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Herausgegeben von
Peter Kofler
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StudicnVorl.ig
Stampato con il contributo del
DIPARTIMENTO DI ANGLISTICA, GERMANISTICA E SLAVISTICA
dell'Universit3. degli Studi di Verona
lncontri Veronesi IX
ISBN g78-no65-4788-8
http://dnb.ddb.de abrufbar.
Titelbild: Gerrit Dou, Der Maler in seiner Werkstatt, 1647, Dresden, Gemäldegalerie
ISBN g78-3-7065-4788-8
Innsbruck-Wien-München-Bozen
Wort u. Bild als höhere Einheit sollen als seelische Dokumente nach
dem Wesen der europäischen Menschen (bzw. des Menschentums
überhaupt) befragt werden
(Aby Warburg an Edwin Seligman, 1927)
Ich habe mir sch on seit Jahren das Zie! gesetzt, die bildhaften Elemente als Doku
ment zur Psychologie des geschichtlichen Ablaufs zu lesen, wobei jedenfalls das
erreicht wird, dass das Wort der eigenen Zeit dem Kunstwerk zugesellt und es so
der kunstgeschichtlichen Beredsamkeit ersc hwert wird, sich zwischen Kunstwerk
und Betrachter aufzupflanzen.1
In dieser mehr oder minder polemischen Stellungnahme aus dem Jahr 1927
lässt Aby Warburg seine vier Jahre zuvor geradezu als »Ekel« vor der ästhetisie
renden Kunstgeschichte bezeichnete Abneigung gegen das »PathoS<i der Histo
riographie deutlich erkennen.2 Dass der immer wieder Distanz zum Objekt an
mahnende Warburg, der jegliches Pathos - sei es im Ausdruck des gestaltenden
Künstlers,3 im Einfühlungsbedürfnis des Betrachters4 oder eben im Urteil des
))Kritikers(< - strikt ablehnte, überrascht allerdings kaum.5 Die subjektive sprach
liche Nachzeichnung eines Werkes der bildenden Kunst, zugespitzt })aestheti
sierende Seelenmassage« genannt16 gehörte für ihn jener })Richtung der Kunst
geschichte [an], die die Beschreibung des Einzelkunstwerks zum Selbstzweck
macht u. damit auch dem Besitzer das Recht auf persönlichsten Kunstgenuss
implicite einräumt.«7
1 Aby M. Warburg an Bernhard Schmeidler, 9.6.1927. Warburg Institute Archive (in der Folge
WIA), General Correspondence (in der Folge GC).
2 >)Ausserdem hatte ich vor der ästhetisierenden Kunstgeschichte einen aufrichtigen Ekel bekom
men. Die formale Betrachtung des Bildes - unbegriffen als biologisch notwendiges Produkt
zwischen RcJ igion[s]- und Kunstübung- (was ich freilich erst später einsah) - schien mir ein so
steriles Wortgeschäft hervorzurufen, dass ich nach meiner Reise in Berlin im Sommer 1896 zur
Medizin umzusatteln versuchte.« Vortragsnotizen, Kreuzlingen, 1923. WIA, III.93+I.[8].
3 Künstlerisches Pathos nennt er, Italienische Kunst und internationale Astro!o,gie 1m Palazzo SchifanoJa
zu Ferrara, in: ders., Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge
zur Geschichte der europäischen Renaissance, Reprint der von Gertrud Bing unter Mitarb. v.
Fritz Rougemont cd. Ausg. (Leipzig, Berlin, 1932), neu hrsg. v. Horst Brcdekamp und Michael
Diers (Berlin 1998), 459-481; hier: 461, despektierlich >)Muskelrhetorik«.
Warburg, Leonardo-Vortrag, Hamburg, 1899. WIA, III.49.2.(A], spricht von »subjektivem Ge
schmacb< mit dem >1Endziel des Genusses«. Seine Kritik bezieht sich aufden »Drang nach platter
Besitzergreifung durch unmittelbare Annäherung«, der sich gegen »Distanz haltende« Objek
tivierung in der künstlerischen Darstellung wende. Moderne Kunst, 1902. WIA, III.27.2.2.[1].
>)Durch komplementäre Einfühlung" werde ))die Abkehr vom Objekt (von objektiver Besonnen
heit) beschleunigt.« Zettelkasten: Aesthetik-Aphorismcn. WIA, IIl.2.I.[Ae] , 412 (24.7.1901).
Warburg benutzt für Forschungsliteratur durchgängig den Begriff »kritische Literatur<;.
f\by M. Warburg an Otto Lauffer, rr.11.r925. WIA, GC.
7 Aby M. Warburg an Edwin Seligmann, r.11.1927. WIA, GC.
23
l
Schon im Jahr 1903 hatte Warburg einen Brief an Adolph Goldschmidt ent
worfen, in dem er die auf Superlative ausgerichtete »landläufige, enthusiastische,
biographische Kunstgeschichte« (die er historisch aus den Traditionen der Mi
rabilienliteratur und der panegyrischen Heroenverehrung, speziell des Künst
lergenies, sowie dem platonisierenden Idealismus herleitet) dem Sammlertum
der »besitzenden Klasse« zuordnet. 8 In expliziter Absetzung von den Vertretern
dieser )>Richtung der Kunstwissenschafo< plädiert er für größtmögliche Objekti
vität, in deren Zeichen es allein der »zeitlich dazu gehörigen Stimme«, also der his
torischen Textquelle, erlaubt sein sollte, das Kunstwerk zum Sprechen bringen.9
Für den Hamburger Kulturwissenschaftler hieß das, dass allein die Methode,
welche die »soziologischen Bedingtheiten« der Entstehung eines Werkes berück
sichtigt, Wissenschaftlichkeit gewährleistet.'° Ihre Durchsetzung betrachtete er,
wie aus einem ebenso polemisch formulierten Brief an Carl Justi deutlich wird,
als persönliche Aufgabe. Justi gegenüber spricht Warburg drei Jahre nach dem
Goldschmidt-Briefvon einem )>Kampfe gegen die Anti-Historiker<'i in dem zu de
monstrieren sei, >)daß man das Kunstwerk nur durch die eigene Zeit und nicht
durch se!bstbespiegelnden Egoismus begreift«."
In ihrer Radikalität war die Forderung, allein Dokumente sprechen zu lassen,
selbstverständlich für Warburg nicht einlösbar. u Die Tatsache, dass es ihm letzt
lich auch nicht um eine kompromisslose Auslegung der immer wieder plakativ
gesetzten Formel »Wort und Bild« ging, sondern um eine »philologisch« genannte
historische Genauigkeit, die - sprichwörtliche - Detailgenauigkeit, wird aus der
folgenden Untersuchung deutlich werden. Dabei richtete er sein Hauptaugenmerk
aufden sprachlichen Ausdruck, mit dem der »Kritiker'< seine Ergebnisse vorträgt,
denn Wissenschaftlichkeit definierte sich für Warburg ganz entscheidend über
die vermittelnde Sprache. Sich von dem als »phantastisch«, )>poetisch«, )> senti
mental<< oder )>moralisch(< bezeichneten Stil der Enthusiasten distanzierend, ent
wickelte er eine eigene, neuartige Ausdrucksweise, deren spezifische Merkmale
vor allem die pointierende syntaktische und terminologische Verdichtung sowie
ein hoher Grad an Anschaulichkeit sind. Dass seine oft nur mühsam hervorge
brachte idiosynkratische Sprache keineswegs zufällig war, sondern von Warburg
WIA, IIl.57.2+[1-4] . Leicht vom Original abweichend publiziert in: Ernst H . Gombrich, Aby
Warbur,g. Eine intellektuelle Biographie (Frankfurt am Main 1981), 181 f. Nach der Herleitung
der Richtungen unterteilt Warburg die J>enthusiastischen Kunstgeschichtler<( in: ))phantastisch
sehnsüchtige", ;>poetisch heroisch rekonstruierende«, ))(sentimental heroisch) religiös politisch
rekonstruierende«, >>moralisch heroisch reconstruierende«, ))als das Milieu überragende Per
sonefü1 und »Attribuzlel'«,
9 Aby M. Warburg an Edwin Seligmann. WIA, GC.
WIA, 111.57.2.3.[4].
n Aby M . Warburg an CarlJusti, 3.8.1906. WIA, GC.
Auch in seinen Bildbeschreibungen hatte er, wie seine ehemals engste Mitarbeiterin Gertrud
Bing, A.M. Warburg, in: Aby M. Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigun,gen, hrsg. v. Dieter
Wuttke (Baden-Baden, 31992), 437-454; hier: 439, feststellt, >lästhetische Doktrinen« noch nicht
vollkommen überwunden.
als eine zentrale Form des menschlichen Ausdrucks - obgleich selten explizit
themati siert - auch theoretisch reflektiert wurde) ist die Ausgangsthese der fol
gen den Ü berlegungen.'3
)>Sprache« ist innerhalb des warburg'schen Werkes ein großes Thema. Drei
Aspekte dieses Themas, denen im Folgenden nachgegangen werden soll, lassen
sich ungefähr folgendermaßen umschreiben:
1. Die Beschreibung als eine phänomenologisch vorgehende sprachliche Nach
zeichnung psychologischer Konstellationen, die sich in einem spezifischen
historischen Moment bildprägend auswirken.
2. Die Metaphernbildung, die - analog zu der zwei Extreme menschlichen Aus
drucksvermögens (Bild und Zeichen) ausgleichenden Symbolschöpfung - Wort
und Bild sprachlich verschmilzt.
3. Die Begriffsprägung, die, wie beispielsweise Warburgs bekanntes Komposi
tum »Pathosformel« (emotionales Pathos und rationale Forme!) zeigt) von einer
Metapher ausgeht.
