »anthropomorphistisch<1, )>Beseelung« und ))Ver­
gleich<< oder ))vergle i chend< ( .
28 WIA, Ill.2.1.[Ac], Nr. 52; 53 (n+r890); Grundlegende Bruchstücke. WIA, III-43.i.i.[8r].
werden neben »Vergleich« (beziehungsweise ))Bild« neben »Wort<<) gestellt und
„Symbolik der Sprache« neben »Symbolik der Kunst« (Abb. r u. 2). Wichtiger ist
jedo ch, dass man dort auch Stufenmodelle oder Reihen wie >)Greifmensch(<, »ab­
tastender Künstler« und sprechender »Denkmensch« oder ))greifend-aneignend<<,
))abtastend-bildend« und »sprechend-schreibend« findet. Sie belegen, dass
Warburg - entsprechend der zitierten, unter 1 und II konstatierten Abstraktions­
leis tung - die Begriffsbildung auf einer höher entwickelten Kulturstufe als das
Kunstprodukt ansiedelt. 29

III Phänomenologie

Diese hochgradig abstrahierten Überlegungen fußen auf Warburgs Studien


verschiedenartiger Formen des menschlichen Ausdrucks - Artefakten wie Ri­
tualen -, in deren Wesen er einzudringen versuchte, um es sprachlich wieder
hervorzubringen. In dieser Beziehung hatte bereits Gertrud Bing, Warburgs ehe­
mals engste Mitarbeiterin, die »ungewöhnlich enge Verbindung<< betont, die bei
ihm »zwischen Beschreibung und Interpretation besteht.<< Er bediene sich »einer
ausserordentlich gedrängten Ausdrucksweise<,, schreibt sie, die es ihm erlaube,
»seine allgemeinen Gesichtspunkte durchblicken zu lassen, ohne sie von seiner
Darstellung des Einzelfalls zu trennen<(.30 Genauer genommen handelt es sich
sogar um ein Ineinandergreifen von Beschreibung, Interpretation und theore­
tischer Reflexion, denn in Warburgs Augen musste das Fallbeispiel nach zwin­
genden Regeln der Kausalität die generellen Mechanismen der Kunstproduktion
bestätigen.31 Anders ausgedrückt: Die Analyse des )Details< als dem >>Indikaton<
einer Epoche sollte belegen, dass die wissenschaftlich korrekte, geradezu po­
sitivistische Methode sich gegenüber einer willkürlichen Vereinnahmung von
Kunst behaupten konnte.32 »Ziel(< dieser von Warburg »kulturwissenschaftliche
Methode(< genannten Vorgehensweise3' blieb es zu zeigen - so Gertrud Bing wei­
ter -, dass jedes einzelne »Kunstprodukt Ausdruck universaler menschlicher Er­
fahrungen« sei.34 Zwar ist die Nähe zu Karl Lamprechts gleichsam naturwissen­
schaftliche Genauigkeit einfordernder 1>kulturhistorischer Methode« hier nicht

29 Vgl. WIA, llI.2.r.[Ae] , Nr. 421 (1r.3.1901); Symbolismus aufgefaßt als Umfangsbestimmung.
WlA, llI.45.r.[41] (1r.3.1901).
30 Bing, A.M. Wmburg, (Anm 12), 440. Vgl. Kany, Mnemosyne als Programm, (Anm. 13), 3 .
31 ))Unser Werkzeng. Grundsätzlich: Ausgang von der positiven Einzelheit, die wir auslegend
behandeln. Exegese morc majorum. (7.12.[19]27); !Jnser Werkze11g. Gelehrte Hilfsmittel. Her­
anziehen aller zugänglichen encyclopaedischen u. Sammler-Handbücher (7.12.[19]27)(<. WIA,

32 Vgl. Kany, Mnemosym als Programm, (Anm. 13), 168.


Ill.n3.6.2.[90; 91]. [Untcrstreichungen i m Original]

33 Einer der ersten, wenn nicht sogar der erste Nachweis du; Begriffs Kulturwissenschaft ist eine
Tagebuchnotiz vom 4. August 1900: »Mit Max Idee einer Warburg-Bibliothek für Kulturwissen­
schaft besprochen<c Tagebuch. WIA, IILw.r.[39']. Vgl. Gombrich, Aby Watbu1:g, (Anm. 8), 167.
34 Bing, A.M. Warbu1:g, (Anm. 12), 440. Vgl. Kany, Mnemosyne als Programm, (Anm. 13), 139·

29
zu übersehen135 doch erweiterte der Hamburger Privatgelehrte Lamprechts rein
>historische< Perspektivierung um die Herausarbeitung psychologisch-anthropo­
logischer Konstanten.
Was Gertrud Bing eine »ungewöhnlich enge Verbindung von Beschreibung
und Interpretation« nennt und Warburg selbst »gedrungene Interpretation, die
in einem Punkte [ ...] die Eigenbeleuchtung versucht«, beruht nur selten auf der
Beschreibung eines Artefakts,36 sondern ist meist ein sprachliches Nachzeich­
nen des Prozesses seiner Entstehung. Das Erfassen, insbesondere das sprach­
liche, der psychischen Implikationen der Bildprägung - ihrer )>apriorischen
Konstitutionsbedingungen«37 - war für Warburg das »Problem, das [ihn]
kommandiert[e]«; etwas präziser gefasst beschäftigten ihn zwei verschiedene
Aspekte des »Einfluß der Antike« genannten Phänomens:'8 zum einen die grund­
sätzlichen psychologischen Voraussetzungen der Kunstproduktion, zum anderen
die historisch spezifische, also die »sozialpsychologische« Konstellation, die die­
se »psychotechnischen Vorgänge«39 in Gang setzt; anders ausgedrückt: die Funk­
tionen und die Bedingungen der Erinnerung. Im Dezember 1924 schrieb er an den
Anthropologen Franz Boas:

Im Grunde ist das Problem vom Einfluss der Antike nur der phänomenologische
Niederschlag eines ganz innerlichen psychologischen Problems, das <.„?> in·
dividuelle Bildgedächtnis - Bild im allgemeinsten Sinne gemeint - als soziale
Funktion bei der Umschaltung dynamischer Zustände des Individuums im ewigen
Wechsel von dynamischer Entladung und intentionaler Spannung am historischen
Präparat zu begreifen.411

35 Ich verdanke den Hinweis aufKarl Lamprechts Aufsatz Die kulturhistori sche Methode (Berlin 1900)
Benjamin Steiner. Vgl. Gombrich, Aby Wa1bur_g, (Anm. 8), 48-56; Wolfgan g Kemp, Walter Benjamin
und Aby Warburg, in: KritischeBerichte 3 (1975), 5-25; hier: 12; Kathryn Brush, Aby Warburg and the
Cultural Historian Karl lamprecht, in: Richard Woodfic!d (Hrsg.), Art History as Cultural History.
Warburg's Projects (Amsterdam 2001), 65-92 und V i l l haucr, Aby WarburgsTheorie der Kultur, (Anm.
15), 25-28.
36 Aby M. Warburg an Walter Lenel, 23.1u906. WIJ\, GC.
37 Gottfried Boehm, Bildbmhreibun_g. Über die Grenzen von Bild und Sprache, in: G.B., Helmut
Pfotenhauer (Hrsg.), Beschreibun_gskunst- Kunstbcschreibun_g. Ekphrasis von der Antike bis zur Ge­
genwart (München 1995), 23-40; hier: 25.
38 Aby M . Warburg an Carl Justi, 3.8.1906. WIA, GC. Zu »Problem(< und »Problembibliothek( siehe
auch Aby Warburg, Ta_gebuch der Kulturwimnschefthchen Bibliothek WarburB, hrsg. v. Karen Michels
und Charlotte Schoell-Glass (Berlin 2001), 130 u n d 488. Vgl. Treml, Warburgs Nachleben, (Anm.
13), 37·
39 Allgemeine Ideen, 1927. WIA, III.rn2.1+2.[9]; Aby M. Warburg an Max M . Warburg. WIA, GC.
Vgl. Horst Bredekamp, 14 Stunden Fahrt. 4 Stunden Rede<. Aby Warburg besucht Albert Einstein, i n :
Michael Hagner (Hrsg.), Einstein on the Beach. D e r Physiker a l s Phänomen (Frankfurt am Main
2005), 165-182.
40 Aby M. Warburg an Franz Boas, 13.12.1924. WIA, GC. [Hervorhebung der Verfasserin, CW]

30
r
IV Formulieren

Aby Warburgs Bemühungen, einen sprachlichen Ausdruck für seine Thesen zu


finden, ja überhaupt etwas endgültig Ausformuliertes zu Papier zu bringen) wa�
ren offenbar in seinen Florentiner Jahren zwischen 1897 und 1904 besonders quä­
lend; dennoch sollten diese selben Jahre eine seiner produktivsten Phasen einlei­
ten. Mit der Darstellung seiner Forschungsergebnisse) den hoch kompensierten
Satzperio den, hatten die Kollegen des Privatgelehrten allerdings oft Schwierig­
keiten. 4' Im Jahr 1902 kommentierte sein Freund und Kollege Ernst Schwedeler­
Meyer beispielsweise den gerade erschienenen Aufsatz Flandrische Kunst und jloren­
tinische Frührenaissance mit den Worten: >)Bei dem ersten Absatz haben Sie wieder
recht komprimiert. [„.] Andere geben ein Diner mit sechsmal leeren Tellern. Sie
machen am liebsten aus sechs Gängen eine einzige Pille.<(42 Kommentare wie die­
ser sowie der mangelnde Erfolg beim Versuch, in Fachkreisen Anerkennung zu
finden, gaben Warburg ohne Zweifel zu Denken. 1906 schrieb er an den Histori­
ker Walter Lenel:

Es wird mir immer klarer, daß ich mit meiner >polyphonen< Meth ode im absoluten
Gegens[atz] zum Zug der Zeit stehe, die dünnere, schmackhaftere Concentrations­
verdichtung verlangt. Ich sehe mich aber nicht in der Lage, wesentliche Conces­
sionen zu machen: entweder mein Princip der gedrungenen Interpretatio n, die in
einem Pun kte die Eigenbeleuchtung mit allen Mitteln versucht, setzt sich durch,
oder ich habe in der l<unstgeschichte nichts mehr zu s uchen ; vielleicht nichts
mehr in der Historie überhaupt.43

Infolge der einflussreichen Intrllectual Biography Ernst Gombrichs ist das


>)Gedrungene(< des warburg'schen Stils verschiedentlich zum S ymptom einer
aus »seelischen Konflikten« erwachsenen ))Schreibhemmung« erklärt worden. 44
In den häufigen Neuansätzen und nach Endgültigkeit suchenden Umformulie­
rungen des Gelehrten sieht sein Biograph den Spiegel einer �>Ruhelosigkeit«, die
zu einer Aufladung des Geschriebenen mit »innerer Spannung« geführt habe. 45
Der Schreibprozess sei ein quälendes )>Ringen darum [gewesen], alles auf einmal

41 Zwischen 1902 und 1906 muss Warburg seine Kollegen mehrfach brieflich dazu aufgefordert ha­
ben, seine Texte zu kommentieren. Er erhielt Antworten wie: l>Thr Stil scheint mir zu schwer, mit
Parallelismen belastet. [...] Ich glaube, Sie müssten jeden Absatz mal daraufhin durchsehen, ob
nicht jeder Satz sich etwas vereinfachen liesse. Dann käme der reiche und originelle Inhalt noch
voller zur Geltung.(< Richard Meyer an Aby M. Warburg, 23.11.1906. WIA, GC.
42 ErnstSchwedeler-Meyer an Aby M. Warburg, 17.n.1902. WTA, GC.
43 Aby M . Warburg an Walter Lene!, 23.1u906. WTA, GC.
44 Gombrich, Aby Warbur,g, (Anm. 8), 23 und 143· Zuletzt hat Karen Michels, Aby Warbur,g. Im Bann­
kreis der Ideen (München 2007), 55, diese Schreibhemmung in ihrer Warburg-Biographie an­

angemerkt werden, dass Gombrichs Ausführungen zu Warburgs Sprachstil für die deutsche
gesprochen. Vgl. Kemp, Walter Benjamin und Aby Warbur,g, (Anm. 35), ro. Es sollte an dieser Stelle

Ausgabe der Biographie verfasst wurden und in der englischen Originalausgabe der Tntellectual

Gombrich, Aby Warbur,g, (Anm. 8), 28 f.


Bio,graphy fehlen.
45

31
zu sagem(, komplexe psychologisc he Phänomene sprachlich in dieselbe Gleich­
zei tigkeit zu bringen, die s ich in der b ildenden Kunst erzeugen lasse+6 - insge­
samt ein lähmender Prozess, in dem Gombrich den Hauptgrund für Warburgs
Entscheidu ng zu erkennen meint, Privatgelehrter zu bleiben.47 Damit bezieht
Gombrich sich, wie Cbarlotte Schoell-Glass zu Recht unterscheidend anmerkt, in
erster Linie auf den Akt des Formulierens und weniger auf das Wesen der daraus
8
resultierenden Sprache selbst. 4 In deren Spannungsgeladenheit erkennt Gom­
brich gleichwohl intuitiv das Besondere: weniger den Duktus gängiger wissen­
schaftlicher Prosa, sondern eher die Sprache eines Dichters. 49

V ))Laufende Frau«

Aus Warburgs Nachlass geht deutlich hervor, dass dieses Ringen um den
sprachlichen Ausdruck nicht nur ein wichtiger Gegenstand der zahlreichen Ge­
spräche mit seinem Florentiner Freund, dem holländischen Schriftsteller und
Kritiker Andre Joiles, war, sondern zunehmend zu einem belastenden Faktor in
dieser Beziehung wurde. 50 Zwar schätzte der Hamburger Kunsthistoriker Jolles
sehr, doch klagte er oft über dessen unsachliche, persönlich verletzende Kritik.

46 )1Aberder Zauber und auch die Schwierigkeit seiner Schriften liegen gerade in diesem ständigen
Ringen, alles aufeinmal zu sagen. Er hat oft sichtlich Mühe, derGes[ch]ichte Herr zu werden und
das Nebeneinander einer historischen Situation in ein sprachliches Nebeneinander zu zwingen.
So entwickelt er einen vielschichtigen Stil, eine Art von sprachlicher Kontrapunktik, die es ihm
ermöglichen soll, ein Thema anklingen zu lassen, während gleichzeitig das Gegenmotiv in der
Begleitung weiterläuft. So wie der Zuhörer einer Symphonie muß auch der Leser von Warburgs
Schriften daraufeingestelltsein, aufdie lapidarste Anspielung anzusprechen und dem polypho­
nen Aufbau des Arguments zu folgen.(( Ebd., 31.
47 ))In der Tat wird der Leser bei einiger Beharrlichkeit entdecken können, daß es an Warburgs
Lebenswerk kaum etwas Aufregenderes gibt als diese ruhelose Suche, die einer tiefenUnzufrie­
denheit über die landläufige Interpretation der Renaissance entsprang [...] Zeitweise hatte diese
Unzufriedenheit, dieses Bedürfnis, die Bildelemente zu verschieben und neu zu ordnen, eine
fast lähmende Wirkung aufWarburg. Das Bild wo!lte sich nicht setzen. [... ] Die Tagebücher und
Briefe bestatigen, welche Bedeutung diese Kämpfe für Warburgs Leben hatten; sie führten dazu,
daß er bei mehreren Anlässen einen Rufauf einen Lehrstuhl ablehnte(<. Ebd., 19.

dung weicher Bleistifte als Heil- oder Gleitmittel im Akt der Formulierung. Vgl. ebd., 284 t:
48 Vgl. Schoell-Glass, 1Contact bekommen<, (Anm. 13), 283. Schoell-Glass betont auch die Verwen­

49 Vgl. Gombrich, Aby Warburg, (Anm. 8), 29. Vgl. auch Kenneth Clark, Anothn Part q_fthe Wood. A
Seif-Portrait (London 1974), 189.
50 über ]olles, der selbst archäologische wie auch kunsthistorische Texte verfasste, urteilte War­
burg, an Johann Georg Mönckeberg, Briefentwurf, ohne Datum [wahrscheinlich Januar 1900].
WfA, GC. Publiziert in: Walter Thys, Andri)alles (1874 - 1946) - 1i_gebi!deter Va,gant<i: brieven en do­
cumenten (Amsterdam 2000), 208, folgendermaßen: »Er besitzt für Kunst und Wissenschaft ein

ter gefürchteter Kritiker. Er ist ohne Zweifel aus dem Stoff gemacht, aus dem ganz <?> bedeu­
gleichmäßiges, geniales Verstfodnis, ist selbst ein anerkannter guter Dichter und sehr gewand­

endschap, in: Nexus 1 (1991), 5-18; Bernd Roeck, Florenz 1900. Die Suche nach Arkadien (München
tende Leute entstehen können.« Vgl. Antoine Budar, Aby Warbur9 en Andre'Jo!les een Flare11tijnse vri­

2001) 229-241; Silvia Contarini, Trafolk!ore e srienza del!'arte: !eformedel mito inAndri]ol!es, in: Marco
Bertozzi (Hrsg.), Aby Warburg e le metamorfosi degli antichi dei (Ferrara 2002), 153-172; dies.,
Introduzione, in: Andre Jolles, I travestirnenti della letteratura. Saggi critici e teorici (1897-1932),
hrsg. v. Silvia Contarini (Milano 2003), IX-LVTll und dies., Maurizio Ghelardi, 1Die uerkdrperte Be­
we,gung1: la ninfa, in: aut aut 321/322 (2004), 32-45.

32
Die daraus immer häufiger entstandene ))Katerstimmung« veranlasste den Hol­
länder r903, grundsätzlich über die Zukunft der Freundschaft mit Warburg nach­
zudenken. An der Genialität seiner Spürnase zweifle er nicht, schreibt Jolles, aber
))wenn Du über Dein Leben sprichst [...], dann schleicht sich bei mir ein für die
Freundschaft knickender Argwohn ein, den ich nicht immer überwinden kann.1,51
Dem Vorwurf des Selbstmitleids begegnet Warburg allerdings, wie so oft, mit
einer Rechtfertigung:

Was mich so unzugänglich und unfreundlich nach außen macht, ist eben die mir
mühsam abgerungene wissenschaftliche Aufmerksamkeit [ . . . ] Jeder ist Egoist in
der l(appe, die ihm gefällt; Dir ist [...] auch der Satz entfahren, daß ich immer
mehr von anderen haben wolle, als selbst geben - das ist ein harter Vorwurf:
ich gebe Jedem, der meine Schriften liest, die unter verzweifelten Qualen he­
rausdestillierte Aufklärung zum Nacherleben. Dadurch thue ich etwas absolut
unegoistisches."

