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Anna Goppel / Corinna Mieth /

Christian Neuhäuser (Hg.)

Handbuch
Gerechtigkeit
Anna Goppel / Corinna Mieth / Christian Neuhäuser (Hg.)

Handbuch Gerechtigkeit

J. B. Metzler Verlag
Die Herausgeber
Anna Goppel ist Assistenzprofessorin für Praktische
Philosophie mit Schwerpunkt Politische Philosophie
an der Universität Bern.
Corinna Mieth ist Professorin für Philosophie an der Ruhr-
Universität Bochum.
Christian Neuhäuser ist Professor für Praktische Philosophie
an der TU Dortmund.

Bibliografische Information der Deutschen


Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
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ISBN 978-3-476-05345-9 (eBook) alterungsbeständigem Papier

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Inhalt

I Der Begriff der Gerechtigkeit 18 Soziale Gerechtigkeit Peter Koller 118


19 Strafgerechtigkeit Jan C. Joerden 124
1 Einleitung Anna Goppel / Corinna Mieth / 20 Generationengerechtigkeit
Christian Neuhäuser 2 Michael Schefczyk 130
2 Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs: 21 Verfahrensgerechtigkeit Wilfried Hinsch 138
Antike und Mittelalter Christoph Horn 6 22 Ergebnisgerechtigkeit
3 Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs: Stephan Schlothfeldt 143
Neuzeit Peter Koller 14 23 Historische Gerechtigkeit
4 Grundpositionen der Gerechtigkeitstheorie Michael Schefczyk 147
in Neuzeit und Gegenwart Corinna Mieth / 24 Personale Gerechtigkeit
Christian Neuhäuser / Alessandro Pinzani 20 Alessandro Pinzani 154
5 Religiöse Wurzeln und Perspektiven: 25 Das Differenzprinzip Christine Bratu 158
Buddhismus und Konfuzianismus 26 Chancengleichheit Kirsten Meyer 164
Paulus Kaufmann 30 27 Fairness Sonja Dänzer 168
6 Religiöse Wurzeln und Perspektiven: Judentum 28 Gleichheit Stefan Gosepath 173
und Christentum Gerhard Kruip 35
7 Religiöse Wurzeln und Perspektiven: Islam
Christine Schirrmacher 41 III Gerechtigkeitskonzeptionen
8 Inter- und transkulturelle Perspektiven
Sarhan Dhouib / Franziska Dübgen 47 29 Gerechtigkeit als Tugend
9 Ungerechtigkeit Dagmar Borchers / Svantje Guinebert 182
Oliver Flügel-Martinsen / Franziska 30 Kontraktualistische Gerechtigkeit
Martinsen 53 Peter Rinderle 191
10 Kritik am Gerechtigkeitsbegriff 31 Liberale Gerechtigkeit Jörg Schroth 199
Martin Hartmann 60 32 Libertäre Gerechtigkeit Fabian Wendt 205
33 Sozialistische Gerechtigkeit
Christoph Henning 211
II Gerechtigkeitstypen und Aspekte 34 Utilitaristische Gerechtigkeit
des Gerechtigkeitsbegriffs Ulla Wessels 217
35 Kosmopolitische Gerechtigkeit
11 Empirische Gerechtigkeitsforschung Andreas Niederberger 223
Alexander Lenger / Stephan Wolf 68 36 Kommunitaristische Gerechtigkeit
12 Distributive Gerechtigkeit Martin Beckstein 230
Wilfried Hinsch 77 37 Gerechtigkeit in der Diskursethik
13 Tauschgerechtigkeit Peter Koller 86 Regina Kreide 236
14 Feministische Gerechtigkeit Beate Rössler 92 38 Gerechtigkeit in der Kritischen Theorie
15 Internationale Gerechtigkeit Esther Neuhann / Bastian Ronge 241
Steve Schlegel / Christoph Schuck 98 39 Luck Egalitarianism Gabriel Wollner 249
16 Transnationale Gerechtigkeit
Regina Kreide 105
17 Globale Gerechtigkeit Henning Hahn 111
VI Inhalt

IV Gerechtigkeit im Kontext 59 Demokratie und Selbstbestimmung


Robin Celikates 368
40 Menschenwürde Peter Schaber 256 60 Enhancement Jan-Christoph Heilinger 373
41 Moral Ludwig Siep 262 61 Familie Magdalena Hoffmann 375
42 Gutes Leben Eva Weber-Guskar 268 62 Geschlecht Franziska Martinsen 380
43 Grundgüter und Fähigkeiten 63 Gesundheit Stefan Huster 386
Jan-Hendrik Heinrichs 274 64 Gewalt und Krieg Johannes Müller-Salo /
44 Moralische Rechte Markus Stepanians 280 Reinold Schmücker 392
45 Menschenrechte und Grundrechte 65 Institutionen und Organisationen
Arnd Pollmann 287 Cord Schmelzle 400
46 Verantwortung und Pflicht 66 Klima und Umwelt Dominic Roser 406
Corinna Mieth / Christian Neuhäuser 295 67 Konsum Daniel Saar 413
47 Positives Recht und Völkerrecht 68 Lohn und Leistung Carsten Köllmann 417
Andreas Fischer-Lescano / Johan Horst 301 69 Migration Andreas Cassee 423
48 Staat Francis Cheneval 305 70 Politische Zugehörigkeit Anna Goppel 429
49 Mensch, Bürger, moralische Person 71 Ressourcen Eugen Pissarskoi 434
Bernd Ladwig 309 72 Risiko Klaus Steigleder 438
50 Politik und Demokratie 73 Soziale Ungleichheit und Sozialwesen
Robin Celikates 316 Gottfried Schweiger 443
51 Gesellschaft und Kultur 74 Sprache Hannes Kuch 447
Maria-Sibylla Lotter 323 75 Steuern Felix Koch 451
52 Anerkennung und Toleranz 76 Strafe und Strafvollzug
Susanne Schmetkamp 328 Thomas Hoffmann 456
53 Macht Katrin Meyer / Martin Saar 334 77 Tiere Johann S. Ach 462
78 Unternehmen Jens Schnitker 467
79 Weltwirtschaft und Finanzmärkte
V Anwendungsfragen Klaus Steigleder 472
80 Zukünftige Generationen Sabine Hohl 478
54 Alter Mark Schweda 340
55 Arbeit und Einkommen
Walter Pfannkuche 344 VI Anhang
56 Armut Valentin Beck 350
57 Behinderung Franziska Felder 358 Autorinnen und Autoren 486
58 Bildung Kirsten Meyer 363 Personenregister 489
I Der Begriff
der Gerechtigkeit

A. Goppel et al. (Hrsg.), Handbuch Gerechtigkeit, DOI 10.1007/978-3-476-05345-9_1,


© Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2016
1 Einleitung zeichnen in den obigen Beispielen etwa die Entschei-
dung des Schiedsrichters als ungerecht. Ebenso kann
In seiner Theorie der Gerechtigkeit baut John Rawls man eine Gesellschaft als ungerecht bezeichnen, die
darauf, dass Menschen normalerweise über einen Ge- manchen Kindern gleiche Chancen vorenthält. Wenn-
rechtigkeitssinn verfügen. Es spricht einiges dafür, gleich unterschiedliche Güter betroffen sind, geht es
dass dies auf die allermeisten Menschen zutrifft und im Beispiel des Kindergeburtstags wie im Beispiel der
Gerechtigkeit in unserem Leben und unserer Wahr- Schulbildung um die gerechte Verteilung von Chan-
nehmung eine wichtige Rolle spielt. Das zeigen nicht cen, d. h. um Verteilungsgerechtigkeit. Im Beispiel des
nur die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung, Richters hingegen ist die Strafgerechtigkeit betroffen,
die auch über Kulturen hinweg die große Bedeutung d. h. die Bestrafung ist Gegenstand der Gerechtigkeits-
des Gerechtigkeitsdenkens bestätigen. Das zeigt auch überlegungen. Im Falle der unterschiedlichen Bezah-
die schiere Anzahl der Themenfelder, mit Blick auf die lung der Nationalspielerinnen besteht die Ungerech-
sich Menschen immer wieder darüber auseinander- tigkeit in der Ungleichbehandlung. Dabei können in
setzen, was gerecht ist und was nicht. Bezug auf alle drei Beispiele auf den ersten Blick be-
Schon in der Alltagssprache kommt der empörte stimmte Regeln oder Verfahren gerecht oder unge-
Vorwurf ›das ist ungerecht‹ oder ›das ist unfair‹ sehr recht sein oder auch das Ergebnis als ungerecht be-
oft vor. Wenn Bayern gegen Dortmund spielt und der zeichnet werden. Was den Maßstab der Verteilung an-
Schiedsrichter für ein Foul eines Dortmunder Spielers geht, ist hinsichtlich der Verteilung von Gütern wohl
eine Rote Karte zückt, aber in einer vergleichbaren Si- unsere erste Alltagsintuition, dass Gleichverteilung ge-
tuation den Bayern-Spieler nur verwarnt, so werden recht ist: Beim Kindergeburtstag sollte jedes Kind ein
viele diese Ungleichbehandlung als Ungerechtigkeit ähnlich großes Stück vom Kuchen erhalten. Doch es
anprangern. Ebenso könnten die deutschen National- kann Gründe geben, von einer Gleichverteilung von
spielerinnen es als ungerecht empfinden, dass sie we- Gütern abzusehen; etwa, wenn ein Kind beim Backen
niger verdienen als ihre männlichen Counterparts. geholfen hat, könnte ihm im Sinne der Leistungs-
Wenn ein Kind auf einem Kindergeburtstag kein gerechtigkeit mehr zustehen, oder wenn ein Kind zwei
Stück des Geburtstagskuchens bekommt oder aber ein Stücke braucht, weil es den ganzen Tag noch nichts ge-
deutlich kleineres als die anderen Kinder, wird es sich gessen hat, könnte es aufgrund der Idee der Bedarfs-
ungerecht behandelt fühlen. Ein Strafrichter, der für gerechtigkeit gerechterweise mehr erhalten als die an-
Bagatelldelikte Gefängnisstrafen verhängt, ist dem deren Kinder. Da verschiedene Verteilungsregeln (z. B.
Vorwurf der Ungerechtigkeit ausgesetzt. Der derzei- Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit) mit-
tige Ressourcenverbrauch wird als ungerecht ge- einander konkurrieren können, müssen wir auch die
genüber zukünftigen Generationen bezeichnet. Und Frage nach der Rechtfertigung dieser Ansprüche stel-
schließlich prägen ungerechte Benachteiligungen be- len: Welche Verteilungsregeln können mit welcher Be-
stimmter Gruppen unseren Alltag: z. B. dass der er- gründung Akzeptanz durch diejenigen, die ihnen un-
worbene Schulabschluss von Kindern in vielen Län- terworfen sind, beanspruchen? Wird eine bestehende
dern statistisch signifikant vom Bildungsniveau ihrer Güterverteilung verletzt, z. B. durch einen Diebstahl,
Eltern abhängt. so tritt die korrektive Gerechtigkeit auf den Plan: Die
Alltagssprachlich meist generell als ›ungerecht‹ be- ursprüngliche Güterordnung muss wiederhergestellt
zeichnet, illustrieren die angeführten Beispiele unter- werden. Sowohl hinsichtlich des Gegenstands als auch
schiedliche Aspekte von Gerechtigkeit bzw. Ungerech- hinsichtlich des Maßstabs der Gerechtigkeitsbeurtei-
tigkeit und werfen unterschiedliche Fragen und Pro- lung illustrieren die Beispiele also wesentliche Unter-
bleme auf. Die Begriffe ›Gerechtigkeit‹ und ›Ungerech- schiede und beleuchten unterschiedliche Typen und
tigkeit‹ können wir – wie dies auch in der Antike im Aspekte von Gerechtigkeit.
Mittelpunkt stand – zum einen auf Personen und ihre Naheliegenderweise stehen darüber hinaus sub-
Handlungen beziehen. Zum anderen können speziell stanziell andere Fragen auf dem Spiel, will man für die
Institutionen in den Blick genommen werden. Wir be- genannten Beispiele eine gerechte Lösung finden. Im
1 Einleitung 3

Bereich der Strafe stellt sich beispielsweise die Frage, für die meisten Menschen eine wichtige Rolle spielt, es
wann eine Strafzumessung gerecht ist. Dies betrifft zu- aber weder in alltäglichen Auseinandersetzungen
nächst die Verhältnismäßigkeit der Strafe. Jemanden noch in der philosophischen Debatte vollständige Ei-
für einen Ladendiebstahl lebenslänglich einzusperren, nigkeit darüber gibt, was als gerecht zu gelten hat. Für
ist ungerecht. Ferner gilt der Gleichbehandlungsgrund- diese Uneinigkeit lassen sich mindestens zwei Gründe
satz, wonach die Strafe für die Tat und unabhängig von anführen. Vor allem alltagssprachliche Vorstellungen
der Person festzulegen ist. Es wäre beispielsweise un- von Gerechtigkeit basieren häufig auf ganz unter-
angemessen, Frauen anders als Männer oder Aka- schiedlichen historischen und religiösen Wurzeln.
demikerinnen anders als Handwerkerinnen zu bestra- Und im gegenwärtigen philosophischen Diskurs exis-
fen. Gleichzeitig gilt jedoch, dass die Strafe vom Aus- tieren – wie bereits an den verschiedenen Beispielen
maß des persönlichen Verschuldens abhängen sollte. möglicher Grundlagen der Güterverteilung deutlich
Dafür ist es wiederum notwendig, sich die zu bestra- geworden ist – darüber hinaus sehr verschiedene Aus-
fende Person, ihre Fähigkeiten und Eigenschaften ganz arbeitungen der Gerechtigkeitsidee, die die Vielfalt
genau anzuschauen. Weiterhin muss bestimmt wer- vor allem gegenwärtiger westlicher Gerechtigkeits-
den, welche Strafformen sich überhaupt rechtfertigen vorstellungen in unseren Gesellschaften widerspie-
lassen. Üblich sind in Ländern wie Deutschland haupt- geln. Wie unterschiedlich die Wurzeln sind, zeigt sich
sächlich Freiheits- und Geldstrafen. Körperliche Stra- beispielsweise, wenn man antike und buddhistische
fen und vor allem die Todesstrafe sind verboten. Doch Gerechtigkeitsvorstellungen betrachtet. Wie groß die
viele andere Länder strafen noch körperlich, beispiels- Unterschiede zwischen gegenwärtigen westlichen
weise mit Stockschlägen, und zahlreiche Länder voll- Vorstellungen sind, zeigt ein Vergleich libertärer und
strecken die Todesstrafe. Ist das ungerecht? Bezieht sozialistischer Gerechtigkeitsvorstellungen.
sich die Gerechtigkeitsfrage nur darauf, ob das Straf- In der Antike beispielsweise wurde eine viel engere
maß im Verhältnis zur Tat steht, oder auch darauf, ob Verbindung zwischen dem gerechten und dem guten
bestimmte Strafformen zu grausam sind? Hier können Staat einerseits und dem gerechten und dem guten
wir Fragen der ausgleichenden Gerechtigkeit von Fra- Menschen andererseits hergestellt, als dies in heutigen
gen der Rechtfertigung trennen. Gerechtigkeitsvorstellungen in Europa und Nordame-
Im Themenfeld der Bildungsgerechtigkeit geht es rika der Fall ist. Außerdem spielte die Idee der kos-
vor allem darum, wie sich im Bildungssystem mehr mischen Gerechtigkeit in Form eines Gleichgewichts,
Chancengleichheit herstellen lässt. Doch was bedeutet das es zu wahren gilt, eine wichtige Rolle. Deswegen
Chancengleichheit überhaupt? Müssen nur soziale war etwa die vergeltende Strafe eine Angelegenheit
oder auch natürliche Unterschiede zwischen den der Gerechtigkeit, denn sie stellte die kosmische Ord-
Menschen ausgeglichen werden? Und auf welche Wei- nung wieder her. Außerdem wurde Gerechtigkeit vor
se dürfen Unterschiede ausgeglichen werden, um für allem personal und nicht institutionell verstanden. Es
eine größere Gleichverteilung der Chancen zu sorgen? ging darum, dass erst die Menschen und dann die po-
Ist es sogar rechtfertigbar, Unterschiede durch leis- litischen Institutionen gerecht sind, weil sich in der
tungsverbessernde Medikamente auszugleichen? Wie antiken Vorstellung das Zweite aus dem Ersten ergibt.
stark darf der Staat in die Erziehung der Eltern ein- Auch im Buddhismus herrscht die Idee einer kos-
greifen, um für mehr Chancengleichheit bei den Kin- mischen Ordnung. Diese stellt sich, so die Vorstel-
dern zu sorgen? Müssen Schulen auch erziehen oder lung, allerdings selbst immer wieder neu her, indem
nur bilden? So gibt es beispielsweise einen Streit zu der alle Wesen gemäß ihrem Karma, also der Balance ih-
Frage, ob die Bildungsmöglichkeiten für Kinder unge- rer guten und schlechten Taten, so lange wiedergebo-
fähr gleich gut sein müssen oder ob es reicht, wenn al- ren werden, bis sie Erleuchtung erreichen. Selbst die
le Kinder hinreichend gute Bildungsmöglichkeiten körperliche Verfassung und der soziale Status bestim-
besitzen. Davon hängt auch ab, was die konkreten men sich über ihr Karma, so dass auf sehr differenzier-
Maßnahmen und Institutionen sind, die für mehr Bil- te Weise Lohn und Strafe über die Zeit hinweg gerecht
dungsgerechtigkeit benötigt werden. Sorgt etwa eine verteilt werden. Gerechtes Handeln bedeutet dem-
Gesamtschule für mehr Bildungsgleichheit und ist sie nach ganz allgemein, das moralisch Richtige zu tun,
daher aus Gerechtigkeitsperspektive zu fordern? und stellt stets eine gute Investition in die Zukunft dar.
Wenn man eine Weile über die genannten Beispiele Moderne Buddhisten betonen darüber hinaus die
nachdenkt und andere Menschen nach ihrer Meinung wichtige Rolle der Demokratie und der Ehrfurcht vor
fragt, dann zeigt sich bereits, dass Gerechtigkeit zwar der Natur als Erfordernisse der Gerechtigkeit, denn
4 I Der Begriff der Gerechtigkeit

beide leisten einen wesentlichen Beitrag dazu, mehr nehmen. Auch das Verhältnis von Gerechtigkeit zu
Menschen die Möglichkeit zu geben, das Leiden der anderen wichtigen normativen Konzepten lässt sich
Wiedergeburt zu überwinden. aufgrund dieser Problematik der Pluralität nur schwer
In der gegenwärtigen philosophischen Debatte ist bestimmen. Dennoch sind allgemeine Antworten auf
für die libertäre Gerechtigkeitstheorie die Idee ent- Fragen wie die folgenden möglich: Was hat Gerechtig-
scheidend, dass die Menschen im Naturzustand sich keit mit dem guten Leben zu tun? Wie verhalten sich
selbst besitzen und dadurch auch ein natürliches Gerechtigkeit und Demokratie zueinander?
Recht am Privatbesitz äußerer Gegenstände erwerben In Bezug auf die Theorie des guten Lebens werden
können. Gerechtigkeit herrscht dann, wenn dieser na- gegenwärtig drei Theoriegruppen unterschieden: He-
türliche Besitz respektiert wird. Das muss auch die donistische Theorien, Wunschtheorien und objekti-
freie Übertragung dieses Besitzes ermöglichen. Unge- vistische Theorien. Hedonistischen Theorien zufolge
rechter Erwerb oder ungerechte Übertragung sind ist ein Leben gut, wenn es besonders viel Lust und we-
hingegen auf gerechte Weise auszugleichen. Darüber nig Leid mit sich bringt. Wunschtheorien gemäß ist
hinaus gibt es keine Gerechtigkeitsansprüche. Man ein Leben gut, wenn sich die subjektiven Wünsche ei-
kann die Gerechtigkeit einer Gesellschaft also nicht nes Menschen erfüllen. Bei objektivistischen Theorien
daran bemessen, wie gleich oder ungleich die Güter zu hängt das gute Leben an der Verwirklichung objektiv
einem bestimmten Zeitpunkt verteilt sind. wichtiger Werte. Aus Gerechtigkeitsperspektive lässt
Ganz anders stellt sich die Lage aus einer sozialisti- sich bei allen drei Theorien danach fragen, ob die
schen Gerechtigkeitsposition heraus dar. Die auf Marx Chancen auf ein gutes Leben gleich verteilt sind. Aus
zurückgehende Formel ›Jeder nach seinen Fähigkei- Sicht der Theorie des guten Lebens ist der Wert der
ten, jedem nach seinen Bedürfnissen‹ verlangt zwar Gerechtigkeit selbst jedoch unterschiedlich zu beur-
keine absolute Gleichverteilung von Gütern, aber im- teilen. Für hedonistische Theorien ist Gerechtigkeit
merhin eine Verteilung, die den verschiedenen Be- nur dann ein wichtiger Bestandteil des guten Lebens,
dürfnissen der Menschen zu jedem Zeitpunkt glei- wenn sie zur Steigerung von Lust und Vermeidung
chermaßen gerecht wird. Verdienst bestimmt sich in von Leid führt. Für Wunschtheorien ist Gerechtigkeit
dieser sozialistischen Vorstellung nicht aus der Ar- nur relevant, wenn sich ein Mensch auch Gerechtig-
beitsleistung, sondern aus den individuellen Bedürf- keit bzw. ein gerechtes Leben wünscht. Allein die ob-
nissen. Eine schwangere Frau beispielsweise hat bei jektivistischen Theorien sehen in der Gerechtigkeit
einem höheren Bedarf auch mehr Nahrungsmittel als üblicherweise einen zwingenden Bestandteil des gu-
eine andere Frau verdient, ganz unabhängig davon, ob ten Lebens. Wer sich nicht um Gerechtigkeit bemüht,
sie arbeitet oder nicht. Ihr stehen beispielsweise so verfehlt demnach, um was es im Leben geht.
viele Nahrungsmittel zu, wie sie braucht, um ein ge- Wie verhält es sich mit Demokratie und Gerechtig-
sundes Kind zur Welt zu bringen. Was der Schwange- keit? Sie stehen in einem gewissen Spannungsverhält-
ren zusteht, bemisst sich an ihren Bedürfnissen und nis zueinander. Einerseits ergeben sich gerechte Ge-
nicht, wie in der libertären Theorie, an ihrem Ein- setze unmittelbar aus vernünftigen Überlegungen da-
kommen oder ihrem Besitz. Durch die Bemessung rüber, was gerecht und was ungerecht ist. Andererseits
der Bedürfnisse lässt sich der sozialistischen Position sollen in einer Demokratie die Gesetze in demokrati-
gemäß an der Güterverteilung zu einem bestimmten schen Verfahren bestimmt werden. Dabei ist nicht
Zeitpunkt feststellen, wie gerecht oder ungerecht die selbstverständlich, dass sich die politische Mehrheit in
Gesellschaft ist. Gerecht ist die Gesellschaft, wenn der Gesetzgebung auch an Gerechtigkeit und nicht an
die Güterverteilung sich an den Grundbedürfnissen ihren Gruppeninteressen orientiert. Gleichzeitig ist es
der Menschen ausrichtet, also etwa niemand Armut jedoch so, dass die Einrichtung eines demokratischen
leidet. Staatswesens selbst als Erfordernis der Gerechtigkeit
Es gibt selbstverständlich noch viel mehr als diese erscheint. Denn erstens sind demokratische Staaten
zwei dargestellten philosophischen Gerechtigkeits- besser als andere in der Lage, für Gerechtigkeit zu sor-
konzeptionen und ebenfalls noch viele verschiedene gen, indem sie besser als andere Systeme Kriege und
historische und religiöse Ausgangspunkte für die Ge- Hunger vermeiden sowie für Wohlstand und seine
nese verschiedener Gerechtigkeitsvorstellungen. Des- breite Verteilung sorgen. Zweitens lässt sich argumen-
wegen ist es nicht leicht, abstrakt viel dazu zu sagen, tieren, dass die möglichst gleiche und weitreichende
was Gerechtigkeit überhaupt ist, ohne auf die eine Beteiligung aller Bürger_innen an der kollektiven
oder andere dieser Positionen unmittelbar Bezug zu Selbstbestimmung selbst einen Gerechtigkeits-
1 Einleitung 5

anspruch darstellt, was wiederum ein demokratisches beispielsweise geklärt, was Gerechtigkeit mit Demo-
Staatswesen erforderlich macht. kratie, mit Verantwortung, den Menschenrechten,
Das Ziel des Handbuchs Gerechtigkeit besteht darin, dem guten Leben oder mit Moral zu tun hat. Dabei
die verschiedenen Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs, wird deutlich, dass sich diese Begriffe eigentlich nie
wie sie hier kurz und beispielshaft skizziert wurden, isoliert voneinander betrachten lassen, sondern wech-
umfassend darzustellen und den aktuellen Stand der selseitig aufeinander verweisen. Abhängig davon, wel-
Forschung zu den jeweiligen Gerechtigkeitsfragen zu ches Verständnis von Moral jemand besitzt, kann der
präsentieren. Dazu ist das Handbuch in fünf Teile un- Gerechtigkeitsbegriff beispielsweise eher personal
tergliedert. oder eher institutionell verstanden werden.
Im ersten Kapitel werden die zentralen historischen Im fünften und längsten Kapitel werden schließlich
Phasen der Entwicklung der Gerechtigkeitsidee in Eu- verschiedene gesellschaftlich, moralisch und politisch
ropa und darüber hinaus verschiedene kulturell-reli- einschlägige Themenbereiche und Anwendungsfra-
giöse Wurzeln dargestellt. Abgerundet wird das Kapi- gen diskutiert. Dieses Kapitel umfasst Artikel zum
tel durch eine Darstellung interkultureller Perspekti- Thema Alter, zu Enhancement, zu Migration, zu Tie-
ven sowie der gängigen philosophischen Kritik am ren, zur Weltwirtschaft und vielem mehr. Hier zeigt
Gerechtigkeitskonzept. sich besonders die Vielfalt der in der Philosophie, aber
Im zweiten Kapitel werden zentrale Gerechtigkeits- auch im Alltag diskutierten Gerechtigkeitsfragen. Au-
typen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs versam- ßerdem wird deutlich, dass das philosophische Nach-
melt. Typisiert wird Gerechtigkeit in der philosophi- denken über Gerechtigkeit notwendig auf zwei Ebe-
schen Debatte auf ganz unterschiedliche Weise, ein- nen stattfindet. Einerseits geht es um konkrete Fragen
mal räumlich von einzelstaatlich bis global, aber auch wie das Steuerrecht, andererseits um abstrakte Fragen
temporal als vergangenheits- oder zukunftsbezogen der Architektonik der Gerechtigkeitstheorie. Dabei
sowie sektoral von sozial bis retributiv. Diese verschie- wäre es falsch anzunehmen, dass nur die abstrakte auf
denen Typisierungen und der Fokus ihrer Fragestel- die konkrete Ebene einwirkt. Vielmehr hat die Be-
lung werden jeweils vorgestellt. Dargestellt werden schäftigung mit konkreten Gerechtigkeitsfragen auch
auch die wichtigsten Aspekte insbesondere der domi- Auswirkungen auf die grundlegenderen Aspekte der
nanten liberalen Gerechtigkeitstheorie, wie die Kon- Gerechtigkeitstheorie und macht zum Teil erhebliche
zepte der Chancengleichheit, der Fairness, der Gleich- Veränderungen notwendig, weil die Theorie das kon-
heit und das berühmte Differenzprinzip von John krete Problem nicht angemessen erfassen kann.
Rawls. Abschließend werden in diesem Kapitel darü- Ein Handbuch herauszugeben, das den Gerechtig-
ber hinaus die Grundthemen der empirischen Ge- keitsbegriff in diesem Umfang beleuchtet, war nur
rechtigkeitsforschung vorgestellt. durch die Unterstützung und Beteiligung vieler Men-
Das dritte Kapitel versammelt die zentralen syste- schen möglich, denen wir an dieser Stelle ganz herz-
matischen Gerechtigkeitskonzeptionen. Dies reicht lich danken möchten. Zunächst danken wir den Auto-
von liberalen über sozialistische, feministische und rinnen und Autoren für ihre Beiträge sowie die durch-
utilitaristische bis hin zu kommunitaristischen Ge- wegs konstruktive und angenehme Zusammenarbeit.
rechtigkeitsvorstellungen. Es geht in der Darstellung Nora Kassan, Roya Saadati und Vanessa Sooth danken
dieser Gerechtigkeitsvorstellungen darum, die Beson- wir für ihre gründliche Durchsicht der Beiträge. Nor-
derheiten und zentralen Argumente für die jeweiligen bert Axel Richter sind wir für seine unersetzliche re-
Konzeptionen vorzustellen und zu zeigen, wie sie sich daktionelle Überarbeitung zu Dank verpflichtet. Und
von anderen Vorstellungen unterscheiden. Dabei wird nicht zuletzt möchten wir Ute Hechtfischer und Fran-
deutlich, dass es eine große Pluralität von normativen ziska Remeika vom Metzler Verlag unseren besonde-
Gerechtigkeitsvorstellungen gibt. Dennoch herrscht ren Dank aussprechen für die durchwegs unterstüt-
keine Beliebigkeit, denn die dargestellten Konzeptio- zende und konstruktive Zusammenarbeit und die
nen erheben jeweils auf nachvollziehbare Weise den Möglichkeit, dieses Projekt mit dem Metzler Verlag
Anspruch, wohlbegründet und allgemeingültig zu durchzuführen.
sein, was für andere – etwa egoistische – Gerechtig-
Anna Goppel / Corinna Mieth / Christian Neuhäuser
keitsvorstellungen nicht gilt.
Im vierten Kapitel wird Gerechtigkeit zu anderen
zentralen Konzepten der politischen Philosophie und
der Moralphilosophie in Beziehung gesetzt. Es wird
6 I Der Begriff der Gerechtigkeit

2 Geschichte des Gerechtigkeits- Frühe griechische Theorieansätze


begriffs: Antike und Mittelalter
Aus dem Blickwinkel der älteren Hochkulturen
(Ägypten, Babylon, Alt-Israel) betrachtet ist es ein
Die Thematisierung von Gerechtigkeit weicht inner- merkwürdiger Umstand, dass die Vorstellung kos-
halb der antiken und mittelalterlichen Begriffs- und mischer Gerechtigkeit in den maßgeblichen Texten
Theoriegeschichte in einigen grundlegenden Hinsich- des frühen Griechenland, den homerischen Epen, na-
ten von unserer zeitgenössischen Behandlung des hezu fehlt. Im Alten Ägypten war die Vorstellung ei-
Themas ab. Drei markante Differenzen seien hervor- ner übergreifenden kosmischen Gerechtigkeitsord-
gehoben. nung von zentraler Bedeutung. Gerechtigkeit (ma’at)
1. Der griechische Ausdruck dikaiosynê und sein steht hier für einen strikten Tun-Ergehens-Konnex,
lateinisches Äquivalent iustitia bezeichnen das der die kosmisch-religiöse Ebene ebenso umfasst wie
normativ wünschenswerte Sozialverhalten eines die moralische und die politisch-rechtliche Dimensi-
Individuums sowie den moralisch angemessenen on (dazu Assmann 1990). Vor diesem Hintergrund ist
Zustand eines politischen Gebildes in einem um- es erstaunlich, dass sogar krasse Fälle moralischer
fassenderen Sinn, als dies unser moderner Ge- Schuld nicht als Verstöße gegen die göttliche Gerech-
rechtigkeitsbegriff tut. In unserer modernen Ter- tigkeitsordnung bewertet werden. Betrachtet man
minologie ziehen wir es vor, hier von einem ›guten beispielsweise die Schilderung der Rückkehr des
Menschen‹ oder einem ›guten Staat‹ zu sprechen, Odysseus nach Ithaka in Buch XXIV der Odyssee
während ›gerechter Mensch‹ und ›gerechter Staat‹ (413–466), so fällt ins Auge, dass sein Mord an sämtli-
für unsere Ohren spezifischer klingen, weil wir chen jungen Adligen, die um Penelopes Hand anhal-
Gerechtigkeit stärker mit Verteilungsfragen in Zu- ten, nicht als Gerechtigkeitsproblem aufgefasst wird.
sammenhang bringen. Dass Odysseus nicht als moralisch verurteilenswert
2. Zu den ältesten und in Antike und Mittelalter viel- gilt, lässt sich nur vor dem Hintergrund erklären, dass
fach erörterten Gerechtigkeiten gehört die kos- man sich nicht an Standards göttlicher Gerechtigkeit,
mische Gerechtigkeit: Ist die Weltordnung an- sondern stattdessen an einer Adels- und Kriegerethik
gemessen? Wie sind die natürlichen Begabungen orientiert (dazu Flaig 1998). Den zentralen Wert die-
und Ressourcen unter den Menschen verteilt? ser kompetitiven oder agonalen Gesellschaft bildet die
Honoriert die Weltordnung ein moralisch gutes Ehre (timê); und die Einhaltung der ethischen Stan-
Verhalten und stellt sie schlechte Handlungen un- dards wird durch das Empfinden von Scham (aidôs),
ter Strafe? In der Moderne kommt leicht der Ver- nicht durch ein Schuldprinzip gewährleistet (vgl. be-
dacht auf, eine solche Perspektive sei insgesamt sonders Williams 1993).
obsolet; immerhin spielt sie dann noch eine ge- Es wäre dennoch überpointiert zu behaupten, die
wisse Rolle, wenn wir etwa eine Körperbehin- Vorstellung kosmischer Gerechtigkeit sei im frühen
derung, die ein berufliches Handicap darstellt, als Griechenland gänzlich unbekannt gewesen. Hesiod
eine ausgleichenswerte kosmische Ungerechtig- unternahm (mit bescheidenem Erfolg) den Versuch,
keit betrachten. in seinem epischen Werk entsprechende metaphysi-
3. In der vormodernen Theoriegeschichte wird per- sche Ordnungsprinzipien zu etablieren (vgl. Erga kai
sonale Gerechtigkeit (s. Kap. II.24, III.29) tenden- hêmerai 247–284). Ferner mag man Spuren einer kos-
ziell gegenüber institutioneller Gerechtigkeit favo- mischen Gerechtigkeitsvorstellung im zentralen Frag-
risiert. Dass primär Menschen gerecht sein müs- ment des Anaximander sehen (Diels/Kranz 12B1). In
sen, nicht Institutionen, scheint uns fernliegend; dieselbe Richtung weist folgende Feststellung inner-
insbesondere wirkt die ältere Frage nach einem ge- halb eines Heraklit-Fragments: »Denn alle mensch-
rechten Herrscher oder einem gerechten Staats- lichen Gesetze werden vom Einen, Göttlichen, er-
bürger anachronistisch. Immerhin scheint per- nährt; dessen Kraft ist unbegrenzt, und es reicht für
sonale Gerechtigkeit in modernen politischen alles aus und setzt sich durch« (DK 22B114; auch DK
Theoriekontexten in Form eines ›Sinns für Ge- 22B44, B94 [Vorstellung von den Erinyen] sowie
rechtigkeit‹ wiederaufzutauchen. B102). Es steht ferner außer Zweifel, dass die Pythago-
reer und Empedokles ein kosmisches Vergeltungs-
prinzip für menschliche Handlungen angenommen
haben, bei dem ein jenseitiges Totengericht und die
2 Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs: Antike und Mittelalter 7

