Von Jürgen Schaefer (TEXT) und Matt Mahurin (ILLUSTRATIONEN)

Stark sein.

Ein simpler Test aus den 1960er Jahren* deutete es schon an:

Die Fähigkeit, sich zu beherrschen, ist der vielleicht wichtigste Faktor für

Erfolg im Leben. Seither versuchen Hirnforscher und Psychologen

zu entschlüsseln, was »Willenskraft« eigentlich ist

* Ein Kind vor einer Süßigkeit. 15 Minuten darf es sie nicht anrühren. Schafft es das, ist die doppelte Menge an Süßigkeiten
versprochen. Was ist stärker - Verlockung oder der Wille, zu warten?
 *

Willenskraft ist

die !(unst, das wilde Pferd

zu beherrschen

S.
ie alles begann: Ein vor die Klingel zu drucken. Als Mischel teIlen Si.e sich einen Reiter aUf.
Mädchen im Sommer­ statt Marshmallows gefüllte Kekse auf einem wilden Pferd vor", er­
kleid, vier Jahre alt, den Teller legt, greift ein Junge den Keks, klärt Malte Friese, Professor
blond, sitzt in einem blickt sich um, schleckt die ·Füllung aus, für Sozialpsychologie an der
Zimmer. Auf dem Tisch klebt die Hälften wieder zusammen und Universität des Saarlands. Ich
steht ein Teller mit einem "Marshmal­ legt sie zuruck, als wäre nichts gewesen. höre im Laufe der Recherche viele Defini­
low", süßem Mäusespeck. Die Erzieherin Zunächst misst niemand dem Test tionen zur Willenskraft, und die Pferd!
hat den Raum verlassen und zuvor dem große Bedeutung bei. Doch unter den Reiter-Metapher ist eine der anschauli­
Mädchen erklärt: Willst du den Mäuse­ Kindern sind auch Mischels drei Töchter. cheren. "Das wilde Pferd will in eine
speck essen, druckst du diese Klingel. Über die nächsten Jahre macht der Psy­ Richtung laufen, das ist unsere impulsive
Wenn du aber wartest, bis ich wieder­ chologe eine erstaunliche Entdeckung: Seite", fährt Friese fort. "Und obendrauf
komme, bekommst du zwei Stück davon! Erzählen die Töchter am Abendbrottisch der Reiter ist das reflektive System. Will
15 lange Minuten vergehen, und was von ihren Klassenkameraden, fällt auf, der Reiter in eine andere Richtung als das
in diesen 15 Minuten passiert, sagt er­ dass vor allem jene in der Schule Pro­ Pferd, gibt es ein Problem." Zum Beispiel,
staunlich viel daruber aus, wie das Leben bleme haben, die damals beim Marsh-,. wenn wir an einer Eisdiele vorbeireiten.
des Mädchens in den nächsten 40 Jahren mallow-Test nicht warten konnten. "Das impulsive System macht immer so­
verlaufen wird. Rund zehn Jahre nach dem ursprung­ fort einen Handlungsvorschlag", erklärt