13 Gertrud Bing, die der Heidelberger Akademie der Wissenschaften eine »Abhandlung über die
Sprache Warburgs<< zusagte, war wohl die erste, die die Bedeutung von Warburgs Stil als eigent
lichen Zugang zu seinem Werk erkannte. Da ihre Abhandlung nie geschrieben wurde, sind ihre
Überlegungen lediglich in Umrissen aus ihren knappen Skizzen von Warburgs Leben und Werk
zu rekonstruieren. Vgl. ebd., 440. Warburgs Sprache wird ferner in folgenden Publikationen
thematisiert: Gombrich, Aby Warburg, (Anm.8), i8-34; Roland Kany, MnemosynealsPrngramm. Ge
schichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und
Benjamin (Tübingen 1987), 178; Charlotte Schoell-Glass, >Contact bekommen1. Warburg schreibt,
in: Cora Bender, Thomas Hense!, Erhard Schüttpelz (Hrsg.), Schlangenritual. Der Transfer der
Wissensformen vom Tsu'ti'kivc der Ho pi bis zuAbyWarburgs KreuzlingerVortrag (Berlin 2007),
283-295; Martin Treml, Warburgs Nachleben. Ein Gelehrter und (s)eine Denkfigur, in: M.T., Daniel
Weidner (Hrsg.), Nachleben der Religionen. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur Dia
lektik der S<ikularisicrung (München 2007), 28-31; Thomas Hensel, Aby Warburgs Graphien oderWie
aus der Kunstgeschicht� eine Bildwissenschaft wurde (im Druck). Meine Überlegungen wurden ihrer
seits durch Gespräche mit Christopher Johnson und Davide Stimilli bereichert. überdies danke
ich Benjamin Steiner für anregende Diskussionen und die kritische Lektüre dieses Textes.
25
l
l Sprachbildung
14 Vgl. Kany, MnemosyJH als Programm, (Anm. 13), 2, 169, 173 f. und 185.
15 Vgl. ebd„ 67?9 und 185. Vgl. auch Bernd Vil!hauer, Aby Warburgs Theorie der Kultur. Detail und
Sinnhorizont (Berlin 2002), 28-31.
16 Vg l. Kollegmitschrift, Usener, 1886/87. WIA, Ill.31.I.1.[40]. Vgl. auch Kany, Mnemosyne als Pro
gramm, (Anm. 13), 73 f.
Mythus und Sitte, Bd. l, 2: Die Sprache (Leipzig 1890). Vgl. Zettelkasten 5r: Philosophie- Psycho
17 Wilhelm Wundt, VO!kerpsyrhologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache,
Anscheinend war Warburg bereits von Hermann Usener mit der grundsätz
lichen Analogie von Symbol und Metapher vertraut gemacht worden; in seiner
Kolleg-Mitschrift notierte er1 dass »[z]u der Personification [„.] als zweiter Vor
gang die Metapher« komme. ))Die metaphorische Darstellung besteht darin,
daß das Fremde, Unverstandene unserer Vorstellung nahe gebracht wird, durch
Uebertragung einer unbekannten Vorstellung auf dieselbe.«23 Diese Bemerkung
steht in engstem Zusammenhang mit den von Tito Vignoli dargelegten Thesen
zum Ursprung des Mythos, die Warburg wohl noch im selben Semester studierte.
In seinem Exemplar der Studie Mythus und Wissenschaft markierte er unter anderem
gerade jene Passage, die von der Rückführung der »directe[n] Personification von
Naturerscheinungen« und der »indirecte[n]« Metaphernbildung auf einen »ein
heitlichen, allumfassenden causale[n] Act der geistigen Thätigkeit« handelt.'4
Konkret auf die Zeit der Arbeit an seiner Dissertation (1890-1892) datierbar
sind Warburgs erste eigene theoretische Reflexionen über die Analogie von Sym
bol und Metapher. Sie stützten sich nachweislich auf die Lektüre von Friedrich
Theodor Vischers Das Symbol und Alfred Bieses Das Metaphorische in der dichterischen
Phantasie und Das Associationsprincip und der Anthropomorphismus in der Aesthetik.25
21 Vgl. Zettelkasten rn: Ikonologie- Probleme, WIA, lll.2.I.[000/042301; 000/042425].
22 In den Aphorismen sowie in der Kladde mit dem Titel »Symbolismus aufgefaßt als (Funktion der
Schwerkraft im geistigen Haushalt) Umfangsbestimmung(( verwendet Warburg den Terminus
))Greifmensch<{ (im Gegensatz zu l>Denkmensch{<). In seiner Einführung zum Vortrag von Karl
Reinhardt verwendet Warburg, Per monstra ad sphaeram. Sternglaube und Bilddeutung. Vortrag in
Gedenken an Franz Roll und andere Schriften 1923 bis 1925, hrsg. v. Davide Stimilli (München,
Hamburg 2008), 59-60; hier: 60, im Oktober 1924 die zitierte Formel.
23 WIA, III.3I.I.I.[87].
24 Tito Vignoli, Mythus und Wissenschaft. Eine Studie (Leipzig 1880). Das Exemplar in der Warburg
Institute Library (DAN 50) enthält Warburgs handschriftlichen Vermerk 1>gekauft W.S. 86<<.
Ebd., 16.
25 Friedrich Theodor Vischer, Das Symbol, in: Philosophische Aufsätze (Leipzig 1887), 153-193; Al
fred Biese, Das Metaphorische in der dnhterischen Phantam. Ein Beitrag zur vergleichenden Poetik
(Berlin 1889); ders„ Das Assodatwnsprinop und der Anthropomorphismus in der Aesthetik. Ein Beitrag
zur Aesthetik des Naturschöncn (Kiel 1890). In seinen als J>Grundlegende Bruchstücke<< bekann
ten .Fragmenten zur Ausdruckskunde notierte Warburg im Jahre 1897 neben einem von ihm
selbst am IO. März 1890 niedergeschriebenen Aphorismus zur Differenzierung von ))causaler«,
>)poetischer<< und »wissenschaftlicher Ideenassociation«, in die Zeit der Niederschrift falle eben
jene Lektüre von >Nischers Symbol und Bieses das Metaphorische in d[er] Dichter-Phantasie und
27
Ein Hauptthema des Literaturhistorikers Biese, dessen Einfluss auf Warburg of
fensichtlich ebenfalls erstmals von Kany richtig eingeschätzt wurde)26 ist der das
Wesen der Metapher charakterisierende Anthropomorphismus, die sprachliche
Verschmelzung zweier) vom menschlichen Standpunkt aus als solche empfun
dener Gegensätze: Inneres und Äußeres1 Natur und Geist oder Erfahrungswelt
und Welt der Erscheinungen. Warburg, der seinerzeit den Anthropomorphismus
selbst begrifflich zu erfassen versuchte, nennt ihn »Beseelung« (»Benennung«,
»Umschreibung<i, »Bezeichnung«) der unbeseelten Außenwelt. 27 Als Versuch ei
ner Ordnung jenes Chaos1 mit welchem jedes Subjekt vermeintlich konfrontiert
ist, stellt er für den Kulturwissenschaftler eine Form der »Ursachensetzung<i dar
- einen Grundakt menschlichen Verhaltens, der aufAusgleich der (von ihm »Pole«
genannten) oppositionellen Extreme subjektivierender Aneignung und objekti
vierender Relativierung der Außenwelt zielt. Anthropomorphismus war somit die
treffende Bezeichnung für ein Ausgleichprodukt der sich polar gegenüber stehen
den Extreme des Verhaltensspektrums, ein tertium comparationis von Symbol und
Metapher. Da Symbol und Metapher gleichwohl nicht identisch sind, versuchte
Warburg in einem weiteren Schritt, den Unterschied zwischen ihnen sowie dem
Bild zu definieren:
III Phänomenologie
29 Vgl. WIA, llI.2.r.[Ae] , Nr. 421 (1r.3.1901); Symbolismus aufgefaßt als Umfangsbestimmung.
WlA, llI.45.r.[41] (1r.3.1901).
30 Bing, A.M. Wmburg, (Anm 12), 440. Vgl. Kany, Mnemosyne als Programm, (Anm. 13), 3 .
31 ))Unser Werkzeng. Grundsätzlich: Ausgang von der positiven Einzelheit, die wir auslegend
behandeln. Exegese morc majorum. (7.12.[19]27); !Jnser Werkze11g. Gelehrte Hilfsmittel. Her
anziehen aller zugänglichen encyclopaedischen u. Sammler-Handbücher (7.12.[19]27)(<. WIA,
33 Einer der ersten, wenn nicht sogar der erste Nachweis du; Begriffs Kulturwissenschaft ist eine
Tagebuchnotiz vom 4. August 1900: »Mit Max Idee einer Warburg-Bibliothek für Kulturwissen
schaft besprochen<c Tagebuch. WIA, IILw.r.[39']. Vgl. Gombrich, Aby Watbu1:g, (Anm. 8), 167.
34 Bing, A.M. Warbu1:g, (Anm. 12), 440. Vgl. Kany, Mnemosyne als Programm, (Anm. 13), 139·
29
zu übersehen135 doch erweiterte der Hamburger Privatgelehrte Lamprechts rein
>historische< Perspektivierung um die Herausarbeitung psychologisch-anthropo
logischer Konstanten.