Reinkarnation zentrale Vorstellungen bilden. Bei So- Klassische griechische Philosophie


lon findet sich der Versuch, eine Synthese aus kos-
mischer und politisch-juridischer Gerechtigkeit her- Platon scheint erstmals betont zu haben, dass man Ge-
zustellen (vgl. frg. 2). rechtigkeit primär als personale Einstellung, als see-
Die explizite philosophische Gerechtigkeitsdebatte lische Haltung verstehen muss (Kraut 1992). Während
beginnt im fünften vorchristlichen Jahrhundert mit die Sophisten von Gerechtigkeitsproblemen nur im
den Sophisten. Deren Diskussion wird durch die Kontext der Natur- und Rechtsordnung sprachen, be-
Kontrastierung bestimmt, wonach Gerechtigkeit ent- handelt Platon unter dem Stichwort Gerechtigkeit in
weder eine natürliche Quelle (physis) besitzt oder erster Linie das individualethische Problem, welche
aber auf menschliche Setzung (thesis) bzw. auf Üb- Lebensform als wählenswert angesehen werden kann.
lichkeiten und Traditionen (nomos) zurückgeht. Den Für Platon zahlt sich eine gerechte Lebensführung
Anstoß zu dieser Debatte gab das Problem des Kul- aus, unter welch widrigen Bedingungen der Gerechte
turrelativismus. Auf der Grundlage der Physis-no- auch immer leben muss. Im Gorgias sucht er die Vor-
mos-Antithese wurden allerdings ganz unterschiedli- stellung zu verteidigen, dass Gerechtigkeit für die See-
che Konzeptionen entwickelt, darunter die amoralis- le dieselbe Funktion besitzt wie Gesundheit für den
tische Position des Kallikles (in Platons Gorgias) und Körper: Jedes Unrechttun schädigt die Seele des be-
die ideologiekritische Position des Thrasymachos (in treffenden Akteurs und ist daher unklug; sogar Un-
der Politeia). rechtleiden soll folgerichtig dem Unrechttun vorzu-
Bei Kallikles von Acharnai handelt es sich um einen ziehen sein (469b f., 473a ff.; ähnlich bereits Kriton 49a
amoralischen Provokateur, der sich selbst affirmativ ff.). Der Politeia zufolge unterscheidet sich jedes
auf den Gerechtigkeitsbegriff stützt, diesem jedoch ei- menschliche Individuum durch seine spezifische An-
ne radikal revisionäre Deutung verleiht. Kallikles be- lage von jedem anderen (370a–b). In einem gut orga-
ruft sich auf die Antithese von physis und nomos (Gor- nisierten Staat sollen den Individuen folglich unter-
gias 482e), um die Behauptung zu stützen, von Natur schiedliche Aufgaben zugewiesen werden, woraus
aus angemessen seien Privilegien für die Stärksten sich die Etablierung verschiedener sozialer Stände er-
und Besten, die gegenwärtig geltende Gesetzesord- gebe. Platon gelangt auf diese Weise zunächst zu sei-
nung sei dagegen ein Konstrukt der Schwachen und ner politischen Gerechtigkeitstheorie: Jeder soll die
der breiten Menge. Kallikles nimmt also für sich aus- soziale Rolle oder Funktion erfüllen, für die er sich
drücklich in Anspruch, die wahre »Gerechtigkeit der eignet, und jeder soll die Güter erhalten, die ihm zu-
Natur« zu kennen (to tês physeôs dikaion: Gorgias stehen. Damit ist die bekannte Idiopragieformel er-
484b1). reicht, der zufolge Gerechtigkeit bedeutet, dass jeder
Demgegenüber erweist sich Thrasymachos von das Seine tut (ta hautou prattein: Politeia 433a8, vgl.
Chalkedon als gesellschaftlicher Ideologiekritiker, 586e) oder dass jeder ›hat und tut‹, was ihm zukommt
der wie später Rousseau das geteilte Gerechtigkeits- (433e f.). Gemeint ist der harmonische Zustand, in
verständnis als Täuschungsmanöver der Mächtigen dem jedes Individuum seine ihm angeborene Funk-
entlarven möchte. Im Kontrast zur kallikleischen Po- tion mit Blick auf die Polis erfüllt. Die Gerechtigkeits-
sition will er darauf hinaus, dass eine Gerechtigkeits- definition der Idiopragieformel geht nach Platons ei-
ordnung immer nur den Mächtigen eines Staates gener Auskunft auf den Dichter Simonides zurück:
nützt. Sie sind es nämlich, die die Regeln der staatli- Man müsse, sagt dieser, jedem das ihm Geschuldete
chen Ordnung zu ihrem Vorteil festlegen. Nach Thra- geben (ta opheilomena hekastô apodidonai: 332a). Be-
symachos bedeutet der Umstand, dass die Herr- ginnend mit Platon hat diese Gerechtigkeitsdefinition
schenden ihre Bürger zur Einhaltung der Rechtsord- eine bemerkenswerte theoriegeschichtliche Wirkung
nung, zur Gerechtigkeit, nötigen, nichts anderes als entfaltet. Vielleicht die bekannteste Variante ist die
eine Maßnahme zur eigenen Interessenwahrung. Da- Formulierung, die Ulpian an den Beginn der Digesten
gegen würde es dem Vorteil der Bürger entsprechen, (I 1,10 pr.) wie auch der Institutionen (I 1 pr.) gestellt
würde man ihnen zur Ungerechtigkeit raten. Gerech- hat: Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum
tigkeit impliziere nämlich stets die Respektierung cuique tribuendi; in der einfacheren Form: Iustitia est
»fremden Gutes« (allotrion agathon: Politeia I 343c3); suum cuique tribuere. Platon überträgt die Definition
wer sie praktiziert, handelt sich folglich einen Nach- vom Beispiel des Staates aus auf die Seele, deren ›Teile‹
teil ein. er in einer ausführlichen Analogie mit den Schichten
der Polis parallelisiert. Personale Gerechtigkeit wird
8 I Der Begriff der Gerechtigkeit

damit als Harmonie oder Gesundheit der Seele gedeu- der subjektive Rechtsgedanke sei mit Blick auf Aristo-
tet (444c f., vgl. 591b f. und 609b9–c1). teles anachronistisch. Er schloss sich damit der These
Aristoteles unterscheidet zwischen den beiden Ver- Hegels an, wonach Aristoteles das Politische in den
wendungsweisen von Gerechtigkeit. Er arbeitet he- Mittelpunkt gerückt und folglich kein »abstraktes
raus, dass dikaiosynê in der Alltagssprache nicht nur Recht« gekannt habe, welches »den Einzelnen isoliert«
den Sammel- oder Inbegriff für alle Formen richtigen (Hegel 1979, 227). Wie neuere Forschungen zeigen,
Handelns und Verhaltens darstellt, sondern darüber gibt es bei Aristoteles aber tatsächlich sowohl natürli-
hinaus den personalen Habitus bezeichnet, der je- che wie gesetzliche Rechte (vgl. Miller 1995 und Coo-
manden zu einer angemessenen Güterverteilung be- per 1996). Eine andere Kontroverse dreht sich um die
fähigt (Buch V der Nikomachischen Ethik). Er bezeich- Frage, inwieweit man aus Aristoteles’ distributiver Ge-
net erstere als umfassende Gerechtigkeit (Gerechtig- rechtigkeitstheorie eine sozialstaatliche Konzeption
keit ist so gesehen mit der gesamten Tugend gleich- herauslesen kann. In den letzten Jahren war es beson-
zusetzen) und letztere als partikulare Gerechtigkeit ders Martha Nussbaum, die Aristoteles nicht nur ein
(Keyt 1985). Bei den scholastischen Kommentatoren gehaltvolles essentialistisches Menschenbild zu ent-
des 13. Jahrhunderts wird die iustitia generalis oder nehmen suchte, sondern auch die Vorstellung von ei-
universalis mit der iustitia specialis oder particularis ner ›aristotelischen Sozialdemokratie‹ verteidigte
kontrastiert. Letztere wird bei Aristoteles nochmals (1990, 206; dazu kritisch Knoll 2009).
differenziert in eine Verteilungsgerechtigkeit (nemêti-
kon) und eine ausgleichende Gerechtigkeit (diorthôti-
kon) (vgl. die scholastischen Begriffe iustitia distribu- Hellenistische Philosophie
tiva und iustitia correctiva; s. auch Kap. II.12, 13). Die
distributive Gerechtigkeit kommt in normalen Situa- Eine erwähnenswerte Zwischenposition zwischen
tionen der Güterverteilung zum Zuge, d. h. bei der Zu- Gerechtigkeitspositivismus und Naturrechtstheorie
weisung irgendwelcher Vorteile, Ehren, Ämter usw. an findet sich bei Epikur. Für ihn besitzt Gerechtigkeit
mehrere Personen, und zwar solange zwischen diesen kein natürliches Fundament; der Ausdruck meine ein-
keinerlei Unrecht begangen worden ist. Ihr Prinzip ist fach so viel wie das Bestehen einer vorteilhaften Ge-
die geometrische Proportionalität. Gemeint ist, dass setzesordnung. Dabei interpretiert Epikur Gerechtig-
die zu verteilenden Güter nach Maßgabe der Ver- keit als Resultat derjenigen Rechtsordnung, die sich
dienste der Adressaten zugewiesen werden. Demnach auf eine wechselseitige Übereinkunft (synthêkê) zu-
verhält sich die Gütermenge, die einer Person A zu- rückführen lässt; und zwar soll diese in der allgemei-
steht, zur Gütermenge, auf welche eine Person B einen nen Selbstverpflichtung bestehen, einander nicht zu
Anspruch hat, wie die Würdigkeit von A zur Würdig- schädigen (Kyriai doxai 31 und 35). Epikur gehört ein-
keit von B (vgl. Nikomachische Ethik V, 1131a24–28). deutig zu den Vertragstheoretikern (vgl. auch das Re-
Die korrektive Gerechtigkeit tritt dagegen in zwei un- ferat des Hermarchos bei Porphyrios: Long/Sedley
terschiedlichen Fällen in Erscheinung: a) bei freiwil- 22M). Dennoch lässt sich daraus nicht schließen, Epi-
ligen geschäftlichen Transaktionen (etwa bei Kauf kur sei Gerechtigkeitspositivist. Gesetze sind für ihn
und Verkauf, Gewährung von Darlehen usw.) und b) keineswegs eo ipso gerecht; sie sind es ausschließlich
bei Verbrechen (also unfreiwilligen Transaktionen), nach Maßgabe ihrer Funktionserfüllung. Epikur kann
sei es, dass diese heimlich, sei es, dass sie offen began- durchaus von ungerechten Gesetzen sprechen; für un-
gen werden. Ihr Prinzip ist die Gleichheit von Gabe gerecht erklärt er solche, die keinen oder nur einen
und Gegengabe bzw. die Kompensation einer Schädi- eingeschränkten Nutzen stiften. Er vertritt eine Positi-
gung gemäß arithmetischer Gleichheit. Wer ein Gut on, die man als kontextsensitiven Universalismus be-
von einem anderen erhält, schuldet diesem eine exak- zeichnen kann. Einerseits nimmt er an, bestimmte
te Entsprechung, und wer einen anderen schädigt, Gesetze müssten gerechterweise immer und überall
muss zur Wiedergutmachung ebenfalls ein exaktes gelten. Sein Beispiel dafür ist das allgemeine Tötungs-
Äquivalent dieser Schädigung aufbringen (ebd.). verbot mit Blick auf Menschen. Andererseits kann für
In der älteren Forschung wurde die Frage kontro- ihn der Fall eintreten, dass ein Gesetz A, das sich zu
vers diskutiert, ob Aristoteles seine Gerechtigkeits- einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten
konzeption in der Politik mit der Vorstellung von Ort als nützlich und damit als gerecht erweist, zu ei-
Rechten (nämlich individuellen Anspruchsrechten) nem anderen Zeitpunkt oder an einem anderen Ort
verbindet. Beispielsweise hat Leo Strauss behauptet, seinen Nutzen einbüßt. Es muss dann angemessener-
2 Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs: Antike und Mittelalter 9

weise durch ein Gesetz B ersetzt werden, das unter den antiken Debatte gewandelt haben. Zwei Veränderun-
veränderten Bedingungen den erwünschten Nutzen gen seien akzentuiert.
stiftet. Das bedeutet, dass A und B Gesetze sein kön- Die erste ergibt sich aus dem starken Einfluss des
nen, die ein und denselben Gegenstandsbereich un- biblischen Sprachgebrauchs. Spezifisch biblisch ist der
terschiedlich, ja widersprüchlich regeln und dennoch Begriff der ›Rechtfertigung‹ (dikaiôsis) des Sünders
beide zu verschiedenen Zeiten oder an verschiedenen durch das vergebende Handeln Gottes. Die Nähe der
Orten als gerecht anzusehen sind (Alberti 1995). Ausdrücke dikaiosynê und dikaiôsis bzw. iustitia und
Die Betonung personaler Gerechtigkeit kennzeich- iustificatio sorgt in der christlichen Begriffsgeschichte
net dagegen die Position der Stoa. Die älteren Stoiker für einen deutlichen thematischen Wandel. Zu einer
behandelten Gerechtigkeit in erster Linie als personale wichtigen Frage wird nun, wodurch der Mensch als
Tugend. In seiner Schrift Politeia, die mit Platons ›gerecht vor Gott‹ gelten kann. Bei zahlreichen Auto-
gleichnamigem Werk konkurrieren sollte, entwickelt ren der Spätantike und des Mittelalters findet sich –
Zenon von Kition eine naturrechtliche Gerechtigkeits- besonders mit Blick auf Röm 1,17, 3,21 oder 10,3 f. –
theorie. Diese wendet sich nachdrücklich gegen jeden ein Gerechtigkeitsverständnis mit einem solchen fi-
Kulturrelativismus. Nach Zenon soll jeder Mensch als deistischen Hintergrund. Ein weiterer relevanter
Mitbürger in einem globalen Staat betrachtet werden; Punkt ergibt sich aus der Bergpredigt, wo ein Mehr an
dessen gemeinsame naturrechtliche Gesetzesordnung Gerechtigkeit im Vergleich zur einfachen Regelobser-
skizzierte Zenon in seiner Schrift (vgl. Long/Sedley vanz der Pharisäer und Schriftgelehrten gefordert
67 A; dazu Schofield 1991 und 1995). In einer für uns wird (Mt 5,6–10; 20; 45; 6,1; 33). Der Jesus des Mat-
besser greifbaren Version findet sich die stoische Ge- thäusevangeliums bezeichnet die vollkommene Hal-
rechtigkeitstheorie bei Cicero in De re publica und in tung ausdrücklich als Gerechtigkeit (Mt 10,41; 27,19).
De legibus. Cicero ergänzt stoische Elemente um ge- Für die Theoriegeschichte von Gerechtigkeit scheint
nuin römisches Traditionsgut und gelangt zu einer ei- damit das Thema des Supererogatorischen vorgebildet
gentümlichen Synthese. Seine grundlegende Innovati- zu sein, das sich in der heidnischen Ethik der Antike
on besteht darin, dass er Gerechtigkeit erstmals von nicht findet.
der sozialen Einheit der res publica her denkt (vgl. At- Ein zweiter Ausgangspunkt, der zu einer veränder-
kins 1990). Bezeichnenderweise ist es für Cicero nicht ten Basis der Gerechtigkeitsdebatte in Spätantike und
nur eine Gerechtigkeitsforderung, niemanden zu Mittelalter geführt hat, liegt bei dem paganen Philoso-
schädigen; vielmehr versetzt Gerechtigkeit ihren Trä- phen Plotin. Der Begründer des Neuplatonismus
ger auch in die Lage, dem gemeinsamen Nutzen zu die- greift zwar auf eine Antithese aus Platons Phaidon
nen (De officiis I 31; vgl. De re publica I 26, 41). Auch (82a) zurück, wenn er seine pointierte Unterschei-
mit der Betonung der fides als eines weiteren fun- dung zwischen bürgerlichen Tugenden (politikai are-
damentum iustitiae (De officiis I 23) beschreibt Cicero tai) und höheren Tugenden (meizous) vornimmt (vgl.
eine personale Eigenschaft, die geeignet ist, den Zu- Enneaden I.2[19]1,16 f.). Plotin unterlegt diesem Be-
sammenhalt der societas zu vergrößern. Er folgt zwar griffspaar aber den neuartigen Sinn, dass bürgerliche
Platon und den Stoikern in der individualethisch ak- Tugenden diejenige Charakterhaltung bezeichnen,
zentuierten Lehre von den vier Kardinaltugenden; welche unter den Bedingungen einer zeitlich-ir-
aber dabei spielt die soziale Komponente im Hinter- dischen Existenz angemessen ist, während ihre ›Urbil-
grund die eigentlich sinntragende Rolle. Zusammen- der‹, die höheren Tugenden, die vortreffliche seelische
fassend versteht Cicero unter Gerechtigkeit eine feste Verfassung in einer intelligiblen und unkörperlichen
Charakterhaltung, die unter Wahrung des Gemeinnut- Welt darstellen. Porphyrios, Iamblich und die späte-
zens jedem seine Würde zuteilt (iustitia est habitus ani- ren Neuplatoniker, besonders Marinos, haben diese
mi communi utilitate conservata suam cuique tribuens gestufte Tugendkonzeption Plotins mit ihrer Hervor-
dignitatem: De inventione II 160). hebung intelligibler Tugenden fortgeführt und weiter
differenziert (dazu Dihle 1978, 277–280).
Augustinus versteht unter Gerechtigkeit ebenfalls
Spätantike in erster Linie eine personale Tugend. Auch er folgt
dabei der platonischen Standarddefinition in der For-
Die Begriffs- und Theoriegeschichte von Gerechtig- mulierung Ciceros (iustitia, cuius munus est sua cui-
keit beruht in Spätantike und Mittelalter teilweise auf que tribuere: De civitate dei XIX 4). Augustinus
Fundamenten, die sich im Vergleich zu denen der schließt sich ferner an Plotin in dessen zentralem
10 I Der Begriff der Gerechtigkeit

Punkt an, nämlich bei der Differenzierung zwischen ritate); in dieser Abhandlung verfolgt Anselm das Ziel,
ihrer vorläufigen, unzulänglichen, inchoativen Form, die biblische Gleichsetzung der Wahrheit mit Gott
die unter irdischen Bedingungen am Platz ist, und ei- (nach Joh 14,6) mit rationalen Mitteln zu untermau-
ner ewigen oder himmlischen Ausprägung von Ge- ern. Hierfür bedient er sich eines Argumentations-
rechtigkeit. Die irdische Gerechtigkeit verschafft dem topos des Boethius: Wenn sich alle einzelnen Erschei-
betreffenden Individuum nur eine relative charakter- nungsformen der Wahrheit mit dem Wesen Gottes
liche Vollkommenheit; sie wird erst in der jenseitigen identifizieren lassen, dann kann man auch die Wahr-
Existenzform des Tugendhaften perfektioniert (z. B. heit insgesamt mit Gott gleichsetzen (dazu ausführ-
Contra duas epistulas Pelagianorum III 7,19). Politi- lich Enders 1999). Anselm versucht nun zu zeigen,
sche Gerechtigkeit bildet für Augustinus kein Defini- dass alle Teilphänomene der Wahrheit tatsächlich in
tionsmerkmal des Staates, sondern lediglich eine einem einzigen Basisphänomen fundiert sind, das sich
wünschenswerte Zielbestimmung. Doch diese nor- auf Gott zurückführen lässt. Dabei führt seine Unter-
mative Vorgabe ist allenfalls in geringem Umfang ein- suchung auch zu der Frage, ob es nicht konsequent
lösbar; Staaten bleibt ein hohes Maß an Gerechtigkeit wäre, Wahrheit bzw. Rechtheit mit Gerechtigkeit
prinzipiell verwehrt. Augustinus’ Auffassung zeigt gleichzusetzen; die Ausdrücke rectitudo und iustitia
sich an jenem absoluten Ablativ in der Frage ›Was sind scheinen einfach dasselbe zu bezeichnen. Die Pointe
Königreiche bei fehlender Gerechtigkeit anderes als seines Gerechtigkeitsverständnisses besteht allerdings
große Räuberbanden?‹ (remota iustitia quid sint regna erst darin, dass Anselm als diejenige Größe, die einen
nisi magna latrocinia). Er bedeutet gerade nicht ›wenn Akt vollends gerecht macht, den moralisch guten Wil-
ihnen Gerechtigkeit fehlt‹, sondern ›weil ihnen Ge- len begreift. Weder der äußere Akt noch das Wissen
rechtigkeit fehlt‹. Allen irdischen Staaten der post- um seine Richtigkeit kann nach Anselm dasjenige
lapsarischen Zeit mangelt es im Unterschied zur ci- sein, was uns eine Handlung als gerecht erscheinen
vitas dei grundsätzlich an Gerechtigkeit. Augustinus lässt. Denn man vermag sich durchaus jemanden vor-
scheint in diesem Punkt seine Auffassung spürbar zustellen, der weiß, dass eine bestimmte Verhaltens-
modifiziert zu haben (vgl. Christes 1980; Fortin 1997). weise moralisch angemessen ist, der sie überdies fak-
Noch im Frühwerk – und indirekt in De civitate dei tisch ausführt, sie aber gleichwohl nicht intendiert.
XIX 21 – vertritt er die Ansicht, jede staatliche Rechts- Für Anselm besteht daher ein weiteres Definitionsele-
ordnung müsse auf Gerechtigkeit beruhen; er behaup- ment der Gerechtigkeit im wissentlichen, auf intrinsi-
tet, es liege überhaupt kein Gesetz vor, wenn eine Be- scher Motivation beruhenden Wollen des Gesollten.
stimmung nicht auch gerecht sei (vgl. nam lex mihi es- Es kommt aber noch ein fünfter Punkt hinzu. Dieser
se non videtur, quae iusta non fuerit: De libero arbitrio I beruht auf Anselms Unterscheidung zwischen dem
11). Übrigens findet sich bereits bei Platon (Nomoi direkten Objekt eines Aktes (dem quid), und dem wei-
715b2–6) die Feststellung, dass eine nicht am Gemein- teren Ziel des Aktes (dem propter quid), um dessent-
wohl der Polis orientierte Verfassung oder ein nicht- willen das quid gewählt wird. Es kann zwei Fälle ge-
gemeinwohlbezogenes Gesetz ihre jeweilige Bezeich- ben: Entweder wird etwas um eines davon verschiede-
nung gar nicht verdient. nen Zieles willen getan; dann ist das Objekt das Mittel
oder Instrument zur Erlangung des Ziels (extrinsi-
scher Zweckcharakter). Oder aber das Objekt ist selbst
Frühes Mittelalter das Ziel; das Objekt wird um seinetwillen gewählt (in-
trinsischer Zweckcharakter). Im zweiten Fall koinzi-
Die mittelalterliche Debatte um den Gerechtigkeits- dieren quid und propter quid. Anselm verlangt nun,
begriff lässt sich im lateinischen Westen in zwei große die rectitudo des Willens müsse das quid und das prop-
Phasen einteilen: in eine Epoche vor der Rezeption ter quid des Aktes sein. Als gerecht im Vollsinn kann
von Buch V der Nikomachischen Ethik (bis ca. 1250) z. B. keine Handlung gelten, bei der das moralisch
und in die Epoche der Aristoteles-Kommentierung. Richtige zwar wissentlich gewollt wird, aber um eines
Aus der vor-aristotelischen Phase ist zunächst Beda davon verschiedenen Zieles willen – wie wenn jemand
Venerabilis erwähnenswert, der in De tabernaculo III etwas moralisch Richtiges wissentlich ausführt, dies
14 eine stark augustinisch inspirierte Konzeption ent- aber in Erwartung eines hieraus resultierenden Vor-
wickelt. Ungleich selbständiger fällt die Gerechtig- teils tut. Gerecht ist die Handlung, bei der das Richtige
keitskonzeption des Anselm von Canterbury aus. Sie wissentlich und um seiner Richtigkeit willen getan
findet sich in seiner Schrift Über die Wahrheit (De ve- wird. Daher lautet Anselms abschließende Definition
2 Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs: Antike und Mittelalter 11

der iustitia: »Gerechtigkeit ist die um ihrer selbst wil- Zudem spricht er von einer zuweisenden Gerechtig-
len bewahrte Rechtheit des Willens« (iustitia igitur est keit (iustitia directiva), unter der er die aristotelische
rectitudo voluntatis propter se servata: Opera omnia I, reziproke Gerechtigkeit (antipeponthos) zu verstehen
194, 26 f.). Es zeigt sich, dass Anselm Gerechtigkeit als scheint. Es fällt ins Auge, dass Albert die aristotelische
personale Eigenschaft versteht, und zwar als umfas- Bestimmung von Gerechtigkeit verteidigt, ja sogar als
sende richtige Willensorientierung im Sinn der aristo- die »beste Definition« bezeichnet (vgl. dicendum,
telischen iustitia universalis. Zudem bietet es sich na- quod diffinitio, quam ponit hic Aristoteles, optima est:
türlich an, diese Konzeption mit Kants Moralitäts- Ed. Colon. XIV/1, 347,89 f.).
begriff zu vergleichen (Enders 1999). Thomas von Aquin konnte sich also bei seiner
Kommentierung von Buch V der Nikomachischen
Ethik (besonders in der Schrift Sententia libri Ethico-
Hohes und spätes Mittelalter rum, in seinem Sentenzenkommentar sowie in der
Summa theologiae) bereits auf die hochdifferenzierte,
Die Kommentierung der Nikomachischen Ethik aus vor der Aristoteles-Rezeption liegende Auseinander-
der Feder des Albertus Magnus stellt ein bemerkens- setzung sowie auf seinen Lehrer Albert stützen. Seine
wertes historisches Dokument dar (1250; Editio Co- Ausführungen haben grundsätzlich dieselbe Tendenz
lon. XIV). Albert stützte sich auf die erst wenige Jahre wie die Albertschen: Auch Thomas entscheidet sich
zuvor (um 1246/47) abgeschlossene lateinische Über- gegen die ältere Tradition und für einen Gerechtig-
setzung der Nikomachischen Ethik von Robert Grosse- keitsbegriff in enger Anlehnung an Aristoteles. In der
teste, konnte sich aber immerhin am Ethik-Kommen- Secunda Secundae (II-II 57–79) der Summa theologiae
tar des Ibn Rushd orientieren (lat. Averroes, In Mora- setzt er mit einer Kennzeichnung der Gerechtigkeit als
lia Nicomachia Expositio). Dennoch bleiben die Aus- Gleichheit oder – wegen des aktiven Aspekts – als
führungen Alberts eine respektable Leistung; sie ›Ausgleich‹ (aequalitas) ein (57,1). Sodann schließt
zeichnen den aristotelischen Gedankengang grund- sich Thomas der ulpianischen Definition an: Iustitia
sätzlich adäquat nach. Albert sieht richtig, dass Aris- est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribu-
toteles’ zentrales Verdienst in der Differenzierung ver- endi (58,1). Um zu verdeutlichen, dass er trotz seines
schiedener Begriffsaspekte von Gerechtigkeit besteht. Rückgriffs auf den Willensbegriff keine andere Auffas-
Zunächst behandelt er die umfassende Gerechtigkeit sung als die aristotelische vertritt, erweitert er die De-
(iustitia generalis) des Aristoteles. Er setzt sie mit der finitionsformel um den Hinweis, dass mit dem ›Wil-
gesetzesorientierten Gerechtigkeit (iustitia legalis) len‹ ein fester Habitus des Charakters gemeint sei: Ius-
gleich – eine Identifikation, die freilich in der hoch- titia est habitus secundum quem aliquis constanti et
mittelalterlichen Gerechtigkeitsdebatte umstritten perpetua voluntate ius suum unicuique tribuit. Da-
blieb. Ein weiterer wichtiger Punkt besteht darin, dass gegen bezeichnet er den platonischen Gerechtigkeits-
Albert iustitia nicht als habitus im Selbstverhältnis ei- begriff mit Aristoteles als ›metaphorisch‹ (58,2) – was
ner Person, sondern als habitudo, als Verhältnis zu an- allerdings gänzlich unpolemisch zu verstehen ist: Ge-
deren Personen, auffasst; folglich stellt sie in gewisser meint ist nur, dass eine Konzeption, die Gerechtigkeit
Weise keine Tugend dar (dazu Canavero 1992). Dies als eine harmonische und funktional optimierte See-
macht die Frage umso dringlicher, ob Aristoteles’ In- lenordnung interpretiert, eher die Ebene der Voraus-
tention nicht darin bestand, die umfassende Gerech- setzungen betrifft als das Phänomen selbst beschreibt.
tigkeit als Umschreibung für die Gesamtheit aller Tu- Als Gerechtigkeit im eigentlichen Wortsinn gilt
genden zu präsentieren. Albert beantwortet diese Fra- denn auch für Thomas die iustitia particularis oder
ge in der Nachfolge des Averroes, indem er die iustitia iustitia specialis des Aristoteles: die Gerechtigkeit als
generalis als Bezogensein eines Individuums auf alle Teil der Tugend. Thomas unterscheidet innerhalb die-
anderen gemäß den Tugenden auffasst; die umfassen- ser partikularen Gerechtigkeit zwischen einer vertei-
de Gerechtigkeit wird auf die politische Gemeinschaft lenden und einer ausgleichenden Gerechtigkeit (iusti-
bezogen (vgl. Lambertini 1999). Auch was die ›spezi- tia distributiva – iustitia commutativa: 58,7; 61,1). Die-
elle Gerechtigkeit‹ (iustitia specialis) anlangt, erweist se Unterscheidung begründet er anders als Aristoteles,
sich Alberts Rekonstruktion als textnah. Er unter- nämlich mit der Relation Ganzes-Teil einerseits und
scheidet zutreffend zwischen ihren zwei Teilen: der der Relation Teil-Teil andererseits. Das bedeutet: Die
Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) und der iustitia distributiva wird von einem politisch Verant-
ausgleichenden Gerechtigkeit (iustitia commutativa). wortlichen, der das Ganze eines Staates repräsentiert,
12 I Der Begriff der Gerechtigkeit

mit Blick auf die einzelnen Bürger praktiziert; die Bür- beschriebenen – Weltmonarchie. Innerhalb der Tradi-
ger partizipieren an ihr nur insofern, als sie die Ge- tion der mittelalterlichen Zwei-Reiche- oder Zwei-
rechtigkeit des Verteilenden nachzuvollziehen ver- Schwerter-Lehren steht Dantes Theorie damit klar für
mögen. Dagegen tritt die iustitia commutativa immer eine Verteidigung der Stellung des Kaisers gegen die
nur bei Vertragsbeziehungen (contractus) zwischen weltliche Autorität der Kirche und des Papstes. Dantes
Einzelbürgern auf den Plan. Dabei hat Thomas ebenso Anliegen zielt aber wesentlich weiter, nämlich auf die
wie Aristoteles keineswegs nur Tauschakte, d. h. auf Etablierung einer echten Universalmonarchie nach
Wechselseitigkeit zielende freiwillige Gütertrans- dem Vorbild des alten römischen Kaisertums. Den-
aktionen im Sinn. Vielmehr denkt er zudem an einsei- noch handelt es sich nicht um eine pagane oder um
tige Schädigungen, die jemand an den Gütern des an- eine säkulare Theorie einer Autonomie des Politi-
deren verübt und für die der Übeltäter eine Wieder- schen. Dante vertritt vielmehr eine politische Theo-
gutmachung (compensatio, restitutio) leisten muss. Es logie aus dem Geist des Christentums, die zugleich
liegt somit auf der Hand, dass iustitia commutativa den irdischen wie ewigen Elementen der conditio hu-
nicht so viel wie Tauschgerechtigkeit bedeuten kann. mana gerecht zu werden sucht. Auf dieser vorausset-
Unter sie fallen ebenso die unfreiwilligen, gewalt- zungsreichen Basis gelangt er zu einer in der Theorie-
samen Veränderungen beim Güterbesitz. Besonders geschichte recht ungewöhnlichen Gerechtigkeitskon-
deutlich zeigt sich dies daran, dass Thomas Mord als zeption (zum Folgenden vgl. Imbach/Flüeler 1989,
einen Fall von verletzter iustitia commutativa inter- 274–295). Dante stützt sich in der Monarchia auf den
pretiert (63,1 f.). Thomas folgt Aristoteles ferner in der Gerechtigkeitsbegriff, um mit seiner Hilfe die Univer-
inhaltlichen Beschreibung der beiden Gerechtigkeits- salmonarchie als erforderlich für die beste Ordnung
varianten: Die iustitia distributiva folgt dem Würde- der Welt zu erweisen. Diesem Nachweis versucht er
prinzip, die iustitia commutativa dem Ausgleichsprin- die strenge Form eines Syllogismus zu geben. Als
zip (61,2). Obersatz oder Maior fungiert dabei die Feststellung,
Erwähnenswert ist zudem, wie Thomas zwischen die Welt sei am besten geordnet, wenn in ihr Gerech-
zwei Typen von Teilen der Gerechtigkeit differenziert: tigkeit die größtmögliche Macht besitze. Um von die-
Während er die Teile iustitia distributiva und iustitia sem – intuitiv plausiblen – Obersatz aus zu der ange-
commutativa als die ›inhaltlichen Teile‹ (partes subiec- strebten Konklusion zu gelangen, dass die beste aller
tivae) bezeichnet, weist er den erstmals von Cicero politischen Ordnungen in der Weltmonarchie liegt,
thematisierten konstitutiven Bestandteilen der Ge- muss er auf folgenden Untersatz zurückgreifen kön-
rechtigkeit die Bezeichnung ›ermöglichende Teile‹ nen: »Die Gerechtigkeit besitzt am meisten Macht in
(partes potentiales) zu. Zu letzteren gehört besonders der Welt, wenn sie sich in jenem Subjekt befindet, das
die aristotelische Billigkeit (epieikeia, aequitas). Auch den besten Willen und die meiste Macht besitzt« (Mo-
Thomas versteht diese als ein personales Korrektur- narchia I xi, 8). Lässt sich diese Minor überzeugend
prinzip, das der staatlichen Rechtsordnung ausglei- darstellen, so ist auch der Schluss insgesamt gelungen.
chend und ergänzend zur Seite treten soll. Um nun nachzuweisen, dass es der Monarch ist, der
Bei Aegidius Romanus findet sich eine modifizierte die beiden in der Minor genannten Bedingungen er-
Aufnahme thomasischer Gedanken in seinem Fürs- füllt, will Dante u. a. zeigen, dass dieser am wenigsten
tenspiegel De regimine principum (I 2, 10–15). Wie von Begierden getrieben, sondern habituell von Liebe
Thomas sieht sich Aegidius vor das Problem gestellt, bestimmt sei. Erläuternd behauptet Dante, der Mo-
in welchem Sinn man Aristoteles’ Feststellung aus- narch sei insofern durch eine besondere Liebe zur
legen muss, dass die iustitia legalis oder generalis alle Menschheit gekennzeichnet, als er dieser besonders
Tugenden zusammenfasst. Auch Aegidius lehnt die ›nahe‹ sei. Nach der Interpretation von Lüddecke
Vorstellung ab, es handle sich bei ihr einfach um das (1999, 50–60) meint diese Nähe die besondere Affini-
Genus Tugend. Seine Lösung sieht vor, dass die umfas- tät des Monarchen zum Menschheitsziel einer voll-
sende Gerechtigkeit den Menschen nicht mit Blick auf kommenen Entfaltung irdischen Glücks. Zweifellos
sich selbst perfektioniert, sondern sein Verhalten zu handelt es sich bei Dantes Konzeption um ein äußerst
den Gesetzen sowie zum Fürsten vervollkommnet anspruchsvolles personales Gerechtigkeitsverständ-
(Lambertini 1999, 141–49). nis, das einem gleichfalls extrem weitreichenden poli-
Im Zentrum der politischen Theorie Dante Ali- tischen Gerechtigkeitsideal zugrunde gelegt wird.
ghieris steht die Figur eines idealisierten Monarchen. Schließlich ist noch erwähnenswert, dass die plato-
Gemeint ist der Lenker einer – als die beste Staatsform nische und neuplatonische Tradition im Mittelalter
2 Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs: Antike und Mittelalter 13

nahezu kontinuierlich fortgesetzt wird. Ein besonders toph Horn (Hg.): Augustinus. De civitate dei. Berlin 1997,
markantes Beispiel bietet Meister Eckhart; sein Rück- 41–62.
griff auf die Tradition besteht darin, dass sich auch Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ge-
schichte der Philosophie II. In: Ders.: Werke in 20 Bänden,
Eckhart für Gerechtigkeit als Eigenschaft interessiert, Bd. 19. Frankfurt a. M. 1979.
mit welcher der Mensch unmittelbar auf die göttlich- Horn, Christoph/Scarano, Nico (Hg.): Philosophie der Ge-
höhere Welt bezogen ist. Gerechtigkeit gilt bei ihm als rechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Frank-
eine der spirituellen Vollkommenheiten (perfectiones furt a. M. 2002.
spirituales); zugleich wird sie als ein Gottesprädikat Imbach, Ruedi/Flüeler, Christoph (Hg.): Dante, Monarchia.
Stuttgart1989.
aufgefasst: Gott ist selbst die Gerechtigkeit schlecht-
Keyt, Donald: Distributive justice in Aristotle’s ethics and
hin (vgl. Johanneskommentar, Lateinische Werke III politics. In: Topoi 4 (1985), 23–46.
13,1–19,2). Gemäß Eckharts Lehre von der ›Gottes- Knoll, Manuel: Aristokratische oder demokratische Gerech-
geburt in der Seele‹ kann sich nun ein Mensch diese tigkeit? Die politische Philosophie des Aristoteles und Mar-
Gerechtigkeit vollständig und in einem univoken Sinn tha Nussbaums egalitaristische Rezeption. München 2009.
zu eigen machen; er kann zum perfekten Spiegelbild Kraut, Richard: The defense of justice in Plato’s Republic. In:
Ders. (Hg.): The Cambridge Companion to Plato. Cam-
Gottes werden. Dabei bringt die ›ungeborene‹ Ge- bridge 1992, 311–337.
rechtigkeit den ›geborenen‹ Gerechten so hervor, dass Lambertini, Roberto: Von der iustitia generalis zur iustitia
hinsichtlich ihres Gerechtseins kein Unterschied zwi- legalis: Die Politisierung des Gerechtigkeitsbegriffs im
schen ihnen besteht (vgl. Buoch der goetlîchen troes- 13. Jahrhundert am Beispiel des Aegidius Romanus. In:
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community: Augustine and his Pagan Models. In: Chris-
14 I Der Begriff der Gerechtigkeit

3 Geschichte des Gerechtigkeits- Gruppen, deren Interessen sie dienen; drittens die
begriffs: Neuzeit Möglichkeiten ihrer Realisierung durch soziale Institu-
tionen, die ihnen zu realer Geltung verhelfen.