Doch das weiß zu diesem ZeitpWlkt . lichen Test verschickt Mischel Frage­ Friese, etwa: "Eis, JETZT!" Das reflektive
noch niemand, nicht einmal· Walter bögen an die Eltern und Lehrer der System dagegen sagt: "Ho, Brauner, ich
MischeI, der Psychologe, der die Vier­ Marshmallow-Kinder. Und stellt fest: will aber abnehmen."
jährige durch einen Einwegspiegelbe­ Wer beim Test versagt hatte, der eckte Ob der Reiter genügend Kraft hat, das .
obachtet. Mischel testet zu dieser Zeit ­ . später in der Schule eher an und schrieb Pferd zu beherrschen, entscheidet sich
in den späten 1960er Jahren mehr als schlechtere Noten als jene, die sich schon auch im Arbeitsgedächtnis. Das ist der
600 Kinder aus dem Kindergarten der als Vierjährige beherrschen konnten. Ort im Gehirn, wo wir Eindrucke ver­
kalifornischen Stanford-Universität, an Ohne danach zu suchen, hat Walter arbeiten, wo wir unser Verhalten über­
der er lehrt. Er will wissen, wie die Klei­ Mischel einen Persönlichkeitstest er­ wachen - das Hier und Jetzt, unsere psy­
nen mit der Versuchung umgehen. funden, der Vorhersa.gen für Jahrzehnte chologische Gegenwart. Hier wägen wir
Was er von seinem Nebenzimmer aus ermöglicht. Etliche Forscher haben. die Handlungsalternativen ab. Allerdings
sieht und filmt, lässt in das Seelenleben Ergebnisse bestätigt: Wer als Kind über verfügt das Arbeitsgedächtnis über eine
der Kinder blicken: Etwa ein Drittel Selbstdisziplin verfügt, verdient später begrenzte Kapazität. Im Labor des Psy­
schafft es, sich zu beherrschen. Zum Bei­ mehr Geld, lebt gesünder und in einer chologen Malte Friese fiel es Probanden
spiel das Mädchen, das mit tanzenden stabilen Partnerschaft. Den Ungeduldi­ deutlich schwerer, Versuchungen zu 'wi­
Fingern den Mäusespeck umkreist und gen dagegen drohen viel häufiger Stu­ .derstehen, wenn sie sich zugleich eine
dabei mit sich selber spricht; eine Szene dienabbruch, Alkoholismus, Drogen­ achtstellige Nummer merken sollten.
wie aus einem Charlie-Chaplin-Film. missbrauch, Gefängnisstrafen. Gerät das Arbei tsgedächtnis unter Druck,
Doch da sind andere, die den Blick sto­ Aber was war das eigentlich, das es gewinnt das Pferd eher die Oberhand.
isch auf die Süßigkeit zentrieren, dann den Geduldigen ermöglichte, auf den Steckt die Willenskraft im Arbeitsge­
plötzlich zupacken und sich den Marsh­ zweiten Marshmallow zu warten? dächtnis? "Nicht allein", erklärt Friese.
mallow in den Mund stopfen, ohne zu- Was genau ist "Willenskraft"? Das Arbeitsgedächtnis ist nur die "Hard­