Dies schreibt Warburg erst nach dem Ende der gemeinsam in Florenz ver­
brachten Jahre, in denen ]olles dem Hamburger Freund Bewunderer wie auch Kri­
tiker war. Aufihn geht mit Sicherheit die im Frühherbst des Jahres 1900 geborene
Idee zurück, dem Freund aus Hamburg als >methodologischen Gegenspieler auf
die Sprünge zu helfen.�1 Es war die Idee zu dem als »Nymphenfragment« bekannt

51 ))Unter guter Freundschaft verstehe ich, dass man zu einer gewissen Grenze des anderen Gewis­
sen ist. Oft bist Du es für mich gewesen, und ich fühle, dass ich es im Grunde auch für Dich sein
könnte. [.. .] Ich gestehe, dass ich wenn auch ein echter dennoch nicht immer ein guter Freund für
Dich gewesen bin, dass die Technik meiner Freundschaft oft nicht die richtige war und dass es
mir oft an Taktgefehlt hat. [...] Etwas Schuld liegt auch bei Dir; hättest Du doch ein Bischen [sie]
mehr Sitzflci.sch gehabt, und manchmal zuhören können, wenn ich versuchte, Dir was zu erz<ih­
len von schönen Sachen, die ich genoss und die ausserhalb der Grenzen Deinerintercssensph.ire
lagen, D u hättest mehr Ableitung und dadurch ein vergnügteres Leben gefunden, meine beste
Gaben Lsic], meinen Riecher für alles Schöne hast Du vielleicht etwas z u sehr vernachl<issigt.(<
AndreJolles an Aby M. Warburg, Aprili903. WIA, GC. Publiziert in: Thys,Andrijo!les, (Anm. 50),
254f.
52 Aby M . Warburg an Andre Jolles, 19.04.1903. WIA, GC. Publiziert in: Thys, Anddjol!es, (Anm. 50),
256. [Hervorhebung der Verfasserin, CWJ
53 »Aber zwischen die Jahre 1898 und 1902 fiel gerade seine kriti.sche Periode. [„.] der Mann, den wir
alle als Mittelpunkt der ganzen gelehrten deutschen Welt gekannt haben, lebte damals in fast
menschenscheuer Zurückgezogenheit mit nur wenigen guten Freunden u. fast ohne eigentlich
wissenschaftlichen Verkehr. Das erste Heft der >Blätter aus Fiesole( war noch nicht erschienen
u. der fruchtbare Autor, dessen Arbeiten in dicken Bänden jetzt wieder herausgegeben werden,
hatte damals kaum mehr publiziert als seine Doctor Arbeit u. eine kleine ital[ienische] Arbeit
über das Festwesen. [„.] Zwar können wir [.„] sehen, dass schon viele seiner Ideen darin waren;
aber man kann es den Zeitgeno.ssen durchaus nicht übel nehmen, dass sie durch seinen schlecht
versorgten Stil u. eine zu kompakt gedrungene Ausdrucksweise die eigentliche Tendenz u. den
tieferen Wert derselben durchaus nicht verstanden. Er fühlte sich unbegriffcn u. verkannt u. so
hörte allmählich die w absolut lebendige Beziehung zwischen Schreiben u. Publikum völlig auf
u. es schien einen Augenblick, dass diese prächtige Anlage in altmodische u. minderwertige

trocknen anfing, nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Mensch. L ..] Wie geschäftsmäßig
Wissenschaft ersticken sollte. Die schlimme Folge hiervon war, dass seine Thatkraft zu ver­

Warburg seine Wissenschaft auch betrieb, ihm fehlte die Börse; er fühlte sich alleine u. bekam
hierdurch allm;ihlich eine falsche Anschauung von sich selbst und anderen.<1 Professor X (An­
dre Jolles) an StudentY (Aby M. Warburg), März 1902. WIA, GC. Publiziert in: Thys, And1ijolles,
(Anm. 50), 236.

33
gewordenen, fiktiven, doch schne11 wieder aufgegebenen Briefwechsel, der die
beiden vom Ende des Jahres 1900 bis in das Jahr 190! hinein beschäftigte und
mit mehr oder weniger spielerischer Leichtigkeit zur Formulierung der von War­
burg bereits lange erwogenen Thesen f ühren sollte. 54 »Stell dir die Sache nicht s o
grässlich vor«, schreibt Jolles am n. Oktober 1900 noch vor Warburgs Rückkehr
nach Florenz, ))du wirst sehen, aus diesen sechs Monaten wird etwas gutes. Das
Feuer liegt fertig. Man braucht nur ein Streichholz und einen PinienapfeI. Lass
uns diese Rollen brüderlich verteilen.«55 Am 25 . November hält Warburg dann in
seinem Tagebuch fest: »]olles bringt am 23 . den ersten Nymphenbrief. Wunder­
voll farbig. Hoffentlich wird es was.« Am 9. Dezember ist seine eigene »Einleitung
der Antwort auf)olles Br[ief] fertig« und wird von beiden diskutiert. Warburg
arbeitet gleichwohl seinen Part weiter aus und setzt die ihm zugrunde liegenden
Archivrecherchen fort. 56 Sein Antwortbriefist demnach au[Januar r9or zu datie­
ren. Zudem ist das nicht datierbare Fragment eines weiteren Briefes erhalten, das
beide Hände aufweist.57 In dieser Form führte Warburg seine Ü berlegungen also
nicht weiter, sondern gelangte erst in seiner GhirlandajoNorlesung mit dem Titel
Florentinische Wirklichkeit und antikisierender Idealismus, die er am 28. Oktober 1901 in
der Hamburger Kunsthalle hielt, zu einer Synthese. 58
Die Form eines literarisch-spielerischen Austauschs, der paradigmatisch die
Diskrepanz zwischen subjektiver Verlebendigung und historisch korrekter Inter­
pretation eines Bildes vor Augen führen sollte, hatte offenbar zwei Ziele: einer­
seits Warburgs Hemmung zu überwinden, seine Thesen zu Form und Bedeutung
bestimmter Motive der Quattrocentomalerei zu formulieren) andererseits seinen
sprachlichen Ausdruck zu finden. Um dies zu erreichen, schlüpfte )olles in die
herausfordernde Rolle des mehr oder minder enthusiastisch schwärmenden Be­
wunderers der jungen Dienerin, die aufDomenico Ghirlandaios Geburt desJohannes

54 Vgl. Gombrich , A byWarburg, (Anm. 8), 141-164; Gab riele Huber, WarburgsNinfa, Freuds Gradiva und
ihre Metamorphose bei Masson, in: Silvia Baumgart, Gotlind Birkle, Mechthild Fend, BettinaGötz,
Andrea K!ier, Bettina Uppenkamp (Hrsg.), Denkräume zwischen Kunst und Wis,c;enschaft (Ber­
lin 1993), 443-460 und Sigrid Weigel, Aby Warbur,gs >Göttin im Ex1k Das >Nymphenfragment< zwi­
schen Brief und Taxonomie, gelesen mit Heinrich Heine, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus, 4
(2000), 77-80. Vgl. auch Wolfga ng Pichler, Werner Rapp!, Gudrun Swoboda, Metamorphosen eines
Flussgotts und der Nymphe. Aby Warburgs Denk-Haltungen und die Psychoanalyse, in: Lydia Ma­
rine!li (Hrsg.), Die Couch. Vom Denken im Liegen (München, Berlin, London, New York 2006),

55 Andre Tolles an Aby M . Warburg, rn.rI.1900. WIA, GC. Publiziert in: Thys, Andre'jol!es, (Anm.
161-186.

50), 218. Vgl . Gombrich, Aby Warburg, (Anm. 8), 143· Die in dem Corpus mit Materialien zum
Nymphenfragment gesammelten Notizen reichen, sofern sie datiert sind, bis zum April 1900
zurück.

57 Vg!. Ninfa fi orentina. WI!\, III.55.r.[50-55]; Contarini/Ghelardi, 1Die verkörperte Bewegung1, (Anm.
56 WIA, III.10.2.[49; 50; 51].

50), 32 f., sehen in diesem Fragment den Nukleus des Proj ekts und datieren es aufgrund des auf
einem Blatt notierten )113.IV.(( aufApril 1900. M.E. widerspricht nicht nur der Inhalt des Entwurfs
dieser These, da dieser eine Fortsetzung des bereits aufgenommenen Dialogs darstellt, sondern
auch Warburgs Tagebucheintragungen vom Oktober 1900.
58 Vgl. Florentinische Wirklichkeit, 1901. WTA, III.5r.3.[32-41]. Einige der i m Konvolut J>Nymphen�
fragmenh gesammelten Notizen flossen erst in den späteren Text ein.