Das neuzeitliche Verständnis von Gerechtigkeit


knüpft an den gelehrten Gerechtigkeitsdiskurs des Die Idee der Gerechtigkeit in der frühen
Mittelalters an, der seinerseits unter dem Einfluss des Neuzeit
Gerechtigkeitsdenkens der Antike stand und deren
Vokabular rezipierte. In der frühen Neuzeit erlebt die- Wie schon die Philosophie des Mittelalters geht auch
ses Vokabular jedoch eine erhebliche Bedeutungsver- das Denken der frühen Neuzeit von der auf Aristoteles
schiebung, die in das bis heute maßgebliche Grund- zurückgehenden Unterscheidung zwischen iustitia dis-
verständnis von Gerechtigkeit mündet. Dieses Ver- tributiva und iustitia commutativa aus. Hat die distri-
ständnis, das den modernen Begriff von Gerechtigkeit butive Gerechtigkeit (s. Kap. II.12) zunächst wenig Be-
konstituiert, hebt sich vom Verständnis früherer Zei- achtung gefunden, so war die ausgleichende Gerech-
ten durch folgende Merkmale ab: 1) durch die Aus- tigkeit (s. Kap. II.12), vor allem die Gerechtigkeit ver-
dehnung des Gegenstandsbereichs der Gerechtigkeit traglicher Tauschbeziehungen, Gegenstand vielfältiger
auf die institutionelle Rahmenordnung sozialen Han- Überlegungen: der Lehren vom gerechten Preis. Daraus
delns, so auf die Verfassung staatlicher Herrschaft und stechen zwei Ansätze hervor: zum einen der alte, an
die rechtliche Eigentumsordnung (während das anti- Aristoteles anknüpfende Ansatz, wonach ein Tausch
ke und mittelalterliche Gerechtigkeitsdenken haupt- gerecht ist, wenn die getauschten Güter gleichen Wert
sächlich auf interpersonales Handeln abstellte); 2) haben (so Albertus Magnus und Thomas von Aquin);
durch die Einbettung der Gerechtigkeit in eine Moral zum anderen die neuere Auffassung, vertragliche
der gleichen Achtung, der zufolge alle Menschen von Tauschverhältnisse seien gerecht, wenn der Preis der
Natur aus grundsätzlich gleichen Wert besitzen und getauschten Güter oder Leistungen dem Marktpreis
darum auch als Gleiche behandelt werden müssen entspricht, der im Wechselspiel von Angebot und
(wogegen das Gerechtigkeitsverständnis der Antike Nachfrage auf einem wohlgeordneten Markt zustande
und des Mittelalters geburtsbedingte Unterschiede kommt. Während sich der erste Ansatz zunehmend in
zuließ); 3) durch eine Verstärkung des der Idee der praktisch nutzlose Spekulationen über den Maßstab
Gerechtigkeit inhärenten Prinzips, Gleiches gleich zu des Wertes von Gütern verstieg (Kaulla 1904), hat sich
behandeln, durch das gehaltvollere Gleichheitspostulat, der zweite als fruchtbar erwiesen, weil er einige hand-
dass die Ungleichbehandlung von Personen in gerech- feste Kriterien dafür lieferte, wann vertragliche Ge-
tigkeitsrelevanten Kontexten einer allgemein einsich- schäfte im allseitigen Interesse der beteiligten Parteien
tigen Rechtfertigung bedarf (ein Postulat, das im Den- liegen und darum als gerecht gelten können, nämlich
ken der Antike und des Mittelalters kaum begegnet, dann, wenn sie von allen Parteien freiwillig in Kenntnis
zumindest keine breite Zustimmung fand). der relevanten Informationen unter ausgewoge-
Der moderne Gerechtigkeitsbegriff bildet die nen Wettbewerbsbedingungen abgeschlossen wer-
Grundlage für die Entwicklung einer Sequenz von spe- den. Dieser Ansatz wurde im 16. Jahrhundert von den
zifischeren Ideen und Forderungen, die in der Neuzeit Protagonisten der spanischen Spätscholastik, Francis-
von maßgeblichen Denkern formuliert und von macht- co de Vitoria und Luis de Molina, im Detail ausgearbei-
vollen sozialen Bewegungen verbreitet wurden und zur tet. Sie argumentierten, der gerechte Preis richte sich
heute vorherrschenden Vorstellung sozialer Gerechtig- nicht nach dem Gewinn und Verlust der Kaufleute,
keit (s. Kap. II.18) führten. Obwohl diese Entwicklung sondern nach dem Verhältnis von Angebot und Nach-
einer dem modernen Gerechtigkeitsverständnis inhä- frage an dem Ort, wo die Waren verkauft werden. Fer-
renten Logik folgt, kann sie angemessen nur verstan- ner betonten sie die Rolle des Wettbewerbs für die Bil-
den werden, wenn man die in ihrem Verlauf sich entfal- dung gerechter Marktpreise und überhaupt für das
tenden Ideen mit den sozialen Tatsachen in Beziehung Funktionieren des Marktes. Deshalb hielten sie regulie-
setzt, die ihr Auftreten bedingen und ihnen Wirksam- rende Maßnahmen der öffentlichen Autoritäten für zu-
keit verschaffen. Diese sozialen Tatsachen sind erstens lässig, ja geboten, um der Bildung privater Monopole
die gesellschaftlichen Konflikte und Probleme, auf de- und anderer Formen von Marktmacht entgegenzuwir-
ren Regelung jene Ideen zielen; zweitens die Organisa- ken (Höffner 1953; Trusen 1997; Langholm 1998).
tionsfähigkeit und Durchsetzungsmacht der sozialen Die Vorstellung, dass soziale Verhältnisse jedenfalls
3 Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs: Neuzeit 15

dann als gerecht gelten können, wenn sie aus allseitig auch gewisse vorvertragliche natürliche Rechte und
vorteilhaften Vertragsbeziehungen resultieren, scheint Pflichten (wie das Recht auf Eigentum) annahmen,
bis weit in die Neuzeit hinein so bestechend gewesen wie etwa die Theorien von Samuel Pufendorf (Denzer
zu sein, dass sie nicht nur auf die Ergebnisse bilateraler 1972) und von John Locke (Euchner 2011). Die win-
Vertragsgeschäfte zwischen Privaten angewendet wur- dungsreiche Geschichte der Lehre vom Gesellschafts-
de, sondern darüber hinaus auf die Beziehungen zwi- vertrag spiegelt die sich verändernden sozialen Kon-
schen Fürsten und Ständen, zwischen den Fürsten un- flikte wider, die zur Herausbildung einiger grund-
tereinander und schließlich sogar auf die soziale Ord- legender Gerechtigkeitsforderungen der Moderne
nung politischer Gemeinwesen im Ganzen. So wurde Anlass gaben (Kersting 1994).
schon im Mittelalter der Versuch unternommen, die Der moderne Staat bildete sich seit Beginn der Neu-
Bedingungen der Legitimität politischer Herrschaft zeit aus der Welt des Mittelalters mit ihren ständischen
durch die Annahme eines Herrschaftsvertrags zu be- Unterschieden und vielfältig fragmentierten Herr-
gründen, durch den sich der Herrscher und die ihm schaftsverhältnissen im Wege verheerender Hegemo-
Unterworfenen auf ihre wechselseitigen Rechte und nialkriege zuerst in der Gestalt des landesfürstlichen
Pflichten einigen (Voight 1965). Da die Konstruktion Absolutismus heraus (Schulze 1994). Die Fürsten, die
eines solchen Vertrags die Existenz des Herrschers als in diesen Kriegen obsiegten und ein Territorium
gegeben voraussetzte, statt sie zu begründen, und da dauerhaft unter ihre Kontrolle zu bringen vermochten,
sie außerdem die Machtungleichheit zwischen den setzten ihren Anspruch auf absolute, uneingeschränk-
Parteien dieses Vertrags nicht in Frage stellte, hat sie in te Herrschaftsgewalt über dieses Territorium durch.
dem Maße an Plausibilität verloren, in dem die Idee Und eingedenk der desaströsen Kriege, die ihm voran-
der natürlichen Gleichheit der Menschen Verbreitung gegangen waren, wurde der Absolutismus vielerorts ei-
fand wie auch die Einsicht, dass vertragliche Überein- ne Zeitlang nicht nur von breiten Bevölkerungsteilen
künfte nur unter der Bedingung der gleichen Freiheit begrüßt, sondern auch von bedeutenden politischen
der beteiligten Parteien zu gerechten Ergebnissen füh- Denkern legitimiert, da sie von ihm viele Verbesserun-
ren. Damit lag es nahe, das Projekt, die Grundsätze ei- gen erhofften: Pazifizierung des Landes, Abbau stän-
ner legitimen politischen Ordnung durch die Annah- discher Ungleichheiten, Vereinheitlichung des Rechts-
me einer vertraglichen Übereinkunft ihrer Mitglieder wesens, Schaffung einer zentralen Verwaltungsorgani-
zu begründen, einer radikalen Revision zu unterzie- sation und Förderung des Wirtschaftslebens. So argu-
hen, die in den Theorien des Sozialkontrakts oder Ge- mentierte Thomas Hobbes (1651/1984), die Menschen
sellschaftsvertrags Niederschlag fand. im Naturzustand würden sich einmütig einer unein-
Ausgangspunkt dieser Theorien, die das rationale geschränkten Herrschaft der staatlichen Obrigkeit un-
Naturrechtsdenken vom 17. bis ins 19. Jahrhundert terwerfen, weil nur diese in der Lage sei, den Macht-
dominierten, war das Konstrukt eines Naturzustands. kampf eines jeden gegen jeden zu beenden und so den
Darunter stellte man sich einen anfänglichen Zustand Frieden und das Gedeihen der Gesellschaft zum Vor-
der Koexistenz ursprünglich freier und gleicher Men- teil aller zu sichern. Darum gebe es auch keine die
schen ohne rechtliche Ordnung vor, dessen Unsicher- staatliche Gewalt bindenden Gebote der Gerechtig-
heiten und Gefahren die Bewohner eines Landes nö- keit, weil diese erst aus den Regelungen der staatlichen
tigten, sich in ihrem wechselseitigen Interesse durch Ordnung resultierten. Dessen ungeachtet war Hobbes
eine allseitige Übereinkunft zu einem politischen Ge- ein vehementer Verfechter der Idee der rechtlichen
meinwesen zu vereinigen und sich eine Ordnung zu Gleichheit, nach der alle Bürger den gleichen allgemei-
geben, die das Leben, die Sicherheit und das Wohl- nen Gesetzen unterworfen sein sollten, eine Idee, die
ergehen aller Mitglieder wirksam sichert. Welchen vor allem in Kreisen des nichtadligen Besitzbürger-
Zwecken eine solche Ordnung im Einzelnen dienen tums wachsende Verbreitung fand.
und wie sie im Detail beschaffen sein sollte, darüber
stimmten die verschiedenen Theorien des Sozialkon-
trakts allerdings nicht überein. Dessen ungeachtet Der Kampf um bürgerliche Gleichheit
brachten diese Theorien – wenn auch meist nicht ex- und Freiheit
plizit, so doch in der Sache – das Problem der distribu-
tiven Gerechtigkeit sozialer Ordnungen ins Spiel, in- Die absolutistische Herrschaft hat jedoch die in sie ge-
dem sie zumindest eine anfängliche Gleichheit der setzten Hoffnungen im Laufe der Zeit immer mehr
Ausgangspositionen aller Beteiligten und vielfach enttäuscht. Denn einerseits blieben erhebliche recht-
16 I Der Begriff der Gerechtigkeit

liche Unterschiede zwischen den Ständen bestehen die auf die Verteilung gemeinschaftlicher Güter ab-
und andererseits nahmen zahlreiche Missstände über- stellt und sich darum im Fall der privaten Aneignung
hand, wie Korruption, Vetternwirtschaft, Verschwen- der ursprünglich im Gemeinbesitz der Menschen be-
dung, Willkürjustiz und Intoleranz. All dies brachte findlichen Naturgüter aufdrängt. Eben dies hat Kant
den Absolutismus zunehmend in Misskredit, vor al- (1797/1968, Rechtslehre § 41) deutlich unterstrichen,
lem beim wachsenden städtischen Bürgertum, das in indem er betonte, die distributive Gerechtigkeit erfor-
dem Maße, wie es wirtschaftlich reüssierte, mit zuneh- dere im Übergang zu einer rechtlichen Ordnung die
mender Vehemenz nicht nur rechtliche Gleichheit, allseitige Anerkennung der im Naturzustand erwor-
sondern auch bürgerliche Freiheit einforderte. Im Ein- benen Besitztümer der Einzelnen als deren Eigentum
zelnen wurden vor allem die folgenden Forderungen (Fleischacker 2004). Zur Attraktivität der besitzindi-
erhoben: Gleichheit aller Bürger im Recht durch all- vidualistischen Auffassung bürgerlicher Gleichheit
gemeine, für alle gleichermaßen geltende Gesetze, und Freiheit trug aber auch die im 18. Jahrhundert
Schutz der physischen Freiheit jeder Person, Religi- aufkommende liberale Wirtschaftslehre der klassi-
ons- und Gewissensfreiheit, Meinungs- und Redefrei- schen Ökonomik mit der Auffassung bei, die größt-
heit, Eigentums- und Vertragsfreiheit, Unabhängig- mögliche gleiche Freiheit der Bürger – insbesondere
keit der Gerichte und ein gewisses Maß an politischer die Freiheit des Eigentums, des Vertragsverkehrs und
Mitsprache (Grimm 1987, 53–83). Das gedankliche des Gewerbes – führe von selber zu einem Zustand
Fundament für diese Forderungen lieferten zwei ei- allgemeiner Wohlfahrt, weil das eigennützige Han-
nander ergänzende Lehren: zum einen die rationale deln der Menschen durch den Marktprozess letztlich
Naturrechtslehre in Gestalt der Sozialkontraktstheo- zum Vorteil aller ausschlage (Smith 1776/1974; Sturn
rien nach Hobbes sowie zum anderen die liberale 2008). Demgemäß meinte David Hume (1751/1984,
Wirtschaftslehre in Gestalt der von Adam Smith in- 112–125), die Gerechtigkeit einer Gesellschaft forde-
augurierten klassischen politischen Ökonomie. re nicht mehr als den wirksamen rechtlichen Schutz
Die einflussreichste jener Sozialkontraktstheorien der individuellen Freiheit und des privaten Eigen-
war die von John Locke (1690/1977). Sie modelliert tums der Bürger und die Durchsetzung freiwillig ge-
die staatliche Ordnung als das Ergebnis eines Vertrags schlossener Verträge.
gleicher und freier Bürger, die sich deshalb, weil ih- Im Namen der von diesen Lehren artikulierten Ide-
nen schon im Naturzustand bestimmte natürliche en von Gleichheit und Freiheit formierten sich in wei-
Rechte – nämlich die auf Leben, Gesundheit, Freiheit ten Teilen der westlichen Welt bürgerliche Bewegun-
und Eigentum – zukommen, staatlicher Herrschaft gen, die, in einigen Ländern durch gewaltsame Revo-
nur in dem für die Sicherung jener Rechte notwendi- lutionen, über kurz oder lang ihre wesentlichen For-
gen Umfang unterwerfen. Das erfordere eine konsti- derungen durchsetzen konnten. So wurden nach und
tutionelle Staatsform, deren Gesetzgebung in den nach Verfassungen erkämpft, die rechtliche Gleichheit
Händen der Besitzenden liegt und deren Gerichtsbar- und die elementarsten Freiheitsrechte garantierten,
keit dem Herrscher entzogen ist. In diesem Zusam- die staatliche Herrschaft durch Gewaltenteilung und
menhang entwickelte Locke auch eine neue Konzep- Gesetzesbindung beschränkten und dem besitzenden
tion des ursprünglichen Eigentumserwerbs, der zu- Bürgertum ein bescheidenes Maß an politischer Mit-
folge privates Eigentum an den – anfänglich allen sprache gewährten. Damit wandelte sich die absolute
Menschen zur freien Verfügung stehenden – Natur- Monarchie in den bürgerlichen Verfassungsstaat, sei es
gütern ursprünglich nicht durch deren Okkupation, in Form einer konstitutionellen Monarchie oder einer
wie bis dahin angenommen wurde, sondern durch Republik (Dann 1980, 132–218; Grimm 1991, 31–61).
Arbeit entstehe (Brocker 1992). Denn, so argumen- Die Errungenschaften dieser staatlichen Ordnung ka-
tierte er, indem eine Person herrenlose Naturgüter men jedoch hauptsächlich dem wohlhabenden Besitz-
bearbeite, erwerbe sie daran privates Eigentum, so- bürgertum zugute, während sie den unteren sozialen
fern sie sich davon nicht mehr aneigne, als sie selber Schichten – den kleinen Bauern und Gewerbetreiben-
nutzen könne, und für Andere genügend Naturgüter den sowie der rapide wachsenden Klasse besitzloser
gleicher Qualität zum Aneignen übrig lasse. Diese Arbeiter – wenig brachten oder sogar zum Nachteil
Einschränkungen, die Locke jedoch durch diverse ausschlugen. Denn diese Schichten blieben nicht nur
Ausnahmen weitgehend lockerte, zielten offenbar da- weiterhin von jeder politischen Mitsprache aus-
rauf ab, die von ihm konzipierte Eigentumsordnung geschlossen, sondern ihnen wurden überdies die für
mit der Idee distributiver Gerechtigkeit zu versöhnen, die Verfolgung ihrer Interessen maßgeblichen Freihei-
3 Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs: Neuzeit 17

ten, wie Meinungs-, Versammlungs- und Koalitions- Klassen zunehmend als unerträglich und ungerecht
freiheit, weitgehend verwehrt. empfunden. In den fortgeschrittenen Industriegesell-
In Reaktion auf diese von breiten Bevölkerungstei- schaften wurde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die
len als ungerecht empfundene Benachteiligung for- Soziale Frage zum beherrschenden Thema der öffent-
mierte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine wach- lichen Debatte, und allmählich bürgerte sich die Rede
sende demokratische Bewegung, die uneingeschränkte von sozialer Gerechtigkeit ein, um der Forderung nach
Grundfreiheiten und politische Mitsprache für alle einer grundlegenden Reform der bestehenden kapita-
Bürger forderte, womit zunächst meist nur die männ- listischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung
lichen Bürger gemeint waren, bis die langsam erstar- Nachdruck zu verleihen (Dann 1980, 219–235).
kende Frauenrechtsbewegung ihrem Verlangen nach In dem Maße, in dem mit der Ausbreitung des Ka-
Gleichberechtigung nach und nach Gehör verschaffen pitalismus die Arbeiterklasse anwuchs, verstärkten
konnte. Nachdem es in vielen Ländern gelungen war, sich auch deren Bemühungen, sich zu organisieren,
zunächst eine Ausweitung des Wahlrechts auf breitere um gemeinsam für eine Verbesserung ihrer Lebens-
Teile der Bevölkerung zu erreichen, ging es schließlich und Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Trotz des Koa-
um das allgemeine und gleiche Wahlrecht, das um die litions- und Streikverbots und drückender polizei-
Jahrhundertwende vielerorts für die Männer ein- licher Repression schlossen sich immer mehr Arbei-
geführt und später auf die Frauen ausgedehnt wurde ter zu Arbeitervereinen, Gewerkschaften und schließ-
(Canfora 2006). Auch die demokratische Bewegung lich auch zu politischen Parteien zusammen. Nach
konnte sich auf diverse Lehren des rationalen Natur- und nach bildete sich eine neue soziale Bewegung, die
rechts und der Philosophie der Aufklärung berufen, Arbeiterbewegung, die vor allem folgende Forderun-
wie jene von Jean-Jacques Rousseau (1762/1977) oder gen erhob: uneingeschränkte Gewährleistung der
Thomas Paine (1776/1982), denen zufolge alle Bürger bürgerlichen Rechte und Freiheiten, insbesondere
Anspruch auf gleiche Teilhabe an der Gesetzgebung der Koalitionsbildung und der politischen Betäti-
haben, weil sie nur so ihre natürliche Freiheit mit der gung, allgemeines und gleiches Wahlrecht, Verbot der
Unterwerfung unter allgemein verbindliche Zwangs- Kinderarbeit, Beschränkung der Arbeitszeit, Streik-
gesetze in Einklang bringen und sich gegen den Miss- recht und kollektive Arbeitsverträge, Existenzsiche-
brauch und die Korruption der staatlichen Gewalt ab- rung kranker und alter Menschen sowie als Fernziele
sichern können. überhaupt die Beseitigung der Klassenunterschiede
und eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen
Reichtums (Abendroth 1975). Auch die Forderungen
Die Forderung sozialer Gerechtigkeit der Arbeiterbewegung fanden theoretische Unter-
stützung durch vielfältige Konzepte, die von radika-
Mit dem Kampf um demokratische Beteiligung eng len Entwürfen eines revolutionären Umbaus der kapi-
verschränkt war ein weiterer sozialer Konflikt, der mit talistischen Gesellschaft in eine sozialistische bis zu
der rasanten Entwicklung des Kapitalismus im Gefol- gemäßigten Projekten einer Reform des kapitalisti-
ge der industriellen Revolution immer mehr an Schär- schen Systems durch dessen politische Regulierung
fe gewann: die wachsende Spaltung der Gesellschaft, reichten (Hofmann 1974).
als deren Resultat sich zwei Klassen formierten, näm- Zu den bedeutendsten und einflussreichsten Theo-
lich einerseits eine relativ kleine Zahl von Besitzen- retikern des radikalen Flügels gehören Karl Marx und
den, die dank der steigenden Produktivität der in ih- Friedrich Engels, die jedoch glaubten, ihre Kritik der
rem Eigentum befindlichen Produktionsmittel große kapitalistischen Gesellschaft und ihre Hoffnung auf
Gewinne erzielen und ihren Reichtum weiter mehren eine sozialistische Revolution allein auf die Einsicht in
konnten, und andererseits eine ständig wachsende den notwendigen Geschichtsverlauf stützen zu kön-
Masse besitzloser Lohnarbeiter, die mit ihrer Arbeit, nen, ohne ein Konzept von Gerechtigkeit zu benöti-
falls sie eine fanden, trotz überlanger Arbeitszeiten gen (Marx 1891/1968). Doch in dieser Hinsicht haben
und schlimmer Arbeitsbedingungen kaum ihren Le- sie wohl geirrt, da die zentralen Begriffe ihrer Analyse
bensunterhalt bestreiten konnten und im Fall von Ar- des Kapitalismus – wie ›Mehrwert‹, ›Ausbeutung‹,
beitslosigkeit und Krankheit vollends in Elend versan- ›Klassengesellschaft‹ – die Vorstellung einer gerechten
ken. Diese Entwicklung provozierte nicht nur auf Sei- Gesellschaftsordnung reflektieren, die allen Mitglie-
ten der Arbeiterschaft wachsenden Widerstand, son- dern gleiche soziale Entfaltungsmöglichkeiten bietet
dern wurde auch von Teilen der besser gestellten und einen angemessenen Anteil an den Früchten der
18 I Der Begriff der Gerechtigkeit

wirtschaftlichen Zusammenarbeit zukommen lässt lich interpretiert wurde und wird, inkludiert er jeden-
(Peffer 1990). falls zwei Forderungen: die Forderung sozialer Chan-
Aus der Vielfalt der gemäßigten Ansätze stechen cengleichheit (s. Kap. II.26), die zuerst hauptsächlich
drei Lager hervor: erstens das sozialdemokratische La- auf die Verringerung der Klassenunterschiede durch
ger, dessen Vordenker, darunter Ferdinand Lassalle die Verbesserung der sozialen Lage der Unterschich-
(Na’aman 1991), für eine Transformation des Kapita- ten zielte und danach in Richtung auf eine weiter ge-
lismus in eine sozialistische Gesellschaft im Wege tief- hende Angleichung der individuellen Startpositionen
greifender Sozialreformen plädierten; zweitens das so- und Erfolgsaussichten ausgedehnt wurde; und die
zialliberale Lager, dessen Vertreter, wie Gustav Schmol- Forderung ökonomischer Verteilungsgerechtigkeit, die
ler (Goldschmidt 2008), für eine Domestizierung des sich anfänglich insbesondere gegen die ausbeuteri-
kapitalistischen Systems durch staatliche Marktregu- schen Arbeitsverhältnisse im industriellen Sektor
lierung und öffentliche Einrichtungen sozialer Siche- richtete und dann in einem weiteren Sinn die Kritik
rung eintraten (Müssiggang 1968); und drittens das der fortbestehenden wirtschaftlichen Ungleichheiten
christlich-soziale Lager, dessen Protagonisten, darunter fundierte, deren Ausmaß in keinem Verhältnis zu den
Heinrich Pesch (Große Kracht 2007) und Oswald Nell- geleisteten Beiträgen zur gesellschaftlichen Wert-
Breuning (Hengsbach et al. 1990), zwischen Kapitalis- schöpfung zu stehen schien.
mus und Sozialismus einen dritten Weg konzipierten, Beflügelt von der Idee der sozialen Gerechtigkeit,
auf dem die offenkundigen Unzulänglichkeiten des gelang es der mit der industriellen Entwicklung an-
Marktsystems gemäß dem Subsidiaritätsprinzip durch wachsenden Arbeiterbewegung, Gewerkschaften und
geeignete staatliche Maßnahmen korrigiert werden Massenparteien zu bilden, die in den entwickelten Ge-
sollten (Löffler 2001). sellschaften einen bis weit in die zweite Hälfte des
Alle diese Doktrinen der sozialen Bewegung haben 20. Jahrhunderts dauernden Prozess der sozialen Re-
trotz ihrer Differenzen etwas gemeinsam, wodurch sie form bewirken konnten, der mehr oder minder un-
sich von den früheren Theorien unterscheiden: Das ist geplant zu der heute existierenden gemischten Gesell-
die ihnen zugrunde liegende kommunitäre Gesell- schaftsordnung einer Marktwirtschaft mit einem Sozi-
schaftsauffassung, die den Gemeinschaftscharakter alstaat führte.
der modernen Gesellschaft betont. Anders als der
klassische Liberalismus, der eine Gesellschaft als eine
Ansammlung selbständiger, mit Eigentumsrechten Ausblick
ausgestatteter Individuen betrachtete, verstehen die
Theorien der Arbeiterbewegung die Gesellschaft als Die in groben Strichen skizzierte Geschichte der Ge-
eine Gemeinschaft, in der alle Mitglieder gemeinsam rechtigkeit in der Neuzeit sollte deutlich machen, wie
das allgemeine Wohl und den gesellschaftlichen sich der moderne Begriff von Gerechtigkeit im Zu-
Reichtum hervorbringen und deshalb nicht nur An- sammenwirken mit den gesellschaftlichen Entwick-
spruch auf gleiche bürgerliche Rechte und Freiheiten, lungen nach und nach in spezifischere Forderungen
sondern auch auf gerechte Teilhabe am gesellschaftli- der Gerechtigkeit differenziert hat, die heute zumin-
chen Leben und an der wirtschaftlichen Wertschöp- dest im Prinzip weithin Zustimmung finden und zu-
fung haben (Marshall 1992). Diese Gesellschaftsauf- sammen die heute in entwickelten demokratischen
fassung wurde von den radikalen Theorien mit der Gesellschaften vorherrschende Vorstellung sozialer Ge-
von ihnen propagierten Idee des Kommunismus auf rechtigkeit bilden: die Forderungen rechtlicher Gleich-
die Spitze getrieben, spielt aber auch in den reformisti- heit, bürgerlicher Freiheit, demokratischer Teilhabe,
schen Ansätzen eine tragende Rolle. So betont sozialer Chancengleichheit und wirtschaftlicher Ver-
Schmoller (1881), die fortschreitende Arbeitsteilung teilungsgerechtigkeit. Da alle diese Forderungen mehr
verbinde die Einzelnen zu einer unlöslichen Gemein- oder minder unbestimmt und im Detail umstritten
schaft, deren Produktion den Charakter eines gemein- sind, wurden in den vergangenen Jahrzehnten zahlrei-
samen Unternehmens annehme, womit sich die For- che Theorien der Gerechtigkeit entwickelt mit dem
derung nach einer gerechten Verteilung des Sozial- Ziel, die Forderungen in ihrer Gesamtheit systema-
produkts erhebe. Und dies ist auch die Zielrichtung tisch zu begründen und einer näheren Interpretation
des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit, der sich gegen zuzuführen. Die bekannteste und originellste dieser
Ende des 19. Jahrhunderts einzubürgern begann (Wil- Theorien stammt von John Rawls, dessen Werk A
loughby 1900). Auch wenn dieser Begriff unterschied- Theory of Justice (1971) weit über die akademische
3 Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs: Neuzeit 19