88 GEO 0912013

ist wie ein Muskel, der
ware", also Werkzeug zur Selbstbeherr­
schung. Allerdings essen auch Menschen
mit intaktem Arbeitsgedächtnis manch­
mal Eis, obwohl sie eigentlich fasten
wollten. Das ist das Problem der Willens­
kraft: Sie ist unberechenbar. Warum lässt
sie uns oft genau dann im Stich, wenn
wir sie brauchten?
"Das", sagt Friese, "ist eine spannende
Frage." . tiert, dass die Gesellschaft mehr und schen Kollegen Wilhelm Hofmann stat­
er Mann, der Antworten auf
D
diese Frage gefunden hat,
trägt bunte Hemden und tie­
fe Augenringe. Die bunten
Hemden sind in Florida
üblich, wo ich Roy F. Baumeister treffe;
er lehrt dort an der State University
Sozialpsychologie. Die tiefen Augenringe
sind dem permanenten Jetlag geschul­
det: Baumeister ist ein akademischer Star
auf Welttournee. Eben ist er aus Hong­
kong zurück, übermorgen fliegt er nach
Amsterdam. Sein Büro sieht überhaupt
nicht so aus, als gehöre es dem wissen­
schaftlichen Autor von "Die Macht der
Disziplin"; Stapel von Papieren sind auf
dem Schreibtisch ineinander verwach­
sen; hier die ausgebleichte Bordkarte
eines Transatlantikflugs, am Boden eine
aufgerissene Kiste mit den Büchern. "Die
Macht der Disziplin", Baumeisters Buch
über Willenskraft, wurde in 19 Sprachen
übersetzt.
Zu Beginn seiner Karriere hatte er sich
mit der Frage beschäftigt, wie sich das
Selbstwertgefühl von Schülern starken
ließe. "Wir dachten, wenn selbstbe­
wusste Schüler gute Noten haben, brau­
*
Willenskraft
müde wird
chen wir eben mehr selbstbewusste chen. Wer zuvor seine Gefühle unter­
Schüler", erzahlt Baumeister mit seiner drückt hatte, gab früher auf.
sonoren, weichen Stimme, "dann haben Willenskraft, schloss Roy Baumeister
alle gute Noten." Ein Fehlschluss: Heute ;daraus, müsse man sich vorstellen wie
ist Baumeister überzeugt, dass nicht einen Muskel. Wenn wir sie zu sehr ein­
Selbstbewusstsein, sondern Selbstdiszi­ setzen, ermüdet sie.
plin der Schlüssel zum Erfolg ist. Leider Über die Jahre hat Baumeister sein
sei das seinen Studenten schwer zu ver­ Modell des Willenskraft-Muskels ver­
mitteln, klagt Baumeister; und konsta­ feinert. Gemeinsam mit seinem deut­
mehr Narzissten hervorbringt: "Wem teteer 205 Männer und Frauen mit
sein Leben lang eingetrichtert wurde, Funkrufempfangern aus und fragte zu
er sei sowieso großartig, sieht keinen zufälligen Zeiten ab, ob die Betreffen­
Grund, sich anzustrengen." den gerade ein Bedürfnis unterdrückten.
In seinem Labor prüft Baumeister die Zehntausende Momentaufnahmen ka­
Studenten regelmäßig auf ihre Selbst­ men dabei zusammen, eine Liste trau­
beherrschung. Dabei stellte er fest, dass rigen Triebverzichts: Die meisten wären
sie bei zwei direkt aufeinanderfolgen den zur fraglichen Zeit lieber zu Tisch, beim
Tests beim zweiten generell schlechter Sex oder auf Facebook gewesen.
abschnitten. Zum Beispiel führte er die "Vier bis fünf Stunden täglich",
Probanden in einen Raum, in dem duf­ schatzt Baumeister, verbringen wir da­
tende, frisch gebackene Kekse auf dem mit, uns zusammenzureißen. Willens­
Tisch standen, nötigte sie aber, Radies­ kraft ist nicht etwas, das wir nur ab und
chen zu essen und die Kekse nicht an­ zu abrufen sondern etwas, das wir stän­
zurühren. Kurz darauf setzte er ihnen dig einsetzen, um unser Verhalten zu
unlösbare Puzzlespiele vor: Die Radies­ kontrollieren.
chen-Esser gaben wesentlich früher auf Das Problem ist, dass die Zahl der
als eine Kontrollgruppe, die zuvor Kekse Anreize heutzutage um ein Vielfaches
zu essen bekam. höher liegt als zu Zeiten, in denen das
Was hatte das zu bedeuten? menschliche Gehirn sein Handwerks­
In einem anderen Test mussten die zeug zur Selbstkontrolle entwickelt hat.
Studenten einen gruseligen Film an­ Plakate mit halb nackten Körpern und
schauen. Einige durften dabei das Ge­ köstlichem Essen pflastern unsere Städ­
sicht nicht verziehen, sollten sich also te, Werbebanner im Internet buhlen
nicht anmerken lassen, wenn der Film um Aufmerksamkeit, das Mobiltelefon
ihnen nahegmg. vibriert in der Hosentasche mit dem Ver­
Hinterher maß Baumeister; wie lange sprechen auf eine neue Nachricht. Diese
es die Probanden aushielten, ihre Hand Anreize zielen darauf, das wilde Pferd
in unangenehm kaltes Eiswasser zu tau­ mal hierhin, mal dahin zu locken. Und
0912013 GEO 91