Was Gertrud Bing eine »ungewöhnlich enge Verbindung von Beschreibung
und Interpretation« nennt und Warburg selbst »gedrungene Interpretation, die
in einem Punkte [ ...] die Eigenbeleuchtung versucht«, beruht nur selten auf der
Beschreibung eines Artefakts,36 sondern ist meist ein sprachliches Nachzeich
nen des Prozesses seiner Entstehung. Das Erfassen, insbesondere das sprach
liche, der psychischen Implikationen der Bildprägung - ihrer )>apriorischen
Konstitutionsbedingungen«37 - war für Warburg das »Problem, das [ihn]
kommandiert[e]«; etwas präziser gefasst beschäftigten ihn zwei verschiedene
Aspekte des »Einfluß der Antike« genannten Phänomens:'8 zum einen die grund
sätzlichen psychologischen Voraussetzungen der Kunstproduktion, zum anderen
die historisch spezifische, also die »sozialpsychologische« Konstellation, die die
se »psychotechnischen Vorgänge«39 in Gang setzt; anders ausgedrückt: die Funk
tionen und die Bedingungen der Erinnerung. Im Dezember 1924 schrieb er an den
Anthropologen Franz Boas:
Im Grunde ist das Problem vom Einfluss der Antike nur der phänomenologische
Niederschlag eines ganz innerlichen psychologischen Problems, das <.„?> in·
dividuelle Bildgedächtnis - Bild im allgemeinsten Sinne gemeint - als soziale
Funktion bei der Umschaltung dynamischer Zustände des Individuums im ewigen
Wechsel von dynamischer Entladung und intentionaler Spannung am historischen
Präparat zu begreifen.411
35 Ich verdanke den Hinweis aufKarl Lamprechts Aufsatz Die kulturhistori sche Methode (Berlin 1900)
Benjamin Steiner. Vgl. Gombrich, Aby Wa1bur_g, (Anm. 8), 48-56; Wolfgan g Kemp, Walter Benjamin
und Aby Warburg, in: KritischeBerichte 3 (1975), 5-25; hier: 12; Kathryn Brush, Aby Warburg and the
Cultural Historian Karl lamprecht, in: Richard Woodfic!d (Hrsg.), Art History as Cultural History.
Warburg's Projects (Amsterdam 2001), 65-92 und V i l l haucr, Aby WarburgsTheorie der Kultur, (Anm.
15), 25-28.
36 Aby M. Warburg an Walter Lenel, 23.1u906. WIJ\, GC.
37 Gottfried Boehm, Bildbmhreibun_g. Über die Grenzen von Bild und Sprache, in: G.B., Helmut
Pfotenhauer (Hrsg.), Beschreibun_gskunst- Kunstbcschreibun_g. Ekphrasis von der Antike bis zur Ge
genwart (München 1995), 23-40; hier: 25.
38 Aby M . Warburg an Carl Justi, 3.8.1906. WIA, GC. Zu »Problem(< und »Problembibliothek( siehe
auch Aby Warburg, Ta_gebuch der Kulturwimnschefthchen Bibliothek WarburB, hrsg. v. Karen Michels
und Charlotte Schoell-Glass (Berlin 2001), 130 u n d 488. Vgl. Treml, Warburgs Nachleben, (Anm.
13), 37·
39 Allgemeine Ideen, 1927. WIA, III.rn2.1+2.[9]; Aby M. Warburg an Max M . Warburg. WIA, GC.
Vgl. Horst Bredekamp, 14 Stunden Fahrt. 4 Stunden Rede<. Aby Warburg besucht Albert Einstein, i n :
Michael Hagner (Hrsg.), Einstein on the Beach. D e r Physiker a l s Phänomen (Frankfurt am Main
2005), 165-182.
40 Aby M. Warburg an Franz Boas, 13.12.1924. WIA, GC. [Hervorhebung der Verfasserin, CW]
30
r
IV Formulieren
Es wird mir immer klarer, daß ich mit meiner >polyphonen< Meth ode im absoluten
Gegens[atz] zum Zug der Zeit stehe, die dünnere, schmackhaftere Concentrations
verdichtung verlangt. Ich sehe mich aber nicht in der Lage, wesentliche Conces
sionen zu machen: entweder mein Princip der gedrungenen Interpretatio n, die in
einem Pun kte die Eigenbeleuchtung mit allen Mitteln versucht, setzt sich durch,
oder ich habe in der l<unstgeschichte nichts mehr zu s uchen ; vielleicht nichts
mehr in der Historie überhaupt.43
41 Zwischen 1902 und 1906 muss Warburg seine Kollegen mehrfach brieflich dazu aufgefordert ha
ben, seine Texte zu kommentieren. Er erhielt Antworten wie: l>Thr Stil scheint mir zu schwer, mit
Parallelismen belastet. [...] Ich glaube, Sie müssten jeden Absatz mal daraufhin durchsehen, ob
nicht jeder Satz sich etwas vereinfachen liesse. Dann käme der reiche und originelle Inhalt noch
voller zur Geltung.(< Richard Meyer an Aby M. Warburg, 23.11.1906. WIA, GC.
42 ErnstSchwedeler-Meyer an Aby M. Warburg, 17.n.1902. WTA, GC.
43 Aby M . Warburg an Walter Lene!, 23.1u906. WTA, GC.
44 Gombrich, Aby Warbur,g, (Anm. 8), 23 und 143· Zuletzt hat Karen Michels, Aby Warbur,g. Im Bann
kreis der Ideen (München 2007), 55, diese Schreibhemmung in ihrer Warburg-Biographie an
angemerkt werden, dass Gombrichs Ausführungen zu Warburgs Sprachstil für die deutsche
gesprochen. Vgl. Kemp, Walter Benjamin und Aby Warbur,g, (Anm. 35), ro. Es sollte an dieser Stelle
Ausgabe der Biographie verfasst wurden und in der englischen Originalausgabe der Tntellectual
31
zu sagem(, komplexe psychologisc he Phänomene sprachlich in dieselbe Gleich
zei tigkeit zu bringen, die s ich in der b ildenden Kunst erzeugen lasse+6 - insge
samt ein lähmender Prozess, in dem Gombrich den Hauptgrund für Warburgs
Entscheidu ng zu erkennen meint, Privatgelehrter zu bleiben.47 Damit bezieht
Gombrich sich, wie Cbarlotte Schoell-Glass zu Recht unterscheidend anmerkt, in
erster Linie auf den Akt des Formulierens und weniger auf das Wesen der daraus
8
resultierenden Sprache selbst. 4 In deren Spannungsgeladenheit erkennt Gom
brich gleichwohl intuitiv das Besondere: weniger den Duktus gängiger wissen
schaftlicher Prosa, sondern eher die Sprache eines Dichters. 49
V ))Laufende Frau«
Aus Warburgs Nachlass geht deutlich hervor, dass dieses Ringen um den
sprachlichen Ausdruck nicht nur ein wichtiger Gegenstand der zahlreichen Ge
spräche mit seinem Florentiner Freund, dem holländischen Schriftsteller und
Kritiker Andre Joiles, war, sondern zunehmend zu einem belastenden Faktor in
dieser Beziehung wurde. 50 Zwar schätzte der Hamburger Kunsthistoriker Jolles
sehr, doch klagte er oft über dessen unsachliche, persönlich verletzende Kritik.
46 )1Aberder Zauber und auch die Schwierigkeit seiner Schriften liegen gerade in diesem ständigen
Ringen, alles aufeinmal zu sagen. Er hat oft sichtlich Mühe, derGes[ch]ichte Herr zu werden und
das Nebeneinander einer historischen Situation in ein sprachliches Nebeneinander zu zwingen.
So entwickelt er einen vielschichtigen Stil, eine Art von sprachlicher Kontrapunktik, die es ihm
ermöglichen soll, ein Thema anklingen zu lassen, während gleichzeitig das Gegenmotiv in der
Begleitung weiterläuft. So wie der Zuhörer einer Symphonie muß auch der Leser von Warburgs
Schriften daraufeingestelltsein, aufdie lapidarste Anspielung anzusprechen und dem polypho
nen Aufbau des Arguments zu folgen.(( Ebd., 31.
47 ))In der Tat wird der Leser bei einiger Beharrlichkeit entdecken können, daß es an Warburgs
Lebenswerk kaum etwas Aufregenderes gibt als diese ruhelose Suche, die einer tiefenUnzufrie
denheit über die landläufige Interpretation der Renaissance entsprang [...] Zeitweise hatte diese
Unzufriedenheit, dieses Bedürfnis, die Bildelemente zu verschieben und neu zu ordnen, eine
fast lähmende Wirkung aufWarburg. Das Bild wo!lte sich nicht setzen. [... ] Die Tagebücher und
Briefe bestatigen, welche Bedeutung diese Kämpfe für Warburgs Leben hatten; sie führten dazu,
daß er bei mehreren Anlässen einen Rufauf einen Lehrstuhl ablehnte(<. Ebd., 19.
dung weicher Bleistifte als Heil- oder Gleitmittel im Akt der Formulierung. Vgl. ebd., 284 t:
48 Vgl. Schoell-Glass, 1Contact bekommen<, (Anm. 13), 283. Schoell-Glass betont auch die Verwen
49 Vgl. Gombrich, Aby Warburg, (Anm. 8), 29. Vgl. auch Kenneth Clark, Anothn Part q_fthe Wood. A
Seif-Portrait (London 1974), 189.
50 über ]olles, der selbst archäologische wie auch kunsthistorische Texte verfasste, urteilte War
burg, an Johann Georg Mönckeberg, Briefentwurf, ohne Datum [wahrscheinlich Januar 1900].