Philosophie hinaus Resonanz gefunden und einen Metaphysik. Zur Solidarismus-Konzeption von Heinrich
enormen, bis heute anwachsenden Strom von Trakta- Pesch SJ. In: Hermann-Josef Große Kracht/Tobias Kar-
ten über Gerechtigkeit ausgelöst hat. Da sich Rawls’ cher/Christian Spieß (Hg.): Das System des Solidarismus.
Zur Auseinandersetzung mit dem Werk von Heinrich Pesch
Theorie – wie auch die meisten anderen, ihr nachfol- SJ. Berlin 2007, 59–89.
genden Traktate – im Wesentlichen auf eine rationale Hengsbach, Friedhelm SJ/Möhring-Hesse, Matthias/Schroe-
Rekonstruktion und Fundierung der vorherrschen- der, Wolfgang: Ein unbekannter Bekannter. Eine Auseinan-
den Vorstellung von Gerechtigkeit beschränkt und dersetzung mit dem Werk von Oswald Nell-Breuning. Köln
damit die Entwicklung des letzten Jahrhunderts 1990.
Hobbes, Thomas: Leviathan. Hg. von Iring Fetscher. Frank-
gleichsam nachholend reflektiert, ist sie allerdings
furt a. M. 1984 (engl. 1651).
kaum geeignet, gegenwärtigen und künftigen sozialen Höffner, Joseph: Der Wettbewerb in der Scholastik. In: Ordo
Bewegungen eine neue Perspektive für den Kampf um 5 (1953), 181–202.
Gerechtigkeit zu eröffnen; dies schon deswegen nicht, Hofmann, Werner: Ideengeschichte der sozialen Bewegung
weil sie – wie alle erwähnten Gerechtigkeitsideen der des 19. und 20. Jahrhunderts. Berlin/New York 51974.
Neuzeit – ausschließlich auf die interne soziale Ord- Hume, David: Eine Untersuchung über die Prinzipien der
Moral. Hg. von Gerhard Streminger. Stuttgart 1984 (engl.
nung einzelner Gesellschaften abstellt und die interna- 1751).
tionale Ordnung außer Betracht lässt. Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten [1797]. In: Ders.:
So unverzichtbar die genannten Forderungen der Werke in zwölf Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel, Bd.
Gerechtigkeit für den politischen Kampf um eine ge- VIII. Frankfurt a. M. 1968.
rechte innere Ordnung der nationalen Gesellschaften Kaulla, Rudolf: Die Lehre vom gerechten Preis in der Scho-
lastik. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft
sind, um deren Errungenschaften zu bewahren und
60/4 (1904), 579–602.
verbleibende Ungerechtigkeiten zu verringern, so we- Kersting, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesell-
nig taugen sie für die Bewältigung der Konflikte und schaftsvertrags. Darmstadt 1994.
Probleme, die sich aus dem seit einiger Zeit rapide Langholm, Odd: The Legacy of Scholasticism in Economic
fortschreitenden Prozess der Globalisierung ergeben. Thought. Cambridge 1998.
Diese Entwicklung wirft eine Vielzahl drängender Ge- Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Hg. von
Walter Euchner. Frankfurt a. M. 1977 (engl. 1690).
rechtigkeitsfragen neuen Zuschnitts auf, nämlich Fra-
Löffler, Winfried: Soziale Gerechtigkeit. Wurzeln und Ge-
gen der globalen und internationalen Gerechtigkeit, genwart eines Konzepts in der Christlichen Soziallehre.
die gegenwärtig in den Wissenschaften, aber auch in In: Peter Koller (Hg.): Gerechtigkeit im politischen Diskurs
der Öffentlichkeit in wachsendem Umfang zur Debat- der Gegenwart. Wien 2001, 65–88.
te stehen. Marshall, Thomas H.: Bürgerrechte und soziale Klassen.
Frankfurt a. M. 1992 (engl. 1981).
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Die politische Philosophie ist für Hobbes im Unter-
schied zu Platon und Aristoteles nicht mehr die Lehre
vom gelungenen Leben, sondern die Ursachenwissen-
schaft von Krieg und Frieden. Der neue Gedanke ist,
den Menschen nicht wie bei Aristoteles als ein soziales
Wesen, das seine Bestimmung in der Gemeinschaft
findet zu denken, sondern als Individuum, das sich
nur auf sich selbst und seine eigene Vernunft berufen
kann und zunächst nur auf seinen eigenen Vorteil
blickt. Die staatliche Zwangsordnung, die die indivi-
duelle Freiheit einschränkt, kann dabei nur unter Re-
kurs darauf legitimiert werden, dass jeder Einzelne sie
der Anarchie vorziehen würde. Hobbes macht diese
Annahme durch das Gedankenexperiment des Natur-
zustandes deutlich. Dazu muss man sich den Staat, der
die Neigung des Menschen, sich alles anzueignen, zu-
nächst in Schach hält, wegdenken.
Nach Hobbes ist die menschliche Natur durch »ers-
tens Konkurrenz, zweitens Unsicherheit, drittens
Ruhmsucht« (Hobbes 1651/1996, 104) gekennzeich-
net. Das, was der Einzelne für gut im Sinne von erstre-
benswert hält, was ihn antreibt, führt nicht natürlich
zu einem gelungenen Zusammenleben. Im Gegenteil:
Zwei Menschen, die dasselbe Ding begehren, werden
zu Feinden, wenn es nur einer haben kann. Daraus
folgt die Vernichtung des Anderen oder dessen Unter-
werfung. So ist der Naturzustand ein permanenter
Kriegszustand, in dem sich jeder gegenüber jedem an-
deren befindet, ein Krieg aller gegen alle, in dem jeder
um sein Leben fürchten muss. Da Hobbes davon aus-
geht, dass sich die Menschen hinsichtlich ihrer kör-
perlichen und geistigen Fähigkeiten nicht so sehr un-
terscheiden, dass nicht jeder – notfalls durch Zusam-
menarbeit mit anderen – in der Lage wäre, jeden an-
deren zu töten, ist der Hobbessche Naturzustand auch
ein Zustand der Gleichheit. Es besteht zwischen allen
Menschen eine permanente Bedrohungssituation.
Dieser Zustand scheint nun, weil jeder, der an seiner
Selbsterhaltung interessiert ist, auch Präventivkriege
gegen andere führen muss, die das gegenseitige Miss-
trauen verstärken, ziemlich ausweglos. Das mensch-
liche Leben in diesem Zustand ist »einsam, armselig,
widerwärtig, vertiert und kurz« (ebd., 105). Da sich al-
4 Grundpositionen der Gerechtigkeitstheorie in Neuzeit und Gegenwart 21

le permanent bekriegen, kann es zu keiner Kultur und John Locke, Jean-Jaques Rousseau
zu keiner materiellen Sicherheit kommen. Es gibt kei- und Immanuel Kant: Eigentum und
nen Rechtsschutz und kein Eigentum. Jeder hat ein Gerechtigkeit
grenzenloses natürliches »Recht auf alles« (ebd., 108).
Wie kann nun eine Einigung, die im langfristigen Bei den auf Hobbes folgenden klassischen vertrags-
Eigeninteresse der Beteiligten liegen muss, erzielt wer- theoretischen und naturrechtlichen Ansätzen spielt
den? Die Überwindung des Naturzustands ist teils von Privateigentum (fast immer als Bodenbesitz verstan-
den Leidenschaften, teils von der Vernunft motiviert. den) eine zentrale Rolle bei der Frage der Legitimität
Die Furcht vor dem Tode einerseits und das Verlangen einer rechtlichen und staatlichen Ordnung im All-
nach Dingen, die das Leben angenehmer machen an- gemeinen und der Legitimität spezifischer rechtlicher
dererseits, bringen die Vernunft des Menschen zu der Normen insbesondere. So besteht ein vertragstheoreti-
Einsicht, dass ein friedlicher Zustand langfristig bes- sches Hauptargument in der Rechtfertigung der Er-
ser wäre als der Naturzustand. Aber erst die Errich- richtung des Staates bzw. des bürgerlichen Zustandes
tung des Staates, d. h. das Einsetzen einer Zwangs- aufgrund der Notwendigkeit, die Rechte der (Land-)
gewalt, führt zur Überwindung des Naturzustandes. Eigentümer gegen die Eingriffe anderer zu schützen,
Der Staat kann durch die Androhung einer Strafe die denen sie im Naturzustand ausgesetzt sind. Der Staat
Erfüllung von Verträgen garantieren. Ferner sorgt er diene somit der Erfüllung der traditionellen Maxime
für die Sicherung des Besitzes, um derentwillen man suum unicuique tribue, d. h. »gebe jedem das Seine«. Zu
auf sein ›Recht auf alles‹ verzichtet. den Autoren, die die Errichtung des Staates mit diesem
Der Staatsvertrag ist bei Hobbes ein Unterwerfungs- Argument gerechtfertigt haben, zählt auch John Locke,
vertrag: Jeder schließt mit jedem einen Vertrag darüber der sowohl eine naturrechtliche Position (bezüglich
ab, auf sein ›Recht auf alles‹, das ihm im Naturzustand des Rechts auf Eigentum) als auch einen vertragstheo-
zukommt, zu verzichten und jeder überträgt sein retischen Ansatz (bezüglich der Entstehung des Staats)
›Recht auf alles‹ auf den Souverän. Das ist die Lehre vertritt. Das Recht auf Eigentum besteht demnach
vom Souverän als autorisiertem Stellvertreter (Hobbes noch vor seiner Positivierung durch den Staat, bedarf
1651/1996, 134–139). Dieser ist nicht Vertragspartner, jedoch seinerseits einer Rechtfertigung (Locke 1689/
sondern der Gesetzgeber. Er ist der einzige, der sein 1977). In dieser Hinsicht geht Locke einen Schritt wei-
›Recht auf alles‹ behält und letztinstanzlich alle Streit- ter als seine Vorgänger und hinterfragt die Legitimität
fragen klären soll, die zwischen den Untertanen auftre- von Eigentum überhaupt. Dabei entwickelt er in seiner
ten können. Gewaltenteilung ist in Hobbes’ Staatstheo- Zweiten Abhandlung über die Regierung eine originelle
rie nicht vorgesehen, sondern das Volk wird zu einer Theorie der Entstehung des Bodenbesitzes, die gleich-
Person durch die Einheit der Person, die es vertritt zeitig das entsprechende Recht begründen soll (ebd.).
(ebd., 144 f.). Stabilität wird durch die Letztinstanzlich- Zunächst ist festzustellen, dass Locke Eigentum wei-
keit der souveränen Entscheidungen erreicht. Und die- ter auffasst als andere Autoren. So gehören zum Privat-
se Stabilität, die der Staatsvertrag garantiert, ist auch besitz eines Individuums nicht nur Bodenparzellen
der Hauptgrund, ihn dem Naturzustand vorzuziehen. und materielle Sachen, sondern auch (und ursprüng-
Der Vertrag ist für Hobbes der »Ursprung der Ge- licher) sein Leben und sein Leib. Um sich am Leben zu
rechtigkeit« (ebd., 120). Da aber ohne Zwangsgewalt erhalten, bearbeitet [der Mensch] durch Einsatz seiner
kein Vertrag gültig ist, gibt es Gerechtigkeit für ihn nur körperlichen Kraft die Ressourcen, die ihm die Natur
im Staat. Ungerechtigkeit wird als »die Nichterfüllung anbietet – allen voran den Boden. Dadurch gewinnt er
eines Vertrages« (ebd.) definiert und setzt damit eben- das Recht auf die ausschließliche Verfügung über die
so wie die Gerechtigkeit den Staat voraus. Hobbes’ Ge- Früchte seiner Tätigkeit, einschließlich über das Stück
rechtigkeitsauffassung ist entsprechend rechtspositi- Land, das er bewirtschaftet hat. Allerdings erstreckt
vistisch und unterscheidet sich damit grundlegend von sich dieses Recht nur auf jene natürlichen Produkte,
Auffassungen, die natürliche Rechte als vertragsnor- die für das Überleben des Individuums und seiner Fa-
mierend und vertragstranszendent begriffen haben milie notwendig sind. Sollte die Ernte größer als sein
(zur Diskussion der umstrittenen Frage, ob Hobbes ein Bedarf sein, hat er kein Recht auf diesen Überschuss,
Rechtspositivist oder doch ein Naturrechtler ist, vgl. und sollte ihn denjenigen zur Verfügung stellen, die
Kap. 26 des Leviathan sowie Höffe 1996). Gerechtigkeit nicht genug haben. Diese Klausel wird allerdings von
meint bei Hobbes darüber hinaus nur formal das Ein- Locke selbst sofort abgeschwächt, wenn nicht komplett
halten von Verträgen, deren Inhalt überprüft sie nicht. umgangen, wenn er erklärt, dass es doch erlaubt sei,
22 I Der Begriff der Gerechtigkeit

den Überschuss zu behalten, wenn es sich um lager- die Früchte allen gehören und die Erde niemandem‹«
fähige Produkte handelt (z. B. um Nüsse und nicht um (Rousseau 1755/2008, 173).
Salat). Da außerdem die Menschen die Möglichkeit ha-
ben, die im Überschuss produzierten Güter mit den Nach Rousseau resultiert Privateigentum von Land al-
von anderen produzierten Gütern zu tauschen, haben so von vornherein aus einem Betrug und stellt eine
sie das Recht, Güter zu produzieren, die nicht zum un- Verletzung des ursprünglichen Rechts aller auf die
mittelbaren Verzehr dienen. Somit entsteht ein rudi- Früchte der Erde dar. Es ist somit höchst ungerecht.
mentärer Markt, der die Einführung eines allgemeinen Nichtsdestotrotz rekurriert Rousseau in seinem Gesell-
Tauschmittels erfordert. Die produzierten Güter wer- schaftsvertrag (1762/2010) auf das übliche vertrags-
den nicht länger für andere Güter, sondern für das theoretische Argument, nach dem sich die Individuen
Tauschmittel getauscht. Dieses besteht aus einem Gut, in eine bürgerliche Gesellschaft vereinigen und einer
das nicht verderblich ist – normalerweise aus Metall – Rechtsordnung unterwerfen, um ihr Leben und Eigen-
und kann uneingeschränkt akkumuliert werden. tum gegen die fremde Gewalt zu sichern. Möge der Ur-
Schrittweise wird damit das Recht auf Geldakku- sprung des Privateigentums ungerecht sein, so handelt
mulation gerechtfertigt, das an sich aus dem Recht auf es sich doch um eine aus der modernen Gesellschaft
jene Früchte der eigenen körperlichen Arbeit, die zum nicht wegzudenkende Institution. Ihr Schutz könne
eigenen Überleben dienen, nicht unmittelbar folgt. somit zu einem Kriterium werden, nicht bloß um die
Außerdem wird das Recht auf die Erträge gerechtfer- Effizienz einer Rechts- und Staatsordnung zu messen,
tigt, die das Geld durch Investition und Ausleihe in sondern auch um ihre Legitimität zu überprüfen.
der Form von Zinsen und Renditen aufbringt. Was zu- Das andere zentrale Kriterium, das nach Rousseau
nächst wie eine Rechtfertigungsstrategie aussieht, die für die Legitimität einer Rechts- und Staatsordnung
zur Kritik der herrschenden Eigentumsverhältnisse entscheidend ist, ist die direkte Teilnahme der Staats-
hätte führen können, resultiert somit in das Gegenteil bürger am gesetzgebenden Prozess. Damit eine recht-
einer solchen Kritik, also in die Legitimierung dieser liche Ordnung wahrlich legitim wird, sollen die Indi-
Verhältnisse und der Mechanismen, die zu ihnen ge- viduen, die ihren Gesetzen gehorchen, gleichzeitig die
führt haben. Der Produktion von Gütern und dem Urheber derselben Gesetze sein: Jeder Staatsbürger
Markt wohnt somit eine Gerechtigkeit inne, nach der vereinigt in sich die beiden Rollen des Untertanen und
jeder durch die eigene Arbeit bzw. durch die Mobili- des Souveräns. Gerechtigkeit entsteht entsprechend in
sierung der Erträge dieser Arbeit (etwa durch Investi- einer Rechts- und Staatsordnung nur dann, wenn die
tion des damit verdienten Geldes) das bekommt, was citoyens (Bürger) für deren Normen verantwortlich
ihm zusteht. Dem Staat obliegt nun, zu sichern, dass sind, denn nur somit entscheiden sie autonom über
nichts das Funktionieren dieser Mechanismen zur ihr Leben. Rousseau verwirft jegliche Art politischer
Schaffung und Verteilung von Reichtum stört. Repräsentation als eine Form von Sklaverei, und somit
Der prominenteste Autor, der sich historisch zum eines ungerechten, illegitimen Regimes.
Teil gegen eine solche Rechtfertigung des wirtschaftli- Ähnlich wie Locke und Rousseau scheint Immanuel
chen Status quo ausspricht ist Jean-Jacques Rousseau. Kant zu argumentieren, wenn er in der Rechtslehre
In seiner Rede über den Ursprung und die Grundlage (1797) die klassische Formel suum cuique tribue als
der Ungleichheit unter den Menschen rekonstruiert der »Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine
Genfer Philosoph die Entstehung des Privateigentums gegen jeden anderen gesichert sein kann« übersetzt
mit den sehr kritischen Worten: bzw. neu interpretiert (AA VI, 237). Auch Kant vertei-
digt somit die Idee, der bürgerliche Zustand solle zur
»Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es Sicherung des Privateigentums dienen (obwohl er
sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute schließlich die Entstehung des Staates durch ein Postu-
fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war lat begründet, das gebietet, die eigene äußere Freiheit
der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie zu schützen – und nicht durch Hinweis auf das Eigen-
viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend interesse der besitzenden Individuen). Dies erklärt
und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Men- auch, warum er, wenn er die drei traditionellen Arten
schengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen der iustitia (tutatrix, commutativa und distributiva –
oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmen- respektiv: schützende, ›wechselseitig erwerbende‹ und
schen zugerufen hätte: ›Hütet euch, auf diesen Betrü- verteilende Gerechtigkeit) einführt, die letzten zwei
ger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass auf die Frage von Eigentum bezieht (die erste bezieht
4 Grundpositionen der Gerechtigkeitstheorie in Neuzeit und Gegenwart 23

sich auf den Schutz der Rechtspersönlichkeit des ein- mäßigte Knappheit geben, zweitens muss ein Interes-
zelnen Subjekts). Dabei fällt auf, dass nach Kant die sengegensatz bestehen und drittens muss ein relatives
iustitia distributiva eigentlich keine Verteilung gebie- Machtgleichgewicht herrschen. Die erste Annahme ist
tet, sondern im Gegenteil jedem das sichern soll, was wichtig, weil sich unter der Bedingung eines absoluten
er ohnehin schon besitzt. Gerecht ist somit die Rechts- Überflusses jeder nehmen kann, was er begehrt und es
ordnung, die keine direkte Verteilung vornimmt, auch entsprechend kein Gerechtigkeitsproblem gibt. Unter
nicht um den arbiträren Charakter der ursprünglichen den Bedingungen absoluter Knappheit hingegen
Aneignung des Bodens durch die Menschen zu korri- kämpft jeder um sein Überleben. Auch dann ist für
gieren. Vielmehr soll sie den provisorischen Status der Gerechtigkeitsfragen kein Platz. Die Bedingung des
im Naturzustand herrschenden (Privat-)Rechtsver- Interessengegensatzes ist eine eigene Bedingung, weil
hältnisse verändern, damit diese einen peremptori- auch dann vollkommene Interessenharmonie beste-
schen (sprich: endgültigen) Charakter annehmen. Ge- hen kann, wenn die Güter gemäßigt knapp sind. Wenn
rechtigkeit ist also rein rechtlich-formal als die defini- es beispielsweise auf einer Feier nicht genug Bier und
tive, durch die Staatsmacht sanktionierte Sicherung Wein für alle gibt, dann stellt das kein Gerechtigkeits-
des juridischen Charakters von zwischenmensch- problem dar, wenn einige Gäste nur Wein und andere
lichen Verhältnissen zu verstehen, die an sich zwar le- Gäste nur Bier trinken.
gitime rechtliche Beziehungen bilden, jedoch nur pro- Die dritte Bedingung des relativen Machtgleichge-
visorische Natur besitzen. wichts war für Hume wichtig, weil er davon ausging,
dass sich bei einer absoluten Übermacht die Mächti-
gen einfach nehmen, was sie begehren. Sie haben ja
David Hume: Die Umstände absolut nichts zu verlieren. Allerdings geht man ge-
der Gerechtigkeit genwärtig davon aus, dass es auch Gerechtigkeits-
pflichten gegenüber Tieren und zukünftigen Genera-
David Hume hat keine politische Philosophie betrie- tionen geben kann, obwohl diese beiden Gruppen den
ben und auch keine Gerechtigkeitstheorie im engeren derzeit lebenden Menschen gegenüber ganz ohn-
Sinne entwickelt. Vielmehr hat er in seinen Über- mächtig sind. Bei Hume scheinen Gerechtigkeits-
legungen zur Moralphilosophie auch vereinzelt zu pflichten aufgrund seiner emotivistischen Ausrich-
Fragen der Gerechtigkeit Stellung genommen (Hume tung noch auf einem gewissen Kalkül zu beruhen. Ge-
1738/1989). Seine Moralphilosophie beschäftigt sich genwärtig geht man hingegen davon aus, dass sie auf
vor allem mit metaethischen Fragen, besonders der genuin moralisch motivierten Unparteilichkeitsüber-
Bedeutung von Emotionen für moralische Urteile. legungen beruhen (Ladwig 2011).
Auch für den Hinweis auf die Gefahr eines falschen
Schließens vom Sein auf das Sollen, ist Hume berühmt
(Mackie 1980). Auf der normativen Ebene verbinden John Stuart Mill: Utilitarismus und
seine moralphilosophischen Überlegungen tugende- das Nicht-Schädigungs-Prinzip
thische und proto-utilitaristische Züge. Das zeigt sich
etwa daran, wie er das Koordinationsproblem mehre- Bei Utilitaristen wie Jeremy Bentham und John Stuart
rer Bauern löst, für die es ratsam ist, sich wechselseitig Mill ist die Gerechtigkeitstheorie vollständig in ihre
bei der Ernte zu helfen. Warum sollten diejenigen Moraltheorie eingebettet. Denn das Moralprinzip des
Bauern, deren Ernte schon eingeholt ist, den anderen Utilitarismus ist zugleich auch dessen zentrales Ge-
noch helfen? Ein Teil der Antwort besteht darin, dass rechtigkeitsprinzip. In der Formulierung von Bent-
sie auch im Folgejahr die Hilfe der anderen Bauern be- ham lautet es, dass man das größtmögliche Glück der
anspruchen wollen. Ein anderer Teil der Antwort be- größtmöglichen Zahl befördern soll (Bentham
ruht jedoch darauf, dass die Bauern ein Verhältnis des 1789/1970). Der zweite Teil dieses Prinzips besagt im
Vertrauens und der Solidarität zueinander aufgebaut Grunde nur, dass alle Menschen zu berücksichtigen
haben (Hume 1738/1989, Buch III, Teil II, Sektion V). sind. Der erste Teil stellt offensichtlich auf eine aggre-
In der Gerechtigkeitstheorie sind Humes Über- gierte Nutzenmaximierung ab (Fehige 1995). Davon
legungen zu den Umständen der Gerechtigkeit von gehen noch heute beispielsweise die Wirtschaftswis-
bleibender Bedeutung. Er möchte bestimmen, wann senschaften aus, wenn sie eine höhere Wirtschaftsleis-
sich Fragen der Gerechtigkeit überhaupt stellen. Dazu tung und ein höheres Bruttoinlandsprodukt als gut
macht er drei Annahmen. Erstens muss es eine ge- darstellen, unabhängig davon, wie die ökonomischen
24 I Der Begriff der Gerechtigkeit

Güter verteilt sind. Allerdings weichen sie damit auch Gesellschaft seien und der Aufrechterhaltung der je-
schon in einem wichtigen Punkt von Bentham ab. weiligen Produktionsverhältnisse dienen, um die
Denn für Bentham ist Glück subjektiv und es besitzt Produktionsbedingungen optimal ausnutzen zu kön-
einen Grenznutzen. Wenn eine Person schon sehr vie- nen (Marx 1867/2014; 1858/2015; Engels 1845/1990).
le Güter hat, dann produziert ein zusätzliches Gut die- Gerechtigkeitstheorien dienen dieser Kritik zufolge
ser Art bei dieser Person üblicherweise weniger Glück vor allem der herrschenden Klasse. Insofern besteht
als dasselbe Gut es bei einer anderen Person tut, die die Aufgabe des Marxismus nicht in der Aufstellung
nur wenig von diesen Gütern besitzt. einer eigenen Gerechtigkeitstheorie, sondern in der
Mill weicht in einem wesentlichen Punkt von Bent- Kritik der herrschenden Gerechtigkeitsvorstellun-
ham ab, indem er bei Nutzen nicht nur quantitative, gen. Hier nimmt auch die Kritische Theorie in ihrer
sondern auch qualitative Unterschiede zulässt (Mill Kritik bestehender Gerechtigkeitsideen ihren Aus-
1861/1976). Es gibt höhere und niedrigere Lüste und gang und wendet den marxistischen Gedanken auf
die Qualität der höheren Lüste lässt sich auch nicht gegenwärtige Gesellschaftsstrukturen an (Geuss
durch größere Mengen Güter, die zu niedrigerer Lust 1983).
führen, aufwiegen. Das wird in seinem Slogan: ›Lieber Tatsächlich finden sich bei Marx und Engels nur
ein unglücklicher Sokrates, als ein glückliches Schwein‹ wenige Äußerungen dazu, wie eine gerechte kom-
(ebd., 18) deutlich. Aufgrund dieses so genannten munistische Gesellschaft beschaffen wäre (Lohmann
Qualitativen Hedonismus lässt sich Gerechtigkeit bei 1991). Allerdings ist ihre Kritik am Kapitalismus des
Mill auch nicht über einfache Kosten-Nutzen-Kalkula- 19. Jahrhunderts offensichtlich stark normativ auf-
tionen bestimmen. Da es nicht nur eine Qualität von geladen. Das lässt sich durchaus als eine Art negative
Lust gibt, gibt es auch nicht nur eine Qualität von Gü- Gerechtigkeitstheorie verstehen, durch die sich be-
tern. Es bedarf daher abstrakter Gerechtigkeitsprinzi- sonders gravierende Ungerechtigkeiten erfassen las-
pien, die in der Lage sind, die unterschiedliche Qualität sen (Wood 2004). Im Marxismus sind diese Unge-
von Gütern in der gerechten Verteilung zu berücksich- rechtigkeiten mit den Begriffen der ›Ausbeutung‹ und
tigen. Ein Freiheitsprinzip kann beispielsweise be- ›Entfremdung‹ belegt. Während Marx und Engels
stimmte Güter der persönlichen Lebensführung Mill noch davon ausgegangen waren, Ausbeutung rein de-
zufolge besser schützen als ein Gleichheitsprinzip und skriptiv als Vorenthaltung des Mehrwerts der eigenen
genießt daher politisch Vorrang. Arbeitsleistung beschreiben zu können, ist inzwi-
Dieser Qualitative Hedonismus ist es daher auch, schen auch unter marxistisch orientierten Autoren die
der es Mill erlaubt, eine liberale Gerechtigkeitstheorie Meinung verbreitet, dass es sich um eine normative
zu entwickeln (Mill 1861/1976; Riley 2003). Mill glaubt, Idee handelt (Wolff 1999; Wood 2004). Demnach wird
dass das wichtigste Gut für die Menschen ihre persönli- den Arbeitern der faire Anteil ihrer Arbeitsleistung
che Sicherheit und Grundsicherung ist. Das zweitwich- vorenthalten.
tigste Gut ist ihre Freiheit. Sozioökonomische Gleich- Der Begriff der Entfremdung hat, entgegen ihrem
heit ist erst das drittwichtigste Gut und daher dürfen Selbstverständnis, bereits bei Marx und Engels einen
individuelle Sicherheit und Freiheit dieser Gleichheit klar normativen Charakter (Honneth 2013). Arbeiter
nicht geopfert werden. Das bringt Mill dazu, vor allem werden demnach von dem Produkt ihrer Arbeit, von
ein negatives Gerechtigkeitsprinzip anzunehmen. Es ihrer eigenen Tätigkeit, ihren Mitmenschen und
lautet in seiner Kurzfassung: ›Do no harm‹, also ›Schade schließlich sogar ihrer eigenen Menschlichkeit ent-
niemandem‹ (vgl. dazu Gray 1996). fremdet. Hier zeigt sich, dass dem Marxismus eine
spezifische Anthropologie und vielleicht sogar eine
relativ starke Vorstellung vom gelingenden Leben zu-
Karl Marx und Friedrich Engels: grunde liegt, die sich unter kapitalistischen Arbeits-
Ausbeutung und Entfremdung bedingungen nicht realisieren lässt (Jaeggi 2005). Ka-
pitalismuskritik hat insofern eine gerechtigkeitstheo-
Der Marxismus beruht seinem Selbstverständnis retische Ebene. Denn ungerecht am Kapitalismus ist,
nach nicht auf einer Gerechtigkeitstheorie, ganz im dass er den meisten Menschen die Möglichkeit nimmt,
Gegensatz zu anderen Formen des Sozialismus im ein Leben zu führen, dass nicht von Entfremdungen
19. Jahrhundert. Marx und Engels hatten gegen Ge- geprägt ist.
rechtigkeitsüberlegungen kritisch eingewendet, dass
diese immer Teil des ideologischen Überbaus einer
4 Grundpositionen der Gerechtigkeitstheorie in Neuzeit und Gegenwart 25

John Rawls: Gerechtigkeit und die Grund- »Dinge, von denen man annimmt, dass sie ein vernünf-
struktur der Gesellschaft tiger Mensch haben möchte, was auch immer er sonst
noch haben möchte […]. Wer mehr davon hat, kann
John Rawls’ 1971 erschienene Theorie der Gerechtig- sich allgemein mehr Erfolg bei der Ausführung seiner
keit will zunächst eine Alternative zum Utilitarismus Absichten versprechen, welcher Art sie auch immer
etablieren, die unseren grundlegenden Gerechtig- sein mögen. Die wichtigsten Arten gesellschaftlicher
keitsintuitionen besser entspricht. Denn wir sprechen Grundgüter sind Rechte, Freiheiten und Chancen, so-
laut Rawls »[j]edem Mitglied der Gesellschaft [...] eine wie Einkommen und Vermögen« (ebd., 112 f.).
auf der Gerechtigkeit – oder wie manche sagen, dem
Naturrecht – beruhende Unverletzlichkeit zu, die Diese Grundgüter sollen durch die Gerechtigkeits-
auch im Namen des Wohles aller anderen nicht auf- prinzipien gesichert werden.
gehoben werden kann« (Rawls 1971/1975, 46). Rawls’ erstes Gerechtigkeitsprinzip lautet: »Jeder-
Während das Nutzenprinzip des Utilitarismus als mann soll gleiches Recht auf das umfangreichste Sys-
alleiniger Maßstab für die Beurteilung aller Fragen, tem gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem
sowohl öffentlicher, institutioneller als auch indivi- gleichen System für alle anderen verträglich ist«
dueller moralischer Entscheidungen gilt, beschränkt (ebd., 81). Grundrechte auf Leben und Eigentum,
Rawls die politische Philosophie im Unterschied zur die Freiheitsrechte auch auf Meinungs- und Gewis-
Moralphilosophie auf Fragen, die die »Grundstruk- sensfreiheit sowie das Wahlrecht sollen allen Bür-
tur der Gesellschaft« betreffen (ebd., 19). Hier geht gerinnen und Bürgern unabhängig von Abstam-
es um die institutionelle Verteilung von Rechten und mung, Klasse, Geschlecht und sozialer Stellung glei-
Pflichten und Aussichten auf Einkommen und Ver- chermaßen zukommen. Diese gleichen Rechte haben
mögen. Rawls geht davon aus, dass es Gerechtig- vor allen umverteilenden Maßnahmen Priorität.
keitsprinzipien gibt, die als Maßstab zur Bewertung Denn: »Es ist mit der Gerechtigkeit unvereinbar, dass
bestehender Institutionen gelten können. Diese müs- der Freiheitsverlust einiger durch ein größeres Wohl
sen »abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie aller gutgemacht werden könnte« (ebd., 46). Gleich-
ungerecht sind« (ebd.). Diese Gerechtigkeitsprinzi- wohl ist Rawls davon überzeugt, dass gleiche Grund-
pien, anhand derer bestehende Institutionen be- rechte noch nicht hinreichen, um eine gerechte
wertet werden können, lassen sich innerhalb eines Grundstruktur in einer Gesellschaft zu garantieren.
Gedankenexperiments, das Rawls den Urzustand Ferner muss Chancengleichheit in dem anspruchs-
nennt, legitimieren. Rawls stellt sich vor, dass wir vollen Sinn garantiert sein, dass diejenigen, die die-
Gerechtigkeitsprinzipien gegenüber einander da- selben Begabungen haben, auch dieselben Chancen
durch rechtfertigen können, dass wir uns auf einen haben, sie nutzen zu können. Ferner sollen Ämter
Fairnessgrundsatz berufen: unter fairen Bedingun- und Positionen allen offenstehen. Durch diesen ers-
gen hättest du diesen Prinzipien ebenfalls zu- ten Teil des zweiten Gerechtigkeitsprinzips soll ga-
gestimmt. Der Urzustand soll faire Ausgangsbedin- rantiert werden, dass die soziale Herkunft nicht da-
gungen für die Wahl von Gerechtigkeitsprinzipien rüber entscheidet, welche Ausbildungschancen Indi-
garantieren. Die wichtigste Bedingung ist der viduen de facto haben und durch den Grundsatz,
›Schleier des Nichtwissens‹. Dieser garantiert, dass dass Ämter und Positionen allen offenstehen müssen,
keiner seine individuelle Stellung in der Gesellschaft, sollen Machtakkumulationen bei bestimmten Grup-
seine Abstammung, Klasse, Hautfarbe oder sein Ge- pen verhindert werden.
schlecht zu seinem Vorteil ausnutzen kann, da alle Erst wenn dieser anspruchsvolle Gleichheits-
diese Tatsachen der Kenntnis der Parteien entzogen grundsatz garantiert ist, kommen Unterschiede von
werden. So ist jeder gezwungen, sich in einen unpar- Einkommen und Vermögen in den Blick. Hier geht
teilichen Standpunkt hinein zu versetzen (vgl. ebd., Rawls wieder von der Voraussetzung aus, dass alle
27–34). Gerade dadurch wird wiederum der gleiche Menschen in moralischer Hinsicht gleich sind. Die
moralische Wert aller Beteiligten zum Ausdruck ge- Idee des zweiten Teils des zweiten Gerechtigkeitsprin-
bracht (vgl. ebd., 283–290). zips (Differenzprinzip oder Unterschiedsprinzip) lau-
Welche Gerechtigkeitsprinzipien würden nun un- tet, dass Unterschiede im Einkommen und Vermögen
ter unparteilichen Bedingungen gewählt? Rawls geht nur dadurch gerechtfertigt werden können, dass sie
davon aus, dass alle an der Wahl beteiligten Personen den Schlechtestgestellten in einer Gesellschaft die
nach Grundgütern streben. Darunter fasst er bestmöglichen Aussichten bringen. Rawls hat die
26 I Der Begriff der Gerechtigkeit

Idee, dass die natürlichen Anlagen oder Begabungen genährt zu sein (Sen 1999/2002). Mit Funktionswei-
ihrem Träger nicht als Verdienst zugerechnet werden sen sind hier alle Zustände und Tätigkeiten gemeint,
können. Wer unbegabt ist, trägt daran keine Schuld, die ein Mensch erreichen kann. Wenn zwei Men-
ebenso wenig hat sich der Talentierte seine Talente schen die gleiche Funktionsweise erreichen sollen,
verdient. Beides wurde einem in die Wiege gelegt. Da dann kann das eine sehr unterschiedliche Güteraus-
man also seine natürlichen Fähigkeiten nicht verdient stattung erfordern, die noch viel stärker voneinander
hat, hat man, so Rawls, auch keinen exklusiven An- abweicht als bei zwei Menschen mit unterschiedli-
spruch auf die aus ihnen resultierenden Vorteile. Das chem Nährstoffbedarf. Wenn beispielsweise ein blin-
Ziel der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie ist es, »den der Mensch die Funktionsweise der Mobilität errei-
Einfluss gesellschaftlicher und natürlicher Zufällig- chen soll, dann reicht es nicht, wie bei den meisten
keiten auf die Verteilung zu mildern« (ebd, 93). Die anderen Menschen, ihm ein Auto hinzustellen. Viel-
gerechte Verteilung, die Rawls hier im Blick hat, soll, mehr bedarf es ganz anderer Güter, die ihn dazu be-
plakativ gesagt, die weniger Fähigen für die unver- fähigen mobil zu sein.
dienten Nachteile, die ihnen dadurch entstehen, dass Doch warum fokussieren sich Nussbaum und Sen
sie schlechtere Ausgangsbedingungen haben, ent- in ihrem Ansatz auf Fähigkeiten und nicht auf er-
schädigen. reichte Funktionsweisen wie die tatsächliche Wohl-
genährtheit oder Mobilität? Sie wollen damit dem
Paternalismusverdacht entgehen, dass sie bestim-
Martha Nussbaum und Amartya Sen: men, welche Funktionsweisen die Menschen zu er-
Der Fähigkeitenansatz reichen haben, um ein gelingendes Leben führen zu
können (Nussbaum 2012). Vielmehr müsste ihnen
Anfangs nicht unbedingt als grundlegende Kritik der daher ein bestimmtes Set von Fähigkeiten zur Ver-
Gerechtigkeitstheorie, sondern als Ergänzung und fügung gestellt werden, dass es ihnen erlaubt, selbst
Verschiebung in einer Detailfrage haben Martha zu entscheiden, welche Funktionsweisen sie errei-
Nussbaum und Amartya Sen den so genannten Fä- chen und welche Vorstellung vom gelingenden Le-
higkeitenansatz entwickelt (Sen 1985; Nussbaum/Sen ben sie realisieren wollen. In dieser Grundüber-
1993). Sie kritisieren an der Gerechtigkeitstheorie legung sind sich Nussbaum und Sen einig, in De-
von Rawls, dass er sich in Fragen der Verteilungs- tailfragen dazu, wie sich Fähigkeiten und Funk-
gerechtigkeit auf Grundgüter konzentriert. Zwar geht tionsweisen zueinander verhalten, sind sie jedoch
er damit über die Wohlfahrtsökonomie hinaus, die unterschiedlicher Ansicht. Außerdem schlägt Nuss-
ausschließlich ökonomische Güter einbezieht. Zu baum eine feste Liste von Fähigkeiten vor, die für al-
den Grundgütern von Rawls gehört viel mehr als nur le Menschen wichtig sein sollen. Sen lehnt solch eine
Einkommen und Vermögen, z. B. auch die Grund- Liste ab und argumentiert, dass kontextsensitiv ent-
freiheiten, Macht und Autorität, die sozialen Grund- schieden werden müsste, welche Fähigkeiten zentral
lagen der Selbstachtung und die Möglichkeit, seine sind (Sen 2004).
eigene Vorstellung vom guten Leben zu verfolgen. In den letzten Jahren haben Nussbaum und Sen
Dennoch halten Nussbaum und Sen den Grund- von ihrem Fähigkeitenansatz ausgehend auf unter-
güteransatz von Rawls für defizitär. Was gerecht zu schiedliche Weise eine zunehmend grundlegende
verteilen ist, muss ihrer Meinung nach in einer ande- Kritik an der Gerechtigkeitstheorie von Rawls geübt
ren ›Währung‹ als Güter gemessen werden, nämlich (Nussbaum 2006; Sen 2010). Nussbaum argumen-
in Form von Fähigkeiten. tiert, dass Rawls nicht in der Lage ist, Tiere, behin-
Der zentrale Grund dafür lautet, dass verschiede- derte Menschen und Menschen in anderen Ländern
ne Menschen mit bestimmten Gütern unterschied- zu berücksichtigen. Deswegen müsse man dem Fä-
lich viel anfangen können. Sen nennt das Beispiel ei- higkeitenansatz doch eine andere begründungstheo-
ner schwangeren Frau, die im Durchschnitt mehr retische Grundlage geben, die sie im Begriff der Wür-
Nährstoffe braucht als eine Frau, die nicht schwanger de sucht. Sen hingegen hält die Gerechtigkeitstheorie
ist. Es wäre daher ungerecht, beiden Frauen gleich- von Rawls für viel zu idealistisch, weil sie nur einen
viel von dem Grundgut Nahrungsmittel zu geben. idealen Gesellschaftszustand beschreibt. Stattdessen
Vielmehr müsste man beiden Frauen jeweils so viel müsse man überlegen, wie man von dem gegenwärti-
Nahrungsmittel geben, dass sie die gleiche Funk- gen sehr ungerechten Zustand schrittweise zu einem
tionsweise erreichen, nämlich hinreichend wohl- etwas gerechteren Zustand komme.
4 Grundpositionen der Gerechtigkeitstheorie in Neuzeit und Gegenwart 27