Selbsterschöpfung
entscheidungsschwach
jedes Mal muss der Reiter die Zügel im
Griffbehalten.
Diese "chronische Selbsthemmung"
, kommt uns teuer zu stehen, glaubt Bau­
meister. Denn wenn Willenskraft ein
Muskel ist, und wir damit ständig Hun­
ger, Libido und Spieltrieb im Zaum
halten, macht der Muskel irgendwann
schlapp. Es tritt "Selbsterschöpfung" ein.
Das ist der Moment, in demwir dem
wilden Pferd sagen: Ach, mach doch, was
du willst.
iese Selbsterschöpfung ge­
D
fährdet aber nicht nur unse­
re guten Vorsätze. Denn die­
selbe Quelle, aus der unser
Willen seine Kraft schöpft,
nutzen wir auch, um schwierige Ent­
scheidungen zu fällen. Roy Baumeister
stieß eher zufällig auf diesen Zusammen­
hang. Eine Doktorandin in seinem Labor
erzählte, sie habe im Kaufhaus stunden­
lang Geschirr und Handtücher für ihre
Hochzeits-Wunschliste ausgesucht. Am
Ende sei sie dann gar nicht mehr in der
Lage gewesen, sich noch für irgendetwas
zu entscheiden.
Roy Baumeister diagnostizierte "Ent­
scheidungsermüdung": Je mehr Ent­
scheidungen wir treffen, umso mehr
sinkt im Laufe eines Tages die Qualität
dieser Entscheidungen. Am Ende wäh­
len wir gar nichts mehr. Oder den leich­
testen Weg.
Das zeigt auch eine Untersuchung
mit deutschen Autokäufern, die sich
ihr neues Fahrzeug am Computer zu­
sammenstellten. Farbe, Motorisierung,
92 GEO 0912013
*
macht uns
Innenausstattung - je mehr Entschei­
dungen die Käufer schon hatten treffen
müssen, umso eher neigten sie dazu,
die vom Hersteller vorgegebene Auswahl
anzuklicken. Je mehr Möglichkeiten,
desto mehr Erschöpfung: "Wenn wir
unter 56 Farben wählen, müssen wir uns
55-mal gegen und einmal für eine Farbe
entscheiden", erklän Professor Mark
Heitmann von der Universität Hamburg,
der am Experiment beteiligt war. Als
Heitmann die Reihenfolge der Auswahl
verändene, gaben die Käufer im Schnitt
1500 Euro mehr aus - aus Entscheidungs­
müdigkeit.
Tückisch ist, dass wir Selbsterschöp­
fung oft nicht wahrnehmen, sie aber
trotzdem unser Handeln beeinflusst.
Etwa bei HaftpTÜfungskommissionen,
die den ganzen Tag Uneile darüber fällen,
ob ein Inhaftiener vorzeitig fteikommt
oder nicht.
Der amerikanische Entscheidungsfor­
scher Jonathan Levav beobachtete zum
Beispiel israelische Richter bei dieser
Aufgabe, um herauszufinden, was der
wichtigste Faktor für eine Freilassung
war. Hautfarbe? Religionszugehörigkeit?
Schwere des Verbrechens? Nein - es war
die Uhrzeit, zu der ein Strafgefangener
vor den Richter trat: Am frühen Vormi t­
tag standen seine Chancen auf Begnadi­
gung bei 70 Prozent. Am späten Nach­
mittag nur noch bei zehn Prozent.
Ein klassischer Fall von Entscheio
dungsermüdung, sagt Roy Baumeister,
und verweist lakonisch auf eine Rede­
wendung unter Anwälten: Gerechtigkeit
ist, was der Richter zum FTÜhstückhatte.
aszinierende Erkenntnisse
F
sind das, doch beschreiben sie
die Selbsterschöpfung nur ­
und sagen nicht, ob und was
wir dagegen tun können. Diese
Frage ist der Heilige Gral der Forschung
zur Selbstdisziplin: Wenn Willenskraft
so verdammt wichtig ist für unser Le­
bensglück wie können wir sie dann
stählen? Wie können wir sie gegen Er­
schöpfung absichern?
Roy Baumeister sagt, dass sich der
Willenskraft-Muskel trainieren lässt. So
soll es gelungen sein~ Menschen allein
dadurch zu mehr Willenskraft zu ver­
helfen, indem sie eine Zeitlang darauf
achteten, sich stets in aufrechter Haltung
an den Schreibtisch zu setzen. Also in­
dem sie Willenskraft ganz bewusst ein­
setzten, trainienen sie aktiv und nach­
haltig ihre Selbstdisziplin.
Allerdings räumt Baumeister ein, dass
einige dieser Tests an seiner eigenen
Universität versagten. Aber sollten nicht
ausgerechnet seine Studenten, die doch
Willenskraft studierten, empfänglich da­
für sein?
"Ich vermute, dass sie sich schlicht
und einfach nicht an die Trainingsauf­
gaben gehalten haben", sagt Baumeister
und winkt müde ab. "Das ist hier eine
Party-Universität."
Vom Fenster seines. Büros aus blickt
Baumeister auf den Sportplatz. Eine
schwarze Läuferin setzt dort auf der
Aschenbahn zum Sprint an, mit kraft­
vollen, exakten, unwahrscheinlich aus­
greifenden Schritten. Wir blicken beide
versonnen der Läuferin hinterher, da ruft