WfA, GC. Publiziert in: Walter Thys, Andri)alles (1874 - 1946) - 1i_gebi!deter Va,gant<i: brieven en do
cumenten (Amsterdam 2000), 208, folgendermaßen: »Er besitzt für Kunst und Wissenschaft ein
ter gefürchteter Kritiker. Er ist ohne Zweifel aus dem Stoff gemacht, aus dem ganz <?> bedeu
gleichmäßiges, geniales Verstfodnis, ist selbst ein anerkannter guter Dichter und sehr gewand
endschap, in: Nexus 1 (1991), 5-18; Bernd Roeck, Florenz 1900. Die Suche nach Arkadien (München
tende Leute entstehen können.« Vgl. Antoine Budar, Aby Warbur9 en Andre'Jo!les een Flare11tijnse vri
2001) 229-241; Silvia Contarini, Trafolk!ore e srienza del!'arte: !eformedel mito inAndri]ol!es, in: Marco
Bertozzi (Hrsg.), Aby Warburg e le metamorfosi degli antichi dei (Ferrara 2002), 153-172; dies.,
Introduzione, in: Andre Jolles, I travestirnenti della letteratura. Saggi critici e teorici (1897-1932),
hrsg. v. Silvia Contarini (Milano 2003), IX-LVTll und dies., Maurizio Ghelardi, 1Die uerkdrperte Be
we,gung1: la ninfa, in: aut aut 321/322 (2004), 32-45.
32
Die daraus immer häufiger entstandene ))Katerstimmung« veranlasste den Hol
länder r903, grundsätzlich über die Zukunft der Freundschaft mit Warburg nach
zudenken. An der Genialität seiner Spürnase zweifle er nicht, schreibt Jolles, aber
))wenn Du über Dein Leben sprichst [...], dann schleicht sich bei mir ein für die
Freundschaft knickender Argwohn ein, den ich nicht immer überwinden kann.1,51
Dem Vorwurf des Selbstmitleids begegnet Warburg allerdings, wie so oft, mit
einer Rechtfertigung:
Was mich so unzugänglich und unfreundlich nach außen macht, ist eben die mir
mühsam abgerungene wissenschaftliche Aufmerksamkeit [ . . . ] Jeder ist Egoist in
der l(appe, die ihm gefällt; Dir ist [...] auch der Satz entfahren, daß ich immer
mehr von anderen haben wolle, als selbst geben - das ist ein harter Vorwurf:
ich gebe Jedem, der meine Schriften liest, die unter verzweifelten Qualen he
rausdestillierte Aufklärung zum Nacherleben. Dadurch thue ich etwas absolut
unegoistisches."
Dies schreibt Warburg erst nach dem Ende der gemeinsam in Florenz ver
brachten Jahre, in denen ]olles dem Hamburger Freund Bewunderer wie auch Kri
tiker war. Aufihn geht mit Sicherheit die im Frühherbst des Jahres 1900 geborene
Idee zurück, dem Freund aus Hamburg als >methodologischen Gegenspieler auf
die Sprünge zu helfen.�1 Es war die Idee zu dem als »Nymphenfragment« bekannt
51 ))Unter guter Freundschaft verstehe ich, dass man zu einer gewissen Grenze des anderen Gewis
sen ist. Oft bist Du es für mich gewesen, und ich fühle, dass ich es im Grunde auch für Dich sein
könnte. [.. .] Ich gestehe, dass ich wenn auch ein echter dennoch nicht immer ein guter Freund für
Dich gewesen bin, dass die Technik meiner Freundschaft oft nicht die richtige war und dass es
mir oft an Taktgefehlt hat. [...] Etwas Schuld liegt auch bei Dir; hättest Du doch ein Bischen [sie]
mehr Sitzflci.sch gehabt, und manchmal zuhören können, wenn ich versuchte, Dir was zu erz<ih
len von schönen Sachen, die ich genoss und die ausserhalb der Grenzen Deinerintercssensph.ire
lagen, D u hättest mehr Ableitung und dadurch ein vergnügteres Leben gefunden, meine beste
Gaben Lsic], meinen Riecher für alles Schöne hast Du vielleicht etwas z u sehr vernachl<issigt.(<
AndreJolles an Aby M. Warburg, Aprili903. WIA, GC. Publiziert in: Thys,Andrijo!les, (Anm. 50),
254f.
52 Aby M . Warburg an Andre Jolles, 19.04.1903. WIA, GC. Publiziert in: Thys, Anddjol!es, (Anm. 50),
256. [Hervorhebung der Verfasserin, CWJ
53 »Aber zwischen die Jahre 1898 und 1902 fiel gerade seine kriti.sche Periode. [„.] der Mann, den wir
alle als Mittelpunkt der ganzen gelehrten deutschen Welt gekannt haben, lebte damals in fast
menschenscheuer Zurückgezogenheit mit nur wenigen guten Freunden u. fast ohne eigentlich
wissenschaftlichen Verkehr. Das erste Heft der >Blätter aus Fiesole( war noch nicht erschienen
u. der fruchtbare Autor, dessen Arbeiten in dicken Bänden jetzt wieder herausgegeben werden,
hatte damals kaum mehr publiziert als seine Doctor Arbeit u. eine kleine ital[ienische] Arbeit
über das Festwesen. [„.] Zwar können wir [.„] sehen, dass schon viele seiner Ideen darin waren;
aber man kann es den Zeitgeno.ssen durchaus nicht übel nehmen, dass sie durch seinen schlecht
versorgten Stil u. eine zu kompakt gedrungene Ausdrucksweise die eigentliche Tendenz u. den
tieferen Wert derselben durchaus nicht verstanden. Er fühlte sich unbegriffcn u. verkannt u. so
hörte allmählich die w absolut lebendige Beziehung zwischen Schreiben u. Publikum völlig auf
u. es schien einen Augenblick, dass diese prächtige Anlage in altmodische u. minderwertige
trocknen anfing, nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Mensch. L ..] Wie geschäftsmäßig
Wissenschaft ersticken sollte. Die schlimme Folge hiervon war, dass seine Thatkraft zu ver
Warburg seine Wissenschaft auch betrieb, ihm fehlte die Börse; er fühlte sich alleine u. bekam
hierdurch allm;ihlich eine falsche Anschauung von sich selbst und anderen.<1 Professor X (An
dre Jolles) an StudentY (Aby M. Warburg), März 1902. WIA, GC. Publiziert in: Thys, And1ijolles,
(Anm. 50), 236.
33
gewordenen, fiktiven, doch schne11 wieder aufgegebenen Briefwechsel, der die
beiden vom Ende des Jahres 1900 bis in das Jahr 190! hinein beschäftigte und
mit mehr oder weniger spielerischer Leichtigkeit zur Formulierung der von War
burg bereits lange erwogenen Thesen f ühren sollte. 54 »Stell dir die Sache nicht s o
grässlich vor«, schreibt Jolles am n. Oktober 1900 noch vor Warburgs Rückkehr
nach Florenz, ))du wirst sehen, aus diesen sechs Monaten wird etwas gutes. Das
Feuer liegt fertig. Man braucht nur ein Streichholz und einen PinienapfeI. Lass
uns diese Rollen brüderlich verteilen.«55 Am 25 . November hält Warburg dann in
seinem Tagebuch fest: »]olles bringt am 23 . den ersten Nymphenbrief. Wunder
voll farbig. Hoffentlich wird es was.« Am 9. Dezember ist seine eigene »Einleitung
der Antwort auf)olles Br[ief] fertig« und wird von beiden diskutiert. Warburg
arbeitet gleichwohl seinen Part weiter aus und setzt die ihm zugrunde liegenden
Archivrecherchen fort. 56 Sein Antwortbriefist demnach au[Januar r9or zu datie
ren. Zudem ist das nicht datierbare Fragment eines weiteren Briefes erhalten, das
beide Hände aufweist.57 In dieser Form führte Warburg seine Ü berlegungen also
nicht weiter, sondern gelangte erst in seiner GhirlandajoNorlesung mit dem Titel
Florentinische Wirklichkeit und antikisierender Idealismus, die er am 28. Oktober 1901 in
der Hamburger Kunsthalle hielt, zu einer Synthese. 58
Die Form eines literarisch-spielerischen Austauschs, der paradigmatisch die
Diskrepanz zwischen subjektiver Verlebendigung und historisch korrekter Inter
pretation eines Bildes vor Augen führen sollte, hatte offenbar zwei Ziele: einer
seits Warburgs Hemmung zu überwinden, seine Thesen zu Form und Bedeutung
bestimmter Motive der Quattrocentomalerei zu formulieren) andererseits seinen
sprachlichen Ausdruck zu finden. Um dies zu erreichen, schlüpfte )olles in die
herausfordernde Rolle des mehr oder minder enthusiastisch schwärmenden Be
wunderers der jungen Dienerin, die aufDomenico Ghirlandaios Geburt desJohannes
54 Vgl. Gombrich , A byWarburg, (Anm. 8), 141-164; Gab riele Huber, WarburgsNinfa, Freuds Gradiva und
ihre Metamorphose bei Masson, in: Silvia Baumgart, Gotlind Birkle, Mechthild Fend, BettinaGötz,
Andrea K!ier, Bettina Uppenkamp (Hrsg.), Denkräume zwischen Kunst und Wis,c;enschaft (Ber
lin 1993), 443-460 und Sigrid Weigel, Aby Warbur,gs >Göttin im Ex1k Das >Nymphenfragment< zwi
schen Brief und Taxonomie, gelesen mit Heinrich Heine, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus, 4
(2000), 77-80. Vgl. auch Wolfga ng Pichler, Werner Rapp!, Gudrun Swoboda, Metamorphosen eines
Flussgotts und der Nymphe. Aby Warburgs Denk-Haltungen und die Psychoanalyse, in: Lydia Ma
rine!li (Hrsg.), Die Couch. Vom Denken im Liegen (München, Berlin, London, New York 2006),
55 Andre Tolles an Aby M . Warburg, rn.rI.1900. WIA, GC. Publiziert in: Thys, Andre'jol!es, (Anm.
161-186.