34
in der Tornabuonikapelle von Santa Maria Novella im flatternden Gewand, weit
ausschreitend mit einem Fruchtkorb die Szenerie betritt:

[„.] gerade bei der geöffneten Thür läuft, nein fliegt, nein schwebt der Gegenstand
meiner Träume, der allmählich die Proportionen eines anmutigen Alpdruckes an­
zun ehmen beginnt. E i n e fantastische [sie] Figur, nein, ein Dienstmädchen, nein,
eine klassische Nymphe, kommt, auf ihrem Kopfe eine Schüssel mit herrlichen
Südfrüchten tragen[d], mit weit wehendem Schleier ins Zimmer hinein. [„.] Diese

haltsamkeit [.. .], was soll dies A\les?! Aber was meint vor Allem dieser plötzliche
lebend ig leichte, aber höchst bewegte Weise zu gehen; diese energische Unauf­

Unterschied im Fussboden [.„]; er scheint sich die wiegende Elastizität einer Son­
nen beschienen[en] Frühlingswi[e]se anzueignen, er wippt wie die dicken Moos­
l<issen auf dem grünschattigen Wa!dpfad [ ...] Vielleicht mach ich sie poetischer

ersten Moment als ich sie sah das sonderbare Gefühl von [...] >W o hab ich dich
als wie sie wirklich ist - welcher Liebhaber thut das nicht - aber ich hatte den

mehr gesehen(. Es ist uns, alsob eine frühere Bekanntschaft uns von Anfang
an verbindet, etwas [ ... ] Mystisches, alsob wir [ ...] eine geliebte Stelle aus einer
früheren Existenz plötzlich wiedererkennen [„.]'9

Dann wird Jolles bewusst, dass er der Ninfa nicht nur dauernd von Neuem be­
gegnet, als Salome oder als Judith, als Engel oder als Brautjungfer, sondern sie
auch wiedererkennt:

[„.] aber sie hatte sich verzehnfacht ----- Ich verlor meinen Verstand. [.„] Und so
komm ich [ ... ] zum Priester der offiziellen Wissenschaft, der das Allerheiligste des
Quattrocento kennt oder wenigstens zu kennen hat, um mich nach ihrem Namen,
Stand und ihrer Adresse zu erkundigen. Wer ist sie, woher kommt sie, hab ich sie
schon früher, ich meine schon anderthalb Jahrtausend früher getroffen [„.l6°

Die Figur der Nirifa war geradezu prädestiniert, ins Zentrum dieses litera­
rischen Austauschs zu rücken, da sie schon lange in Warburgs wissenschaft­
lichem Blickfeld lag. Das Projekt ging in der Tat aus seinen hoch abstrahierten
Überlegungen zur Theorie von gesteigerter Bewegung und Pathos hervor, speziell
der Vorwärtsbewegung (»Greifen(<, )>laufende Frau«), deren Wissenschaftlichkeit
durch eine Fundierung in Physik und Psychologie gewährleistet sein sollte. Unter
den im Gegensatz zu »Ruhe«, »Statik« und >)Tektonik(< stehenden Oberbegriffen
)>Bewegung<( ()>Eigenbewegung<(, )>Reflexbewegung(<, »Vorwärtsbewegung«, ))Be­
wegungsrichtung<<, J>Bewegungssteigerung<i etc.) und ))Dynamik« hatte Warburg
zwischen r888 und r906 - ausgehend vom »bewegten Beiwerk<i (Gewandung und
Haare) und übergehend zu »Mimik« (Körperbewegung) und »Gestik« - eine Rei­
he von Aphorismen notiert, die er unter dem programmatischen Terminus >>Um-

59 Gombrich, Aby Warburg, (Anm. 8), 143·


60 WIA, TIT.55.r.[6-rn]. Publiziert in: Thys, Andtijolles, (Anm. 50), 219 f. und in Auszügen in: Gom­
brich, Aby Warburg, (Anm. 8), 143 f.

35
fangsbestimrnung(< zusammenfasste. 61 Dieser Begriff bildete zusammen mit der
bereits erwähnten })Ursachensetzung« das Fundament für Warburgs Thesen zur
Wahrnehmungspsychologie und Ausdruckstheorie. 62 Nur an einer Stelle bring t
er diese Überlegungen allerdings explizit mit der Figur der NinJa zusammen1 dem
prototypischen Beispiel der >verkörperten Bewegung,: 63

D e r verfol gend e / h a ntierende Greifmensch hat e'inen vorübergehenden Eindruck


von einem Objekt In der Ferne gehabt und um diesen flüchtigen Eindruck zu ver­
stärken, erfüllt er i h n w'r!lkürlich, um den persönlichen Anreiz des mobilen, selb­
ständigen, losgelösten Einzelwesens wieder herzustellen bezw. hervorzurufen.
Automatische Reizausgleichung durch unorganische Umfangserfüllung.
Die Ny[mpha] als Umfangsbestimmung endlich zusammen. Von Darw'rn über Filip­
pino zu Botticelli durch Carlyle und Vicher zum Festwesen zu den Indianern und
durch die Tornabuoni mit Ghirlandajo wieder zur Nymp he.6"

Im Oktober desselben Jahres I901 interpretiert er dieses Phänomen dann im


historischen Kontext:

Francesco Sassetti und Domenico Ghirlandajo haben [ „] wohl Sinn und Streben
auf Erweiterung ihres seelischen Umfanges gerichtet, aber die äussersten Grenz­
werte in Ruhe und Bewegung aus eigener urwüchsiger Kraft zu erreichen, ist
ihrem Te mperament von Natur aus versagt, _Qes_hfilb lassen sie sich unbefangen
die Nachhülfe fremder Formenwe!ten gefallen, wenn sie eben die Grenzwerte
menschlicher Seelenzustände in der Ruhe oder in der Bewegung verkörpern wol­
len.6s

Der aus diesen Formulierungen sprechende1 in der Vorstellung des Kul­


turwissenschaftlers bestehende Bezug zwischen künstlerischem Pathos und
E infühlungsbedürfnis des Rezipienten - beides von ihm auf »Bewegung<1
zurückgeführt- beleuchtet den Bezug zwischen Theorie und Nymphenfragment:
Die von seinem Freund Jolles vorgegebene »Stürmische Leidenschaft« für
die von Ghirlandaio geschaffene und vom Bewunderer geradezu zum Leben
erweckte junge Frau, ja mehr noch: das Mimen des - in Warburgs Worten - in
»Ekstase« geratenen >!Verfolgers<' der Ninfa als eines »rückfällig erotische[n]
Greifmensch[en]« 66 war allein dazu geschaffen1 den methodologischen Ge-

6r Die zahlreichen Aphorismen finden sich sowohl im Konvolut der »Grundlegenden Bruchstü­
cke zn einer pragmatischen Ausdruckskunde (monistischen Kunstpsychologie)« als auch in der
Kladde 11Symbolismus als Umfangsbestimmung«. WIJ\, III.2.L[Ae]; III.43.r. Vgl. Manuela Pal­
lotto, Vedere 1! tempo. La storia warburghiana oltre iJ racconto (Roma 2007), 57-70.
62 Vgl. Villhauer, Aby Warbui:gs Theorie der Kultur, (Anm. 15), 68-70.
63 lrn Nymphenfragment nennt er, WIA, TII.55.r.[22] , sie auch )>Hofnärrin der Bewegung«.
64 März 19m. WIA, Ill.45.1.(37].
65 WIA, Ill.5q.[37; 38]. [Hervorhebung im Original] Vgl. Huber, Warbut_gs Ninfa, (Anm. 54), 449.
66 WIA, III.55.r.[48]; III.55 . 2 . [r3]. 11Der subjektive Act des Ausgreifens und Ergreifens von fester
Stellung aus eines Objektes crgiebt eine objektiveUmfangsbestimmung.<< lII.2.r.[Ac], Nr. 400.
T
11

gens pieler Warburg zu einem Plädoyer für >>kunsthistorische Besonnenheit« 7
h er ausz ufordern. Diese Besonnenheit zeichnet Warburgs Herangehensweise
in expliziter Absetzung von einer dem Idealismus anhängenden, liebhabe­
ris chen Kunstbetrachtung aus, die er überspitzt so charakterisiert:

vornehm lächelnd pflegt der unter dem modernsten Cylinder der höchsten l<ultur
empfindsam denkende Kunstfreund den kritischen Eindringling von der Schwelle
des stillen l<ämmerleins zu weisen, wo er seine l<unstidea\e zu alleinigem Ge­
brauch besitzt. Ja, Leute, denen die ganze Schöpfungsgeschichte gänzlich >natür­
lich1 vorkommt, die alles für erklärt halten, das unter dem Mikroskop die Form
von immer kleiner werdenden Fragezeichen annimmt, reservi[e]ren sich dennoch
das l<unstgebiet als unvernü nftige Insel der Seeligen (im übrigen wohlgeordneten
l(osm os), wo sie sich auf der Hal lelujawiese durch den großen Pfannkuchenberg J

II
des Schönen durchgefressen haben."R

Was Warburg in diesen später verworfenen Zeilen als mikroskopische Genau­


igkeit bezeichnet, meint jene nicht nur von den Naturwissenschaften, sondern
auch durch die Philologie inspirierte Detailgenauigkeit, die er im Weiteren (um
sich vom verhassten Morellianertum zu unterscheiden) 69 tatsächlich ))philolo­
1
gisch« nennt. 11
Die Antwort des Hamburgers an den verliebt zu sein vorgebenden Freund
stützt sich auf zunächst äußerst heterogen erscheinende Aufzeichnungen, die I'
skizzenhaft festgehaltene theoretische Ü berlegungen sowie Auflistungen von
Bewegungsmotiven in der Florentiner Kunst des Quattrocento, die sogenann­ 1 1'
'
'

ten ))Straßburger Entwürfe« aus den frühen 189oer Jahren, umfassen.70 Darüber
hinaus enthält das Ninfa fiarentina titulierte Konvolut die Dokumentation einer
eingehenden Archivrecherche: zum Stammbaum der Familie Tornabuoni, zu
deren Patronat in Santa Maria Novella, zu Francesco Sassettis Ansprüchen auf
dieselbe Chorkapelle und zum Festwesen.7' Die Resultate der Recherchen sind
jene Fakten, die den Gelehrten zur Abkehr von der rein poetischen Betrachtung
der Chorfresken - »ich möchte wohl, aber meine wissenschaftliche Erziehung er­
laubt es nicht« - zwingen. Warburg plädiert deshalb dafür, dass auch )olles für
))einen Augenblick den rein künstlerisch genießenden Standpunkt<' verlasse, um
seiner Deutung zu folgen, ja ihm zu erlauben� das Bild über die zeitgenössischen
Urkunden, also die historisch dem Bildwerk zugehörigen Worte, zum Sprechen

67 WIA, lll.55.2.[r3].
68 WIA, IIl.55.r.[53]. Der Zweite Satz ist im Originalmanuskript gestrichen. (Hervorhebung der
Verfasserin, CWJ
69 Vgl. folgende Passage aus dem Fragment des dritten Briefes von der Hand Andre Jolles': ))Ein Mo­
rellianer willst du nicht sein, ihr Standpunkt sei zu nahesichtig, sie sähen die Künstlerhand vor
lauter [Finger]Nägel nicht und im besten falle haben sie der Kunstgeschichte denselben Dienst
geleistet wie die Diplomatik der Geschichte: die notwend ig reinliche Scheidung des Materials.
Du trägst den Kopf höher, deine zärtliche Seele möchte sich im Jungbrunnen der Frührenaissan­
ce ihre Primitivität wieder anbaden.(( WIA, III.55.r.[50].
70 Vgl. WIA, lll.55.r.[23].
71 Vgl. WIA, lll.55.2.