Feminismus und Gerechtigkeit genüber im scheinbar privaten Raum der Familie ge-
schehen. Allerdings soll dabei die Unterscheidung
Eine die verschiedenen Strömungen des philosophi- auch nicht zugunsten einer allgegenwärtigen Öffent-
schen Theoretisierens von Gerechtigkeit umspannen- lichkeit und damit eines allmächtigen Staates auf-
de Denkrichtung ist der Feminismus. Der gesell- gehoben werden (Rössler 2001). Drittens stellt sich die
schaftliche Kampf um die Gleichberechtigung der Ge- Frage, wann Entscheidungen von Frauen wirklich als
schlechter hat sich in der Moderne stets auch als ein autonom gelten können. Das betrifft beispielsweise
Anliegen der Gerechtigkeit dargestellt. Dieser soziale die Entscheidung für Prostitution oder die Teilnahme
Kampf lässt sich grob in drei Phasen einteilen. In einer an pornographischen Filmen unter schwierigen öko-
ersten Phase ging es solchen frühen Feministinnen nomischen Bedingungen (Dworkin/MacKinnon
wie Mary Wollstonecraft und Olympe de Gouge da- 1997). Viertens stellt sich die Frage, ob zwischen dem
rum, die grundsätzliche Gleichheit von Frauen im biologischen Geschlecht (sex) und dem sozialen Ge-
Vergleich zu Männern zu zeigen. Frauen sind genauso schlecht (gender) unterschieden werden sollte (Gil-
mit Vernunft begabt wie Männer, so mussten sie gegen ligan 1982/1988; Butler 1990/2003). Davon hängt ab,
vorherrschende Vorurteile argumentieren. Ihr Ziel auf welche Weise die Rolle von Frauen im Berufsleben
war es dabei vor allem, Frauen zu mehr persönlicher zu stärken ist: eher, indem spezifisch weibliche Eigen-
Freiheit zu verhelfen. In einer zweiten Phase haben schaften gezielt gefördert, oder indem die Behauptung
Feministinnen wie Simone de Beauvoir (1949/2005) dieser spezifisch weiblichen Eigenschaften als ideo-
für eine nicht nur formale, sondern wirkliche Freiheit logisch kritisiert werden.
von Frauen gestritten, beispielsweise in der politi-
schen Beteiligung. Gegenwärtig gibt es eine Diskussi-
on dazu, ob wir Zeitgenossen einer dritten Phase des Luck Egalitarianism
Feminismus sind, in der es darum geht, die wirkliche
Gleichheit von Frauen durchzusetzen (Jagger/Young Eine andere gegenwärtig prominente Gerechtigkeits-
2000). Das betrifft beispielsweise politische Ämter, be- theorie, die ihren Ausgang in den Überlegungen von
rufliche Karrieren und die gleiche Teilung reprodukti- Rawls nimmt, ist der so genannte Luck Egalitarianism
ver Arbeit zwischen Mann und Frau. Hier gibt es un- (Tan 2012). Dabei spielt die Doppelbedeutung von
terschiedliche Meinungen, weil einige Feministinnen ›Luck‹ als ›Glück‹ und ›Zufall‹ eine wichtige Rolle,
dafür argumentieren, dass diese Gleichheit sich im weswegen die Übersetzung als Glücksegalitarismus
Laufe der Zeit auf der Grundlage der bereits erstritte- nicht geeignet ist. Luck Egalitaristen beziehen sich auf
nen Freiheit von alleine einstellen wird. Andere Fe- die Überlegung von Rawls, dass Vorteile in Talenten
ministinnen hingegen argumentieren, dass es dafür und aus sozialen Kontexten ungerecht sind, weil sie
aufgrund existierender Machtverhältnisse zugunsten nicht auf eigene Leistung zurückgehen. Rawls zieht
von Männern einer Politik der positiven Diskriminie- daraus den Schluss, dass die Idee des Verdienstes für
rung bedarf, die existierende Machtstrukturen aus- Fragen der Verteilungsgerechtigkeit keine besondere
gleicht und aufbricht (Rössler 1993; Kerner 2009). Rolle spielen sollte. Luck Egalitaristen hingegen argu-
Hier zeigt sich, dass es innerhalb der feministischen mentieren, dass Talente und soziale Vorteile ausgegli-
Bewegung unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellun- chen werden müssten. Wenn das geschehen ist, seien
gen von eher liberal bis hin zu eher marxistisch oder spätere sozioökonomische Unterschiede auch gerecht,
poststrukturalistisch gibt. weil sie auf eigene Entscheidungen und Leistungen
Es sind vor diesem Hintergrund vor allem vier Ge- zurückgehen (Knight/Stemplowska 2011).
rechtigkeitsfragen, die sich aus feministischer Per- Luck Egalitaristen unterscheiden dazu zwischen
spektive stellen. Erstens wäre zu klären, ob die soziale »brute luck« (bloßem Zufall) und »option luck« (auf
und politische Freiheit von Frauen tatsächlich eine Wahlentscheidungen zurückgehender Zufall; vgl.
verwirklichte gleiche Freiheit darstellt oder nur als ei- Dworkin 1981a; 1981b). Wenn sich also jemand ent-
ne bloß formal auf dem Papier zugestandene Freiheit schieden hat, Professorin für Meeresbiologie werden
angesehen werden muss. Das betrifft beispielsweise zu wollen, wohl wissend wie schwierig dieser Karrie-
den Zugang zu Führungspositionen im Berufsleben. reweg ist, dann muss sie akzeptieren, wenn das auf-
Zweitens ist die weiterhin geltende relativ strenge Un- grund von zufälligen Gegebenheiten nicht klappt.
terscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit zu Das gilt jedoch nur, wenn sie dieselben Startchancen
hinterfragen, weil viele Ungerechtigkeiten Frauen ge- besessen hat wie andere Kandidatinnen. Für ihre Po-
28 I Der Begriff der Gerechtigkeit

sition machen Luck Egalitaristen geltend, dass sie un- heit ihres Staates. Diejenigen Staaten, die hinreichend
sere Intuitionen über die Verantwortung von Akteu- wohlgeordnet sind, kommen dann auf einer zweiten
ren besser einfangen kann als die Theorie von Rawls. Stufe unter einen zweiten Schleier des Nichtwissens
Bei Rawls gilt, dass die Schlechtestgestellten besser- zusammen, um ein gemeinsames Völkerrecht und
zustellen sind, ganz egal aus welchen Gründen sie entsprechende supranationale Institutionen zu be-
sich in ihrer Lage befinden. Luck Egalitaristen argu- stimmen. Zu deren Aufgaben gehört der Schutz vor
mentieren hingegen, dass es einen Unterscheid Krieg, aber auch die Bekämpfung absoluter Armut
macht, ob jemand für seine Lage selbst verantwortlich und anderer gravierender Ungerechtigkeiten.
ist oder nicht. Die auf der zweiten Stufe vertretenen wohlgeord-
Ein zentrales Problem des Luck Egalitarianism be- neten Staaten sind solche Staaten, die die Menschen-
steht allerdings darin, dass nicht klar ist, wie gut sich rechte anerkennen. Sie müssen nicht unbedingt de-
brute luck und option luck wirklich unterscheiden las- mokratisch verfasst sein, aber über Verfahren der öf-
sen. Viele psychologische Eigenschaften von Men- fentlichen Meinungsbildung verfügen, bei der sich al-
schen, wie Risikoaversität oder Abstraktionsver- le ihre Bürgerinnen und Bürger Gehör verschaffen
mögen sind für Wahlentscheidungen von großer Be- können. Daneben gibt es noch ›Schurkenstaaten‹ und
deutung, hängen aber selbst ebenfalls von genetischen belastete Gesellschaften, die nicht Teil des Völkerbun-
und sozialen Faktoren ab. Außerdem besitzen Luck des sein können. Es stellt jedoch ein wichtiges Ziel dar,
Egalitaristen derzeit noch keine gute Theorie darüber, dazu beizutragen, beide in wohlgeordnete Gesell-
wie sich unterschiedliche Talente auf eine Weise aus- schaften umzuwandeln.
gleichen lassen, die mit liberalen Grundüberzeugun- Ein zentraler Grund für das zweistufige Verfahren
gen vereinbar ist (Hurley 2003). besteht Rawls zufolge darin, dass man mit Bezug auf
die Wohlgeordnetheit von Gesellschaften und Staaten
einen vernünftigen Pluralismus annehmen muss
Lokale und globale Gerechtigkeit (ebd.; Nagel 2010). Das war die zentrale Einsicht sei-
nes politisch gewendeten Liberalismus, der nicht
Rawls hat seine Gerechtigkeitstheorie noch im Rah- letztbegründet werden kann. Nur ein zweistufiges
men einer einzelnen Gesellschaft entworfen und diese Verfahren, so argumentiert Rawls, kann diesem Plu-
Gesellschaft dabei losgelöst von einem globalen Kon- ralismus gerecht werden. Stärker kosmopolitisch ori-
text gedacht. Anhänger der Rawlsschen Gerechtig- entierte Autoren müssen demgegenüber argumentie-
keitstheorie haben seinen Ansatz jedoch auf die glo- ren, dass der vernünftige Pluralismus enger ausfällt,
bale Ebene bezogen und eine kosmopolitische Positi- als Rawls es annimmt (Caney 2005). Dann sind nur
on entwickelt (Beitz 1979; 2009; Pogge 1989; liberale Gesellschaften und nur durch ganz bestimmte
2002/2011). Ihre Grundidee besteht darin, den Ur- Gerechtigkeitsprinzipien geleitete Staaten hinrei-
zustand und Schleier des Nichtwissens nicht auf eine chend gerecht. Das ist die zentrale Voraussetzung für
einzelne Gesellschaft zu beschränken, sondern auf die eine starke kosmopolitische Position.
gesamte Welt auszudehnen. Die Gerechtigkeitsprinzi-
pien und damit die gleichen Grundfreiheiten, die faire Literatur
Chancengleichheit und selbst das Differenzprinzip Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Reinbek bei
müssten dann global zur Anwendung kommen. Erst Hamburg 2005 (frz. 1949).
Beitz, Charles: Political Theory and International Relations.
wenn die Schlechtestgestellten weltweit, also die abso- Princeton 1979.
lut armen Menschen, so gut wie möglich gestellt sind, Beitz, Charles: The Idea of Human Rights. Oxford 2009.
sind auch die Gerechtigkeitsansprüche erfüllt. Bentham, Jeremy: The Principles of Morals and Legislation.
Rawls selbst hat sich in einer späteren Arbeit zur Darien 1970 (engl. 1789).
globalen Gerechtigkeit gegen diese direkte Übertra- Brandt, Reinhard/Herb, Karlfriedrich (Hg.): Jean-Jacques
Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag. Berlin 22012.
gung des Urzustandes und des Schleiers des Nichtwis-
Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt
sens auf die globale Ebene ausgesprochen (Rawls a. M. 2003 (engl. 1990).
1999/2002). Stattdessen schlägt er ein zweistufiges Caney, Simon: Justice Beyond Borders. A Global Political Per-
Verfahren vor. Die erste Stufe bleibt wie in seiner klas- spective. New York 2005.
sischen Gerechtigkeitstheorie. Die Repräsentanten Dworkin, Andrea/MacKinnon, Catharine: In Harm’s Way.
der Bevölkerung eines Landes bestimmen im Ur- The Pornography Civil Rights Hearings. Cambridge MA
1997.
zustand die Gerechtigkeitsprinzipien und Beschaffen-
4 Grundpositionen der Gerechtigkeitstheorie in Neuzeit und Gegenwart 29

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30 I Der Begriff der Gerechtigkeit

5 Religiöse Wurzeln und sind ethische Überlegungen vor allem als Teil des We-
Perspektiven: Buddhismus ges relevant, der es Lebewesen ermöglicht, den Kreis-
lauf der Wiedergeburten zu verlassen. Auch wenn
und Konfuzianismus Wiedergeburten in relativ angenehmen Daseinsfor-
men möglich sind, bewerten Buddhisten alle Lebens-
Der westliche Gerechtigkeitsdiskurs hatte vor dem formen als leidvoll und streben nach der Erleuchtung,
19. Jahrhundert keinen signifikanten Einfluss auf die die den endgültigen Austritt aus dem Wiedergeburts-
ethischen und politischen Debatten in Süd- und Ost- kreislauf darstellt. Diese Erleuchtung setzt neben dem
asien. Wenn wir nach den Konzeptionen von Gerech- Wissen um die doktrinär-religiösen Inhalte des Bud-
tigkeit und Ungerechtigkeit fragen, die sich in diesen dhismus ethisches Wissen sowie eine vollendete mo-
Debatten erkennen lassen, dann ordnen wir deren ralische Praxis voraus. Zudem bestimmt die mora-
Thesen und Argumente somit neu und orientieren lische Qualität des Handelns die Position eines Lebe-
uns bei ihrer Darstellung nicht an Kategorien, die in wesens innerhalb des Kreislaufes. In den buddhisti-
den Debatten selbst verwendet worden sind. Dies ver- schen Karma-Theorien zeitigt das Verhalten der
spricht neue und interessante Einsichten, ist jedoch Lebewesen nämlich Folgen im gegenwärtigen Leben,
auch mit besonderen Schwierigkeiten verbunden: bestimmt aber auch, ob man im nächsten oder in spä-
Erstens muss man davon ausgehen, dass sich die west- teren Leben als Gottheit, Mensch, Tier oder Höllen-
lichen Begriffe nicht ohne weiteres in den Sprachen bewohner wiedergeboren wird. Es wird somit ein Me-
der betrachteten Regionen wiedergeben lassen. Zwei- chanismus vorausgesetzt, der den Lebewesen ›Lohn‹
tens müssen die Kontexte der asiatischen Debatten im und ›Strafe‹ unparteilich zuteilt und sich dabei an ei-
Auge behalten werden, die mitunter andere Erkennt- nem ethischen Standard orientiert. Auch wenn dieser
nisinteressen verfolgten und unter anderen politi- Mechanismus als Naturprozess, der ohne göttliche
schen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Be- Eingriffe abläuft, verstanden wird, wird das karmische
dingungen stattgefunden haben als die westlichen Ge- Gesetz durch Yama, den König der Unterwelt, sym-
rechtigkeitsdiskurse. Drittens ist die Frage nach den bolisiert, der über die Lebewesen richtet und ihnen ei-
Gerechtigkeitsvorstellungen in Asien nur eine Teilfra- ne Wiedergeburt zuweist, die ihren in früheren Leben
ge im interkulturellen Dialog. Die andere Frage muss begangenen Taten entspricht. In dieser Hinsicht ist
lauten, inwiefern sich die dortigen Begriffe in den eu- das buddhistische Weltbild somit grundlegend von
ropäischen Diskursen wiederfinden lassen. Fragen Gerechtigkeitsvorstellungen geprägt und setzt die
dieser Art werden in der westlichen Literatur aber nur Moralität der kosmischen Ordnung voraus (Bronk-
sehr selten gestellt, und auch dieser Beitrag wird sich horst 2011, 118).
auf den Blick aus dem Westen nach Asien beschrän- Zu diesem Glauben an eine gerechte Grundord-
ken und den asiatischen Blick auf den Westen außen nung der Welt kommt bei den meisten buddhistischen
vor lassen. Zudem wird sich dieser Beitrag aus Platz- Autoren noch ein Menschenbild hinzu, das die Egali-
gründen auf den Buddhismus und den Konfuzianis- tät aller Lebewesen betont. Abgesehen von einigen
mus konzentrieren, also auf nur zwei der zahlreichen Anhängern der Yogacāra-Schule, die die Kategorie der
Denktraditionen, die sich in Asien entwickelt haben. Nicht-Erleuchtungsfähigen (icchantikas) kennt, beto-
Diese beiden Traditionen haben sich zeitlich wie nen die meisten Buddhisten die Erleuchtungsfähig-
räumlich besonders weit ausgebreitet und üben auch keit aller Lebewesen. Vor allem die in Ostasien ein-
heute noch großen Einfluss auf die asiatischen und zu- flussreiche Tathāgatagarbha-Lehre besagt, dass alle
nehmend auch auf die westlichen Gesellschaften aus. Lebewesen ›einen Buddha in sich tragen‹ und die Er-
leuchtung erlangen können – wenn auch vielleicht erst
nach zahlreichen weiteren Wiedergeburten. Da bud-
Buddhismus dhistische Autoren somit die Existenz naturgegebener
Rangunterschiede zwischen den Lebewesen ablehnen,
Die buddhistischen Moral- und Gerechtigkeitsvor- weisen sie auch das vedische Kastensystem und ande-
stellungen können nicht unabhängig von den religiö- re Formen systematischer Diskriminierung wie Ras-
sen Inhalten des Buddhismus betrachtet werden. Ins- sismus, Machismus und Speziezismus zurück.
besondere das buddhistische Verständnis von Karma Auch der buddhistische Egalitarismus muss jedoch
und Wiedergeburt hat großen Einfluss auf die im Bud- in seinem religiösen Kontext betrachtet werden. So
dhismus vertretenen Gerechtigkeitskonzeptionen. So bezieht sich die buddhistische Auffassung der Gleich-
5 Religiöse Wurzeln und Perspektiven: Buddhismus und Konfuzianismus 31

heit nur auf das spirituelle Ziel der Erleuchtung und losen Charakterdisposition hinaus. In vielen Schulen
umfasst nicht die Forderung nach Gleichheit der Gü- des zwischen dem ersten und dritten Jahrhundert
ter, Chancen und Rechte in diesem Leben. In Kom- unserer Zeitrechnung entstandenen Mahāyāna-Bud-
bination mit dem Glauben an karmisch bedingte Wie- dhismus werden Verletzungen der Vorschriften als le-
dergeburten führt das buddhistische Menschenbild gitim betrachtet, die aus Mitleid vollzogen werden.
sogar zu einer fatalistischen Bewertung sozialer und Moralische Prinzipien besitzen bei vielen buddhisti-
politischer Ungleichheit. Zu den karmischen Wirkun- schen Autoren somit einen perfektionistischen Cha-
gen gehört nämlich nicht nur die Art der Wieder- rakter und fokussieren auf die Einstellung des Han-
geburt, sondern auch die körperliche Verfassung und delnden (Keown 1992, 18–22). Sie stellen in erster Li-
der soziale Status. Wer krank, arm oder in niedrigem nie Richtlinien für die individuelle spirituelle Kultivie-
Stand geboren wird, büßt damit für das Unrecht und rung dar und gehen nicht von den Ansprüchen und
karmisch unheilsame Tun, das er in früheren Existen- Rechten der betroffenen Lebewesen aus (Sizemore/
zen begangen hat. So gibt es in den Augen buddhisti- Swearer 1990, 5). Die Gerechtigkeit spielt in buddhis-
scher Ethiker keine Lotterie der Natur, da alle negativ tischen Ethiken daher nicht die moderne Rolle, einen
bewerteten Aspekte des jetzigen Lebens als Wirkun- Bereich der Moral zu markieren, der von jedem Men-
gen früherer Handlungen betrachtet werden. Zum an- schen eingefordert werden kann.
deren bestimmt das karmische Weltbild die Güterleh- In der Anwendung führt die mitleidsorientierte
re des Buddhismus. Güter wie Gesundheit, Wohl- buddhistische Ethik oft zu ähnlichen Ergebnissen wie
stand, aber auch soziale Partizipation und Freiheit tre- Ethiken, die die Rechte der Betroffenen betonen. Bud-
ten gegenüber den längerfristigen karmischen Folgen dhistische Mönche und Laien haben im Laufe der Ge-
in den Hintergrund. Daher gibt es in den Augen der schichte zahlreiche gute Werke vollbracht und bei-
meisten vormodernen Buddhisten keine moralische spielsweise Waisenhäuser, Schulen und Bewässerungs-
Pflicht, Ungleichheiten in Bezug auf diese weltlichen systeme gebaut. Die Vorstellung der Unabänderlich-
Güter zu beseitigen. keit und Gerechtigkeit der karmischen Ordnung hat
Diese Merkmale des Karmaglaubens spiegeln sich jedoch dafür gesorgt, dass sich Buddhisten zumindest
auch in der buddhistischen Auffassung moralischer in vormodernen Zeiten kaum für eine systematische
Prinzipien wider. Die karmischen Folgen von Hand- Veränderung der Gesellschaft engagiert haben. Hinzu
lungen werden vor allem in populären Darstellungen kommt vermutlich noch ein pragmatischer Grund:
bestimmten Handlungstypen zugeordnet, so dass es Die meisten buddhistischen Institutionen verfügten
etwa heißt, jemand, der in diesem Leben stehle, werde nicht über eigene Einkünfte und waren somit von den
im nächsten Leben als Ochse wiedergeboren (vgl. z. B. Zuwendungen politischer Machthaber oder reicher
Nakamura 1973). Ein zentrales Element vieler bud- Gönner abhängig. In einigen Staaten wie Japan, Korea
dhistischer Moraltheorien sind daher Listen von Vor- und Tibet wurde der Buddhismus zudem überhaupt
schriften. Eine der meistverwendeten Listen enthält erst von den politischen Herrschern eingeführt und
die fünf Vorschriften, nicht zu töten, nicht zu stehlen, streng kontrolliert. Auch diese Verflechtungen mit den
sich nicht unkeusch zu verhalten, nicht zu lügen und gesellschaftlichen Eliten haben wohl dazu geführt,
sich nicht zu berauschen. Einige Interpreten haben dass buddhistische Autoren keine nennenswerte Ge-
diese Vorschriften als absolute Verbote aufgefasst sellschaftstheorie und Herrschaftskritik hervor-
(Keown 1995, 20). Üblicherweise versteht man sie gebracht haben.
aber als Formulierungen eines Ideals, das nicht von al- Auch wenn man im Buddhismus somit keine um-
len Buddhisten im selben Umfang erreicht werden fassende Theorie gerechter Institutionen findet, lassen
muss. Die erste Vorschrift beispielsweise verbietet al- sich doch Ansätze zur moralischen Bewertung gesell-
len Menschen das Töten eines anderen Menschen, für schaftlicher Institutionen und Herrschaftsformen er-
Mönche untersagt sie aber überdies sowohl das Töten kennen. So taucht in einigen buddhistischen Texten
als auch das Verletzen eines jeden Lebewesens und die Utopie des cakravartin, eines weltbeherrschenden
macht somit den Vegetarismus zur Norm in buddhis- Königs auf, der die Welt durch seine Güte und Weit-
tischen Klöstern. Eine vollständige Befolgung dieser sicht regiert und dadurch jegliches menschliche Fehl-
ersten Vorschrift führt schließlich dazu, dass man verhalten eliminiert (Zimmermann 2006, 216–217).
»um das Wohl aller Lebewesen zittert« (Harvey 2000, Neben dieser Utopie sind auch Verhaltensregeln und
69), wie es in einigen Sutren heißt, und läuft demnach Empfehlungen für reale Herrscher formuliert worden,
auf die Ausbildung einer mitleidsvollen und gewalt- die z. B. in Nagarjunas Texten Suhrllekha (Jamspal
32 I Der Begriff der Gerechtigkeit

1978) und Ratnāvalī (Tucci 1936) sowie im Rājadhar- und ebenso sind Kinder ihren Eltern, Frauen ihren
ma-nyāya-śāstra (Jan 1984) zu finden sind. Unter an- Männern und jüngere den älteren Verwandten gegen-
derem fordern diese Texte zu einem humanen Straf- über zum Gehorsam verpflichtet. Im Gegenzug haben
recht auf, das auf die Todesstrafe und andere irrever- Herrscher, Eltern, Männer und ältere Verwandte Für-
sible Strafarten verzichtet (Zimmermann 2006, 227– sorgepflichten für ihre Untergebenen. Beziehungen
235). Schließlich findet man in den Sutren Belege sind daher in den Augen der Konfuzianer nur dann
dafür, dass der Buddha die Herrschafts- und Um- harmonisch, wenn beide Parteien ihre wechselseitigen
gangsformen der altindischen Stammesrepubliken und komplementären Rollenpflichten erfüllen (Li
schätzte und diese auch auf den saۨgha, d. h. auf die 2006). Die konkreten Ausformungen dieser Pflichten
buddhistische Mönchsgemeinde übertragen wollte werden als ›Riten‹ (䰽 chin. li) bezeichnet, und für
(Harvey 2000, 113). Handlungen, Institutionen und Personen, die diesen
Nach dem Kontakt mit westlichen Werten ist in Riten entsprechen, verwendet man den Ausdruck ›yi‹
Süd- und Südostasien im 20. Jahrhundert der so ge- (券). Es ist vor allem dieser vieldeutige Ausdruck, der
nannte ›Engaged Buddhism‹ entstanden, der das tra- von Übersetzern mit dem Wort ›gerecht‹ wiedergege-
ditionelle Streben nach der spirituellen Befreiung mit ben wird (u. a. Roetz 1992, 181).
einem Engagement für die weltliche Befreiung ver- Ursprünglich verweist der Ausdruck ›yi‹ auf einen
bindet. Moderne Buddhisten wie der thailändische rituellen Kontext. So besteht das für ›yi‹ verwendete
Mönch Buddhadasa Bhikkhu (1906–1993) und der Schriftzeichen 券 aus einer Axt, die als Clan-Symbol
vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh (geb. 1926) fungiert, sowie aus Federn, die diese Axt schmücken
setzen sich für mehr soziale Gerechtigkeit, demokra- und auf einen rituellen Zusammenhang hindeuten. In
tische Entscheidungsformen und einen respektvollen den Knochen- und Bronzeinschriften aus dem Zeit-
Umgang mit der Natur ein. Dabei verweisen sie auf raum von 1400 bis ungefähr 1000 v. Chr. bezeichnet
klassische buddhistische Ideale wie Gewaltlosigkeit das Schriftzeichen somit die Rituale, die innerhalb ei-
und Mitleid, sie beziehen diese Ideale jedoch explizit nes Clans oder vom Führer eines Clans praktiziert
auf gesellschaftliche Institutionen und verbinden so worden sind (Jia/Kwok 2007, 34–36). Auch im Buch
das Streben nach der Erleuchtung mit dem Eintreten der Riten, einem der fünf konfuzianischen Klassiker,
für eine bessere Welt (Queen 1996, 11). Auch die Dis- wird das Schriftzeichen zur Bezeichnung von Ritualen
kussion um das Verhältnis von Buddhismus und verwendet (vgl. Zhang 2002, 293). In diesem Text um-
Menschenrechten wird gegenwärtig intensiv geführt fasst ›yi‹ jedoch bereits mehr als konkrete Rituale und
(Harvey 2000, 118–122; Bauer/Bell 1999). Damien bezeichnet zudem die Disposition oder Eigenschaft,
Keown beispielsweise argumentiert, dass es in der »die Noblen nobel zu behandeln und die Ehrenwerten
buddhistischen Tradition zwar kein explizites Äqui- zu ehren« (Zhang 2002, 298). Hier wird der Ausdruck
valent zum westlichen Rechtsbegriff gibt, dass sie ein also allgemeiner zur Bezeichnung der Eigenschaft
solches aber implizit enthält. Das buddhistische Ziel, verwendet, dem Status eines Menschen angemessen
die Leiden des Wiedergeburtskreislaufes zu überwin- zu sein (vgl. Jia/Kwok 2007, 39–41). Ausgehend von
den, setze nämlich bestimmte Güter wie Leben, Ge- dieser Bedeutung kann ›yi‹ sowohl individuelle Cha-
sundheit, Freiheit und Bildung voraus. Da alle Men- raktereigenschaften als auch gesellschaftliche Institu-
schen die Fähigkeit zur Erleuchtung haben und nach tionen bezeichnen.
buddhistischer Auffassung nach diesem Ziel streben Wird ›yi‹ zur Bezeichnung individueller Charakter-
sollen, muss man ihnen in Keowns Augen auch die eigenschaften verwendet, so wird sie oft als die all-
dafür notwendigen Güter zur Verfügung stellen gemeine Disposition einer Person verstanden, sich
(Keown 1995). ausgewogen und den Riten gemäß zu verhalten. Über-
dies wird diese Disposition mit der Standhaftigkeit ge-
genüber ungerechten materiellen Verlockungen asso-
Konfuzianismus ziiert. In diesem Verständnis weist ›yi‹ somit einige
Ähnlichkeiten mit dem westlichen Konzept der Ge-
Konfuzianische Autoren zielen darauf ab, den Weg zu rechtigkeit als Tugend auf. Im Laufe der Entwicklung
einer harmonischen Gesellschaft aufzuzeigen. Nach und Ausbreitung des Konfuzianismus hat dieses Kon-
konfuzianischer Vorstellung wird diese Harmonie vor zept allerdings diverse Ausformungen erfahren, die
allem durch hierarchisch geordnete Beziehungen be- signifikante Unterschiede zu westlichen Gerechtig-
fördert. Untertanen sollen ihren Herrschern folgen, keitskonzepten deutlich werden lassen. Brian van
5 Religiöse Wurzeln und Perspektiven: Buddhismus und Konfuzianismus 33

Norden zufolge bezeichnet ›yi‹ bei Menzius (370–290 aufzuzeigen, wie sie in der Gegenwart anzuwenden
v. Chr.) beispielsweise die Disposition, den eigenen sind. Die Frage, welche Aspekte des antiken Herr-
Wertvorstellungen gemäß zu handeln und diese auch schaftssystems Vorbildfunktion besitzen und daher
gegen Widerstände durchzusetzen. Diese Eigenschaft in die Gegenwart zu übernehmen sind, ist unter kon-
orientiert sich an einem inneren ethischen Standard, fuzianischen Autoren umstritten. Die meisten Kon-
der uns in Form des Schamgefühls angeboren ist. Die- fuzianer befürworten jedoch ein Herrschaftssystem,
ser Standard lässt sich jedoch nicht als klar definiertes das sowohl vererbte als auch nach Eignung zugespro-
Regelsystem verstehen, sondern wird vom Individu- chene gesellschaftliche Positionen umfasst. Der mo-
um, das die Eigenschaft yi hinreichend kultiviert hat, narchische Herrscher erbt sein Amt normalerweise
situationsspezifisch erkannt. Yi wird hier also stark von seinen Blutsverwandten, zumindest ein Teil der
partikularistisch interpretiert und ist durch ihren Be- Elite von Ministern und Beamten wird dagegen leis-
zug zur Scham eine eher selbstbezügliche Disposition tungsbezogen bestimmt. Im China der Han-Zeit (206
(van Norden 2004; s. auch Ames 2011). Diese Tendenz v. Chr. – 220 n. Chr.) etwa wurde eine staatliche
ist bei Dong Zhongshu (179–104 v. Chr.) noch deutli- Hochschule geschaffen, die prinzipiell allen offen-
cher erkennbar, der yi als die Fähigkeit versteht, sich stand und den unteren Schichten eine Möglichkeit
selbst zu kritisieren (Zhang 2002, 300). Seit der Song- bot, in die staatliche Bürokratie aufzusteigen, wenn
Zeit (960–1279) verbinden Neo-Konfuzianer wie auch nicht in die höchsten Staatsämter (van Ess 2003,
Cheng Yi (1033–1107), Zhu Xi (1130–1200) und 49). Diese meritokratischen Elemente des Herr-
Chen Beixi (1159–1223) den selbstbezüglichen As- schaftssystems waren im China der Song-Zeit (960–
pekt des Ausdrucks ›yi‹ mit der ebenfalls ausgedrück- 1279) voll entwickelt, wurden aber in Japan beispiels-
ten Bedeutung, einem objektiven Standard zu ent- weise nie adaptiert.
sprechen. Sie verstehen yi dementsprechend als die Die geschilderten hierarchischen Rollen und
moralische Fähigkeit, durch Introspektion die dem Herrschaftsformen gelten nach konfuzianischer Auf-
Prinzip der Natur entsprechenden Verhaltensweisen fassung als gerecht, obgleich sie Güter, Ämter und
zu erkennen und sie gegen innere und äußere Wider- Rollen nicht nur leistungs- und bedürfnisgemäß zu-
stände durchzusetzen (Zhang 2002, 303–310). An die- teilen, sondern auch Kriterien wie ererbtem Status,
ser Interpretation des yi-Konzeptes wird innerhalb Alter und Geschlecht Relevanz beimessen. Konfuzia-
des Konfuzianismus jedoch auch grundlegende Kritik ner wie Xunzi (298–220 v. Chr.) und Ogyū Sorai be-
geäußert. Der neoklassische japanische Autor Ogyū tonen, dass diese Verteilung allen Mitgliedern einer
Sorai (1666–1728) beispielsweise betont, die klassi- Gesellschaft nutzt, da klare Rollen- und Statuszuord-
schen Autoren vor Menzius hätten sich noch an einem nungen Neid, Konkurrenz und somit gesellschaft-
rituellen yi-Konzept orientiert und den Ausdruck ›yi‹ liche Konflikte vermeiden helfen (Roetz 1992, 183).
nur für die Fähigkeit von Herrschern verwendet, tra- Andere konfuzianische Autoren wie Menzius, Dong
ditionelle rituelle und institutionelle Formen an die Zhongshu und Zhu Xi betonen wiederum, dass hie-
sich verändernden historischen Umstände anzupas- rarchische Beziehungen ›natürlich‹ seien. Da ein na-
sen (Tucker 2006, 210–221). Für diesen Autor be- turgemäßes Verhalten in den Augen dieser Konfuzia-
zeichnet ›yi‹ also eine amoralische Eigenschaft, die ner dafür sorgt, dass auch die außermenschlichen Na-
nur die Herrscherelite betrifft. In diesem Verständnis turvorgänge reibungslos verlaufen und beispielsweise
ist eine Übersetzung von ›yi‹ durch den Ausdruck ›ge- Unwetter, Dürren und Erdbeben ausbleiben, enthält
recht‹ somit unangemessen. auch diese Argumentation einen Verweis auf den all-
Ogyū Sorais Kritik am Verständnis von yi als ei- gemeinen Nutzen der betreffenden gesellschaftlichen
nem individualmoralischen Konzept geht auch mit Arrangements.
einer stärkeren Gewichtung der gesellschaftlichen In- Neben dem Ausdruck ›yi‹ wird auch der Ausdruck
stitutionen einher. Die Frage nach gerechten gesell- ›gong‹ (⏻, jap. kō) herangezogen, um das konfuzia-
schaftlichen Institutionen gehört zu den Kernanlie- nische Verständnis gerechter gesellschaftlicher Insti-
gen der meisten Konfuzianer. Sie gehen fast alle da- tutionen zu charakterisieren (Chan 1994; Roetz 1992).
von aus, dass eine gerechte und harmonische Gesell- ›Gong‹ wird häufig mit dem Ausdruck ›unparteilich‹
schaft in der chinesischen Antike existiert habe und übersetzt und bezeichnet die Disposition oder Eigen-
die Hauptaufgabe konfuzianischer Autoren darin be- schaft von Personen und Institutionen, das allgemeine
stehe, die Herrschaftsmethoden der antiken Könige im Gegensatz zum bloß privaten Wohl zu befördern.
an die gegenwärtig Herrschenden weiterzugeben und Die durch ›yi‹ und ›gong‹ bezeichneten Ideale schüt-
34 I Der Begriff der Gerechtigkeit