50), 218. Vgl . Gombrich, Aby Warburg, (Anm. 8), 143· Die in dem Corpus mit Materialien zum
Nymphenfragment gesammelten Notizen reichen, sofern sie datiert sind, bis zum April 1900
zurück.
57 Vg!. Ninfa fi orentina. WI!\, III.55.r.[50-55]; Contarini/Ghelardi, 1Die verkörperte Bewegung1, (Anm.
56 WIA, III.10.2.[49; 50; 51].
50), 32 f., sehen in diesem Fragment den Nukleus des Proj ekts und datieren es aufgrund des auf
einem Blatt notierten )113.IV.(( aufApril 1900. M.E. widerspricht nicht nur der Inhalt des Entwurfs
dieser These, da dieser eine Fortsetzung des bereits aufgenommenen Dialogs darstellt, sondern
auch Warburgs Tagebucheintragungen vom Oktober 1900.
58 Vgl. Florentinische Wirklichkeit, 1901. WTA, III.5r.3.[32-41]. Einige der i m Konvolut J>Nymphen�
fragmenh gesammelten Notizen flossen erst in den späteren Text ein.
34
in der Tornabuonikapelle von Santa Maria Novella im flatternden Gewand, weit
ausschreitend mit einem Fruchtkorb die Szenerie betritt:
[„.] gerade bei der geöffneten Thür läuft, nein fliegt, nein schwebt der Gegenstand
meiner Träume, der allmählich die Proportionen eines anmutigen Alpdruckes an
zun ehmen beginnt. E i n e fantastische [sie] Figur, nein, ein Dienstmädchen, nein,
eine klassische Nymphe, kommt, auf ihrem Kopfe eine Schüssel mit herrlichen
Südfrüchten tragen[d], mit weit wehendem Schleier ins Zimmer hinein. [„.] Diese
haltsamkeit [.. .], was soll dies A\les?! Aber was meint vor Allem dieser plötzliche
lebend ig leichte, aber höchst bewegte Weise zu gehen; diese energische Unauf
Unterschied im Fussboden [.„]; er scheint sich die wiegende Elastizität einer Son
nen beschienen[en] Frühlingswi[e]se anzueignen, er wippt wie die dicken Moos
l<issen auf dem grünschattigen Wa!dpfad [ ...] Vielleicht mach ich sie poetischer
ersten Moment als ich sie sah das sonderbare Gefühl von [...] >W o hab ich dich
als wie sie wirklich ist - welcher Liebhaber thut das nicht - aber ich hatte den
mehr gesehen(. Es ist uns, alsob eine frühere Bekanntschaft uns von Anfang
an verbindet, etwas [ ... ] Mystisches, alsob wir [ ...] eine geliebte Stelle aus einer
früheren Existenz plötzlich wiedererkennen [„.]'9
Dann wird Jolles bewusst, dass er der Ninfa nicht nur dauernd von Neuem be
gegnet, als Salome oder als Judith, als Engel oder als Brautjungfer, sondern sie
auch wiedererkennt:
[„.] aber sie hatte sich verzehnfacht ----- Ich verlor meinen Verstand. [.„] Und so
komm ich [ ... ] zum Priester der offiziellen Wissenschaft, der das Allerheiligste des
Quattrocento kennt oder wenigstens zu kennen hat, um mich nach ihrem Namen,
Stand und ihrer Adresse zu erkundigen. Wer ist sie, woher kommt sie, hab ich sie
schon früher, ich meine schon anderthalb Jahrtausend früher getroffen [„.l6°
Die Figur der Nirifa war geradezu prädestiniert, ins Zentrum dieses litera
rischen Austauschs zu rücken, da sie schon lange in Warburgs wissenschaft
lichem Blickfeld lag. Das Projekt ging in der Tat aus seinen hoch abstrahierten
Überlegungen zur Theorie von gesteigerter Bewegung und Pathos hervor, speziell
der Vorwärtsbewegung (»Greifen(<, )>laufende Frau«), deren Wissenschaftlichkeit
durch eine Fundierung in Physik und Psychologie gewährleistet sein sollte. Unter
den im Gegensatz zu »Ruhe«, »Statik« und >)Tektonik(< stehenden Oberbegriffen
)>Bewegung<( ()>Eigenbewegung<(, )>Reflexbewegung(<, »Vorwärtsbewegung«, ))Be
wegungsrichtung<<, J>Bewegungssteigerung<i etc.) und ))Dynamik« hatte Warburg
zwischen r888 und r906 - ausgehend vom »bewegten Beiwerk<i (Gewandung und
Haare) und übergehend zu »Mimik« (Körperbewegung) und »Gestik« - eine Rei
he von Aphorismen notiert, die er unter dem programmatischen Terminus >>Um-
35
fangsbestimrnung(< zusammenfasste. 61 Dieser Begriff bildete zusammen mit der
bereits erwähnten })Ursachensetzung« das Fundament für Warburgs Thesen zur
Wahrnehmungspsychologie und Ausdruckstheorie. 62 Nur an einer Stelle bring t
er diese Überlegungen allerdings explizit mit der Figur der NinJa zusammen1 dem
prototypischen Beispiel der >verkörperten Bewegung,: 63
Francesco Sassetti und Domenico Ghirlandajo haben [ „] wohl Sinn und Streben
auf Erweiterung ihres seelischen Umfanges gerichtet, aber die äussersten Grenz
werte in Ruhe und Bewegung aus eigener urwüchsiger Kraft zu erreichen, ist
ihrem Te mperament von Natur aus versagt, _Qes_hfilb lassen sie sich unbefangen
die Nachhülfe fremder Formenwe!ten gefallen, wenn sie eben die Grenzwerte
menschlicher Seelenzustände in der Ruhe oder in der Bewegung verkörpern wol
len.6s
6r Die zahlreichen Aphorismen finden sich sowohl im Konvolut der »Grundlegenden Bruchstü
cke zn einer pragmatischen Ausdruckskunde (monistischen Kunstpsychologie)« als auch in der
Kladde 11Symbolismus als Umfangsbestimmung«. WIJ\, III.2.L[Ae]; III.43.r. Vgl. Manuela Pal
lotto, Vedere 1! tempo. La storia warburghiana oltre iJ racconto (Roma 2007), 57-70.
62 Vgl. Villhauer, Aby Warbui:gs Theorie der Kultur, (Anm. 15), 68-70.
63 lrn Nymphenfragment nennt er, WIA, TII.55.r.[22] , sie auch )>Hofnärrin der Bewegung«.
64 März 19m. WIA, Ill.45.1.(37].
65 WIA, Ill.5q.[37; 38]. [Hervorhebung im Original] Vgl. Huber, Warbut_gs Ninfa, (Anm. 54), 449.
66 WIA, III.55.r.[48]; III.55 . 2 . [r3]. 11Der subjektive Act des Ausgreifens und Ergreifens von fester
Stellung aus eines Objektes crgiebt eine objektiveUmfangsbestimmung.<< lII.2.r.[Ac], Nr. 400.
T
11
�
gens pieler Warburg zu einem Plädoyer für >>kunsthistorische Besonnenheit« 7
h er ausz ufordern. Diese Besonnenheit zeichnet Warburgs Herangehensweise
in expliziter Absetzung von einer dem Idealismus anhängenden, liebhabe
ris chen Kunstbetrachtung aus, die er überspitzt so charakterisiert:
vornehm lächelnd pflegt der unter dem modernsten Cylinder der höchsten l<ultur
empfindsam denkende Kunstfreund den kritischen Eindringling von der Schwelle
des stillen l<ämmerleins zu weisen, wo er seine l<unstidea\e zu alleinigem Ge
brauch besitzt. Ja, Leute, denen die ganze Schöpfungsgeschichte gänzlich >natür
lich1 vorkommt, die alles für erklärt halten, das unter dem Mikroskop die Form
von immer kleiner werdenden Fragezeichen annimmt, reservi[e]ren sich dennoch
das l<unstgebiet als unvernü nftige Insel der Seeligen (im übrigen wohlgeordneten
l(osm os), wo sie sich auf der Hal lelujawiese durch den großen Pfannkuchenberg J
II
des Schönen durchgefressen haben."R
ten ))Straßburger Entwürfe« aus den frühen 189oer Jahren, umfassen.70 Darüber
hinaus enthält das Ninfa fiarentina titulierte Konvolut die Dokumentation einer
eingehenden Archivrecherche: zum Stammbaum der Familie Tornabuoni, zu
deren Patronat in Santa Maria Novella, zu Francesco Sassettis Ansprüchen auf
dieselbe Chorkapelle und zum Festwesen.7' Die Resultate der Recherchen sind
jene Fakten, die den Gelehrten zur Abkehr von der rein poetischen Betrachtung
der Chorfresken - »ich möchte wohl, aber meine wissenschaftliche Erziehung er
laubt es nicht« - zwingen. Warburg plädiert deshalb dafür, dass auch )olles für
))einen Augenblick den rein künstlerisch genießenden Standpunkt<' verlasse, um
seiner Deutung zu folgen, ja ihm zu erlauben� das Bild über die zeitgenössischen
Urkunden, also die historisch dem Bildwerk zugehörigen Worte, zum Sprechen
67 WIA, lll.55.2.[r3].
68 WIA, IIl.55.r.[53]. Der Zweite Satz ist im Originalmanuskript gestrichen. (Hervorhebung der
Verfasserin, CWJ
69 Vgl. folgende Passage aus dem Fragment des dritten Briefes von der Hand Andre Jolles': ))Ein Mo
rellianer willst du nicht sein, ihr Standpunkt sei zu nahesichtig, sie sähen die Künstlerhand vor
lauter [Finger]Nägel nicht und im besten falle haben sie der Kunstgeschichte denselben Dienst
geleistet wie die Diplomatik der Geschichte: die notwend ig reinliche Scheidung des Materials.