37
zu bringen. Allein die Dokumente könnten enthüllen, »was hinter diesen Bildern
vorgehe<,. Zwar sei er, Warburg, ebenso wie der dem »pläsi[e]rliche[n] Leichtsinn«
verfallene Jolles von der Ninfa fasziniert, aber ihn fessle allein die Tatsache, dass
»dieses heidnische Windspiel« in die »schwerwandelnde Respektabilität [. ..]
christliche[r] Gedämpftheit« hinein wirbeln dürfe; sie enthülle ihm die ))rätsel­
haft unlogische Seite primitivster Menschlichkeit<' einer angesehenen Patrizier­
familie, der ))tadellose Manieren im Blut liegen«.72 Mit anderen Worten: das
Phänomen der sich in der Figur der ))laufenden Frawi manifestierenden Geisteshal­
tung, nicht ihre Schönheit, ziehe ihn an und ermuntere ihn, die psychologischen
Voraussetzungen ihres Erscheinens zu erklären.73
Zunächst verbleibt Aby Warburgs Antwort in)olles' Bild der Vertrautheit mit
den dargestellten Figuren - »nein, mein Freund, so ohne Weiteres kann ich Dich
nicht mit dem Mädchen bekannt machelli<74 -, um dann (in einer später verwor­
fenen Skizze) die geliebte Dienerin als Schmetterling zu bezeichnen und die
Jolles'sche Wahrnehmung als puren Ideenflug zu charakterisieren:

Nun soll ich ihn [den schönsten aufgespannten Falter] Dir wieder einfangen. Auf
diese Gangart bin ich nicht eingerichtet. Oder eigentlich, ich möchte wo[h]l, aber
meine wissenschaftliche Erziehung erlaubt es nicht. Auch ich bin i n Platonien ge­
boren und möchte mit Dir auf einer hohen Bergesspitze den Flug der Idee schauen
und wenn unsere laufende Frau kommt, freudig mit ihr wirbelnd <?) fortschweben.
Aber mir ist es n u r gegeben nach rückwärts zu schauen und i n den Raupen die
Entwicklung des Schmetterlings zu genießen. (Um aus dem naturgeschichtlichen
Bi!de herauszukommen: Ehe Du nicht weißt, wie die Herrschaft hieß, der das
Dienstmädchen a n gestellt war, kann ich D i r nicht weiter[helfen].f'

In der endgültigen Fassung seiner Antwort wandelt Warburg das Bild leicht ab
und greift wieder auf)olles' Vergleich des Bodens unter den Füßen der Ninfa mit
einer Frühlingswiese zurück, die nun zu einem Garten wird - einem Sinnbild der
Florentiner Frührenaissance:

Es lockt Dich, i h r wie einer geflügelten ldea durch alle Sphären i m platonischen
Liebesrausche zu folgen, mich zwingt sie, den philologischen Blick auf den Boden
zu richten, dem sie entstieg und staunend zu fragen: wurzelt denn dieses seltsam
zierliche Gewächs wirklich in dem nüchternen florentinischen Erdboden?76

In dieser Variante steht )olles' Ideenflug offensichtlich wieder im Kontrast


zum )positivistischen( Erdboden empirischer, auf Dokumente gestützter For�

72 WIA, IIl.55 .2.[1]. Publiziert in: Thys, /\nddja!Jes, (Anm. 50), 222. G om brich s, Aby Warbur,g, (Anm.
8), 146, Überzeugung, Warburg sei tatsächlich im Konflikt zwischen einem historischen oder
einem ästhetischen Ansatz gewesen, kann ich nicht zustimmen.
73 Vgl. Gombrich, Aby Warburg, (Anm. 8), 146.
74 WIA, lII.55.2.[1]. Publiziert in: Thys, Andre'Jalles, (Anm. 50), 221.
75 WIA, Ill.55.1.(14).
76 WIA, 1II.55.2.[2J. Publiziert in: Thys, Andri]alles, (Anm. 50), 222.
schung.77 Es ist derselbe sinnbildliche Erdboden, auf dem die Florentiner Renais­
sancekultur gedeiht; in ihm 1gärtnert< Ghirlandaio als Maler, ist die Ninfa der
)>phantastische Fleck im grünenden Hausgarten<<, gar eine »Modeblume« oder
»Üppige Zierblume«1 und wird das christliche Ethos der Dominikaner zu )>dunkler
Kirchhofserde«. Das Bild des Gartens umschreibt offensichtlich die wirtschaft­
liche Blütezeit, deren soziale Umstände Einfluss auf die kunstproduzierende Ge­
sell schaft nehmen; es sind Warburgs Interpretation nach - die hier allerdings nur
über die Metapher angedeutet wird - die Voraussetzungen, die einen Rückgriff
auf heidnisch-antike Modelle stimulieren.
Es ist kaum zu übersehen, dass Warburg hier selbst - gleichwohl in explizi­
ter Absetzung von der schwärmerischen Einfühlung seines Freundes Jolles - eine
poetische Ausdrucksweise wählt, um die von ihm konstatierten Phänomene zu
um schreiben: er spricht in Sinnbildern. Die Formel ))Wort und Bild« charakteri­
siert somit hier (wie auch grundsätzlich) gleich zwei methodologische Besonder­
heiten: einerseits das Zusammenbringen von Bilddokumenten und historischen
Quellen, andererseits das bildhafte Sprechen. Doch mehr noch: Warburg wechselt
unvermittelt vom naturgeschichtlichen über das botanische Sinnbild zur endgül­
tigen Deutung des Freskenzyklus als >lebendes Bild<. Für ihn stellen die Fresken
nämlich eine vom damaligen Festwesen inspirierte, durch die Kunst verewigte
Inszenierung eines >)religiösen Dramas<< mit zeitgenössischem Personal dar. Da­
bei rekurriert er auf Burckhardts dictum des Ȇbergang[s] aus dem Leben in die
Kunst« und die in seiner Dissertation entwickelte These) dass über dieses Medi­
um - das »bewegte Leben<< - mythologische Elemente in den gesellschaftlichen
Alltag eingedrungen seien; es handle sich bei deren Eindringen 1in das Leben wie
die Kunst< um eine typische Vorstufe zum »Ornamentalen Manierismus<<, schreibt
er) der unter dem zunehmenden Einfluss antiker Vorbilder schließlich zu einem
Übermaß an Bewegungsmotiven geführt habe.78
Das für Jolles entworfene Personenverzeichnis, das nach Warburgs Ausle­
gung dem auf den Fresken in Szene gesetzten Schauspiel entspricht) )ffheater­
zettel« genannt, identifiziert die Figuren anhand des Familienstammbaums der
Tornabuoni. Dieser Theaterzettel ist für den Hamburger Gelehrten gleichzeitig
eine Metapher seiner Methode der historisch-kritischen Interpretation:

77 Vgl. die metaphorische Darstellung desselben Dualismus in der Einleitung zum Mnemosyne­
Atlas: »Hedonistische Ästheten gewinnen die wohlfeile Zustimmung des kunstgenießenden
Publikums, wenn sie solchen Fonnenwechsel aus der Pläsierlichkeit der dekorativen größeren
Linie erklären. Mag wer will sich mit einer Flora der wohlriechenden und schönsten Pflanzen
begnügen, eine Pflanzenphysiologie des Kreislaufs und des Säftesteigens kann sich aus ihr nicht
entwickeln, denn diese erschließt sich nur dem, der das Leben im unterirdischen Wurzelwerk
untersucht.<( Warburg, Mnemosynr, (Anm. Ig), 3 .
78 Aby Warburg, Sandro Bottire!lis 1Geburt der Venus1 u n d 1Frithlin91. Eine Untersuchung über d i e Vor­

heidnischen Antike) (Anm. 3), 1-59; WIA, IIl.55 .r.[48]. Vgl . Kany, Mnemosyneals Pro,gramm, (Anm.
stellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance) in: ders., Die Erneuerung der

r3), 141.