zen die Gesellschaft somit vor dem eigennützigen seinen Augen allerdings anders strukturiert sein als
oder klientelorientierten Handeln des Herrschers und viele westliche Demokratien (Chen 2008).
seiner Beamten. Sie bieten dem Individuum jedoch
keinen Schutz vor gemeinnützigen Übergriffen durch Literatur
die Gesellschaft. Die Vorstellung, dass die konfuzia- Ames, Roger: Confucian Role Ethics: A Vocabulary. Hong-
nischen Ideale und insbesondere das Ideal gong nicht kong 2011.
Bary, Wm. Theodore de: Confucianism and Human Rights.
nur durch das selbstlose Verhalten des Herrschers ver- New York 1998.
wirklicht werden, sondern auch durch politische In- Bauer, Joanne R./Bell, Daniel A. (Hg.): The East Asian Chal-
stitutionen, die Deliberation und eine Mitbestim- lenge for Human Rights. Cambridge 1999.
mung größerer Bevölkerungsschichten ermöglichen, Bell, Daniel: East Meets West: Human Rights and Democracy
finden sich in China seit der späten Ming-Zeit (1369– in East Asia. Princeton 2000.
Bronkhorst, Johannes: Karma. Honolulu 2011.
1644). Diese neuen Ideen werden u. a. von dem chine-
Chan, Joseph: Making sense of Confucian justice. In: Phi-
sischen Philosophen Huang Zongxi (1610–1695) losophy East and West 44 (1994), 559–575.
prägnant zusammengefasst (Struve 1988) und ab dem Chen, Xunwu: Justice, Humanity, and Social Toleration. Lan-
19. Jahrhundert auch in Japan positiv rezipiert (Wata- ham 2008.
nabe 2012, 328–331). Ess, Hans van: Der Konfuzianismus. München 2003.
In gegenwärtigen Debatten in China wie im Westen Fan, Ruiping: Social justice: Rawlsian or Confucian? In: Mou
Bo (Hg.): Comparative Approaches to Chinese Philosophy.
spielt das Verhältnis des konfuzianischen Gerechtig-
Burlington 2003, 144–168.
keitsverständnisses zu westlichen Werten und Institu- Harvey, Peter: An Introduction to Buddhist Ethics. Cam-
tionen eine zentrale Rolle. Besonders das Verhältnis bridge 2000.
zwischen konfuzianischen Werten und Menschen- Jamspal, L./Chophel, N. S./Della Santina, Peter (Übers.):
rechten (de Bary 1998; Bauer/Bell 1999; Shun/Wong Nagarjuna’s Letter to King Gautamiputra. Delhi 1978.
2004) sowie die Kompatibilität von Konfuzianismus Jan, Yün-hua: Rajadharma ideal in Yogacara Buddhism. In:
Pranabananda Jash (Hg.): Religion and Society in Ancient
und Demokratie nehmen darin großen Raum ein. In India. Calcutta 1984, 221–234.
einer umfassenden Studie zeigt der koreanische Sozi- Jia, Jinhua/Kwok Pang-Fei: From clan manners to ethical
alwissenschaftler Doh Chull Shin, dass die Bevölke- obligation and righteousness: A new interpretation of the
rungen konfuzianisch geprägter Staaten zwar demo- term yi 券. In: Journal of the Royal Asiatic Society of Great
kratische Institutionen befürworten, eine liberale Ge- Britain and Ireland 17/1 (2007), 33–42.
Keown, Damien: The Nature of Buddhist Ethics. New York
sellschaftsordnung jedoch mehrheitlich ablehnen
1992.
(Shin 2012). Im intellektuellen Diskurs lassen sich da- –: Are there ›Human Rights‹ in Buddhism? In: Journal of
rüber hinaus noch weitere Positionen ausmachen: Der Buddhist Ethics 2 (1995), 3–27.
zeitgenössische Konfuzianer Ruiping Fan beispiels- Li, Chenyang: The Confucian ideal of harmony. In: Philoso-
weise fordert ein rein meritokratisches Herrschafts- phy East and West 56 (2006), 583–603.
system für konfuzianisch geprägte Staaten, in dem ei- Nakamura, Kyoko (Übers.): Miraculous Stories from the Ja-
panese Buddhist Tradition – The Nihon Ryōiki of the Monk
ne durch Bildungsinstitutionen ausgewählte Elite die Kyōkai. Cambridge MA 1973.
gesellschaftlich relevanten Entscheidungen trifft (Fan Norden, Bryan van: The virtue of righteousness in Mencius.
2003). Fan zufolge spiegelt nur ein meritokratisches In: Kwong-loi Shun/David B. Wong (Hg.): Confucian Et-
System die Unterschiede in Intelligenz und Tugend hics: A Comparative Study of Self, Autonomy, and Commu-
zwischen den Menschen wider und gewährt gesell- nity. New York 2004, 148–182.
Queen, Christopher/King, Sallie (Hg.): Engaged Buddhism:
schaftliche Stabilität. David Bell propagiert stattdes-
Buddhist Liberation Movements in Asia. Albany 1996.
sen ein Zwei-Kammer-System, in dem die eine Kam- Roetz, Heiner: Die chinesische Ethik der Achsenzeit. Frank-
mer gewählt, die andere jedoch nach Bildungsleistung furt a. M. 1992.
bestimmt wird (Bell 2000), so dass sowohl liberale als Shin, Doh Chull: Confucianism and Democratization in East
auch meritokratische Gesichtspunkte im politischen Asia. Cambridge 2012.
System Berücksichtigung finden. Xunwu Chen argu- Shun, Kwong-loi/Wong, David B. (Hg.): Confucian Ethics: A
Comparative Study of Self, Autonomy, and Community.
mentiert allgemein, dass der Konfuzianismus durch-
New York 2004.
aus eine Grundlage für die Einrichtung demokrati- Sizemore, R. F./Swearer, D. K. (Hg.): Ethics, Wealth, and Sal-
scher Institutionen biete. Der Konfuzianismus habe vation: A Study in Buddhist Social Ethics. Columbia 1990.
sein eigenes Gerechtigkeitsverständnis, und da gute Struve, Lynn: Huang Zongxi in context: A reappraisal of his
Demokratien auf einer Vorstellung von Gerechtigkeit major writings. In: The Journal of Asian Studies 47/3
basieren, muss eine konfuzianische Demokratie in (1988), 474–502.
6 Religiöse Wurzeln und Perspektiven: Judentum und Christentum 35

Tucci, Giuseppe: The Ratnavali of Nagarjuna. In: Journal of 6 Religiöse Wurzeln und
the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland 68/2
(1936), 423–435.
Perspektiven: Judentum
Tucker, John (Übers.): Ogyū Sorai’s Philosophical Master- und Christentum
works. Honolulu 2006.
Watanabe, Hiroshi: A History of Japanese Political Thought,
1600–1901. Tokyo 2012. Judentum und Christentum sind zweieinhalb bzw. fast
Zhang, Dainian: Key Concepts in Chinese Philosophy. New zwei Jahrtausende alt. Sie haben eine wechselvolle Ge-
Haven 2002. schichte. Beide standen immer in einem intensiven
Zimmermann, Michael: Only a fool becomes a king: Bud-
Austausch mit ihren Umwelten. Dabei übernahmen
dhist stances on punishment. In: Ders. (Hg.): Buddhism
and Violence. Lumbini 2006, 213–242. sie viele Elemente aus anderen Religionen und Kul-
turen, in denen sie sich entwickelten und die sie umge-
Paulus Kaufmann kehrt auch prägten. Angesichts dieser Komplexität ist
es nicht überraschend, dass es kaum möglich ist, von
einem oder dem jüdisch-christlichen Gerechtigkeits-
begriff zu sprechen. Sowohl diachron als auch syn-
chron haben wir es innerhalb beider Religionen mit ei-
ner kaum überschaubaren Vielfalt zu tun. Schon unter
den verschiedenen Büchern der Bibel, die eigentlich
eine in einem Zeitraum von etwa tausend Jahren ent-
standene Bibliothek ist, gibt es einen enormen Reich-
tum an Bedeutungsvarianten von Gerechtigkeit. Dass
hier zugleich über Judentum und Christentum ge-
sprochen wird, ist deshalb sinnvoll, weil das Christen-
tum sich aus einer Nachfolgebewegung jüdischer An-
hänger des Juden Jesus entwickelt hat und den größe-
ren Teil seiner Heiligen Schrift, die von Christen Altes
Testament genannte jüdische Bibel, mit dem Juden-
tum gemeinsam hat.
Wie alle Religionen bieten auch Judentum und
Christentum zunächst holistische Weltbilder, inner-
halb derer nicht immer zwischen unterschiedlichen
Geltungsansprüchen unterschieden wird. Deshalb
lassen sich religiöse Vorstellungen von Gerechtigkeit
auch kaum von Gerechtigkeitsüberlegungen ablösen,
die auf Vernunftargumenten gründen. Die vielen Re-
ligionen und Kulturen gemeinsamen basalen und
historisch sehr alten vernünftigen Gerechtigkeitsvor-
stellungen des Reziprozitätsprinzips, der Goldenen
Regel, der Unparteilichkeit der Richter oder der Not-
wendigkeit von mindestens zwei Zeugen vor Gericht
finden sich selbstverständlich auch in Judentum und
Christentum. Die vom griechischen Dichter Aischy-
los im 5. Jahrhundert v. Chr. erstmals erwähnten
Haupttugenden, deren größte und wichtigste neben
Maß, Tapferkeit und Klugheit die Gerechtigkeit ist,
finden sich auch im (deuterokanonischen) alttesta-
mentlichen Buch der Weisheit (Weish 8,7) und an
mehreren Stellen im Neuen Testament (1 Tim 6,11; 2
Tim 2,22; Phil 4,8). Gerechtigkeit steht in Judentum
und Christentum umfassend für die Gesamtheit mo-
ralischer Normen und ethischer Werte. Wer diesen
36 I Der Begriff der Gerechtigkeit

Normen entsprechend handelt, ist ›gerecht‹. Darüber nig der Bäume in Ri 9,7–15 oder die detaillierten Vor-
hinaus hat Gerechtigkeit dort aber auch einen zutiefst schriften zur Begrenzung von Macht und Reichtum
religiösen Sinn, ist sie doch ein Schlüsselbegriff jü- des Königs in Dtn 17,14–20).
disch-christlichen – und übrigens auch islamischen Zwei weitere einschneidende Ereignisse in der
– Gottes- und Offenbarungsverständnisses (zum Fol- Geschichte des alten Israel waren der Untergang des
genden vgl. Ansorge 2009; Weinfeld 1995; Witte Nordreiches Samaria um 722 v. Chr. durch die Ober-
2012; Scoralick 2000; Kruip 2008). Der Mensch ver- herrschaft der Assyrer sowie 587 v. Chr. die Erobe-
dankt sein Gerechtsein letzten Endes einem gerech- rung Jerusalems durch die Babylonier mit dem Un-
ten Gott. tergang des Südreichs Juda. In beiden Fällen wurden
die Eliten deportiert, die Tempel zerstört, und viele
Angehörige des Volkes Israel suchten Zuflucht in an-
Historische Hintergründe und wichtige grenzenden Ländern, versuchten aber, ihre religiöse
Elemente des Gerechtigkeitsbegriffs Identität zu bewahren – der Beginn der später so ge-
im Alten Testament nannten jüdischen Diaspora. Nachdem die Perser
Babylon erobert hatten, kehrten einige der Depor-
Im Kern geht der Jahwe-Glaube der Juden auf Erfah- tierten ab 538 v. Chr. wieder nach Jerusalem zurück,
rungen einer kleinen Gruppe von semitischen ›Gast- was als ein von ihrem Gott, dem Befreier, ermöglich-
arbeitern‹ in Ägypten zurück, die sich aus der über- ter neuer Exodus gedeutet wurde (vgl. Jes 43,14–21).
mächtigen Pharaonenherrschaft befreien konnten, Eigentlich erst jetzt entwickelt sich die Religion, die
wobei ein ›Wunder‹ an einem ›Schilfmeer‹ zwischen später ›Judentum‹ genannt wird. Das bescheidene
Ägypten und der Halbinsel Sinai eine Rolle gespielt Gemeinwesen in Jerusalem und Umgebung stand
haben soll. Welche historischen Ereignisse wirklich immer unter Fremdherrschaft, zuerst der Perser,
dahinter standen, lässt sich heute nicht mehr rekon- dann der griechisch (hellenistisch) geprägten Ptole-
struieren. Sie wären etwa ins 13. Jahrhundert v. Chr. mäer aus Ägypten und der Seleukiden aus Syrien,
zu datieren. Wichtig ist, dass diese Erfahrungen, die schließlich der Römer. Nach der Zerstörung des
im Laufe der Geschichte des alten Israel theologisch zweiten Tempels in Jerusalem 70 n. Chr. und der
immer wieder neu aufgearbeitet wurden, sein Gottes- Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes 135
bild entscheidend geprägt haben. So heißt es am Be- n. Chr. konnte das Judentum bis zur Gründung des
ginn eines der beiden Abschnitte über die Zehn Ge- Staates Israel 1948 jedoch nur noch in der Zerstreu-
bote: »Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten ung überleben und musste häufig Anfeindungen bis
herausgeführt hat, aus dem Sklavenhaus« (Ex 20,2). hin zum unvergleichlich brutalen Völkermord unter
Der Bezug auf diese Befreiungserfahrung spielt bei den Nationalsozialisten in Deutschland (1933–1945)
der Begründung sozialer Normen eine wichtige Rolle erleiden.
(vor allem im Buch Deuteronomium – vgl. Hieke Solche Erfahrungen von Ungerechtigkeit haben
2007): Weil Gott sein Volk aus Ägypten befreit hat, die Gerechtigkeitsvorstellungen des Judentums si-
steht es unter einem besonderen moralischen An- cherlich maßgeblich geprägt. Die meisten der Texte
spruch, Sklaven, Fremde, sozial Schwache und Aus- der jüdischen Bibel und viele theologische Reflexio-
gegrenzte menschenwürdig zu behandeln. Deshalb nen danach sind aus der Perspektive der Armen, der
ist es nur folgerichtig, dass menschliche Herrschaft Opfer der Geschichte geschrieben. Insofern hatte
nur dann als legitim angesehen wird, wenn sie für Ge- Nietzsche durchaus recht, wenn er die jüdisch-christ-
rechtigkeit sorgt, d. h. niemanden benachteiligt, zwi- liche Moral als eine ›Moral der Sklaven‹ bezeichnete,
schen Armen und Reichen für einen Ausgleich sorgt, unrecht hat er jedoch in der Rückführung ihres Ur-
im Gericht in fairer Weise Recht spricht usw., wobei sprungs auf das ›Ressentiment‹, denn der Ausschluss
sich ein waches Bewusstsein dafür ausgebildet hat, der Gewalt und des Rechts des Stärkeren »ist nicht
dass Menschen durch Macht oft zum Gegenteil ver- die Sache einer historisch späten und anthropolo-
führt werden. Die biblischen Texte sind dementspre- gisch perversen Umwertung aller natürlichen Werte,
chend skeptisch gegenüber jeder Form von Herr- sondern der Kernpunkt aller Kultur« (Assmann
schaft, sowohl gegenüber der Unterdrückung durch 1990, 275).
fremde Völker als auch durch eigene Könige, die
durch die Propheten härtester Kritik ausgesetzt wa-
ren (vgl. etwa die Fabel vom Dornstrauch als dem Kö-
6 Religiöse Wurzeln und Perspektiven: Judentum und Christentum 37

Historische Hintergründe und wichtige nen eigentlichen Kern, seine Botschaft der Befreiung,
Elemente des Gerechtigkeitsbegriffs zu vergessen drohte. Dass weder das Judentum noch
im Neuen Testament vor allem das Christentum dieser Botschaft immer
treu blieben, ist eine große Tragik und fordert zu einer
Für die Entstehung des Christentums war die Erfah- (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit dieser
rung der Anhänger von Jesus von Nazareth auschlag- schmerzvollen Schuldgeschichte heraus. Trotzdem
gebend, dass nach dem Tod ihres Meisters am Kreuz gab es auch immer wieder Gegenbewegungen gegen
dessen offenbar faszinierendes und mit harter Kritik dieses Vergessen, von den im Mittelalter gegründeten
an den Eliten seiner Zeit einhergehendes Eintreten für Bettelorden über die protestantische Reformation und
Menschlichkeit als Kern seiner Reich-Gottes-Bot- die von der Utopie einer besseren Welt geprägten Mis-
schaft nicht sinnlos geworden sein könne, sondern sionsbemühungen des 16. Jahrhunderts, die Entste-
Gott vielmehr sein Engagement bekräftigte und es hung sozialreformerischer Bewegungen im 19. Jahr-
auch von denen erwartete, die an ihn und sein kom- hundert und die sozialistisch geprägten Teile des Zio-
mendes Reich glaubten. Auch hier weiß man nicht, nismus bis hin zu den befreiungstheologischen Neu-
welche Auslöser historisch zum Glauben an die Auf- ansätzen in den Ländern der so genannten Dritten
erweckung Jesu geführt haben, die eindeutig als Bestä- Welt im 20. Jahrhundert.
tigung seiner Botschaft verstanden und als Beginn
dieses Reiches Gottes interpretiert wurde, in dessen
unmittelbarer Naherwartung auch die ersten Christen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes
lebten (vgl. noch heute die zweite Bitte des Vater Un-
ser: »Dein Reich komme!«). Der Evangelist Lukas legt Wie auch in Ägypten, in Mesopotamien und in Grie-
der Mutter Jesu im Magnifikat Worte in den Mund, die chenland war in Palästina die Gerechtigkeit zunächst
diese Ankunft des Reiches Gottes in seinen Kon- eine eigene Gottheit, die häufig mit der Sonne iden-
sequenzen illustrieren: »Er stürzt die Mächtigen vom tifiziert wurde (Assmann 1990). Ein Nachhall davon
Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden be- findet sich auch in Mal 3,20. Je mehr sich der Mono-
schenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer theismus des Jahwe-Glaubens bei den Israeliten
ausgehen« (Lk 1,52 f.). Wie oft im Neuen Testament durchsetzte, umso mehr wurde die Gerechtigkeit als
gibt es hier zahlreiche Bezüge zum Alten Testament zentrale Eigenschaft des einzigen Gottes betrachtet.
(Ez 17,24; Ps 147,6; Ps 34,11; Ps 107,8–9; Ps 146,7). Je- Gott ist »der Gerechte« (2 Chr 12,6; Ps 11,7 und öfter
su Tod am Kreuz und seine Auferweckung wurden – in den Psalmen; Jes 45,21; Dan 9,14; Zef 3,5), der
ebenfalls in enger Anbindung an die Heiligen Schrif- »oberste Richter« (Jer 11,20; Ez 34,17 etc.), und es
ten der Juden – als Befreiung von der Sünde und vom wird ihm die Aussage in den Mund gelegt: »Als Senk-
Tod für alle Menschen interpretiert. Der zum Glauben blei nehme ich das Recht und die Gerechtigkeit als
an Jesus gelangte Jude Paulus war es dann, der durch Wasserwaage« (Jes 28,17). Dabei war von Beginn an
die Durchsetzung der Befreiung von den jüdischen klar, dass diese göttliche Gerechtigkeit von den Men-
Speisevorschriften und von der Beschneidung für die- schen Nachahmung und Nachfolge, imitatio Dei, ver-
jenigen Christen, die vor ihrer Bekehrung keine Juden langt (vgl. Dtn 13,5) – also eine gerechte Gestaltung
gewesen waren, eine Ausbreitung des Christentums der Beziehungen unter den Israeliten, vor allem zu-
im gesamten Mittelmeerraum ermöglichte. Auch das gunsten der Armen, zwischen dem Volk und seinen
Christentum war also zunächst sehr wohl eine Religi- Herrschern, zwischen den Israeliten und den Frem-
on der »Mühseligen und Beladenen« (Mt 11,28). Im den, ja sogar zwischen den Menschen und der außer-
vierten Jahrhundert wurde es dann erst zu einer tole- menschlichen Natur: »So spricht der Herr: Wahrt das
rierten Religion, dann sogar zur römischen Staatsreli- Recht und sorgt für Gerechtigkeit [...]« (Jes 56,1) (So-
gion (konstantinische Wende). lomon 1994). Eine der beeindruckendsten, aber si-
In der Folgezeit, vor allem im Mittelalter bis hin zur cher auch nicht unproblematischen Gerechtigkeits-
Zeit des Absolutismus, kam es zu engen und hochpro- ideen des Judentums war das Erlassjahr: Alle sieben
blematischen Verflechtungen von religiöser und staat- Jahre sollte es einen allgemeinen Schuldenerlass ge-
licher Gewalt, auch zur religiösen Legitimation staatli- ben (Dtn 15), sehr viel regelmäßiger als die altbaby-
cher Unterdrückung, ab dem 16. Jahrhundert auch lonischen Schuldenerlasse, die meist nur aus Anlass
von Kolonialismus und Imperialismus. Dabei bestand einer Thronbesteigung verkündet wurden (Hieke
immer wieder die Gefahr, dass das Christentum sei- 2007, 210). Noch weiter ging das so genannte Jo-
38 I Der Begriff der Gerechtigkeit

beljahr (Lev 25,8–31) – wobei man nicht weiß, ob es fallen (vgl. z. B. Spr 26,27). Dass leider häufig genau
jemals wirklich praktiziert worden ist. Nach sieben das Gegenteil passiert, hat die Verfasser der biblischen
mal sieben Jahren, also im 50. Jahr, sollten alle Skla- Schriften sehr beschäftigt, besonders eindrücklich aus
ven freigelassen, alle Schulden erlassen und die ur- der Perspektive eines betroffenen Gerechten in Psalm
sprünglichen Besitzverhältnisse wiederhergestellt 73 oder besonders differenziert im Buch Ijob und bei
werden, sozusagen um einen fairen Anfangszustand Kohelet. Der Ijob der Rahmenerzählung lässt sich
nach Jahren des Anwachsens von Ungleichheiten trotz seines unschuldigen Leidens in seiner Gottes-
wiederherzustellen. Gerechtigkeit beinhaltete jedoch beziehung nicht erschüttern; für Kohelet bleibt das
nicht allein die Einhaltung moralischer Normen, die Problem undurchschaubar, weshalb für ihn letztlich
im religiösen Kontext selbstverständlich als Gesetze alles menschliche Streben ›Windhauch‹ ist. Sicher
Gottes aufgefasst wurden, sondern darin umfassen- liegt in der Erfahrung so vieler, zu Lebzeiten unaus-
der zugleich die Treue der Menschen zu ihrem Gott, geglichener Ungerechtigkeiten eine der Wurzeln für
als deren Grundlage immer auch die Treue Gottes zu die (allerdings vergleichsweise späte) Entstehung des
seinem Volk gesehen wurde. So konnte Gott den Glaubens an eine Auferstehung bzw. ein Weiterleben
Glauben des Abraham ihm als Gerechtigkeit anrech- nach dem Tod und ein letztes Gericht Gottes. Ähnlich
nen (Gen 15,6). Gerechtigkeit ist hier ein relationaler wie in Psalm 73,4 formulieren die Beter auch in Psalm
und dynamischer Begriff, er beinhaltete auch die 49,16 oder im vierten Gottesknechtslied (Jes 53,8–11)
Barmherzigkeit Gottes, der sich seines Volkes immer die Erwartung eines Ausgleichs nach dem Tod. Die im
wieder erbarmt, obwohl es dies nicht verdient hat gerechten Widerstand gefolterten und getöteten Mak-
(z. B. Dan 9,7–19; Mi 7,18–20). Zwischen einer mora- kabäer stärkten sich durch den Glauben an Auferste-
lischen, also das Handeln des Menschen qualifizie- hung und göttliches Gericht (2 Makk 7). Klaus Bieber-
renden, und einer soteriologischen, also Gottes Heils- stein (2011) hat anhand der schwierigen Stelle in Dan
handeln ansprechenden Dimension von Gerechtig- 12,1–3 und im Rückbezug auf das pseudepigraphische
keit wird nicht unterschieden, wenngleich die Span- äthiopische Henochbuch, die wohl älteste apokalypti-
nung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, wie sie sche Schrift (ca. 3. Jahrhundert v. Chr.), gezeigt, dass
etwa in der Gnadenformel von Ex 34,6–7 thematisiert im Ursprung der Auferstehungserwartung tatsächlich
wird, erhalten bleibt. Gegen die Gnosis mit ihrer die Idee der Gerechtigkeit liegt. Denn dort sollten zu-
Zweigötterlehre haben die Kirchenlehrer im 3. Jahr- nächst nur diejenigen aus dem Tod auferstehen, die
hundert und die mittelalterlichen Theologen wie Pe- entweder als gute Menschen ihren Lohn oder als
trus Lombardus oder Thomas von Aquin an der Zu- schlechte Menschen ihre Strafe zu Lebzeiten noch
sammengehörigkeit von Barmherzigkeit und Ge- nicht erhalten haben, während bei denjenigen, bei de-
rechtigkeit als Eigenschaften des einen Gottes fest- nen der Tun-Ergehens-Zusammenhang auch schon
gehalten. Bis heute setzen sich Judentum und zu Lebzeiten in gerechter Weise gegeben war, von ei-
Christentum mit dieser Polarität auseinander, teilwei- ner Auferstehung nicht die Rede ist und auch nicht
se auch unter den Begriffspaaren Gerechtigkeit und sein muss.
Solidarität oder Gerechtigkeit und (soziale) Liebe
(vgl. etwa Jacob/Homolka 2006).
Rechtfertigung Gottes angesichts
der Ungerechtigkeit in der Welt?
Vom innerweltlichen Tun-Ergehens-
Zusammenhang zur Auferstehungs- Trotz einer solchen Auferstehungshoffnung ist die
hoffnung Existenz des Bösen und des Übels in der Welt auch in
Judentum und Christentum als Problem für den Glau-
Immer wieder handelt die jüdische Bibel vom so ge- ben an einen gerechten und allmächtigen Gott emp-
nannten ›Tun-Ergehens-Zusammenhang‹, der auch funden worden. Wenn Gott wirklich gerecht und all-
für die ägyptische Gerechtigkeitsvorstellung einer mächtig ist, muss er etwas gegen das Böse und die
›konnektiven Gerechtigkeit‹ zentral war (Assmann Übel in der Welt tun, sonst ist er entweder nicht all-
1990, 283–288). Dahinter steht die Erwartung, dass mächtig oder nicht gerecht. In allen Religionen, deren
das gute Handeln gerechter Menschen dazu führt, Gottesvorstellungen die Eigenschaften Gerechtigkeit
dass es ihnen auch gut geht, während die Taten der bö- und Allmacht implizieren, führen erfahrene Unge-
sen Menschen noch zu ihren Lebzeiten auf sie zurück- rechtigkeiten und Leid zu dieser, von Gottfried Wil-
6 Religiöse Wurzeln und Perspektiven: Judentum und Christentum 39

helm Leibniz (1646–1716) als Theodizeeproblem be- identifiziert: »Alles, was ihr von den anderen erwar-
zeichneten Frage der Rechtfertigung Gottes ange- tet, das tut auch für sie! Darin besteht das Gesetz und
sichts des Bösen und des Leids (zum Folgenden die Propheten«. In der Gerichtsrede Jesu in Mt 25,31–
Loichinger/Kreiner 2010). Schon bei Ijob, der Gott 46 wird von Jesus denjenigen das Heil zugesprochen,
(im Dialogteil der Schrift) mit harten Worten anklagt die den ärmsten ihrer Mitmenschen geholfen und
(Ijob 9,24), findet sich eine differenzierte Auseinan- Liebestaten erwiesen haben. Wie schon in der jü-
dersetzung mit diesem Problem. Aber während man dischen Bibel (Lev 19,2) wird von den Christen Hei-
bis ins 17. Jahrhundert hinein von der Existenz Gottes ligkeit oder Vollkommenheit nach dem Vorbild Got-
überzeugt war und eine Lösung des Problems vor al- tes selbst verlangt (Mt 5,48). Auch wenn das jesua-
lem darin sah, dass Gottes Weisheit und damit die nische Gebot der Feindesliebe oft für eine besondere
Sinnhaftigkeit des Bösen und des Leids den Menschen christliche Zuspitzung gehalten wird, finden sich
letztlich verborgen, sehr wohl aber möglich sei, wurde auch schon in der jüdischen Bibel konkrete Einzel-
mit Entstehung des Atheismus das Theodizeeproblem vorschriften, die in die gleiche Richtung gehen (Ex
zu einer massiven Anfrage an den Gottesglauben 23,4 f.; Spr 24,17, Spr 25,21). Die häufige Kritik Jesu
selbst. Nicht zuletzt wurden die gängigen Lösungsver- an einer religiösen Praxis, die nicht mit einem Han-
suche, das Leid als Strafe für begangene Sünden, als deln zugunsten der Armen und Bedrängten einher-
stellvertretende Sühne oder als Prüfung der Gläubigen geht, kann ebenfalls an das Alte Testament anknüpfen
zu verstehen – was angesichts des dafür anzunehmen- (Jes 58,6–8; Amos 2,6–8). Die eigentliche Pointe des
den Gottesbildes nicht unproblematisch ist –, zuletzt häufig zitierten Samaritergleichnisses (Lk 10,25–37)
sicherlich durch die Shoa (den Holocaust) und das da- ist auch weniger der Aufruf zur Hilfeleistung als die
mit verbundene, ungeheuerliche Ausmaß an Schuld Aussage, dass die Forderung nach gerechtem Han-
und Leid erschüttert. Jüdische wie christliche Theo- deln höher zu gewichten ist als Frömmigkeitsvor-
logen stellen seitdem die Frage, ob und in welcher schriften, die für den Priester und Levit galten, die
Weise ›nach Auschwitz‹ noch Theologie getrieben und achtlos vorbeigingen. Sogar die Kritik Jesu an einer
an Gott geglaubt werden kann. rigorosen Praxis der Einhaltung des Sabbatgebotes
(Mk 2,27) entspricht sehr wohl dem Geist des jü-
dischen Gesetzes (vgl. 1 Makk 2,41). Auch heute ver-
Christliche Akzentuierungen des Gerechtig- treten die meisten Rabbiner den Vorrang der Rettung
keitsbegriffs menschlichen Lebens vor der Einhaltung des Sabbat-
gebotes (Solomon 1994, 144).
Aufbauend auf das Beispiel Jesu und seine Erwartung
des nahen Reiches Gottes wird das Gerechtigkeits-
denken des Judentums durch das Christentum zwar Rechtfertigung des Menschen aus Glauben
in manchen Punkten anders akzentuiert, in wesentli-
chen Elementen jedoch fortgeführt. Die schon im Trotz solcher prägnanten moralischen Forderungen
vorchristlichen Judentum vorhandene messianische bleibt in den biblischen Texten aber klar, dass sich
Erwartung (vgl. z. B. Jes 11,1–16; 56,1–8), für die die der Mensch vor Gott nicht durch seine Werke recht-
Manifestation göttlicher Gerechtigkeit das zentrale fertigen kann, sondern immer auf die Gnade Gottes
Element darstellt (Jes 11,5; 56,1), wird auf die Reich- angewiesen bleibt. ›Gerecht‹ wird der Mensch ›aus
Gottes-Botschaft als Herstellung endgültiger Gerech- Glauben‹ (vor allem Röm 1,17; 5,19; 3,21–26; 10,3 f.;
tigkeit und auf Jesus selbst als den erwarteten Messias 2 Kor 5,21; Gal 3,13). Paulus kann dabei auf alttesta-
bezogen. Dementsprechend wird Jesus als Modell des mentliche Wurzeln zurückgreifen (Gen 15,6; Hab
Gerechten (1 Joh 2,1) verstanden und in der Leidens- 2,4; Dtn 9,4–6; Ps 143,2), ähnliche Überlegungen fin-
geschichte als unschuldiger Gerechter dargestellt (Mt den sich auch in der rabbinischen Theologie (Finkel
27,19; Lk 23,47). Dabei wird immer wieder betont, 1984, 413).
dass sich Jesus mit seinen Gerechtigkeitsforderungen In der Martin Luther besonders bedrängenden Fra-
nicht gegen das jüdische Gesetz stellt, sondern es ge- ge, wie der Mensch denn vor Gott gerecht sein könne,
rade dadurch erfüllt, weil es in seinem Kern aus dem entdeckt die Reformation im 16. Jahrhundert den
Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe besteht gnädigen Gott und die Rechtfertigung des Menschen
(Mt 22,40; vgl. Dtn 6,5; Lev 19,18). In Mt 7,12 wird so- durch die Gnade Gottes wieder. Damit ergeben sich
gar die Goldene Regel mit dem jüdischen Gesetz drei zu unterscheidende Arten von Gerechtigkeit: ers-
40 I Der Begriff der Gerechtigkeit

tens die weltliche, zivile Gerechtigkeit (iustitia civilis), bot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über
der die Christen als Weltbürger selbstverständlich zu deine Kraft und ist nicht fern von dir. Es ist nicht im
folgen haben, zweitens die allein von Gott kommende Himmel, so dass du sagen müsstest: Wer steigt für uns
Rechtfertigung aus Glauben (iustitia passiva), die in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet
dann aber drittens durchaus gute Werke als Frucht des es uns [...]? [...] Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es
Glaubens (iustitia actualis) nach sich zieht, nicht aber ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst
mit der Werkgerechtigkeit identisch ist, die die Auffas- es halten« (Dtn 30,11 f. und 14).
sung nahelegen könnte, der Mensch könne sich sein So konnte schon Philo von Alexandrien (15/10
Heil gegenüber Gott verdienen. v. Chr. bis 40 n. Chr.) wie Paulus (Röm 2,14–15) die
Eine zu starke Betonung dieser Rechtfertigungsleh- jüdische Tora als natürliches Gesetz verstehen (Solo-
re impliziert freilich einige theologische Probleme, mon 1994, 135–137). Die ersten großen christlichen
beispielsweise die Fragen, wie es um diejenigen steht, Theologen (Kirchenväter) und das gesamte Mittelalter
die schuldlos nicht zum Glauben gefunden haben, haben denn auch versucht, die christliche Lehre mit-
welche Rolle die guten Taten dann noch vor dem Ge- hilfe griechischer und römischer Philosophie aus-
richt Gottes spielen und nicht zuletzt, zu welchem zulegen und zu plausibilisieren, selbstverständlich in
Gottesbild es führt, wenn man davon ausgeht, dass ständigem Austausch mit jüdischen Theologen und
Gott der Satisfaktion für die Sünden der Menschen Philosophen. In der Scholastik wurde, vermittelt
durch den Sühnetod seines Sohnes bedurfte. Die Vor- durch jüdische (Maimonides, 1135/38–1204) und
stellung einer Rettung allein aus Gnade steht auch in arabische Philosophen (Averroës, 1126–1198), ver-
einer gewissen Spannung zur Betonung der guten stärkt auf Aristoteles zurückgegriffen, ohne dessen
Werke in Jak 2,17, ja sogar zu manchen Aussagen von Schriften einer der größten mittelalterlichen Theo-
Paulus selbst, der ebenfalls zu guten Werken gegen- logen, Thomas von Aquin (1225–1274), gar nicht zu
über den Armen aufruft (vgl. auch 2 Kor 9,6–10), wo- verstehen ist. Dieser ständige, sehr intensiv geführte
bei bei ihm wie bei Luther der Indikativ der von Gott Dialog zwischen jüdisch-christlicher Ethik und Phi-
zugesprochenen Gnade immer dem Imperativ der losophie wird bis in die heutige Zeit hinein fort-
Aufforderung zu gerechtem Handeln vorausgeht. Im geführt. Für jüdische Ansätze kann etwa auf Lenn E.
Zuge ökumenischer Verständigungsprozesse haben Goodman (1991) oder Hermann Cohen (2008) ver-
sich die Kirchen der Reformation und die katholische wiesen werden. In der katholischen Theologie gab es
Kirche gerade in der Frage der Rechtfertigung aus eine besonders intensive Debatte um die so genannte
Glauben aufeinander zubewegt, was prägnant in der – ›autonome Moral‹ (Auer 1971); ihr zufolge ist der re-
allerdings in der evangelischen Kirche nicht un- ligiöse Glaube zwar wichtig für die Motivation, über-
umstrittenen – Gemeinsamen Erklärung des lutheri- haupt moralisch zu handeln, für das moralische Ur-
schen Weltbundes und der katholischen Kirche zur teil seien aber Vernunftargumente entscheidend. An-
Rechtfertigungslehre (1999) zum Ausdruck kommt. sätze in dieser Denkrichtung sind freilich innerkirch-
lich nicht unumstritten, sie setzen die Moraltheologie
unter Modernisierungsdruck. Auch seitens protes-
Die Bedeutung der Vernunft für das jüdische tantischer Entwürfe zur Gerechtigkeit wird ein inten-
und christliche Verständnis von Moral als siver Dialog mit der Philosophie geführt, beispiels-
autonome Moral weise mit Rawls (Bedford-Strohm 1993) und anderen
philosophischen Positionen (Müller 2003). Die la-
Analysiert man die auf das Verhältnis der Menschen teinamerikanische Befreiungstheologie hat wichtige
untereinander zielenden biblischen Texte zur Gerech- Impulse gegeben, besonders die Sozialethik als eine
tigkeit genauer, so lässt sich zeigen, dass hier oft all- Ethik gesellschaftlicher Strukturen zu begreifen, für
gemein-menschlich vernünftig argumentiert wird, die der Austausch mit den Sozial- und Wirtschafts-
freilich nicht in Form von philosophischen Traktaten, wissenschaften wichtig ist. Inzwischen gibt es einen
sondern narrativ in Geschichten, Parabeln, Fallbei- relativ breiten Konsens, dass Ethik und Sozialethik als
spielen und Ermahnungen. Entscheidend ist dabei, gegenüber der Theologie autonome wissenschaftliche
dass die moralischen Normen nicht als etwas betrach- Disziplinen zu verstehen seien, die jedoch trotzdem
tet werden, das eine dem Menschen fremde Autorität als Reflexion der Gerechtigkeitspraxis von Christen
ihm auferlegt, sondern als Normen, die dem Men- und Kirche einen unaufgebbaren Bezug zu Theologie
schen zugänglich und verständlich sind: »Dieses Ge- und Kirche aufweisen.
7 Religiöse Wurzeln und Perspektiven: Islam 41