Baumeister plötzlich aus: "Da! Schauen
Sie sich das an! Da sehen Sie Willenskraft
bei der Arbeit!"
as hat die Läuferin,
das den Psychologie­
studenten fehlt?
Sicher hat sie ein
klares Ziel vor Augen:
die Ziellinie. Und einen bevorstehen~
den Wettkampf. Die Studenten dagegen
nehmen an Willenskraft-Tests nur teil,
weil sie dafür einen Studienschein be­
kommen. Das ist das schmutzige kleine
Geheimnis der modemen Sozialpsy­
chologie: Ein Großteil der Erkenntnisse
der Verhaltensforschung in der westli­
chen Welt beruht auf langweiligen Pro­
beaufgaben, die von meist weiblichen,
überwiegend weißen Studenten aus der
Mittelschicht absolviert werden.
Durch eine dieser Prüfungen hatte
mich Sarah Ainsworth, Baumeisters
Laborassistentin, geführt: Ich musste an
einem Computer sitzen und versuchen,
mein Wohnzimmer zu beschreiben,
ohne die BuchstabenA und N zu verwen­
den. Nach vier Minuten fühlte ich mich
dumm und matt, und so frustriert, dass
ich vorschlug, die weiteren Tests einfach
bleiben zu lassen.
War das nachlassende Willenskraft?
Anschließend tauchte ich meine Hand
in Eiswasser. Ich hielt drei Minuten
durch, länger als der Durchschnitt, ob­
wohl die Hand deutlich zu schmerzen
begann. Allerdings kannte ich diesen
Willenskraft-Test ja bereits und wollte
außerdem vor der Laborassistentin nicht
94GE00912013
*
Willenskraft
ist harte Arbeit
wie ein Weichei dastehen. Natürlich hät­
te ich noch den ganzen Morgen Wörter
ohne A und N bilden oder Radieschen
statt Kekse essen können - wenn mir ein­
geleuchtet hätte, wozu. Gib mit' einen
Grund, und ich grabe; setz mir die Dead­
line, und ich schreibe: Motivation kann
jede Selbsterschöpfung übertrumpfen.
Allerdings ist auch unsere Motivation
Schwankungen unterworfen. Abendsvor
dem Spiegel sind wir entschlossen, am
nächsten Morgen die Joggingschuhe zu
schnüren. Schälen wir uns dann aus dem
Bett und sehen den Bindfadenregen vor
dem Fenster, ist dieser Entschluss nichts
mehr wert. Warum gelingt es uns nicht,
unsere Ziele mit starkem Willen im Blick
zu behalten?
as ist das Gesetz der Faul­
D
heit", erklän mir der Psycho­
loge Michael Inzlicht. Ich
treffe InzUcht in Kanada, an
der Universität Toronto in
Scarborough, einem Konglomerat aus
Betonbauten, hässlich wie eine Batterie
Strandbunker. "Im Zweifel versuchen wir
immer, mit möglichst wenig Arbeit ans
Ziel zu kommen." Und Willenskraft - das
ist für unser Gehirn harte Arbeit.
Um das zu verstehen, ziehe ich mir im
Labor der Universität eine Art Bademüt­
ze über den Kopf, die über zwei Dutzend
Drähte mit einem Computer verbunden
ist. Inzlicht spritzt Kontal<tflüssigkeit
durch Löcher der Mütze auf meine Kopf­
haut, bis alle Punkte auf einem Bild­
schirm grün leuchten. Der Computer
weiß jetzt zwar nicht, was ich denke,
aber wann. Anschließend sitze ich allein
vor einem Bildschirm, auf dem abwech­
selnd die Buchstaben Fund E erscheinen.
Bei E muss ich eine grüne Taste drücken,
bei F nicht.
Später sehen wir uns gemeinsam mei­
ne Himströme an. Inzlicht deutet auf
jene Momente, in denen ich die falsche
Taste gedrückt hatte. Eine Zacke im Dia­
gramm zeigt, dass ich den Fehler nach
wenigen Millisekunden bemerkt hatte.
Diese Fehler, erklärt Inzlicht, sind für
uns ebenso unangenehm wie Schmerz.
Fehler sind schmerzhaft? "Schmerzhaft
im Sinne von: psychologisch schmerz­
haft. Dabei werden dieselben Hirnregio­
nen aktiviert, wie wenn wir Ablehnung
oder Druck empfinden."
Entscheidend ist, wie wir mit diesem
Stress umgehen. Wir wägen ständig ab,
ob es sich lohnt, weitere Qual auf uns
zu nehmen oder nicht. Jeder Mensch,
erklärt InzUcht, verfüge über ein einge­
bautes "Gefühl für die optimale Balance
aus Arbeit und Freizeit". Haben wir etwas
geleistet, wollen wir uns belohnen.
Und was lässt sich daraus schlie­
ßen? Ich frage Michael Inzlicht, ob ihm
seine Willenskraftforschung geholfen
habe, seine eigene Selbstdisziplin zu ver­
bessern. Etwa beim Kampf gegen seine
E-Mail-Sucht?
Inzlichts Augen wandern nervös zum
Computer. Vor einem Jahr hatte er in
einer Zeitung darüber geschrieben und
verkündet, seine MaUs künftig nur rlOch
alle vier Stunden abzufragen.
"Das halte ich nicht gut durch", räumt
er kleinlaut ein.
 *