39
Da man die meisten der auftretenden Personen mit einiger Sicherheit identifizie­
ren kann, so überreiche ich Dir anbei ein bühnenmäßiges Personenverzeichnis zur
Erklärung der Scene. Bei unserem Versuche, eine Zeit nachzuerleben, wo festlich
spielender Gestaltungstrieb und künstlerisch spiegelnde t<raft »noch (um sich
Jean Pauls Worte[n] zu erinnern) auf einem Stamm geimpfet blühen«, ist dieser
Theaterzettel kein gewaltsam herangezogener pikanter Vergleich, vielmehr eine
wesensgleiche Metapher.79

Hier verwendet Warburg die durch prominente Setzung in seiner Luther­


Schrift bekannte, an Jean Paul angelehnte Metapher des Auf-einen-Stamm­
geimpft-Seins gleichsam im doppelten Sinn: Zum einen bedient er sich des Jean
PauPschen Bildes eines gleichzeitigen Blühens verschiedener Sprösslinge, um die
im Florenz des Quattrocento konstatierte Gleichrangigkeit von lebendem und ge­
maltem Bild zu charakterisieren; zum anderen prägt er sein eigenes Bild, das die
sinnbildlich im Chorgestühl Sitzenden und die Zeit Nacherlebenden - )olles und
ihn selbst- einschließt. Sie sind es) für die als Teilnehmer der über Archivrecher­
chen rekonstruierte Stammbaum derTornabuoni zum »Theaterzettel« wird) wäh­
rend er für die Wissenschaftler die entscheidende Quelle ist. Im ersten Entwurf
lautet dieselbe Passage:

[„.] so überreiche ich Dir anbei ein bühnengerechtes Personenverzeichnis zur


Erklärung der Scene; ein Versuch, der nicht nur ein poetischer Vergleich sein
soll, sondern eine wissenschaftliche Metapher, da in der Frührenaissance festlich

Stamm geimpfet blühen« (Jean Paul, § 50 Doppelzweig des bildlichen Witzes).�0


spielender Gestaltungstrieb und künstlerisch spiegelnde Kraft ))noch auf einem

Warburgverbleibt also bis zum Schluss seiner Ausführungen in dem von)ol­


les vorgegebenen, poetisch gefärbten Bild des Mit- oder Nacherlebens der Szene­
rie. Allerdings ist sein Text, der sich nur auf den ersten Blick auf die paradigma­
tische Opposition von individualistischem Kunstgenuss und wissenschaftlicher
Erklärung beschränkt, weitaus reicher. Er weist drei wesentliche, in Bezug auf
Warburgs Verhältnis zur Sprache herausgearbeitete Merkmale auf:
r. Das zusammenbringen von Wort (Urkunden) und Bild (Freskenzyklus).
2. Die sinnbildliche Veranschaulichung des Dargestellten als zeittypisches Phä­
nomen.
3. Die Metapher als Denkfigur eines anthropomorphen Weltverständnisses, das
noch nicht zwischen Innen- und Außenwelt unterscheidet.

79 WIA, III.55.2.[8]. Publiziert in: Thys, Andri]ol!es, (Anm. 50), 221 ff [Hervorhebung der Verfasse­
rin, CWJ
80 WIA, III.55.2.[7]. [Hervorhebun g der Verfasserin, CWJ
VI Mensch und Welt

Jean Pauls Metapher des gleichzeitigen Blühens verschiedener, )auf einen


Stamm geimpfter<, also gepfropfter Sprösslinge, die Warburg erstmals im Nym­
phenbrief zitiert1 zieht sich als Denk- und Darstellungsfigur gleichermaßen wie
ein roter Faden durch seine Forschungen.81 In verschiedenen Varianten wird sie
zum Sinnbild der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, ja gleichermaßen Wi­
dersprüchlichen. Um die Bedeutung des Jean Paul'schen Bildes des Pfropfens 1
für Warburg in ihrem ganzen Ausmaß einschätzen zu können, soll die entspre­
chen de Passage einmal genauer betrachtet werden:
1
Der bildliche Witz kann entweder den Körper beseelen oder den Geist verkörpern.
Ursprüng li c h , wo der Mensch n o ch mit der Welt auf Einern Stamme geimpfet
blühte, war dieser Doppel-Tropus noch keiner; jener verglich nicht Unähnlich­
keiten, sondern verkündigte Gleichheit. Die Metaphern waren, wie bei Kindern,
nur abgedrungene Synonyme des Leibes u n d Geistes. Wie im Schreiben Bilder­
schrift früher war als Buchstabenschrift, so war im Sprechen die Metapher, in­
sofern sie Verhältnisse und nicht Gegenstände bezeichnet, das frühere Wort,
welches sich erst allmählich zum eigentlichen Ausdruck entfärben musste. Das
tropische Beseelen und Beleiben fiel noch in Eines zusammen, weil noch Ich und
Welt verschmolz. Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein
Wörterbuch erblasster Metaphern.B'

Drei verschiedene Aspekte fallen hier ins Auge:


r. Die Charakterisierung des >)bildlichen Witzes(< als anthropomorph.
2. Die Deutung des Anthropomorphismus als Relikt einer früheren Zivilisa­
tionsstufe (oder des Kindesalters), das die Unfähigkeit spiegelt, zwischen Be­
zeichnendem und Bezeichnetem zu unterscheiden.
3. Die Verwendung einer Metapher (das durch Impfen eines Stammes hervorge­
rufene Blühen), zur Veranschaulichung des >ursprünglichen< Zustands (der
Sprache).

Jean Pauls >Stamm< meint also einen sprachlichen Stamm, genauer: die ur­
sprüngliche, metaphorische Redeweise, während Warburg mit demselben Stamm
in erster Linie einen Epochenbegriffassoziiert. 83 Ist das Begriffspaar Mensch (be-

81 Schon Edgar Wind, On a rmnt Bwgraphy of Warbur9 (1971), in: ders., The Eloquence of Symbols
(Oxford, New York 1983), rn6-113; hier: 112, betont die Rolle, die das Jean Paul-Zitat in Warburgs
Überlegungen zum Wesen der Metapher spielte.
82 Jean Paul, Sämtliche Werke, Bd. 18 (Berlin 1861), 179 (EEH 1600). Der Paragraph ist in Warburgs
Handexemplar des Bandes mit Bleistift markiert. [Hervorhebungen der Verfasserin, CW]
83 Vgl. Uwe Wirth, Prolegomena zu einer a l lgrmeinrn Greffologie, URL, 26.6.2008, http://www.atopia.
tk/index.php/greffe9/ProlegomenazueincrallgemeinenGreffologie.html. Dass Warburg mit

gebuch der K.B.W. von 1927 zu bestätigen: »Eigentlich crfil in diesem Moment [im Moment der
dem Stamm einen Epochenbegriffassoziierte, scheint folgender Eintrag Fritz Saxls in das Ta­

Zerstörung des Mythologischen wenigstens im astrologischen Bereich in dem Sternkatalog mit


blassen Breiten- und L<ingenangaben kommen konnte] (oder schon?) beginnt der Auseinander-

41
ziehungsweise Ich) und Welt bei Jean Paul tatsächlich ein Synonym für Körper
und Geist, wird es bei Warburg zur Metapher der (historischen) Gleichzeitigkeit
von Antagonismen. In dem 1902 erschienenen Aufsatz Flandrische Kunst und Floren­
tinische Frührenaissance zitiert Warburg Jean Paul wörtlich, um das Nebeneinander
von christlicher Pietät und humanistischem Selbstverständnis treffend darzu­
stellen:

Der flandrische Stil bot durch seine eigenartige geschichtete Mischung von inne­
rer Andacht und äußerer Lebenswahrheit das praktische Ideal eines Stifterbild­
nisses. Dabei begannen die Menschen im Bilde doch schon, sich als individuelle
Geschöpfe vom kirchlichen Hintergrunde zu lösen, aber ohne umstürzlerische
Manieren, einfach durch einen natürlichen, von innen heraus l<ammenden Wachs­
tumsprozeß, weil ))der Mensch noch mit der Welt auf einen Stamm geimpfet
blühte((; während die Hände des Stifters noch das übliche Gebärdenspiel des
selbstvergessenen, sch utzflehend aufwärts Blickenden bewahren, richtet sich
der Blick schon träumerisch oder beobachtend in irdische Fernen.8''

Am besten geeignet scheint das Bild des zeitgleichen Blühens verschiedener


Sprösslinge für die eigentlich inkompatible Gleichzeitigkeit eines für die Astro­
logie typischen irrationalen Denkens (»kultisch verehrende Verknüpfung«) und
des die Astronomie auszeichnenden rationalen Denkens (»mathematische Ab­
straktion((). In diesem Sinne zitiert Warburg Jean Paul in seiner Luther-Schrift zur
Charakterisierung der Reformationszeit als »die Epoche, wo Logik und Magie wie
Tropus und Metapher (nach den Worten Jean Pauls) >auf einem Stamme geimpfet
blühtefü((, Allerdings geht er hier einen Schritt weiter: er bezeichnet diese Epoche
nämlich als )>eigentlich zeitlos<<. Damit wird das zunächst kollektivpsychologisch
gedeutete Phänomen zu einem individualpsychologischen. 85 überdies ist bei der
Umprägung des Sprachbildes eine Mischmetapher entstanden, indem die Anta­
gonismen »Logik und Magie<< - durch das >)wie« - mit ))Tropus und Metapher«
verglichen werden. Diese nicht sofort einleuchtende Gleichsetzung eines Gegen-

sctzungs-Prozeß zwischen Tropus und Metapher, der für Europa bei Kepler endet.1� [Unterstrei­
chung im Original] Das Jean Paul-Wort steht bei Warburg gleichwohl auch für Antagonismen ein,
die nicht mit verschiedenen Epochen assoziiert sind. Im Kreuzlinger Schlangenritual-Vortrag
(r923), WIA, lll.93 .1.[48], vergleicht er das Wechselspiel der Charaktere in den Fruchtbarkeits­
tänzen der IIopi-Indianer mit der Mauf einen Ast geimpfet[en]1 Doppelheit von tragischem Chor
und Satyrspiel\' in der ))antiken Tragödie(\ und fügt hinzu: J>Das Werden und Vergehen der Natur
[wird] erschaut im anthropomorphen Symbol, aber nicht im Gezeichneten, sondern im wirklich
dramatisch nacherlebten Zaubertanz.(( Ebenso wenig epochal konnotiert ist die Koexistenz von
)>magischc[r] , divinatorische[r] und beschreibende[r] Astrologie<�, die Warburg, Sommerkurs,
Astrologie, 1913. WIA III.87.1.1.[20J, seinen Studenten erklärt, und zwar als Charakteristikum
der »hellenistische[n] Weltanschauung«, unter der diese »auf einen hermetischen Ast geimpft
(um ein Wort des Jean Paul zu brauchen), blühtern(; ins Auge fallt lediglich, dass die drei Begriffe
eigentlich in einer Hierarchie zueinander stehen.
84 Aby Warburg, Flandrische Kunst tmd Florrntinische Frührenaissance. Studien, in: ders., Die Erneue­
rung der heidnischen Antike, (Anm. 3), 185-206; hier: 206. [Hervorhebungen der Verfasserin,
CWI

rung der heidnischen Antike, (Anm. 3), 487-558; hier: 491 f.