Du trägst den Kopf höher, deine zärtliche Seele möchte sich im Jungbrunnen der Frührenaissan
ce ihre Primitivität wieder anbaden.(( WIA, III.55.r.[50].
70 Vgl. WIA, lll.55.r.[23].
71 Vgl. WIA, lll.55.2.
37
zu bringen. Allein die Dokumente könnten enthüllen, »was hinter diesen Bildern
vorgehe<,. Zwar sei er, Warburg, ebenso wie der dem »pläsi[e]rliche[n] Leichtsinn«
verfallene Jolles von der Ninfa fasziniert, aber ihn fessle allein die Tatsache, dass
»dieses heidnische Windspiel« in die »schwerwandelnde Respektabilität [. ..]
christliche[r] Gedämpftheit« hinein wirbeln dürfe; sie enthülle ihm die ))rätsel
haft unlogische Seite primitivster Menschlichkeit<' einer angesehenen Patrizier
familie, der ))tadellose Manieren im Blut liegen«.72 Mit anderen Worten: das
Phänomen der sich in der Figur der ))laufenden Frawi manifestierenden Geisteshal
tung, nicht ihre Schönheit, ziehe ihn an und ermuntere ihn, die psychologischen
Voraussetzungen ihres Erscheinens zu erklären.73
Zunächst verbleibt Aby Warburgs Antwort in)olles' Bild der Vertrautheit mit
den dargestellten Figuren - »nein, mein Freund, so ohne Weiteres kann ich Dich
nicht mit dem Mädchen bekannt machelli<74 -, um dann (in einer später verwor
fenen Skizze) die geliebte Dienerin als Schmetterling zu bezeichnen und die
Jolles'sche Wahrnehmung als puren Ideenflug zu charakterisieren:
Nun soll ich ihn [den schönsten aufgespannten Falter] Dir wieder einfangen. Auf
diese Gangart bin ich nicht eingerichtet. Oder eigentlich, ich möchte wo[h]l, aber
meine wissenschaftliche Erziehung erlaubt es nicht. Auch ich bin i n Platonien ge
boren und möchte mit Dir auf einer hohen Bergesspitze den Flug der Idee schauen
und wenn unsere laufende Frau kommt, freudig mit ihr wirbelnd <?) fortschweben.
Aber mir ist es n u r gegeben nach rückwärts zu schauen und i n den Raupen die
Entwicklung des Schmetterlings zu genießen. (Um aus dem naturgeschichtlichen
Bi!de herauszukommen: Ehe Du nicht weißt, wie die Herrschaft hieß, der das
Dienstmädchen a n gestellt war, kann ich D i r nicht weiter[helfen].f'
In der endgültigen Fassung seiner Antwort wandelt Warburg das Bild leicht ab
und greift wieder auf)olles' Vergleich des Bodens unter den Füßen der Ninfa mit
einer Frühlingswiese zurück, die nun zu einem Garten wird - einem Sinnbild der
Florentiner Frührenaissance:
Es lockt Dich, i h r wie einer geflügelten ldea durch alle Sphären i m platonischen
Liebesrausche zu folgen, mich zwingt sie, den philologischen Blick auf den Boden
zu richten, dem sie entstieg und staunend zu fragen: wurzelt denn dieses seltsam
zierliche Gewächs wirklich in dem nüchternen florentinischen Erdboden?76
72 WIA, IIl.55 .2.[1]. Publiziert in: Thys, /\nddja!Jes, (Anm. 50), 222. G om brich s, Aby Warbur,g, (Anm.
8), 146, Überzeugung, Warburg sei tatsächlich im Konflikt zwischen einem historischen oder
einem ästhetischen Ansatz gewesen, kann ich nicht zustimmen.
73 Vgl. Gombrich, Aby Warburg, (Anm. 8), 146.
74 WIA, lII.55.2.[1]. Publiziert in: Thys, Andre'Jalles, (Anm. 50), 221.
75 WIA, Ill.55.1.(14).
76 WIA, 1II.55.2.[2J. Publiziert in: Thys, Andri]alles, (Anm. 50), 222.
schung.77 Es ist derselbe sinnbildliche Erdboden, auf dem die Florentiner Renais
sancekultur gedeiht; in ihm 1gärtnert< Ghirlandaio als Maler, ist die Ninfa der
)>phantastische Fleck im grünenden Hausgarten<<, gar eine »Modeblume« oder
»Üppige Zierblume«1 und wird das christliche Ethos der Dominikaner zu )>dunkler
Kirchhofserde«. Das Bild des Gartens umschreibt offensichtlich die wirtschaft
liche Blütezeit, deren soziale Umstände Einfluss auf die kunstproduzierende Ge
sell schaft nehmen; es sind Warburgs Interpretation nach - die hier allerdings nur
über die Metapher angedeutet wird - die Voraussetzungen, die einen Rückgriff
auf heidnisch-antike Modelle stimulieren.
Es ist kaum zu übersehen, dass Warburg hier selbst - gleichwohl in explizi
ter Absetzung von der schwärmerischen Einfühlung seines Freundes Jolles - eine
poetische Ausdrucksweise wählt, um die von ihm konstatierten Phänomene zu
um schreiben: er spricht in Sinnbildern. Die Formel ))Wort und Bild« charakteri
siert somit hier (wie auch grundsätzlich) gleich zwei methodologische Besonder
heiten: einerseits das Zusammenbringen von Bilddokumenten und historischen
Quellen, andererseits das bildhafte Sprechen. Doch mehr noch: Warburg wechselt
unvermittelt vom naturgeschichtlichen über das botanische Sinnbild zur endgül
tigen Deutung des Freskenzyklus als >lebendes Bild<. Für ihn stellen die Fresken
nämlich eine vom damaligen Festwesen inspirierte, durch die Kunst verewigte
Inszenierung eines >)religiösen Dramas<< mit zeitgenössischem Personal dar. Da
bei rekurriert er auf Burckhardts dictum des Ȇbergang[s] aus dem Leben in die
Kunst« und die in seiner Dissertation entwickelte These) dass über dieses Medi
um - das »bewegte Leben<< - mythologische Elemente in den gesellschaftlichen
Alltag eingedrungen seien; es handle sich bei deren Eindringen 1in das Leben wie
die Kunst< um eine typische Vorstufe zum »Ornamentalen Manierismus<<, schreibt
er) der unter dem zunehmenden Einfluss antiker Vorbilder schließlich zu einem
Übermaß an Bewegungsmotiven geführt habe.78
Das für Jolles entworfene Personenverzeichnis, das nach Warburgs Ausle
gung dem auf den Fresken in Szene gesetzten Schauspiel entspricht) )ffheater
zettel« genannt, identifiziert die Figuren anhand des Familienstammbaums der
Tornabuoni. Dieser Theaterzettel ist für den Hamburger Gelehrten gleichzeitig
eine Metapher seiner Methode der historisch-kritischen Interpretation:
77 Vgl. die metaphorische Darstellung desselben Dualismus in der Einleitung zum Mnemosyne
Atlas: »Hedonistische Ästheten gewinnen die wohlfeile Zustimmung des kunstgenießenden
Publikums, wenn sie solchen Fonnenwechsel aus der Pläsierlichkeit der dekorativen größeren
Linie erklären. Mag wer will sich mit einer Flora der wohlriechenden und schönsten Pflanzen
begnügen, eine Pflanzenphysiologie des Kreislaufs und des Säftesteigens kann sich aus ihr nicht
entwickeln, denn diese erschließt sich nur dem, der das Leben im unterirdischen Wurzelwerk
untersucht.<( Warburg, Mnemosynr, (Anm. Ig), 3 .
78 Aby Warburg, Sandro Bottire!lis 1Geburt der Venus1 u n d 1Frithlin91. Eine Untersuchung über d i e Vor
heidnischen Antike) (Anm. 3), 1-59; WIA, IIl.55 .r.[48]. Vgl . Kany, Mnemosyneals Pro,gramm, (Anm.
stellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance) in: ders., Die Erneuerung der
r3), 141.
39
Da man die meisten der auftretenden Personen mit einiger Sicherheit identifizie
ren kann, so überreiche ich Dir anbei ein bühnenmäßiges Personenverzeichnis zur
Erklärung der Scene. Bei unserem Versuche, eine Zeit nachzuerleben, wo festlich
spielender Gestaltungstrieb und künstlerisch spiegelnde t<raft »noch (um sich
Jean Pauls Worte[n] zu erinnern) auf einem Stamm geimpfet blühen«, ist dieser
Theaterzettel kein gewaltsam herangezogener pikanter Vergleich, vielmehr eine
wesensgleiche Metapher.79
79 WIA, III.55.2.[8]. Publiziert in: Thys, Andri]ol!es, (Anm. 50), 221 ff [Hervorhebung der Verfasse
rin, CWJ
80 WIA, III.55.2.[7]. [Hervorhebun g der Verfasserin, CWJ
VI Mensch und Welt
Jean Pauls >Stamm< meint also einen sprachlichen Stamm, genauer: die ur
sprüngliche, metaphorische Redeweise, während Warburg mit demselben Stamm
in erster Linie einen Epochenbegriffassoziiert. 83 Ist das Begriffspaar Mensch (be-
81 Schon Edgar Wind, On a rmnt Bwgraphy of Warbur9 (1971), in: ders., The Eloquence of Symbols
(Oxford, New York 1983), rn6-113; hier: 112, betont die Rolle, die das Jean Paul-Zitat in Warburgs
Überlegungen zum Wesen der Metapher spielte.