Willenskraft

braucht Unterstützung

Immerhin, sagt Inzlicht, wolle er wie­
der mehr Sport treiben. Er hat sich dafür
ein Trainings-DVD-Set für 200 kanadi­
sche Dollar bestellt.
Ist das die Lösung? Sich durch sinn­
loses Geldausgeben selbst unter Druck
zusetzen?
ine Lehre, die sich aus den
auf Willensschwächung zielen", etwa
Alkohol als "Freiheitsfeind Nr.I".
Man kann Deecke und Kornhuber
nicht lesen, ohne schuldbewu,~st zu
Boden zu schauen. Aber wollen wir wirk­
lieh so leben? Als pertnanentvernünftig
selbstgeführter Mensch?
Oder gehört das wilde Pferd nicht
ebenso zu uns wie der stets kontrollie­
Schriftsteller, hat nie genug Geld und
nie zu wenig. Ist stets gut gekleidet, auch
wenn seine Habe in zwei Koffer passt, in
seinem WG-Zimmer draußen in Queens.
Seine gegenwärtige Freundin kommt aus
Taiwan; er ist nie lange liiert, bleibt nie
lang allein. Schwiegertnutters Albtraum.
Und das genaue Gegenteil des Bruders:
Angestellter bei einer Investmentbank,

E
Theorien der Selbsterschöp­ rende Reiter? lebt im Gehry-Building, einem noblen
fung und der schwankenden Apartment-Hochhaus in Manhattan.
Motivation ziehen lässt: Wil­ m Abend, bevor ich den Er­ "Der Schriftsteller sagte: ,Ich hätte den