85 Aby Warburg, Heidnisch-antike Weissa,gun,g in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, in: ders., Die Erneue­

42
satzes mit dem Oberbegriff einer Redefigur und deren Unterart erklärt sich erst
au s den kategorial verschiedenen Bedeutungen) die Warburg »Tropus<< und »Me·
tapber« zumis st; in einem Briefan seinen Bruder Max aus dem Jahr 1928 erläutert
er sie:

Den inneren psychotechnischen Sinn des �gleichens und des Gleichnisses, das
in der Form der ))Trope(( den beobachteten Gegenstand (der einen anderen völ­
lig ersetzt) oder in der Form der �tapher, (die durch den Zusatz: ))wie<( das
Bewusstsein von der nur bedingten Gleichheit wachhält), wollte ich aufgrund
der kunsthistorisch nachweisbaren Entwicklung irgendwo packen. So bin ich von
den allegorischen Bildern Botticellis zur Praktik und Geschichte des astrischen
Symbols gekommen.86

Hieraus wird deutlich, dass Warburg der Verwendung eines )>Metapher« ge·
nannten Vergleichs, der im Gegensatz zum Gleichnis eine Abstraktionsleistung
voraussetzt) Distanzbewusstsein zuschreibt. Das relativierende »Wie<i bezeugt
die Ü berwindung subjektivierender Aneignung, womit die Metapher für Warburg
in Bezug auf die Begriffsbildung propädeutische Bedeutung erhält.

VII Denkraum und Metapher

1
Ich habe ja oft genug zitiert: »als Begriff und Gleichnis noch auf einen Stamm
!
geimpft blühten((, (Zitat nur sinngemäß). Wenn ich Dir raten darf, lass' Dir doch
als Gegenstand der Übung geben: Das Verhältnis von Begriff und Metapher in der
Aesthetik Jean Pauls. Du wirst dann allerlei erfreuliche Ueberraschungen zugun­
sten Deines treudenkenden Vaters erleben.87

Diese Zeilen, in denen das Jean·Paul·Wort eine weitere Metamorphose erfah·


ren hat) schrieb Aby Warburg sechs Monate vor seinem Tod an seine Tochter Fre·
de; die >)Metapher« ist nun tatsächlich zum )>Begriffo geworden. Gleichzeitig kann
es) wenn Warburg von >)metaphorischer Ferne<i spricht1 88 und Sätze niederschreibt
wie: »[d]er Verlust der metaphorischen Distanz. Ersatz durch magisch monströse
Verwechslung von Bildgestalt u. Betrachter«,89 kaum Zweifel daran geben) dass er
in der Metapher ein Synonym des 1Denkraums< sah) also des kreativen Schaffens·
raums.90 Die Schaffung dieses Raums zwischen »Mensch und Welt<i war für ihn
der ))Grundakt menschlicher Zivilisation«. 91 Folgt man dieser Ausgangsdisposi-
86 Aby M. an Max Warburg, 5 .9.1928. WIA, GC. Publiziert in: Bredekamp, >4 Stunden Fahr t. 4 Stunden
Rede,, (Anm. 39), 170. [Unterstreichungen im Original]
87 Aby M. an Frede Warburg, 16.5.1929. WIAGC.
88 WIA, IIl.102.r.4.2.[62].
89 Grisaille, Mantegna 1929. WlA, III.102.5.5.[8].
90 Vgl. Warburg, Tagebud1 der kulturwissenschaftlichen BibliothekWarbur,g, (Anm. 38), 139, J41, 345 und
399·
91 »Bewusstes Distanzschaffen zwischen sich und der AussenweJt darf man wohl als Grundakt

43
"'
tion konsequent, wird Warburgs Atlas selbst zur Metapher, denn er >handelt< von
dem Zwischenraum, in dem sich die »Tragödie(< der Menschheit abspielt,9i die da�
rin besteht) immer wieder Distanz zwischen Individuum und Außenwelt schaf�
fen zu müssen. In diesem Sinne veranschaulichen die Bilderreihen der einzelnen
Atlastafeln nur Teilprobleme eines historisch wie psychologisch die Menschheit
prägenden Vorgangs; sie sind >Kapitel< eines großen Buches. Im Stadium der
Vollendung seines Projekts interessierte Warburg das Einzelbild kaum noch. Als
Teil des Ganzen musste es sich in größere Konstellationen einfügen lassen, mit
denen er das Problem möglichst genau nachzuzeichnen versuchte. Das Problem,
»das individuelle Bildgedächtnis als soziale Funktion bei der Umschaltung dy­
namischer Zustände des Individuums im ewigen Wechsel von dynamischer Ent­
ladung und intentionaler Spannung zu begreifen«, war dermaßen grundsätzlich
und schwer fassbar, dass es sich letztlich nur metaphorisch umschreiben) also in
ein unbegrenztes Spektrum von Sinnbildern übersetzen ließ. 93 Alles außerhalb
dieser zentralen Fragestellung war so flüchtig wie die Konstellationen der Einzel­
bilder beim Versuch des Begreifens des Grundsätzlichen.

VIil Sprache als Bild

Die Sätze, in denen Warburg seine Gedanken schriftlich fixierte, wurden mit
der Zeit immer fragmentarischer, ja wirken oft geradezu splitterhaft. Schon als er
r888 begann, seine lehrsatzartigen Aphorismen niederzuschreiben, war er, da­
mals noch Student, aufder Suche nach dem adäquaten Ausdruck für seine Thesen
gewesen. Allerdings hatte er dieser ideell an Vorbildern wie Goethe, Jean Paul und
Nietzsche orientierten Sammlung durch Nummerierung der einzelnen Aphoris­
men noch ein Gerüst gegeben, während sich die als Vorarbeiten für den Mne­
mosyne-Atlas niedergeschriebenen Textfragmente der 192oer Jahre aufKonvolute
von NotizzetteI beschränken, die - in verschiedenen Klemmheftern zusammen­
gefasst - lediglich ))Allgemeine Ideen((, »Grundbegriffe« oder >)Überschriften«
betitelt sind.
Warburg drückt sich in diesen Theoriefragmenten wie in seinen theoretisch
ausgerichteten Grundsatztexten (etwa der Einleitung zum Mnemosyne-Atlas)
meist sinnbildlich aus. Dabei verwendet er auch Neologismen, die aus Wortstäm­
men oder ganzen Termini verschiedener semantischer und lexikalischer Felder
kombiniert sind.9-t Diese zu Begriffen stilisierten Sprachbilder, die in ihrer spitz-

menschlicher Zivilisation betrachten<< lautet der erste Satz der Einleitung seines Bilderatlasses
Mnemosyne. Warburg, Mnemosyne, (Anm. 19), 3 .
9 2 Mnemosyne, Grundbegriffe II, 1929. WlA, III.102+r.[63].
93 Aby M. Warburg an Franz Boas, 13.12.1924. WIA, GC.
94 Siehe hierzu den Beitrag von Jsolde Schiffermüller in diesem Band. Das Ergebnis waren Aus­
drücke wie ))seelische Zentralheizung({ und ))Lesefutterautomat«, ein Begriff, der die öffentli-