Literatur 7 Religiöse Wurzeln und


Ansorge, Dirk: Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes. Die
Dramatik von Vergebung und Versöhnung in bibeltheologi-
Perspektiven: Islam
scher, theologiegeschichtlicher und philosophiegeschicht-
licher Perspektive. Freiburg i. Br. 2009.
Assmann, Jan: Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Der Islam hat eine über 1400-jährige, wechselvolle
alten Ägypten. München 1990. Geschichte auf mehreren Kontinenten, die eine theo-
Auer, Alfons: Autonome Moral und christlicher Glaube. Düs- logisch diverse Entwicklung und sehr unterschiedli-
seldorf 1971. che islamisch geprägte Gesellschaften hervorgebracht
Bedford-Strohm, Heinrich: Vorrang für die Armen. Auf dem
hat. Bereits im Koran und in der Überlieferung taucht
Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit. Gü-
tersloh 1993. der Begriff der Gerechtigkeit auf. Die islamische Phi-
Bieberstein, Klaus: Vom Verlangen nach Gerechtigkeit zur losophie diskutiert den Terminus, sodann spielt er im
Erwartung einer Auferweckung von Toten. In: Erasmus Rechts- und Gerichtswesen eine Rolle. Gerechtigkeit
Gaß/Hermann-Josef Stipp (Hg.): Ich werde meinen Bund wird von Juristen und Theologen auch in Bezug auf
mit euch niemals brechen! (Ri 2,1). Freiburg i. Br. 2011, die Festlegung der an einen gerechten Herrscher zu
295–313.
stellenden Anforderungen sowie in Bezug auf Frauen-
Cohen, Hermann: Religion der Vernunft aus den Quellen des
Judentums. Eine jüdische Religionsphilosophie. Wiesbaden rechte, soziale Verantwortung und ab dem 20. Jahr-
2008. hundert vermehrt im Bereich des Islamismus dis-
Finkel, Asher: Gerechtigkeit II. Judentum. In: Gerhard kutiert. Eine prominente Position nimmt der Begriff
Krause/Siegfried M. Schwertner/Gerhard Müller (Hg.): der Gerechtigkeit in der Erörterung von Theologen
Theologische Realenzyklopädie, Bd. 12. Berlin 1984, 411– und Juristen jedoch insgesamt nicht ein, und er er-
414.
Goodman, Lenn Evan: On Justice. An Essay in Jewish Phi- fährt auch keine systematische inhaltliche Analyse in
losophy. New Haven/Yale 1991. der islamischen Rechtsliteratur. Im Bereich der klassi-
Hieke, Thomas: ›Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – ihr sollst du schen Theologie findet bis zur Gegenwart keine Ver-
nachjagen‹ (Dtn 16,20). Die Sozialutopie des Buches Deu- knüpfung des Menschenrechtsgedankens mit der
teronomium. In: Religionsunterricht an höheren Schulen Thematik der Gerechtigkeit statt.
50/4 (2007), 208–217.
Jacob, Walter/Homolka, Walter: Hesed and Tzedakah. From
Bible to Modernity. Berlin 2006.
Krause, Gerhard et al.: Gerechtigkeit. In: Theologische Real- Der gerechte Gott: Koran und Überlieferung
enzyklopädie, Bd. 12. Berlin 1984, 404–440.
Kruip, Gerhard: Traditional conceptions of justice in Chris- Schon in Koran und Überlieferung finden sich mehre-
tianity. In: Rajeev Bhargava/Michael Dusche/Helmut Rei- re Verse, die Gerechtigkeit bzw. gerechtes Verhalten
feld (Hg.): Justice. Political, Social, Juridical. New Delhi
2008, 94–115.
thematisieren. Dort finden sich etwa allgemeine Auf-
Loichinger, Alexander/Kreiner, Armin: Theodizee in den forderungen, gerecht zu sein (»seid gerecht!«, Sure
Weltreligionen. Ein Studienbuch. Paderborn 2010. 5: 8), weil Gott Gerechtigkeit befiehlt (7: 29). Die Ge-
Müller, Wolfgang Erich: Argumentationsmodelle der Ethik. rechten können sich des Wohlgefallens Gottes sicher
Positionen philosophischer, katholischer und evangelischer sein, denn: »Gott liebt die Gerechten« bzw. diejenigen,
Ethik. Stuttgart 2003.
»die gerecht handeln« (Sure 60: 8), ohne dass eine in-
Scoralick, Ruth (Hg.): Das Drama der Barmherzigkeit Gottes.
Studien zur biblischen Gottesrede und ihrer Wirkungs- haltliche Umschreibung des Begriffs der Gerechtigkeit
geschichte in Judentum und Christentum. Stuttgart 2000. gegeben würde; eine einhellige Auffassung über die
Solomon, Norman: Judaism. In: Jean Holm/John Westerdale inhaltliche Füllung des Begriffs der Gerechtigkeit
Bowker (Hg.): Making Moral Decisions. London/New existiert in der islamischen Theologie nicht.
York 1994, 123–152. Die Offenbarung des Islam wird im Koran sehr
Weinfeld, Moshe: Social Justice in Ancient Israel and in the
Ancient Near East. Jerusalem 1995.
grundsätzlich mit der Gerechtigkeit verknüpft, denn
Witte, Markus (Hg.): Gerechtigkeit. Tübingen 2012. das Ziel der Herabsendung des Korans war die Schaf-
fung von Gerechtigkeit: Die »Gesandten« wurden mit
Gerhard Kruip der Offenbarung Gottes zu den Menschen geschickt,
damit »die Menschen für Gerechtigkeit sorgen« (Sure
57: 25). Gerechtigkeit ist damit, wie der Koran und spä-
ter auch die Überlieferung deutlich machen, religiös
definiert. Denn Gott handelt gerecht, er »sorgt für Ge-
rechtigkeit« (Sure 3: 18); ja, seine Gerechtigkeit ist der
42 I Der Begriff der Gerechtigkeit

Maßstab allen menschlichen Handelns. Abseits der Ge- schen prädestiniert sind durch die Allmacht Gottes,
rechtigkeit Gottes gibt es keine Gerechtigkeit, so dass der durch nichts begrenzt und von nichts beeinflusst
der Mensch nur dann gerecht sein kann, wenn er dieser werden kann, stellt sich die Frage, wie Gott gerecht
Gerechtigkeit Gottes nacheifert und die Gebote Gottes sein könne, der doch den Menschen im Jüngsten Ge-
hält (Alabied 2001, 23). Der wohl bedeutendste Vertre- richt für sein Tun zur Verantwortung ziehen und den
ter der frühislamischen Jurisprudenz, Muhammad ibn Sünder verurteilen werde. Die in dieser Frage differie-
Idris ash-Shafi’i (767/768–820) definierte Gerechtigkeit renden Anhänger der Qadariten und Jabariten stimm-
daher als Gehorsam gegen Gott (Khadduri 1984, 57). ten zwar darin überein, dass Gott die Quelle aller Ge-
Zwar bezeichnet der Koran Gott nicht unmittelbar rechtigkeit und diese vollkommen, ewig und unüber-
als ›den Gerechten‹, jedoch wird ihm dieser Beiname trefflich sei, sie unterschieden sich aber grundsätzlich
im Rahmen der so genannten 99 schönsten Namen hinsichtlich der Frage, ob die Gerechtigkeit Gottes ein
Gottes sehr häufig zugewiesen (Rahbar 1960, 9). Auch Ausdruck seines Willens und seiner Macht sei, wie die
an seinem Lebensende wird dem Menschen Gerech- Jabariten behaupteten, oder aber ein Ausdruck seines
tigkeit zuteilwerden, denn Gott ist ein gerechter Rich- Wesens und seiner Vollkommenheit, wie die Qadari-
ter und Vergelter (10: 4), er wird Glauben und Tun je- ten verfochten, zu denen auch die theologisch-phi-
des Menschen auf »gerechten Waagen« abwägen losophische Schule der Muҵtaziliten zu rechnen ist
(21: 47) und in absoluter Gerechtigkeit jedem das im (vgl. Khadduri 1984, 39 f.).
Jenseits zukommen lassen, was er verdient (42: 22). Für die in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts ge-
Der Koran benutzt für Gerechtigkeit im Ara- gründete theologische Schule der Muҵtaziliten besaß
bischen häufig die Begriffe cadl oder qi‫܈‬t und bezeich- die Lehre von der Gerechtigkeit Gottes besonders gro-
net damit ein gerechtes, angemessenes, nicht betrüge- ße Bedeutung, auch wenn der Mensch, wie sie lehrten,
risches Handeln. Insbesondere cadl besitzt eine um- nicht zu jedem Zeitpunkt die Gerechtigkeit Gottes be-
fassendere Bedeutung und weist auf ein moralisch greifen könne (Ende 2008, 26). Sie nannten sich selbst
einwandfreies Tun, auf Integrität, Aufrichtigkeit und ›Leute der Gerechtigkeit und der Einheit‹ (Gottes)
Redlichkeit hin (Krämer 2007, 24 f.). Die gegentei- (arab. ahl al-cadl wa-t-tau‫ۊ‬īd), denn Gott ist, so lautet
ligen Begriffe lauten fāsiq (gottlos, sündhaft, ruchlos) einer ihrer fünf grundlegenden Lehrsätze, absolut ge-
oder ܲulm (Unrecht, Sündhaftigkeit, Schlechtigkeit). recht, ja, habe die Verpflichtung, gerecht zu handeln,
Mit der Betonung der Notwendigkeit gerechten da Ungerechtigkeit grundsätzlich seinem Wesen wi-
Handelns spiegelt der Koran die vom Handel geprägte derspräche. Daher könnten die Handlungen des Men-
Gesellschaft der Arabischen Halbinsel wider, wenn er schen nicht vorherbestimmt sein – so die Muҵtazila –,
die Gläubigen ermahnt, das Vermögen der Waisen sondern der Mensch könne selbst zwischen gerechten
nicht anzutasten (6: 152), volles Maß und Gewicht zu und ungerechten Handlungen wählen und sei damit
geben, gerecht zu sein beim Zeugnis und ganz all- auch allein verantwortlich für sein Tun. Andernfalls
gemein der Gerechtigkeit vor dem persönlichen Vorteil wäre aus Sicht des muҵtazilitischen Voluntarismus das
den Vorzug zu geben (4: 135), Schuldverträge gerecht Gericht über die Menschen nicht gerecht. Langfristig
abzufassen (2: 282), zwischen den Menschen gerecht konnte sich die voluntaristische Position der Muҵtazila
zu richten (4: 58) und, schließlich, mehrere Ehefrauen politisch allerdings nicht durchsetzen. Die Gegen-
gerecht zu behandeln (4: 3). Insbesondere wenn Ver- spieler der Muҵtaziliten, die Ashҵariten, verfochten die
wandte involviert sind, mahnt er die Gläubigen, keine Auffassung von der Allmacht Gottes in allen seinen
ungerechten – falschen – Aussagen zu treffen (6: 152). Handlungen. Gerechtigkeit zu bewirken, ist ihrer Auf-
fassung nach nicht dem (freien) Willen des Menschen
überlassen, sondern immer ein Ausdruck des Willens
Willensfreiheit und Gerechtigkeit: Gottes, während der Mensch gleichzeitig aufgefordert
Theologie und Philosophie ist, Gottes Gebote zu erfüllen (Khadduri 1984, 56).

In der Theologie entzündete sich bereits in der Früh-


zeit des Islam eine intensive Diskussion an der Frage, Gerechte Herrschaft
ob der Mensch in seinem Handeln Willens- und Ent-
scheidungsfreiheit besitze oder ob alle seine Handlun- Grundsätzlich bedeutet die positive koranische Wer-
gen von Gott vorherbestimmt seien, weil Gott all- tung und die spätere theologische Diskussion des Be-
mächtig sei. Denn wenn alle Handlungen des Men- griffs der Gerechtigkeit nicht, dass Gerechtigkeit mit
7 Religiöse Wurzeln und Perspektiven: Islam 43

Gleichheit, Gleichberechtigung oder Gleichrangigkeit recht gilt, der die Gebote Gottes zur Anwendung
gleichgesetzt würde, obwohl Gott alle Menschen bringt und auf diese Weise irdische Gerechtigkeit her-
gleich an Würde geschaffen hat und sie zur Brüder- stellt. Dies gilt als eine seiner vornehmsten Aufgaben.
lichkeit aufruft. Vielmehr erkennt das klassische Wie diese Herrschaftsform im Einzelnen auszusehen
Schariarecht verschiedenen Personen(gruppen) un- hat, darüber finden sich im Koran keine konkreten
terschiedliche Rechte zu, die bis heute vor allem in Angaben, und auch das Kalifat ist eine historische
den arabischen Staaten des Nahen Ostens die dorti- Entwicklung, die sich erst aus der Praxis nach dem
ge Rechtswirklichkeit widerspiegeln: Muslimische Tod Muhammads ergab. Unter der Ägide des gerech-
Staatsbürger besitzen umfangreichere Rechte als ten Herrschers soll auch ein Richter Gerechtigkeit
Nichtmuslime (denen häufig der Aufstieg in höhere üben, indem er gemäß dem Gesetz Gottes Recht
Ämter in Militär, Gerichtswesen, Universität oder Si- spricht. Damit ihm das möglich ist, ist der ihm über-
cherheitsdiensten verwehrt ist). Dessen ungeachtet geordnete Herrscher aufgefordert, das Schariarecht zu
gelten Juden und Christen als ›Buch-‹ oder ›Schrift- achten und zu schützen.
besitzer‹, als prinzipiell anerkannte Minderheiten und Zur Wahrung von Gerechtigkeit und Sicherheit ge-
besitzen mehr Rechte, etwa zur Abhaltung von Got- hörte, je nach Erfordernis, auch der Jihad, sei es ein
tesdiensten und zum Erhalt ihres Gemeinschaftsbesit- defensiver Kampf für den Schutz der Grenzen vor
zes, als nicht-anerkannte religiöse Gruppierungen wie dem Feind oder ein offensiver Kampf mit dem Ziel
etwa die Baha’i, die in einigen Ländern wie etwa dem der Expansion. Als weitere Aufgaben eines gerechten
Iran keine legale Existenz haben. Männer besitzen Herrschers gelten die Aufrechterhaltung der inneren
nach Schariarecht und gemäß Familienrecht ara- Ordnung sowie die Steuereintreibung und Verwal-
bischer Länder mehr Rechte als Frauen (z. B. im Erb-, tung der Staatskasse. Zur Erfüllung dieser Aufgaben
Ehe- und Scheidungsrecht), und Freie besaßen mehr galt die Anwendung des göttlichen Gesetzes gewis-
Rechte als Sklaven, die eigentlich außerhalb des Ge- sermaßen als Garant für die Etablierung von Gerech-
meinwesens standen. Volle Rechte besitzt nach Auf- tigkeit; kam der Herrscher dieser Aufgabe nicht nach,
fassung des klassischen Schariarechts daher nur der galt seine Herrschaft als tyrannisch. Ob und wann
freie, männliche Muslim. Untertanen berechtigt seien, einem ungerechten
Ungeachtet dieser rechtlich definierten Ungleich- Herrscher die Loyalität aufzukündigen, wurde von
heit diskutierten Theologen schon früh die Frage nach Theologen und Juristen ausführlich erörtert. Nicht
den Voraussetzungen einer gerechten Herrschaft über selten findet sich in ihren Abhandlungen die Auffas-
die muslimische Gemeinschaft. Sie entzündete sich sung, dass ein tyrannischer Herrscher der Anarchie
nach dem Tod Muhammads im Jahr 632 n. Chr. vor vorzuziehen sei; so fordert etwa auch einer der bedeu-
allen Dingen deshalb, weil er Prophet und Verkünder, tendsten Rechtsgelehrten, Abū ণāmid Muতammad b.
Gesetzgeber und Heerführer in einer Person gewesen Muতammad al-Ġazālī (1058–1111) nachdrücklich,
war, zu Lebzeiten aber keine Nachfolgeregelung ge- dass sich Untertanen auch ungerechten Herrschern
troffen hatte. Damit war auch die Frage nach den not- zu unterwerfen hätten (Ende 2008, 27).
wendigen Voraussetzungen einer gerechten Fortfüh- Übt der Herrscher Gerechtigkeit, gebührt ihm im
rung seiner Herrschaft ungeklärt. Für die Mehrheit Gegenzug Gehorsam, der erst dort endet, wo er von
der muslimischen Gemeinde, die später die Bezeich- seinen Untertanen Verstöße gegen das Schariarecht
nung ›Sunniten‹ erhalten, war die Fortführung einer fordert. Diese von ihm aufgerichtete Gerechtigkeit –
gerechten, legitimen Herrschaft durch die Wahl eines und nicht etwa die Freiheit, die in der frühislamischen
Angehörigen aus dem Stamm Muhammads, den Qu- Rechtsliteratur als individuelles Freiheitsrecht über-
raysh, und dessen Bestätigung durch Wahl und Treue- haupt keine Rolle spielt – gilt als Gegenstück zur Ty-
eid durch seine Anhänger gewährleistet, während die rannei (Lewis 2002, 188 f.). Gerechtigkeit entsteht al-
Minderheit der ›Partei Alis‹, die später den Beinamen so durch Wahrung der Ordnung, nicht durch Gleich-
›Schiiten‹ erhielten, die direkte leibliche Abstammung berechtigung und Einebnung der Unterschiede. Sie
von Muhammad als Voraussetzung für die Fortfüh- gedeiht durch die Rückbindung des Herrschers an
rung einer gerechten Herrschaft über die islamische göttliche Normen; die Aufrechterhaltung der öffent-
Gemeinschaft betrachteten. lichen Ordnung hat dabei höchsten Stellenwert. Ver-
Große Übereinstimmung kristallisierte sich schon hilft der Herrscher den schariarechtlichen Normen
früh unter Theologen wie Juristen hinsichtlich der zur Umsetzung, entsteht eine gerechte Gesellschaft.
Auffassung heraus, dass derjenige Herrscher als ge- Übt der Herrscher jedoch Tyrannei, indem er die
44 I Der Begriff der Gerechtigkeit

göttlichen Rechtsnormen missachtet, bedeutet seine Mehrzahl der Theologen hat sich jedoch, nicht zuletzt
Herrschaft Ungerechtigkeit, die als schwere Sünde aufgrund der nachzuahmenden Vorbildhaftigkeit
aufgefasst wird, als Ursache für Niedergang und Zer- Muhammads, der Auffassung von der prinzipiellen
störung, aber auch als Angriff auf Gott selbst (Tamimi Erlaubnis zur Mehrehe angeschlossen. Allerdings for-
2001, 98). muliert das Schariarecht als unerlässliche Bedingung
Vollkommene Gerechtigkeit wird am Ende der für den Abschluss einer Mehrehe die gerechte Be-
Zeiten erreicht, wenn der in der sunnitischen wie handlung der Ehefrauen, was ihre materielle Ausstat-
schiitischen Überlieferung verheißene Mahdi (der tung, Versorgung und Zuwendung durch den Ehe-
›Rechtgeleitete‹) erscheinen und auf Erden ein Reich mann betrifft.
der Gerechtigkeit aufrichten wird. Seinem Auftre- Hinsichtlich der Regelung des halben Erbteils für
ten werden schreckliche Vorzeichen vorausgehen, weibliche Familienangehörige lautet die vorherr-
wie z. B. Sonnen- und Mondfinsternisse, Erdbeben, schende Abwehr des Vorwurfs einer ungerechten Be-
Heuschreckenplagen und Wasserfluten. Seine Herr- handlung, dass die – ebenfalls schariarechtlich vor-
schaft wird alle Ungerechtigkeit, allen Widerstand geschriebene – Pflicht des Ehemanns, die Versorgung
und alle nicht-islamischen Kräfte vernichten, um der Familie vollständig zu übernehmen, und das Ver-
so ein endzeitliches Friedensreich entstehen zu bot, die Ehefrau zum Miterwerb des Lebensunter-
lassen. halts zu verpflichten, letztlich durch das ungleiche
Erbrecht lediglich ausgeglichen werde, also keine Un-
gerechtigkeit darstelle. Mit dieser Argumentation der
Geschlechtergerechtigkeit ›Geschlechtergerechtigkeit‹ argumentiert etwa der Is-
lamwissenschaftler Tariq Ramadan (2009, 282). An-
Eine besondere Diskussion in Bezug auf die Thematik dere gegenwärtige Theologen wie Wasiyoddin R. Mu-
der Gerechtigkeit ergibt sich in Bezug auf die zunächst jawar führen aus, dass der Islam die Diskriminierung
koranisch exemplarisch aufgeführten, später scharia- zwischen Männern und Frauen nicht erlaube, außer
rechtlich systematisch definierten Frauenrechte. Die in den Fällen, in denen ihre Ungleichbehandlung auf
Frage der Gerechtigkeit stellt sich einmal für die Gü- ihr Wesen als Frau zurückgehe und letztlich der Frau
terverteilung zwischen weiblichen und männlichen selbst und der ganzen Gemeinschaft zum Guten die-
Nachkommen aufgrund der koranischen Regelung ne. Das sei etwa bei der ausschließlichen Verpflich-
der Zuweisung eines halben Erbteils für weibliche tung des Ehemanns, den Lebensunterhalt zu verdie-
Nachkommen (Sure 4: 11), aber auch in Hinblick auf nen, dem hälftigen Erbe, dem Vorstehen der Familie,
die Polygamie. Hinsichtlich der Polygamie scheint der dem Zeugnisrecht und der Scheidung gemäß dem
koranische Befund zunächst durchaus mehrdeutig: weithin im klassischen Schariarecht anerkannten
Zwar scheint Sure 4: 3 zunächst grundsätzlich die Er- Grundsatz gegeben, dass erst dann Gerechtigkeit her-
laubnis zu erteilen, »zwei, drei oder vier« Frauen zu gestellt sei, wenn Gleiches gleich, aber Ungleiches (al-
heiraten, schränkt jedoch im Nachsatz ein: »Wenn ihr so Männer und Frauen) ungleich behandelt werde
aber fürchtet, (so viele) nicht gerecht zu (be)handeln, (Mujawar 2009, 31). Auch der Spiritus Rector der
dann (nur) eine« (Paret 2014). Noch entschiedener Muslimbruderschaft Sayyid Qutb (1906–1966) argu-
wird jedoch einige Verse weiter, in Sure 4: 129, geur- mentiert mit der physischen Verfassung der Frau,
teilt: »Und ihr werdet die Frauen (die ihr zu gleicher aufgrund derer ihr bestimmte Rechte vorenthalten
Zeit als Ehefrauen habt) nicht (wirklich) gerecht be- blieben, was keinerlei Ungerechtigkeit darstelle (Qutb
handeln können, ihr mögt noch so sehr darauf aus 2000, 73). Aufgrund der unterschiedlichen, von
sein.« Verlangt der Koran also eigentlich die Einehe, Mann und Frau nach schariarechtlichen Grundsätzen
weil eine gerechte Behandlung mehrerer Ehefrauen für das Eherecht zu erfüllenden Verpflichtungen
per se ausgeschlossen ist? kann eine rechtliche Ungleichstellung – so die Argu-
Dieser Auffassung waren zumindest bedeutende mentation – nicht Beweis für Ungerechtigkeit oder
Vertreter der Reformtheologie des 19. Jahrhunderts Benachteiligung der Frau sein. Diese zu erfüllenden
wie vor allem der ägyptische Religions- und Rechts- Verpflichtungen sind in erster Linie die in der klassi-
gelehrte, Mufti und Journalist Muhammad ‫ޏ‬Abduh schen Rechtsliteratur eingeforderten generellen Ge-
(1849–1905). Aber auch heute wird von einzelnen horsamspflichten der Ehefrau gegenüber ihrem Ehe-
Theologen im Namen der Gerechtigkeit die Abschaf- mann (insbesondere ihr sexueller Gehorsam), die in
fung der Polygamie gefordert (vgl. Engineer o. J.). Die dessen Verpflichtung zum Verdienst des Lebens-
7 Religiöse Wurzeln und Perspektiven: Islam 45

unterhalts ihre ›gerechte‹ Entsprechung finden und Gerechtigkeit und Islamismus


erst dort enden, wo er von ihr einen Verstoß gegen
das Schariarecht einfordert. Heute genießt der Begriff der Gerechtigkeit unter
muslimischen Theologen erneut große Aufmerksam-
keit, und zwar sowohl unter progressiv-modernis-
Soziale Gerechtigkeit tischen Vertretern, wie etwa dem ägyptischen Koran-
und Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid
Auch die Frage der sozialen Gerechtigkeit ist eine (1943–2010) oder dem afghanischstämmigen Dozen-
Thematik, die bereits in der Frühzeit des Islam ver- ten für Rechtswissenschaft Hashim Kamali (geb.
wurzelt ist. Der Koran hebt hervor, dass es Arme und 1944), wie auch unter Vertretern eines politischen Is-
Reiche gibt und die Erschwernisse dieses Lebens Teil lam. Innerhalb beider theologischer Diskurse wird die
der Prüfung für die Menschheit sind (z. B. Sure Bedeutung der Gerechtigkeit stark betont: So vertritt
7: 168), fordert also weder die Einebnung der Unter- Abu Zaid entschieden, dass sich zwar im Koran die
schiede noch verurteilt er Reichtum und Besitz an »göttliche Gerechtigkeit« entfalte, ja dass die »gött-
sich. Er verbietet jedoch Betrug, Wucher, unrechte liche Gerechtigkeit [...] das ganze Universum« durch-
Geschäfte (Sure 83), Waisen zu berauben (6: 152), Gut dringe (Abu Zaid 2001, 14). Aus seiner Sicht ist zwar
zu veruntreuen (3: 161) und ordnet die Almosen- zweifellos der Korantext, nicht aber unbedingt die
abgabe aller Gläubigen zugunsten der Bedürftigen an. Auslegung des Korans gemäß dem klassischen Scha-
Die Almosen gehören mit zu den fünf Säulen des Is- riarecht gerecht. Denn das Schariarecht, das letztlich
lam und damit zu den grundlegendsten Glaubens- Interpretation darstellt, erlaubt die Polygamie, weil die
pflichten überhaupt. Weitere Traditionen wie die Auslegung der Mehrehe als Bestandteil der Offen-
Weitergabe eines Teils des Fleisches des Schlachttieres barung des Islam betrachtet wird, während doch dem
beim Opferfest an Bedürftige ebenso wie beim Fest Koran das Prinzip der Gleichheit inhärent sei, so Abu
des Fastenbrechens am Ende des Ramadan weisen auf Zaid. Damit finde eine ›Entkontextualisierung‹ statt,
die Bedeutung der Thematik innerhalb der isla- eine Sinnentleerung der Texte, die sie ihrer ursprüng-
mischen Glaubenspraxis hin. lichen Aussage beraube (ebd., 6 f.). Damit lässt Abu
Im 20. Jahrhundert wurde die Thematik der sozia- Zaid den Offenbarungstext unangetastet, stellt aber
len Gerechtigkeit von Intellektuellen, insbesondere die klassisch-orthodoxe Auslegungstradition zur Dis-
aus dem politischen Islam, mehrfach aufgegriffen. Ei- position.
nes der prominenten Beispiele dafür stellt das Werk Auch Mohammad Hashim Kamali verteidigt die
Social Justice in Islam (al-cadāla al-iğtimāҵīya fī l- unbedingte Notwendigkeit der Aufrichtung von Ge-
Islām) von Sayyid Qutb dar. Qutb preist in dieser rechtigkeit in der Gesellschaft als eines der grund-
Schrift aus dem Jahr 1949 den Islam als Weg zur sozia- legendsten Prinzipien im Islam, das von der Bedeu-
len Gerechtigkeit, der dem materialistischen Denken tung her der Einheit Gottes und dem Prophetentum
des Marxismus und dem weltabgewandt-spirituellen Muhammads sehr nahe kommt, also den Grundlagen
Christentum weit überlegen sei und eine Gesellschaft des Islam schlechthin (Kamali 2013, 107). Die Thema-
hervorbringe, in der die Bedürfnisse des Einzelnen tik der Gerechtigkeit erfährt in Koran und Überliefe-
und der Gesellschaft perfekt miteinander in Einklang rung große Wertschätzung und muss aus seiner Sicht
stünden. Sie sei gekennzeichnet durch Barmherzig- daher heute u. a. in der Politik zum Tragen kommen.
keit, Liebe und Anteilnahme anstelle von Kaltherzig- Allerdings widerspricht für ihn z. B. die Polygamie
keit und Materialismus. Aufgrund der Allumfassend- nicht dem Prinzip der Gerechtigkeit (ebd., 114), so
heit des Islam, der alle Sphären des Lebens mit ein- wie es für ihn überhaupt keinen grundsätzlichen Ge-
schließe, und aufgrund der Verantwortung des Ein- gensatz zwischen Gerechtigkeit und der Umsetzung
zelnen und der Gesellschaft bringe der Islam des traditionell interpretierten Schariarechts zu geben
umfassende soziale Gerechtigkeit hervor, ja er garan- scheint. Kamali begründet Gerechtigkeit ausschließ-
tiere sie geradezu (Qutb 2000, 45, 58). Diese Gerech- lich mithilfe des Schariarechts, das für ihn alle not-
tigkeit basiere auf der absoluten Gewissensfreiheit, wendigen Regelungen bereithält, um eine gerechte
der völligen Gleichheit aller Menschen und der gegen- Gesellschaft zu schaffen.
seitigen Verantwortlichkeit innerhalb einer Gesell- Im Kontext des politischen Islam wird weithin die
schaft, wie sie etwa in der Pflicht zur Almosengabe Grundannahme von der Notwendigkeit einer Re-
zum Ausdruck komme (Qutb 2000, 52). form der islamischen Gesellschaft geteilt, als deren
46 I Der Begriff der Gerechtigkeit

Voraussetzung die Aufrichtung und vollkommene einzelner ›Stellvertreter‹ westlicher Nationen vor lau-
Umsetzung des Schariarechts betrachtet wird. Hier fender Kamera, wie sie derzeit im so genannten ›Isla-
erhalten Forderungen nach Etablierung einer gerech- mischen Staat‹ (IS) in Syrien-Irak propagandistisch
ten Gesellschaft durch die Schaffung einer Gemein- genutzt wird, als Bestrafung der ungerechten west-
schaft, die der urislamischen Gesellschaft möglichst lichen Nationen gedeutet wird, denen sie angehören:
nahe kommt, heute erneut Prominenz. So erläutert »a lawful death sentence, a just punishment« (Prucha
etwa der Führer des tunesischen Zweiges der Mus- 2013, 158). Außer der Verhängung einer gerechten
limbruderschaft, der Ennahda-Bewegung, Rashid al- Strafe geht es dabei, sofern es sich um amerikanische
Ghannushi (geb. 1941), dass das Prinzip der Gerech- Hinrichtungsopfer handelt, auch um Vergeltung –
tigkeit auf der Annahme der Gleichheit aller Men- insbesondere für die Behandlung muslimischer Ge-
schen basiere, und dies aufgrund des »gemeinsamen fangener in Guantanamo Bay – und zugleich um ei-
Ursprungs der Menschheit«, ihres gemeinsamen nen Baustein auf dem Weg zu einer vermeintlichen
Herrn und Glaubens (al-Ghannushi 1993, 65 f.), wo- Etablierung der gerechten Herrschaft Gottes auf Er-
raus sich al-Ghannushi zufolge für alle Menschen den (ebd., 167 f.).
gleiche Rechte und Pflichten ergeben. Diese Gemein- Es wäre wünschenswert, wenn sich die Forschung
schaft ist zur Abwehr jeglicher Ungerechtigkeit ver- in Zukunft vermehrt der vergleichenden Analyse von
pflichtet sowie zur Ausübung von Gerechtigkeit, wie Begrifflichkeiten im Kontext islamisch geprägter Kul-
al-Ghannushis Biograph Tamimi ergänzt: »Islam’s turen und Rechtssysteme widmen würde, da hier
main mission is the administration of justice and the noch erhebliche Forschungslücken bestehen.
elimination of all forms of oppression« (Tamimi
2001, 98). Literatur
Dabei gehen die Meinungen unter islamistischen Abu Zaid/Nasr Hamid: Der Begriff ›Gerechtigkeit‹ nach
Wortführern und Gruppierungen dahingehend aus- dem Koran. In: Polylog. Forum für interkulturelle Philoso-
phie 3 (2001), http://them.polylog.org/3/fan-de.htm
einander, auf welchem Weg das Ideal einer gerechten (10.3.2015).
Gesellschaft erreicht werden kann, d. h. ob die Schaf- Alabied, Ryad: Die Gerechtigkeit im Islam unter besonderer
fung dieser gerechten Gesellschaft gewissermaßen Berücksichtigung des Koran. Aachen 2001.
von unten nach oben geschehen müsse, also da- Ende, Werner: Gerechtigkeit als politisches Ordnungsprin-
durch, dass sich der Einzelne möglichst genau an die zip im Islam. In: Birgit Krawietz (Hg.): Islam und Rechts-
staat: Zwischen Scharia und Säkularisierung. St. Augustin
Kleidungs- und Lebensregeln aus der Zeit Muham-
2008, 19–35.
mads hält, oder von oben nach unten, nämlich da- Engineer, Ashgar Ali: Islam, women and gender justice
durch, dass zuerst eine islamische Herrschaft in (o. J.). In: http://andromeda.rutgers.edu/~rtavakol/
Form eines Kalifats errichtet wird, in der das Scha- engineer/genderj.htm (10.3.2015).
riarecht angewendet wird, und dann die gerechte Ge- al-Ġannūšī, Rāšid: ‫ۊ‬uqūq al-muwā‫ܒ‬ana. ‫ۊ‬uqūq ġair al-mus-
sellschaft entsteht, indem alle Menschen darauf ver- lim fī ’l-muğtamac al-islāmī. Herndon 1979 (arab. 1993).
Kamali, Mohammad Hashim: Freedom, Equality and Justice
pflichtet werden.
in Islam. Chicago 2013.
Gemeinsam ist der islamistischen Argumentation, Khadduri, Majid: The Islamic Conception of Justice. Balti-
dass als Konsequenz aus der Aufrichtung des Scharia- more 1984.
rechts die quasi automatische Entstehung einer ge- Krämer, Gudrun: Justice in modern Islamic thought. In: Ab-
rechten Gesellschaft behauptet wird; die schariarecht- bas Amanat/Frank Griffel (Hg.): Shari’a. Islamic Law in the
liche Definition verminderter Frauen- und Minder- Contemporary Context. Stanford 2007, 20–37.
Lewis, Bernard: Die politische Sprache des Islam. Hamburg
heitenrechte wird dabei als Mittel zur Herstellung von 2002.
Gerechtigkeit proklamiert, und die Anwendung der Mujawar, Wasiyoddin R.: Justice and Human Rigths in Isla-
Körperstrafen (Amputation, Auspeitschung, Steini- mic Law. Delhi 2009.
gung) wird als wirksames Erziehungs- und Abschre- Paret, Rudi: Der Koran. Stuttgart 122014.
ckungswerkzeug und insofern als positives Hilfsmittel Prucha, Nico: Kangaroo Trials. Justice in the name of God.
In: Rüdiger Lohlker (Hg.): Jihadism: Online Discourses
definiert. Der Islam erscheint in diesem Diskurs als
and Representations. Göttingen 2013, 141–206.
Synonym der Gerechtigkeit: Sobald der Islam voll- Qutb, Sayyid: Social Justice in Islam. Übers. von John B. Har-
ständig umgesetzt wird, entsteht auch umfassende die. New York 2000.
Gerechtigkeit (Kamali 2013, XI). Rahbar, Daud: God of Justice. A Study in the Ethical Doctrine
Im Bereich des Jihadismus wird die Argumentati- of the Qur’an. Leiden 1960.
on dahingehend fortgeführt, dass die Hinrichtung
8 Inter- und transkulturelle Perspektiven 47

Ramadan, Tariq: Radikale Reform. Die Botschaft des Islam 8 Inter- und transkulturelle
für die moderne Gesellschaft. München 2009.
Tamimi, Azzam S.: Rachid Ghannouchi. A Democrat within
Perspektiven
Islamism. New York 2001.