82 Jean Paul, Sämtliche Werke, Bd. 18 (Berlin 1861), 179 (EEH 1600). Der Paragraph ist in Warburgs
Handexemplar des Bandes mit Bleistift markiert. [Hervorhebungen der Verfasserin, CW]
83 Vgl. Uwe Wirth, Prolegomena zu einer a l lgrmeinrn Greffologie, URL, 26.6.2008, http://www.atopia.
tk/index.php/greffe9/ProlegomenazueincrallgemeinenGreffologie.html. Dass Warburg mit
gebuch der K.B.W. von 1927 zu bestätigen: »Eigentlich crfil in diesem Moment [im Moment der
dem Stamm einen Epochenbegriffassoziierte, scheint folgender Eintrag Fritz Saxls in das Ta
41
ziehungsweise Ich) und Welt bei Jean Paul tatsächlich ein Synonym für Körper
und Geist, wird es bei Warburg zur Metapher der (historischen) Gleichzeitigkeit
von Antagonismen. In dem 1902 erschienenen Aufsatz Flandrische Kunst und Floren
tinische Frührenaissance zitiert Warburg Jean Paul wörtlich, um das Nebeneinander
von christlicher Pietät und humanistischem Selbstverständnis treffend darzu
stellen:
Der flandrische Stil bot durch seine eigenartige geschichtete Mischung von inne
rer Andacht und äußerer Lebenswahrheit das praktische Ideal eines Stifterbild
nisses. Dabei begannen die Menschen im Bilde doch schon, sich als individuelle
Geschöpfe vom kirchlichen Hintergrunde zu lösen, aber ohne umstürzlerische
Manieren, einfach durch einen natürlichen, von innen heraus l<ammenden Wachs
tumsprozeß, weil ))der Mensch noch mit der Welt auf einen Stamm geimpfet
blühte((; während die Hände des Stifters noch das übliche Gebärdenspiel des
selbstvergessenen, sch utzflehend aufwärts Blickenden bewahren, richtet sich
der Blick schon träumerisch oder beobachtend in irdische Fernen.8''
sctzungs-Prozeß zwischen Tropus und Metapher, der für Europa bei Kepler endet.1� [Unterstrei
chung im Original] Das Jean Paul-Wort steht bei Warburg gleichwohl auch für Antagonismen ein,
die nicht mit verschiedenen Epochen assoziiert sind. Im Kreuzlinger Schlangenritual-Vortrag
(r923), WIA, lll.93 .1.[48], vergleicht er das Wechselspiel der Charaktere in den Fruchtbarkeits
tänzen der IIopi-Indianer mit der Mauf einen Ast geimpfet[en]1 Doppelheit von tragischem Chor
und Satyrspiel\' in der ))antiken Tragödie(\ und fügt hinzu: J>Das Werden und Vergehen der Natur
[wird] erschaut im anthropomorphen Symbol, aber nicht im Gezeichneten, sondern im wirklich
dramatisch nacherlebten Zaubertanz.(( Ebenso wenig epochal konnotiert ist die Koexistenz von
)>magischc[r] , divinatorische[r] und beschreibende[r] Astrologie<�, die Warburg, Sommerkurs,
Astrologie, 1913. WIA III.87.1.1.[20J, seinen Studenten erklärt, und zwar als Charakteristikum
der »hellenistische[n] Weltanschauung«, unter der diese »auf einen hermetischen Ast geimpft
(um ein Wort des Jean Paul zu brauchen), blühtern(; ins Auge fallt lediglich, dass die drei Begriffe
eigentlich in einer Hierarchie zueinander stehen.
84 Aby Warburg, Flandrische Kunst tmd Florrntinische Frührenaissance. Studien, in: ders., Die Erneue
rung der heidnischen Antike, (Anm. 3), 185-206; hier: 206. [Hervorhebungen der Verfasserin,
CWI
42
satzes mit dem Oberbegriff einer Redefigur und deren Unterart erklärt sich erst
au s den kategorial verschiedenen Bedeutungen) die Warburg »Tropus<< und »Me·
tapber« zumis st; in einem Briefan seinen Bruder Max aus dem Jahr 1928 erläutert
er sie:
Den inneren psychotechnischen Sinn des �gleichens und des Gleichnisses, das
in der Form der ))Trope(( den beobachteten Gegenstand (der einen anderen völ
lig ersetzt) oder in der Form der �tapher, (die durch den Zusatz: ))wie<( das
Bewusstsein von der nur bedingten Gleichheit wachhält), wollte ich aufgrund
der kunsthistorisch nachweisbaren Entwicklung irgendwo packen. So bin ich von
den allegorischen Bildern Botticellis zur Praktik und Geschichte des astrischen
Symbols gekommen.86
Hieraus wird deutlich, dass Warburg der Verwendung eines )>Metapher« ge·
nannten Vergleichs, der im Gegensatz zum Gleichnis eine Abstraktionsleistung
voraussetzt) Distanzbewusstsein zuschreibt. Das relativierende »Wie<i bezeugt
die Ü berwindung subjektivierender Aneignung, womit die Metapher für Warburg
in Bezug auf die Begriffsbildung propädeutische Bedeutung erhält.
1
Ich habe ja oft genug zitiert: »als Begriff und Gleichnis noch auf einen Stamm
!
geimpft blühten((, (Zitat nur sinngemäß). Wenn ich Dir raten darf, lass' Dir doch
als Gegenstand der Übung geben: Das Verhältnis von Begriff und Metapher in der
Aesthetik Jean Pauls. Du wirst dann allerlei erfreuliche Ueberraschungen zugun
sten Deines treudenkenden Vaters erleben.87
43
"'
tion konsequent, wird Warburgs Atlas selbst zur Metapher, denn er >handelt< von
dem Zwischenraum, in dem sich die »Tragödie(< der Menschheit abspielt,9i die da�
rin besteht) immer wieder Distanz zwischen Individuum und Außenwelt schaf�
fen zu müssen. In diesem Sinne veranschaulichen die Bilderreihen der einzelnen
Atlastafeln nur Teilprobleme eines historisch wie psychologisch die Menschheit
prägenden Vorgangs; sie sind >Kapitel< eines großen Buches. Im Stadium der
Vollendung seines Projekts interessierte Warburg das Einzelbild kaum noch. Als
Teil des Ganzen musste es sich in größere Konstellationen einfügen lassen, mit
denen er das Problem möglichst genau nachzuzeichnen versuchte. Das Problem,
»das individuelle Bildgedächtnis als soziale Funktion bei der Umschaltung dy
namischer Zustände des Individuums im ewigen Wechsel von dynamischer Ent
ladung und intentionaler Spannung zu begreifen«, war dermaßen grundsätzlich
und schwer fassbar, dass es sich letztlich nur metaphorisch umschreiben) also in
ein unbegrenztes Spektrum von Sinnbildern übersetzen ließ. 93 Alles außerhalb
dieser zentralen Fragestellung war so flüchtig wie die Konstellationen der Einzel
bilder beim Versuch des Begreifens des Grundsätzlichen.
Die Sätze, in denen Warburg seine Gedanken schriftlich fixierte, wurden mit
der Zeit immer fragmentarischer, ja wirken oft geradezu splitterhaft. Schon als er
r888 begann, seine lehrsatzartigen Aphorismen niederzuschreiben, war er, da
mals noch Student, aufder Suche nach dem adäquaten Ausdruck für seine Thesen
gewesen. Allerdings hatte er dieser ideell an Vorbildern wie Goethe, Jean Paul und
Nietzsche orientierten Sammlung durch Nummerierung der einzelnen Aphoris
men noch ein Gerüst gegeben, während sich die als Vorarbeiten für den Mne
mosyne-Atlas niedergeschriebenen Textfragmente der 192oer Jahre aufKonvolute
von NotizzetteI beschränken, die - in verschiedenen Klemmheftern zusammen
gefasst - lediglich ))Allgemeine Ideen((, »Grundbegriffe« oder >)Überschriften«
betitelt sind.
Warburg drückt sich in diesen Theoriefragmenten wie in seinen theoretisch
ausgerichteten Grundsatztexten (etwa der Einleitung zum Mnemosyne-Atlas)
meist sinnbildlich aus. Dabei verwendet er auch Neologismen, die aus Wortstäm
men oder ganzen Termini verschiedener semantischer und lexikalischer Felder
kombiniert sind.9-t Diese zu Begriffen stilisierten Sprachbilder, die in ihrer spitz-
menschlicher Zivilisation betrachten<< lautet der erste Satz der Einleitung seines Bilderatlasses
Mnemosyne. Warburg, Mnemosyne, (Anm. 19), 3 .
9 2 Mnemosyne, Grundbegriffe II, 1929. WlA, III.102+r.[63].
93 Aby M. Warburg an Franz Boas, 13.12.1924. WIA, GC.
94 Siehe hierzu den Beitrag von Jsolde Schiffermüller in diesem Band. Das Ergebnis waren Aus
drücke wie ))seelische Zentralheizung({ und ))Lesefutterautomat«, ein Begriff, der die öffentli-
44
findigen Kombination oder gar Amalgamierung von Termini nicht selten humo
ristisch wirken, sind als sichtlich spannungsgeladene Ausgleichprodukte polarer
Gegensätze seine eigenen1 mehr oder weniger anthropomorphen Denkfiguren.
Sie lassen an die >>fragmentarische Genialität« denken, von der Jean Paul schreibt,
dass Friedrich Schlegel den Witz zu Recht als solche bezeichne, da er »die Kraft
zu wissen(( sei, die das Genie auszeichne. Das Wesen des Witzes liege darin, so
Jean Paul weiter, scharfsinnig zwischen »inkommensurablen Größen« der Kör
per- und Geistwelt ein Ähnlichkeitsverhältnis zu finden und diese Ähnlichkeiten
tiefsinnig gleichzusetzen.95 Vergleichspunkte müssten zur Isolierung der Kon
traste »scharf an einander<1 gerückt werden, denn ))Kürze ist der Körper und die
Seele des Witzes«, sie sei ))Klarheit<<.96
Warburgs mühsam erarbeitete Sprachbilder erscheinen wie ein Kondensat
seiner Gedankengänge, eben wie die ))herausdestillierte Aufldärung zum Nach
erleben«, die er in apodiktischen Setzungen mit apriorischer Gültigkeit festhielt.