44
findigen Kombination oder gar Amalgamierung von Termini nicht selten humo­
ristisch wirken, sind als sichtlich spannungsgeladene Ausgleichprodukte polarer
Gegensätze seine eigenen1 mehr oder weniger anthropomorphen Denkfiguren.
Sie lassen an die >>fragmentarische Genialität« denken, von der Jean Paul schreibt,
dass Friedrich Schlegel den Witz zu Recht als solche bezeichne, da er »die Kraft
zu wissen(( sei, die das Genie auszeichne. Das Wesen des Witzes liege darin, so
Jean Paul weiter, scharfsinnig zwischen »inkommensurablen Größen« der Kör­
per- und Geistwelt ein Ähnlichkeitsverhältnis zu finden und diese Ähnlichkeiten
tiefsinnig gleichzusetzen.95 Vergleichspunkte müssten zur Isolierung der Kon­
traste »scharf an einander<1 gerückt werden, denn ))Kürze ist der Körper und die
Seele des Witzes«, sie sei ))Klarheit<<.96
Warburgs mühsam erarbeitete Sprachbilder erscheinen wie ein Kondensat
seiner Gedankengänge, eben wie die ))herausdestillierte Aufldärung zum Nach­
erleben«, die er in apodiktischen Setzungen mit apriorischer Gültigkeit festhielt.
Folglich ermangelt es seinen Texten an einer durchgearbeiteten Argumentation;
stattdessen zeichnen sie die Erkenntnisschritte des Wissenschaftlers in fast mi­
metischer Angleichung sprachlich nach. Da ihr das deduktive Narrativ (im ldas­
sischen Sinne) fehlt, kann Sprache bei Warburg im Extremfall geradezu zu einem
Bild, oder besser: zu einer Konstellation werden, deren Elemente wie die Text- und
Bilddokumente auf seinen Schautafeln verschiebbar sind. In der Tat arrangierte
er auch diese rein visuell >sprechendem Dokumente ständig um, nachdem er 1915
im Zuge der Beschäftigung mit der Weltkriegspropaganda begonnen hatte, Texte
und Bilder auf sogenannten ))Gestellen<• nebeneinander zu präsentieren (Abb.
3).97
Ernst Gombrich hat bemerkt, dass die sprachliche Anschaulichkeit, das »Den­
ken in Bildern«, bei Warburg mit den Vorarbeiten für seine große Luther-Schrift
(1920) zu dominieren begann. Es ging also mit dem Einsatz der Tafeln und dem
Streben nach begrifflicher Fassung seiner Forschungsergebnisse einher. 98 Gom­
brich weist auch darauf hin, dass hinter diesem Stil eine Suche nach Gleichzei­
tigkeit und Austauschbarkeit steht, nach einem allgemeingültigen System. Dabei
entfernte sich der Gelehrte immer mehr von der historischen Ebene. Während
er in den Jahren intensiver Beschäftigung mit der Überlieferung der Astrologie
vor allem Ableitungsschemata und Karten zur Veranschaulichung seiner Thesen

chen Hamburger Bücherhallen charakterisiert. Aby M. Warburg an Max M. Warbnrg, 20.n.r9ro.


WIA, GC.

96 Ebd., 170 f.
95 Jean Paul, Silmtliche Werke, Bd. 18, {Anm. 82), 165 f.

97 Vgl. Claudia Wedepohl, >Agitationsmittel Jür du Bearbeitung der Ungdchrten1. Warburgs Reforma­
tionsstudien zwischen Kriegsbeobachtung, historisch-kritischer Forschung und Verfolgungs­
wahn, in: Gottfried Korff(Hrsg.), Kasten 117. AbyWarburg und der Aberglaube im Ersten Welt­
krieg (Tübingen 2007), 3-25-368; hier: 358-361.
98 Gombrich, Aby Warbur_g, (Anm. 8), 33.

45
verwendete,99 sind es vorher Tabellen und später die auf den Schautafeln ange­
hefteten und ständig neu disponierten Fotos. >Nerschieben« ist der Begriff, der
in seinen letzten Lebensmonaten für den täglich stattfindenden Prozess der Neu­
ordnung seiner >,Gestelle(< - nun mit den Entwürfen der Atlastafeln - dokumen­
tiert ist; Warburg war auf der Suche nach einer definitiven Disposition. Charlotte
Schoell-Glass' Deutung nach kam dieser Vorgang einem ))Kampf um Klarheit«
im Ausdruck gleichro0 - einem Kampf, den man auch bei Warburgs spürbar an­
gestrengter Suche nach Sinnbildern und Begriffen beobachten kann, die ebenso
anschaulich wie abstrakt sein sollten.
Warburgs >,Kampf um Klarheit<( galt dem )>Herausdestillieren« der >)Aufldä­
rung«, denn der Kulturwissenschaftler verstand sich tatsächlich als Aufklärer.
Dieses Selbstverständnis verleitete ihn auch zum Polemisieren, womit er gleich­
zeitig bezeugt, wie wenig Distanz er selbst zum Objekt seiner Forschung hatte.
Allein durch Ironie oder bittere Satire gelang es ihm, diese Distanz wieder her­
zustellen; sie war sein Mittel der indirekten Kritik - einer Kritik, die er seiner­
seits nur schwer ertrug. Sein Freud Jolles hatte dies zweifelsohne erkannt, als er,
gleichermaßen im Gegenzug, eine ironisierende Charakterskizze verfasste, die
erklärt, warum das >)Nymphenfragment<( im Lederumschlag eines Kontokorrent­
buchs mit der Inschrift »Debitori e Creditori« aus dem 18. Jahrhundert verwahrt
wird (Abb. 4):

Anstatt die Vögel seiner grossen Ideen ruhig ins Freie fliegen zu lassen, in der
festen und gläubigen Überzeugung, dass sie abends doch immer wieder zu ihrem
Meister zurückkehren würden, hielt er [Warburg] sie in Contobuchartigen [sie]
Käfigen eingeschlossen. Mit der Genauigkeit eines Hamburgischen Kaufherrn,
dessen Bilanz auf einen halben Pfennig stimmen muss und der sich unglücklich
u. entehrt fühlt, sobald Debit und Credit einander nicht vollkommen decken,
versuchte er das ))Soll(< seiner wissenschaftlichen Theorien mit dem »Habern( von
direkt philologischen Tats achen auszugleichen u. zwang sich selbst immer gera­
de da, wo e r der grössten Freiheit bedu rfte. Du weißt wie weit und gross seine
Einsicht später wurde, wie sich diese krampfhafte Gehau igkeit in ein allgemeines
Interesse für alle Details verwandelte u. wie sich aus dem Kaufmann der freie
Gelehrte bildete, so wie sich aus dem Kaufmannsohn früher der lustige Student
entwickelt hatte.'01

99 Vgl. Claudia Wedepo hl, ifdcen9eo9raphie1. Ein Versuch zu Aby Warburgs Wanderstraßen der Kul­
tur, in: Helga Mitterbauer und Katharina Scherke (Hrsg.), Entgrenzte Räume. Kulturelle Trans­
fers um 1900 und in der Gegenwart (Wien 2005), 227-254.

101 Professor X (Andre Jolles) an Student Y (Aby M . Warburg), März 1902. WIA, GC. Pu bl i z iert in:
100 Schoell-Glass, 1Contact bekommen1, (Anm. 13), 289.

Thys, Andre'Jolles, (Anm. 50), 236.


Dorothee Bauer!e-Willert

Strömungen - Begegnungen

Aby Warburg hat seinen Bilderatlas nicht mit einem ausgearbeiteten Kom­
mentar begleitet, erhalten sind kreiselnde Notate, dies vielleicht deshalb, weil
Diskurse in der herrschenden Wortbedeutung bändigen, eine Ordnung bestä­
tigen und reduzieren: sie reduzieren (notwendigerweise) auf Konzeptualisie­
rungen, Ideen, gegebene Dinge oder moralische Vorstellungen. Sie liquidieren die
wilde Freiheit, den Affront) der von dem Anderen, dem NichHch des Kunstwerks
ausgeht, die bedrohliche Instabilität, die Teil des Kunstwerks ist. Warburgs vari­
ierende Notate zur Mnemosyne sind dagegen eher ein bewegendes) animierendes
Verfahren, sind selbstbeweglich und selbstkorrigierend: Annäherungen, die mit­
einander kommunizieren, sich zuarbeiten, einen Raum eröffnen, der sich schritt­
weise füllt und wieder entleert, den Raum der Indifferenz zum Vibrieren bringen.
Reanimiert wird so auch die ursprüngliche Bedeutung des Verbs Discurrere im
Sinne von hierhin und dorthin laufen und somit ein Hinweis, daß Diskurs eben
kein Erstarrungs-, sondern ein Bewegungsbegriff ist und die Unaufhörlichkeit
des Denkens mitschwingen läßt.1 Das komplexe Verhältnis von Kommentar und
Bild, von Interpretation und dem Kunstwerk in seiner Ereigniskraft wird solcher­
art in und durch die den Atlas begleitenden Passagen mitbedacht und entfaltet.
Die Lektüre dieser Notizen in ihrer pathetischen Eloquenz, der variierenden
Aphorismen rüttelt immer wieder die Vertrautheiten unseres Denkens auf,
zeigt in ihren Drehungen die Denkbewegung und die Vorläufigkeit, die Un­
abschließbarkeit unseres Denkens ))zwischen religiöser und mathematischer 1
Weltanschauung«, z das dann auf der Ebene des Ausdrucks zu Formulierungen
changierend );zwischen bildhafter und zeichenmäßiger Ursachensetzung<13 1
führt: .Pendelbewegungen, die den Raum der Besonnenheit umschreiben. Inten­
tion und Form korrespondieren: In den Aufzeichnungen wird dieser immer la­ 1 1
bile Raum der Besonnenheit, in dem sich Denken vollzieht, jeweils wieder neu
abgesteckt wie auch die Anordnung der Tafeln die Funktionsweise der Bilder in
ihrer affektiven Kraft ins Recht setzt. Die Form entsteht aus dem Prozeß, aus der
unabschließbaren Prozessualität der Versuche zum Denkraum hin selbst: Jede

r Michel Foucault, Dir Ordnung der Din,gr. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Frankfurt

ner chinesischen Enzyklopädie, in der die Tiere in Gruppen eingeteilt sind, die für uns keinerlei
am Main 1971), in dem der Begriff Diskurs entfaltet wird, wurde angeregt durch Borges' Zitat ei­

Ordnung erkennen lassen,


2 Aby Warburg, Mnemosyne. Einleitung, in: ders„ Der Bilderatlas Mnemosyne, hrsg. v. Martin

graphy. With a Memoir an the History of the Library by f. Sax] (London r970), 289.
Warnke (Berlin 2000), 3-6; hier: 3 ; auch in: ErnstH. Gombrich, Aby Warbut9. An Intcllectual Bio­

3 Aby Warburg, Journal VII, 1929, auch in: Gombrich, Aby Warburg, (Anm. 2), 253.

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