A
lenskraft braucht Unterstüt­ finder des Marshmallow­ Marshmallow sofort gegessen! Und
zung, um nicht einzubrechen. Eine wirk­ Tests treffe, sitze ich mit mein Bruder hätte gewartet"', erzähle
same Methode scheint dabei immernoch Freunden in einem Restau­ ich. Walter Mischel gluckst vergnügt.
das "Scaffolding" zu sein, also der Ver­ rant in NewYork. Wir spie­ Was ist Erfolg im Leben?
such, einHandlungsgerust zu bauen, das len "Was hätte ich getan?": Wer vom "Willenskraft kann dafür eingesetzt
hilft, die Zahl der Versuchungen niedrig Marshmallow-Test hört, fragt sich un­ werden, ein böses Imperium zu führen
zuhalten (siehe Tipps auf Seite 98). willkürlich, ob er selbst als VieIjähriger oder die Struktur von Protein zu entzif­
Das ist nicht neu. Willenskraft brau­ durchgehalten hätte. "So ein Quatsch! fern", antwortet MischeI: eine Sekundär­
chen wir zur "Ausblendung von Ablen­ In Südamerika würde kein Mensch auf tugend, ein Werkzeug. Und auch wenn
kungen", schrieben schon die beiden den zweiten Marshmallow warten", sagt der Banker im Gehry-Building eher wie
Neurobiologen Lüder Deecke und Hans ein Freund aus Venezuela. "Wir leben ein Marshmallow-Gewinner aussehe, sei
Helmut Kornhuber. Sie zählten in den viel zu sehr im Hier und Jetzt." , auch der Schriftsteller zu Selbstdisziplin
I960er Jahren zu den ersten Hirnfor- . Ein Klischee, winkt Walter Mischel fähig, wie die fertigen Romane beweisen
sehern, die sich mit der Willenskraft . am nächsten Tag ab: Menschen in der Ka­ (in der Tat weiß ich, dass der Autor ein­
beschäftigten. Nach dem Zweiten Welt­ ribik arbeiten ein Jahr lang an Kostümen mal die Ritzen seines Dielenbodens mit
krieg war das Thema komplett aus der für sechs Tage Karneval, ein Musterbei­ Wattestäbchen reinigte, um die Pein des
Forschung verschwunden; die National­ spiel für Belohnungsaufschub. Mischel Schreibens aufzuschieben).
sozialisten hatten den Begriff mit ihrer empfängt mich in seinem angestaubten Warum sind Menschen mit Willens­
Idee vom "Triumph des Willens" nach­ Büro an der Columbia University; er ist kraft glücklicher?
haltig vergiftet. inzwischen 83 Jahre alt, gebeugt, hat ein Die Antwort ist kontraintuitiv: Weil
In einer Streitschrift aus dem Jahr von Falten zerfurchtes Gesicht. Doch sein sie freier sind. Denn nur, wer die Fähig­
2009 definieren Deecke und Kornhuber wacher Intellekt wandelt leichtfüßig und keit aufbringt, auf den zweiten Marsh­
den Willen als "vernünftige Selbstfüh­ neugierig durch jedes Thema. mallow zu warten, schafft eine Hand­
rung des Menschen", ständig bedroht Ich erzähle ihm von einem weiteren lungsalternative, erklärt Mische!. Wer
,durch den "Hedonismus, die Indienst­ Beispiel aus unserer "Was hätte ich zugreift, das wilde pferd einfach laufen
'nabme der Kreativität durch die niede­ getan?"-Runde, das ihn amüsiert. Ein lässt, hat keine Kontrolle über sein Le­
ren Triebe". Und durch "Verführer, die Bruderpaar, beide Mitte 40: Der eine ist ben. Ähnliches sagt auch Roy Baumeister:

966E009!2013

Willenskraft - behandelt sie schonend!
I Unsere Selbstkontrolle nimmt ab, wenn wir uns zu viel abver­
langen. Doch »Selbsterschöpfung« lässt sich verhindern
* Vorsicht vor der Empathielücke
Unser Vorstellungsvermögen wird stark
vom gegenwärtigen Gemütszustand
geprägt; deswegen ist es so schwer, im
Winter für einen Urlaub in der Sonne zu
packen. Die Empathielücke verleitet uns
auch dazu, in einem fröhlichen Zustand
spätere emotionale Schwierigkeiten zu
unterschätzen etwa die Qual, mit dem
Rauchen aufzuhören. Deswegen:
* Lassen Sie sich an den Mast
binden
Das hat Odysseus getan, um der Ver­
lockung der Sirenen zu widerstehen.
Eine Selbstverpflichtung schränkt
HandlungsaIternativen ein und macht
es dringlicher, sein Ziel zu erreichen.
Aber Vorsicht:
* Überschätzen Sie sich nicht
Wie viel Sport wollen Sie kommende
Woche treiben? Vier Stunden? Klar.
Wenn wir nächste Woche nachfragen,
haben Sie wahrscheinlich nur zwei
absolviert - und nichts daraus gelernt:
Sie sagen voraus, dass Sie die darauf­
folgende Woche dafür sechs Stunden
laufen werden. Wir alle neigen dazu,
unsere Willenskraft zu überschätzen.
Und jene, die sich am stärksten ein­
schätzen, sind in Tests die Ersten, die
einknicken. Daher:
* Nehmen Sie sich nicht zu viel
auf einmal vor
Semesterarbeit fertigschreiben und
gleichzeitig mit dem Rauchen aufhören?
Keine gute Idee: Unsere Willenskraft hat
Grenzen. Stattdessen lieber:
98 GEO 0912013
*
Willenskraft
verschafft Freiheit
* Schreiben Sie einen Plan
Großprojekte überfordern uns auch,
weil sie unfertig sind: Ständig beschäfti­
gen sie unser Gehirn. Ein Terminplan
hilft nicht nur, die Arbeit einzuteilen,
sondern vor allem, das Projekt aus dem
.Kopf zu bekommen. Und wenn mal be­
sonders viel ansteht:
* Entwickeln Sie eine Routine
Dasselbe Frühstück, derselbe Arbeits­
weg, derselbe Dresscode. Langweilig,
aber effizient: Ein geordneter Tagesab­
lauf spart Entscheidungsenergie. Wenn
wichtige Entscheidungen anstehen,
sollten sie ihre Energie nicht im Ein­
kaufszentrum verplempern. Apropos
Shoppen:
* Zu viel Auswahl ist schlecht
Wer einen Nachmittag im Einkaufszen­
trum verbringt, hat nieht nur dicke FU­
ße, sondern wahrscheinlich auch zwei,
drei Tüten zu viel. Je mehr Auswahl wir
haben, umso mehr Willenskraft brau­
chen wir, um uns für oder gegen etwas
zu entscheiden - und neigen am Ende
dazu. uns etwas aufschwatzen zu las­
sen, das wir nicht brauchen. Das Gleiche
gilt für Online-Shopping am Abend,
wenn wir nach einem anstrengenden
Tag auch noch das Gefühl haben, uns
belohnen zu dürfen. Die Schränke sind
doch schon voll! Deswegen lieber:
* Lernen Sie zu meditieren
Auch wenn Sie ein Skeptiker sind: Stu­
dien zeigen, dass Achtsamkeit die Selbst­
kontrolle stärkt und schon kurze Medi­
tationen die Selbsterschöpfung lindern.
,
. ,,,
,
Die Freiheit. seinen Trieben nachzuge­
ben, sei "die Freiheit des Tiers im Wald".
Das ist die Ironie der Freiheit: Sie ver­
langt von uns, uns selbst zu beschränken.
Selbstdisziplin bildet die Grundlage der
Kultur, des friedvollen Zusammenlebens.
Deswegen leben viele Menschen, die sich
nicht zügeln können, hinter Gittern.
.Noch mal: Wenn Willenskraft wichtig
ist im Leben - können wir sie trainieren?
Mischel seufzt. "Es geht nicht um
Tricks, die man lernen kann. Es sind
Charakrereigenschaften." Also unverän­
derlich? "Das ist eine Frage des Men­
schenbildes. Heute wissen wir, dass die
Plastizität, die Formbarkeit des Gehirns
viel größer ist, als wir dachten. Der
menschliche Geist ist etwas, dessen
Wachstum niemals abgeschlossen ist.
Wir können lernen, uns zu beherrschen,
wenn wir es wollen."
Doch wo liegt die Grenze? Gibt es zu
viel Willenskraft?
"Unbedingt!" Mischel beugt'sich vor
in seinem Stuhl, er ist dankbar für die
Frage: "Zum Leben gehört nicht nur
Selbstkontrolle, sondern auch das Wis­
sen, wann es Zeit ist. der Versuchung
nachzugeben. Ein Zuviel an Selbstkontrol­
le bedeutet, ewig auf den zweiten Marsh­
mallow zu warten. Ein Zuviel an Selbst­
kontrolle ist ein ungelebtes Leben." 0
Wie lässt sich eine Charaktereigenschaft visualisieren?
Eine klassische AufBabefilr MATT MAHURIN, 54, einen
der wichtigsten amerikanischen lI!ustratoren der
GeBenwart. Seine fotorealistischen Bilder erschienen
bereits etliche Male als Titelillustrationen filr "Time
MaBazine", GEO-Redakteur JÖRGEN SCHAEFER, 48.
hatte sich zuletzt mit der Kunst des C(uerdenkens und
der PsycholoBie des Imums beschäftiBt.
...... , ........ ,,,,.,,,, ..... ,,, ...... ,.",,,,, ............... ,,.,,,