Folglich ermangelt es seinen Texten an einer durchgearbeiteten Argumentation;
stattdessen zeichnen sie die Erkenntnisschritte des Wissenschaftlers in fast mi
metischer Angleichung sprachlich nach. Da ihr das deduktive Narrativ (im ldas
sischen Sinne) fehlt, kann Sprache bei Warburg im Extremfall geradezu zu einem
Bild, oder besser: zu einer Konstellation werden, deren Elemente wie die Text- und
Bilddokumente auf seinen Schautafeln verschiebbar sind. In der Tat arrangierte
er auch diese rein visuell >sprechendem Dokumente ständig um, nachdem er 1915
im Zuge der Beschäftigung mit der Weltkriegspropaganda begonnen hatte, Texte
und Bilder auf sogenannten ))Gestellen<• nebeneinander zu präsentieren (Abb.
3).97
Ernst Gombrich hat bemerkt, dass die sprachliche Anschaulichkeit, das »Den
ken in Bildern«, bei Warburg mit den Vorarbeiten für seine große Luther-Schrift
(1920) zu dominieren begann. Es ging also mit dem Einsatz der Tafeln und dem
Streben nach begrifflicher Fassung seiner Forschungsergebnisse einher. 98 Gom
brich weist auch darauf hin, dass hinter diesem Stil eine Suche nach Gleichzei
tigkeit und Austauschbarkeit steht, nach einem allgemeingültigen System. Dabei
entfernte sich der Gelehrte immer mehr von der historischen Ebene. Während
er in den Jahren intensiver Beschäftigung mit der Überlieferung der Astrologie
vor allem Ableitungsschemata und Karten zur Veranschaulichung seiner Thesen
96 Ebd., 170 f.
95 Jean Paul, Silmtliche Werke, Bd. 18, {Anm. 82), 165 f.
97 Vgl. Claudia Wedepohl, >Agitationsmittel Jür du Bearbeitung der Ungdchrten1. Warburgs Reforma
tionsstudien zwischen Kriegsbeobachtung, historisch-kritischer Forschung und Verfolgungs
wahn, in: Gottfried Korff(Hrsg.), Kasten 117. AbyWarburg und der Aberglaube im Ersten Welt
krieg (Tübingen 2007), 3-25-368; hier: 358-361.
98 Gombrich, Aby Warbur_g, (Anm. 8), 33.
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verwendete,99 sind es vorher Tabellen und später die auf den Schautafeln ange
hefteten und ständig neu disponierten Fotos. >Nerschieben« ist der Begriff, der
in seinen letzten Lebensmonaten für den täglich stattfindenden Prozess der Neu
ordnung seiner >,Gestelle(< - nun mit den Entwürfen der Atlastafeln - dokumen
tiert ist; Warburg war auf der Suche nach einer definitiven Disposition. Charlotte
Schoell-Glass' Deutung nach kam dieser Vorgang einem ))Kampf um Klarheit«
im Ausdruck gleichro0 - einem Kampf, den man auch bei Warburgs spürbar an
gestrengter Suche nach Sinnbildern und Begriffen beobachten kann, die ebenso
anschaulich wie abstrakt sein sollten.
Warburgs >,Kampf um Klarheit<( galt dem )>Herausdestillieren« der >)Aufldä
rung«, denn der Kulturwissenschaftler verstand sich tatsächlich als Aufklärer.
Dieses Selbstverständnis verleitete ihn auch zum Polemisieren, womit er gleich
zeitig bezeugt, wie wenig Distanz er selbst zum Objekt seiner Forschung hatte.
Allein durch Ironie oder bittere Satire gelang es ihm, diese Distanz wieder her
zustellen; sie war sein Mittel der indirekten Kritik - einer Kritik, die er seiner
seits nur schwer ertrug. Sein Freud Jolles hatte dies zweifelsohne erkannt, als er,
gleichermaßen im Gegenzug, eine ironisierende Charakterskizze verfasste, die
erklärt, warum das >)Nymphenfragment<( im Lederumschlag eines Kontokorrent
buchs mit der Inschrift »Debitori e Creditori« aus dem 18. Jahrhundert verwahrt
wird (Abb. 4):
Anstatt die Vögel seiner grossen Ideen ruhig ins Freie fliegen zu lassen, in der
festen und gläubigen Überzeugung, dass sie abends doch immer wieder zu ihrem
Meister zurückkehren würden, hielt er [Warburg] sie in Contobuchartigen [sie]
Käfigen eingeschlossen. Mit der Genauigkeit eines Hamburgischen Kaufherrn,
dessen Bilanz auf einen halben Pfennig stimmen muss und der sich unglücklich
u. entehrt fühlt, sobald Debit und Credit einander nicht vollkommen decken,
versuchte er das ))Soll(< seiner wissenschaftlichen Theorien mit dem »Habern( von
direkt philologischen Tats achen auszugleichen u. zwang sich selbst immer gera
de da, wo e r der grössten Freiheit bedu rfte. Du weißt wie weit und gross seine
Einsicht später wurde, wie sich diese krampfhafte Gehau igkeit in ein allgemeines
Interesse für alle Details verwandelte u. wie sich aus dem Kaufmann der freie
Gelehrte bildete, so wie sich aus dem Kaufmannsohn früher der lustige Student
entwickelt hatte.'01
99 Vgl. Claudia Wedepo hl, ifdcen9eo9raphie1. Ein Versuch zu Aby Warburgs Wanderstraßen der Kul
tur, in: Helga Mitterbauer und Katharina Scherke (Hrsg.), Entgrenzte Räume. Kulturelle Trans
fers um 1900 und in der Gegenwart (Wien 2005), 227-254.
101 Professor X (Andre Jolles) an Student Y (Aby M . Warburg), März 1902. WIA, GC. Pu bl i z iert in:
100 Schoell-Glass, 1Contact bekommen1, (Anm. 13), 289.
Strömungen - Begegnungen
Aby Warburg hat seinen Bilderatlas nicht mit einem ausgearbeiteten Kom
mentar begleitet, erhalten sind kreiselnde Notate, dies vielleicht deshalb, weil
Diskurse in der herrschenden Wortbedeutung bändigen, eine Ordnung bestä
tigen und reduzieren: sie reduzieren (notwendigerweise) auf Konzeptualisie
rungen, Ideen, gegebene Dinge oder moralische Vorstellungen. Sie liquidieren die
wilde Freiheit, den Affront) der von dem Anderen, dem NichHch des Kunstwerks
ausgeht, die bedrohliche Instabilität, die Teil des Kunstwerks ist. Warburgs vari
ierende Notate zur Mnemosyne sind dagegen eher ein bewegendes) animierendes
Verfahren, sind selbstbeweglich und selbstkorrigierend: Annäherungen, die mit
einander kommunizieren, sich zuarbeiten, einen Raum eröffnen, der sich schritt
weise füllt und wieder entleert, den Raum der Indifferenz zum Vibrieren bringen.
Reanimiert wird so auch die ursprüngliche Bedeutung des Verbs Discurrere im
Sinne von hierhin und dorthin laufen und somit ein Hinweis, daß Diskurs eben
kein Erstarrungs-, sondern ein Bewegungsbegriff ist und die Unaufhörlichkeit
des Denkens mitschwingen läßt.1 Das komplexe Verhältnis von Kommentar und
Bild, von Interpretation und dem Kunstwerk in seiner Ereigniskraft wird solcher
art in und durch die den Atlas begleitenden Passagen mitbedacht und entfaltet.
Die Lektüre dieser Notizen in ihrer pathetischen Eloquenz, der variierenden
Aphorismen rüttelt immer wieder die Vertrautheiten unseres Denkens auf,
zeigt in ihren Drehungen die Denkbewegung und die Vorläufigkeit, die Un
abschließbarkeit unseres Denkens ))zwischen religiöser und mathematischer 1
Weltanschauung«, z das dann auf der Ebene des Ausdrucks zu Formulierungen
changierend );zwischen bildhafter und zeichenmäßiger Ursachensetzung<13 1
führt: .Pendelbewegungen, die den Raum der Besonnenheit umschreiben. Inten
tion und Form korrespondieren: In den Aufzeichnungen wird dieser immer la 1 1
bile Raum der Besonnenheit, in dem sich Denken vollzieht, jeweils wieder neu
abgesteckt wie auch die Anordnung der Tafeln die Funktionsweise der Bilder in
ihrer affektiven Kraft ins Recht setzt. Die Form entsteht aus dem Prozeß, aus der
unabschließbaren Prozessualität der Versuche zum Denkraum hin selbst: Jede
r Michel Foucault, Dir Ordnung der Din,gr. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Frankfurt
ner chinesischen Enzyklopädie, in der die Tiere in Gruppen eingeteilt sind, die für uns keinerlei
am Main 1971), in dem der Begriff Diskurs entfaltet wird, wurde angeregt durch Borges' Zitat ei
graphy. With a Memoir an the History of the Library by f. Sax] (London r970), 289.
Warnke (Berlin 2000), 3-6; hier: 3 ; auch in: ErnstH. Gombrich, Aby Warbut9. An Intcllectual Bio
3 Aby Warburg, Journal VII, 1929, auch in: Gombrich, Aby Warburg, (Anm. 2), 253.
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