Christine Schirrmacher Der interkulturelle Diskurs ist zunächst als Reaktion


auf eurozentrische Diskurse über andere Kulturräume
und deren vermeintlich homogene Denksysteme ent-
standen. Dieser Diskurs reagiert sowohl auf historische
Unrechts- bzw. Ausgrenzungserfahrungen wie den Ko-
lonialismus als auch auf vorherrschende akademische
Diskurse, die außereuropäische Kulturen und deren
Philosophien exotisieren und marginalisieren.
Darüber hinaus entstand der interkulturelle Dis-
kurs im Rahmen einer Suche nach alternativen Mo-
dellen gegenüber einer als monolithisch wahrgenom-
menen okzidentalen Denkweise. Er strebt daher nach
der Anerkennung von kultureller Vielfalt und einer
Pluralität von Wissensformen. Eine Konsequenz die-
ser erhöhten Sensibilität für Differenzen ist die Forde-
rung, dass Philosophinnen und Philosophen die sie
leitenden Erfahrungen und Fragen verstärkt zeitlich
und räumlich kontextualisieren sollten. Eine weitere
Konsequenz besteht in dem Streben nach einer zu-
nehmenden Zusammenarbeit von Philosophinnen
und Philosophen mit unterschiedlichen lebenswelt-
lichen Hintergründen und kulturellen Prägungen. In-
terkulturelle Philosophie bietet die Möglichkeit, ins-
besondere in postkolonialen Debatten eine eigene
Sprache der Kritik zu entwickeln und vorherrschende
Begrifflichkeiten kritisch zu beleuchten. Vor diesem
Hintergrund übernimmt die Philosophie in inter- und
transkultureller Perspektive auch die Aufgabe einer
hybriden Identitätssuche innerhalb einer Vielfalt an
Traditionslinien und lebensweltlichen Erfahrungen.
Interkulturelle Philosophie hat es insofern immer
schon gegeben, als man von einem wechselseitigen
Einfluss zwischen einzelnen philosophischen Tradi-
tionen ausgehen muss. Als terminus technicus hat sich
der Begriff jedoch erst in den 1980er Jahren heraus-
gebildet und sich seitdem innerhalb der akademi-
schen Institutionen etabliert. Ihm trat – aufgrund der
Kritik eines angeblich hermetischen Kulturverständ-
nisses innerhalb der interkulturellen Philosophie –
der seit den 1990er Jahren populärer gewordene Be-
griff der Transkulturalität zur Seite, der die Durch-
dringung, Verschränkung und Hybridisierung phi-
losophischer Diskurse betont.
Der erste Teil des Artikels widmet sich einigen zen-
tralen Modellen des inter- und transkulturellen Phi-
losophierens unter Berücksichtigung ihrer Methodik.
Der zweite Teil stellt exemplarisch einige gerechtig-
48 I Der Begriff der Gerechtigkeit

keitstheoretische Ansätze transkultureller Prägung ves Othering, das den Anderen in das »Ghetto seiner
vor und zeigt deren Konsequenzen für eine globale Andersheit« (Welsch 1994, 91) verdrängt, läuft stets
Debatte um Gerechtigkeit auf. Gefahr, lediglich ein Spiegelbild der verdrängten eige-
nen Ideen und Wünsche abzubilden.
Mit dem Interkulturalitätsbegriff werden Inter-
Modelle inter- und transkulturellen aktionen zwischen den Kulturen herausgestellt, die
Philosophierens fruchtbare Reibungen und konstruktive Übereinstim-
mungen ebenso hervorbringen wie sie deutliche Un-
Die interkulturelle Philosophie verfolgt nach Raúl For- terschiede erkennen lassen. Erst innerhalb des inter-
net-Betancourt die programmatische Perspektive, kulturellen Diskurses wird dem kulturellen Pluralis-
durch einen symmetrischen Dialog zwischen den un- mus Rechnung getragen. Aus diesem Grund liegt das
terschiedlichen philosophischen Traditionen eine ra- Hauptanliegen der Interkulturalität darin, gegen die
dikale Transformation der Philosophie zu vollziehen gesellschaftliche Homogenisierung und die damit ein-
(Fornet-Betancourt 2007, 42). Für eine interkulturelle hergehende Nivellierung der Lebensweisen vorzu-
Transformation der Philosophie ist es daher unabding- gehen, um die kulturelle Vielfalt fruchtbar zu machen.
bar, die Vielfalt der philosophischen Traditionen mit Mit Interkulturalität ist daher eine Philosophie ver-
ihren jeweiligen kulturellen Matrizen und den daraus bunden, die es erlaubt, sowohl die strukturellen Un-
folgenden Formen der Argumentation und Begrün- terschiede der Kulturen als auch deren Gleichheit hin-
dung zunächst anzuerkennen und einen Beitrag zum sichtlich ihrer intrinsischen Werte zu respektieren
»epistemologischen Gleichgewicht«, d. h. zum »Aus- und jede Kultur als Träger einer Universalität zu ver-
gleich zwischen den Wissenskulturen der Menschheit« stehen, die das Angebot eines bonum commune an die
zu leisten (ebd., 29). ganze Menschheit macht (Triki 2011, 183).
Entsprechend dieser programmatischen Orientie- Der Begriff der Interkulturalität setzt Kritikern zu-
rung strebt die interkulturelle Philosophie nach einer folge eine empirisch nicht haltbare Homogenität ein-
»Kontextualisierung« und einer »Dezentrierung« der zelner Kulturräume voraus. Wolfgang Welsch legt
vorherrschenden Philosophie. Beide Prozesse werden stattdessen nahe, dass wir davon ausgehen müssen,
durch eine Dekonstruktion der dominanten west- dass andere Kulturen bereits Binnengehalte der eige-
europäischen und nordamerikanischen Philosophie nen Kultur sind (Welsch 1994, 95 f.). Die meisten Bio-
sowie durch ein Streben nach der »Dekolonisation« graphien von Menschen sind heute nicht mehr mono-
des eigenen Denkens ausgelöst (ebd., 33). Die An- kulturell, sondern von unterschiedlichen kulturellen
erkennung der Pluralität der philosophischen Tradi- Einflüssen geprägt. Diese Tatsache ist häufig auch ein
tionen setzt demzufolge die ›Kontextualität‹ als Be- Produkt ökonomischer und politischer Machtverhält-
dingung ihrer Möglichkeit voraus. Erst mit dieser nisse, die Menschen dazu zwingen, zu flüchten oder
grundsätzlichen Einsicht und der Förderung des Dia- zu migrieren (ebd., 96–99). Andererseits ist die Ver-
logs zwischen den Philosophien entsteht eine ernst- mischung einzelner Kulturen ein Phänomen, das es
hafte Möglichkeit, wichtige Begriffe der Philosophie stets gegeben hat und das häufig zu Erneuerungen, Er-
aus der ›Polyperspektivität‹ des Vergleichs der Kul- kenntnisgewinnen und kreativen Ergebnissen geführt
turen heraus neu zu bestimmen. Universalität entsteht hat. Nicht der vermeintliche Konflikt der Kulturen,
daher nicht aus der Dominanz eines vorherrschenden sondern die Hybridisierung, Überlappung und wech-
Diskurses über die anderen, sondern durch geduldige selseitige Durchdringung verschiedener Kulturen
Prozesse der Kommunikation und der kritischen Aus- steht hier im Zentrum der philosophischen Analyse.
einandersetzung (ebd., 39). Es ließe sich daher statt von interkultureller auch von
Franz Wimmer bezeichnet das interkulturell ge- transkultureller Philosophie sprechen. Der Horizont
führte philosophische Gespräch daher auch als ›Poly- einer transkulturellen Philosophie besteht in einer
log‹, d. h. als mehrstimmig geführten Dialog (Wim- friedlicheren Weltgesellschaft, weil durch sie ver-
mer 2004). Dieser Polylog wendet sich gegen jegliche meintlich starre Grenzlinien, beispielsweise in Form
Zentrismen innerhalb der Philosophie, sei es nun der der Ineinssetzung von Kultur und Nationalstaat, auf-
Eurozentrismus oder ein anderer Ethnozentrismus. In gelöst werden und neue Verbindungen durch verstän-
diesem Sinne sollte es die Philosophie auch vermei- digungsorientierte kommunikative Prozesse geschaf-
den, andere Kulturen zu exotisieren und in ihnen le- fen werden (ebd., 110).
diglich die Differenz zu betonen. Ein solches projekti- Der transkulturelle philosophische Diskurs bietet
8 Inter- und transkulturelle Perspektiven 49

einzelnen Individuen die Möglichkeit, kritisch mit- Besonders mit letzterem Aspekt befasst sich Kwasi
einander zu kommunizieren. Er besteht aus einer ho- Wiredu. Er hebt hervor, dass die Verwendung ehema-
rizontalen Bewegung, die dazu führen sollte, gemein- liger Kolonialsprachen von Menschen aus dem globa-
same Werte und Normen zwischen den Kulturen zu len Süden bereits als ein Akt der Gewalt empfunden
suchen, und einer vertikalen Bewegung, die darauf und beschrieben werden kann, und schlägt die Über-
zielt, neue Begriffe auszubilden, die über die empiri- setzung von normativen Konzepten als Modus der
sche Vielfalt der Kulturen hinausgehen. Die transkul- philosophischen Dekolonisierung vor. Wiredu for-
turelle Philosophie wendet sich gegen einen statischen dert eine Überprüfung der Angemessenheit einer
Begriff der Differenz. Vielmehr zielt sie darauf ab, den sich als universell deklarierenden philosophischen
kritischen Aspekt aller Kulturen wieder aufzuneh- Idee durch Übersetzung in afrikanische Sprachen
men, um das, was universell sein kann, auf transver- (Wiredu 1996, 137). Nur durch das Philosophieren in
sale und transzendente Weise zu bestimmen und hier- Lokalsprachen könnten afrikanische Bürger für phi-
durch ein kritisches und stets erneuerbares Korpus losophische Probleme sensibilisiert und die Fremd-
von Werten zu konstruieren, das der ganzen Mensch- bestimmung durch Denkkategorien aus den ehema-
heit gemein ist (Triki 2011, 194). Der transkulturelle ligen Metropolen überwunden werden. Wiredu folgt
Diskurs zielt auf eine Form der gewaltlosen Kom- den sprachphilosophischen Thesen der sprachkriti-
munikation, die es vermag, über politische und öko- schen Wende bei Wittgenstein und zentralen Annah-
nomische Konfliktlinien hinweg einen reflexiven Dis- men der philosophischen Logik. Sprache ist demnach
kurs über divergierende oder auch sich überschnei- nicht philosophisch neutral, sondern leitet durch ihre
dende philosophische Perspektiven zu führen. Dabei Struktur, ihre Syntax und Semantik sowie ihre be-
können Vorurteile überwunden, Toleranz eingeübt grifflichen Mittel die Denkerin und den Denker in ih-
und ein friedliches und gerechtes menschliches Mit- ren Reflexionsprozessen. Es gebe jedoch auch Fälle, in
einander praktiziert werden. Deshalb hat die transkul- denen für ein Konzept kein passendes Wort in der
turelle Philosophie das Potential, sich positiv auf poli- Sprache vorhanden sei, in welche übersetzt werden
tische Prozesse auszuwirken. So kann auch die Men- soll. In einem solchen Fall ließe sich das Konzept al-
schenrechtserklärung als ein Resultat eines solchen ternativ durch logische Argumentation innerhalb ei-
transkulturellen Polylogs gedeutet werden (ebd., ner lokalen Sprache rekonstruieren. Gelinge eine sol-
218 f.; Paul 2008). che Argumentation, die Wiredu als einen Prozess der
Sobald wir versuchen, inter- und transkulturell zu ›Transliteration‹ bezeichnet, so sei eventuell das je-
philosophieren, treten einige Probleme auf, die zum weilige Wort für das Konzept zwar noch nicht ent-
einen methodologische Fragen aufwerfen und zum standen, widerspreche jedoch nicht dem lokalen lin-
anderen bereits genuine gerechtigkeitstheoretische guistisch-epistemischen Horizont der jeweiligen
Aspekte hervorbringen. Sprachgemeinschaft. Eine solche widerspruchsfreie
und kohärente Argumentation transzendiere den
Horizont einer jeweiligen Sprachgemeinschaft, da sie
Sprachliche Gerechtigkeit den Gesetzmäßigkeiten jeder natürlichen Sprache
selber zugrunde liege. Schließlich würden grund-
Bereits das Sprechen über philosophische Fragen er- legende Elemente der Logik durch die Sprache als be-
folgt stets in einem spezifischen Idiom, innerhalb des- griffliches Medium stets bereits vorausgesetzt. Gera-
sen ein philosophischer Gedanke artikuliert wird. Die de wenn es um Konzepte gehe, deren Universalität
Dominanz einiger Sprachen gegenüber anderen birgt von zentraler Bedeutung sei, sei es unumgänglich, ih-
damit die Gefahr von Asymmetrien in gerechtigkeits- re Validität innerhalb unterschiedlicher sprachlicher
theoretischen Diskursen (s  Kap. V.74). Philippe van Kontexte zu überprüfen (ebd., 207).
Parijs spricht daher auch von ›linguistischer Gerech- Eine »Erneuerung des Wörterbuchs der Begriffe«
tigkeit‹ als moralisch und politisch relevanter Per- (Triki 2011, 95) ist auch nach der Ansicht von Fathi
spektive (Parijs 2002). Die Dominanz einzelner Spra- Triki eine dringende Aufgabe des inter- und transkul-
chen als Wissenschaftssprachen favorisiert jedoch turellen Philosophierens in einer Welt, in der Verlet-
nicht nur eine bestimmte Gruppe an Akteuren inner- zungen der Menschenrechte, Völkermorde, Neokolo-
halb der transkulturellen Kommunikation, sie impli- nialismus und diverse Formen von Ausgrenzung fort-
ziert auch stets soziale Praktiken und Denkweisen, dauern und in der die Kommunikation zwischen den
welche in einer Sprache enthalten sind. Kulturen, Nationen und Religionen bereits in ihren
50 I Der Begriff der Gerechtigkeit

Anfängen in gravierenden Missverständnissen ver- zess wahrgenommen wird. Zweitens die Gleichset-
harrt. Vor dem Hintergrund kultureller und episte- zung mit dem, der ausschließt: Es gibt ein Bewusstsein
mischer Pluralität müssten Begriffe wie Unrecht und der Gleichheit mit den Anderen, die die Vorherrschaft
Gerechtigkeit konzeptuell überdacht werden. ausüben. Dies bildet das zweite Moment, der Unge-
rechtigkeit zu entkommen. Drittens die Anerkennung
der Anderen: Dieses letzte Moment trägt zur Überwin-
Ungerechtigkeit als Ausgangspunkt dung der Ungerechtigkeit und der Exklusion bei, inso-
gerechtigkeitstheoretischer Überlegungen fern der Ausgeschlossene ein universalisierbares
Recht auf Nicht-Exklusion einfordern kann. Dieser
Innerhalb der transkulturellen globalen Gerechtig- negative Weg muss allerdings durch einen positiven
keitsdebatte gibt es zunehmend Diskurse, die sich mit ergänzt werden, der die Universalisierung von Rech-
den vorherrschenden Gerechtigkeitstheorien liberaler ten – vor allem des Rechts auf Nicht-Exklusion – und
Prägung kritisch auseinandersetzen. Dabei wird ver- zugleich die Aufrechterhaltung der kulturellen Unter-
sucht, auf die unterschiedlichen Kontexte der Gerech- schiede möglich macht (ebd., 115–117).
tigkeit aufmerksam zu machen. Die Forderung nach Das Streben nach Gerechtigkeit findet somit seine
Kontextualisierung philosophischen Denkens mün- Wurzel in dem Bewusstsein von der Erfahrung der
det nicht selten in ein Plädoyer für eine methodologi- Ungerechtigkeit. Es wird als ein intersubjektives und
sche Wende in der Art und Weise, wie wir über Ge- interkulturelles Streben von moralischen Subjekten
rechtigkeit nachdenken. nach einer gerechten politischen Gesellschaftsord-
Vor dem Hintergrund einer konkreten historisch- nung verstanden. Die Anerkennung der Pluralität
kulturellen Erfahrung, innerhalb derer Ungerechtig- der Kulturen bereite den Weg für die Gründung ei-
keit (s. Kap. I.9) deutlich zu beobachten ist, entwickelt nes pluralen Staates, der sich als Einheit verschiede-
Luis Villoro seine Kritik an einer normativen liberalen ner kultureller Gemeinschaften gestalten ließe und
Theorie der Gerechtigkeit. Er betrachtet John Rawls’ eine neue Ordnung transkultureller und inklusiver
Gerechtigkeitstheorie als »hegemonial« und kritisiert Gerechtigkeit ermögliche. Villoro orientiert sich da-
dessen Streben nach »Konsens« (García González bei an einem »ethischen Universalismus«, der die
2013, 112). Seiner Meinung nach verabsolutiert diese Grundlage für das Streben nach gerechteren Zustän-
Theorie die Freiheit und die Gleichheit des Menschen den sei (ebd., 124).
und erhebt sie zu universellen Normen. Dadurch laufe Amartya Sen (2012) plädiert ebenfalls für einen
sie Gefahr, konkrete Exklusionsformen und Unge- kulturübergreifenden Dialog über Fragen der Gerech-
rechtigkeit nicht ausreichend zu berücksichtigen, da tigkeit, der auf konkrete Phänomene des Unrechts fo-
sie sich auf die Bestimmung universaler Prinzipien kussiert. Damit sich Menschen überhaupt innerhalb
der Gerechtigkeit und nicht auf die partikulare Erfah- einer Debatte über die Korrektheit einer philosophi-
rung von Ungerechtigkeit konzentriere. schen Aussage verständigen könnten, müsse erst ein-
Erfahrungen der Ungerechtigkeit, der sozialen Un- mal davon ausgegangen werden, dass eine philosophi-
gleichheit und der Exklusion sind für die Überlegun- sche Aussage einen gewissen Anspruch auf Objektivi-
gen von Villoro von großer Bedeutung. Er geht daher tät erhebe. Der Blick aus fremden kulturellen Kontex-
von der Abwesenheit der Gerechtigkeit sowie der Fak- ten sei für den kulturimmanenten Blick eine wichtige
tizität der realen Ungerechtigkeit aus und beschreibt Ergänzung, weil er nicht in denselben lokalen Sitten,
seinen Zugang als »negativen Weg zur Gerechtigkeit« Gewohnheiten und Vorurteilen befangen sei. Die
(ebd.). Er zielt auf eine »authentische ethische« (ebd.) Vorstellung des unparteiischen Zuschauers, die er
Reflexion, die sich der Erfahrung der Ungerechtigkeit Adam Smith entlehnt, symbolisiert eine Haltung der
als Erfahrung des Leidens widmet. Somit ist für Villo- Distanz, die sich nicht von Konventionen und Interes-
ro die Ungerechtigkeit das radikale Übel. Sie hat mit sen verzerren lasse. Sich einem Blick von außen zu
der systematischen Negation dessen zu tun, was als verschließen, führe dazu, mögliche Gegenargumente
Allgemeinwohl vorgestellt wird (ebd., 114). In Hin- bereits im Vorhinein auszuschließen, und schließlich
blick auf die Frage, wie der Ungerechtigkeit zu ent- zu einer Provinzialisierung des Denkens. Das Ziel ei-
kommen sei, lassen sich drei wesentliche Momente nes philosophischen interkulturellen Dialogs über
skizzieren. Erstens die Erfahrung der Exklusion einer Gerechtigkeit besteht Sen zufolge nicht in der Kon-
Person oder Gruppe, die nicht als Gesprächspartner struktion einer idealen Realität, auf die sich alle Wel-
im gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Pro- tenbürger einigen könnten, sondern in der öffent-
8 Inter- und transkulturelle Perspektiven 51

lichen Diskussion und Bewertung gerechterer und Materielle Gleichstellung und gesell-
weniger gerechter gesellschaftlicher Zustände. Er be- schaftliche Kohäsion als Imperative
zieht sich als Alternative zum vorherrschenden Ge- der Gerechtigkeit
rechtigkeitsdiskurs auf die Unterscheidung zwischen
niti und nyaya in der frühen indischen Jurisprudenz Theorieproduktion über Gerechtigkeit innerhalb des
– zwei Begriffe aus dem klassischen Sanskrit, die un- globalen Südens führt häufig zu einer Fokusverschie-
terschiedliche Ebenen der Gerechtigkeit bezeichneten bung gegenüber theoretischen Anstrengungen inner-
(ebd., 15, 48–50). Der Begriff nyaya stehe für eine um- halb des globalen Nordens, und zwar in Bezug auf die
fassende Vorstellung einer gerechten Ordnung; niti gravierendsten Übel, auf welche eine Gerechtigkeits-
kennzeichne dagegen Eigenschaften der Organisation theorie reagieren soll.
einer Gemeinschaft und Verhaltensweisen von Indivi- Henry Odera Oruka argumentiert in kritischer
duen. Man könne nicht allein auf nyaya fokussieren, Auseinandersetzung mit John Rawls’ Gerechtigkeits-
auf die Vision einer perfekt geordneten Gesellschaft, theorie für ein menschliches Minimum als Grund-
ohne den Blick für niti offenzuhalten – und damit prinzip internationaler Gerechtigkeit. Er begründet
auch für das konkrete Unrecht, das sich alltäglich in diese Forderung damit, dass ein gewisser Lebensstan-
unserer Welt ereigne. Es bedürfe demnach einer Per- dard eine Voraussetzung dafür sei, ein moralisches
spektive der Gerechtigkeit, welche nicht allein auf ein Subjekt zu werden und die eigenen Freiheiten inner-
Ideal fokussiere, sondern sich mit konkreten Zustän- halb einer Gesellschaft überhaupt wahrnehmen zu
den unterschiedlicher Gesellschaften befasse und da- können (Odera Oruka 2000, 12; Graness 2011). Er
durch auch auf die Vermeidung von extremem Un- stellt damit infrage, dass internationale Hilfe gegen-
recht abziele. über ärmeren Staaten nur eine freiwillige Tätigkeit, al-
Ein weiteres Beispiel bietet Trikis (2011) Philoso- so eine supererogatorische Leistung sei, und argumen-
phie des Zusammenlebens, die auf dem Begriff der tiert, dass globale Umverteilung unter bestimmten
Würde (al-Karāma) fußt und sich mit Rechtferti- Umständen vielmehr eine universale Pflicht globaler
gungsstrategien von Dominanz und Gewalt im loka- Gerechtigkeit darstelle. Die Perspektiven zwischen so
len und globalen Kontext kritisch auseinandersetzt. genannten Gebern und Nehmern der ›Entwicklungs-
Seine Rekonstruktion der Rechtfertigung (justifica- hilfe‹ gingen in dieser Frage stark auseinander. Die Ge-
tion) lässt sich als eine Kritik ideologischer Gründe berstaaten gingen von dem Prinzip des nationalen
auffassen, die versuchen, eine bestimmte politische Überschusses aus, dem gemäß Staaten dasjenige, was
und soziale (Un-)Ordnung gerecht/richtig/recht sie erwirtschaften, einbehalten könnten und selber be-
(rendre juste) zu machen. Im Fokus seiner Kritik an stimmen dürften, was sie anderen überlassen. Dagegen
den verschiedenen politischen Rechtfertigungsstra- betrachteten die postkolonialen Empfängerstaaten sol-
tegien steht die Dekonstruktion ihrer vermeintlichen cherlei Zahlungen gar nicht als supererogatorische
Macht- und Interessenfreiheit. Ansätze einer an diese ›Hilfeleistung‹, sondern als eine Notwendigkeit, die
Dekonstruktion anschließenden positiven Bestim- sich allein daraus ergebe, dass das Handelssystem zwi-
mung der Philosophie des Zusammenlebens, die die schen sich entwickelnden Staaten und Industriestaaten
Würde des Menschen zum Leitbegriff erhoben hat, auf einem System des ungleichen Tauschs und dem-
gewinnt Triki aus der konkreten Analyse von Unge- nach strukturell auf historischer Ungerechtigkeit ba-
rechtigkeits- und Unrechtserfahrung (ebd., 153). siere. Daraus folgt aus der Perspektive von Staaten des
Die arabischen Worte al-cAdl oder al-cAdāla ent- globalen Südens das Primat der historischen Wieder-
sprechen dem europäischen Begriff der Gerechtigkeit, gutmachung. Der Transfer von materiellem Über-
wobei es in der klassischen arabischen Sprache kein schuss aus den reichen in die ärmeren Länder könne
negatives Präfix für die Bezeichnung der Ungerechtig- als Reparationszahlung für das durch den Kolonialis-
keit gibt. Die Ungerechtigkeit im Arabischen verfügt mus verursachte Leiden gewertet werden (Odera Oru-
somit über ihren eigenen semantischen Bereich und ka 2000, 6). Odera Oruka schränkt hierbei ein, dass
wird häufig mit den Begriffen al-ܱulm oder al-Ğawr sich diese historische Kausalität nicht immer nachwei-
zum Ausdruck gebracht. Phänomene der Ungerech- sen lasse. Deswegen führt er zusätzlich das Prinzip der
tigkeit bedeuten demnach nicht allein die Abwesen- Selbsterhaltung ein, welches prima facie Rechte, bei-
heit von Gerechtigkeit. Ungerechtigkeit hat ihre eige- spielsweise auf nationales Eigentum an Luxusgütern,
ne Struktur und ihre eigenen Erscheinungsformen durch ein Recht auf Selbsterhaltung einschränkt. Je-
und muss als solche analysiert werden. dem menschlichen Individuum müsse ein mensch-
52 I Der Begriff der Gerechtigkeit

liches Minimum zugesichert werden. Dieses Recht gel- überschreiten. Es ist daher eine Aufgabe transkul-
te universell, unabhängig vom Geburtsort, der Religi- turellen Philosophierens, sich auch dieser Komplexi-
on oder der ethnischen Zugehörigkeit. tät anzunehmen und die Relevanz von lokalen Kon-
Ein weiteres Beispiel für die Debatte um Gerechtig- zepten für ›glokale‹, das heißt weder rein lokal noch
keit aus der afrikanischen Philosophie bietet die Dis- global erklärbare, sondern transnational interdepen-
kussion um den Ubuntu-Begriff. Die Ubuntu-Phi- dente Phänomene zu überprüfen.
losophie hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten,
insbesondere im Rahmen der Übergangsgerechtigkeit
in Südafrika zu Beginn der 1990er Jahre, eine starke Ausblick
Renaissance erlebt (Ramose 2000; Metz 2015; Murove
2014). Die Ubuntu-Semantik lässt sich auf unter- Die inter- und transkulturelle Philosophie zielt darauf
schiedliche sprachliche Quellen zurückführen: auf das ab, Erfahrungen des Unrechts (Kolonialismus, Aus-
Hona-Wort Hunhuism aus dem heutigen Sambia oder beutung, Ausgrenzung, Neokolonialismus) als Aus-
das Sprichwort der Nguni ›umuntu ngumuntu nga- gangspunkt für jegliche Reflexion über Gerechtigkeit
bantu‹, das mit ›Ein Mensch ist ein Mensch durch an- zu nehmen, im Interesse einer gleichberechtigten
dere Menschen‹ übersetzt wird. Dieses Sprichwort Kommunikation die wechselseitige Übersetzung un-
verweist auf eine relationale Ontologie als Grundlage terschiedlicher philosophischer Diskurse voran-
der Ubuntu-Philosophie, der zufolge sich Menschen zutreiben und die Debatte um globale Gerechtigkeit
in ihren Beziehungen zu anderen als Personen konsti- unter Berücksichtigung unterschiedlicher Traditio-
tuieren. Manche Autorinnen und Autoren sehen da- nen, Akteure und Institutionen zu erweitern. Aller-
rin eine genuin afrozentrische Ethik – als Alternative dings läuft der interkulturelle Diskurs Gefahr, sich zu
zu westlichen Gerechtigkeitskonzeptionen –, die auf fragmentieren, wenn er lokale Kontexte zugunsten
die entmenschlichenden Erfahrungen während des des Globalen überbetont.
Sklavenhandels und des Kolonialismus reagiert und Die Art und Weise, wie ein gerechtigkeitstheoreti-
eng mit dem afrikanischen Humanismus verwoben scher Diskurs geführt wird, erweist sich daher ange-
sei. Ubuntu wird für gewöhnlich mit bestimmten sichts postkolonialer und transkultureller Ansätze,
menschlichen Qualitäten in Verbindung gebracht, die welche auch die den Diskurs bestimmenden Macht-
stets einen Bezug des Einzelnen zur Gemeinschaft verhältnisse thematisieren, als eine genuin gerechtig-
aufweisen: Mitleid, Respekt, Fürsorge, Großzügigkeit keitstheoretische Thematik auf einer Metaebene: Auf
und Menschlichkeit. Die Ubuntu-Philosophie kann der einen Seite stellt sich die Frage, wer über und für
demnach als eine Tugendethik beschrieben werden, wen innerhalb gerechtigkeitstheoretischer Diskurse
die an gemeinschaftsorientierte Werte geknüpft ist spricht. Wer sind die Autoren, wer die Adressaten und
und dadurch den Zusammenhalt einer Gemeinschaft wer die Objekte der jeweiligen Gerechtigkeitstheorie?
sicherstellen soll. Diese Tugenden betonen stärker die Auf der anderen Seite stellt sich die Frage nach dem
Pflichten des Einzelnen innerhalb einer Gemeinschaft Idiom, in welchem der gerechtigkeitstheoretische Dis-
als dessen Rechte gegen sie. Insofern kann Ubuntu kurs geführt wird. Welche Sprache nutzen wir und
auch als eine kommunitaristische Ethik eingestuft wessen akademischen Konventionen fügen wir uns?
werden. Die wissenschaftliche Praxis zeigt, dass die öko-
Der Rückgriff auf lokale Werte und Normen kann nomischen Zentren in der Welt häufig zugleich die
einerseits dazu dienen, Wissensarchive nutzbar zu Zentren der akademischen Wissensproduktion sind,
machen, die in den hegemonialen akademischen De- die mit In- und Exklusionsmechanismen operieren.
batten nicht vorkommen, und die Theorieproduktion Durch die Dominanz spezifischer Standards, Netz-
wieder stärker an soziale Praktiken rückbinden. An- werke und Publikationsorgane innerhalb dieser Zen-
dererseits liegt eine mögliche Beschränkung solcher tren werden zahlreiche kompetente Philosophen und
Strategien darin, dazu dienlich zu sein, über globale Philosophinnen aus dem nicht-okzidentalen Raum
Phänomene nachzudenken, die den jeweiligen aus hegemonialen Diskursen über globalgesellschaft-
sprachlichen und kulturellen Kontext überschreiten. liche Themen ausgeschlossen. Zudem mangelt es im
Die meisten Unrechtsphänomene sind heute weder gegenwärtigen Wissenschaftsapparat innerhalb der
rein lokal noch global zu erklären, sondern bedingen akademischen Philosophie in Europa noch an Diver-
sich transnational durch das Wechselspiel von Prozes- sität seitens der Forschenden und Lehrenden, ob-
sen, die tradierte Grenzlinien und Identitätsmuster gleich die Diversität der Studierenden bereits ein Fak-
9 Ungerechtigkeit 53

tum geworden ist. Institutionell erfordert transkul- 9 Ungerechtigkeit


turelles Philosophieren demnach, durch die aktive Su-
che und die kritische Auseinandersetzung mit Ungerechtigkeit bleibt in den meisten Gerechtigkeits-
unsichtbar gemachten und marginalisierten Stimmen theorien ein Epiphänomen und wird allenfalls als ab-
diesem Macht-Wissen-Nexus entgegenzuwirken. geleiteter Begriff, vielfach einfach als das Gegenteil
von Gerechtigkeit behandelt. Judith Shklars kritische
Literatur Diagnose, dass »keines der üblichen Modelle von Ge-
Fornet-Betancourt, Raúl: Interkulturalität in der Auseinan- rechtigkeit eine angemessene Beschreibung von Un-
dersetzung. Frankfurt a. M./London 2007. gerechtigkeit liefert« (Shklar 1997, 18), trifft auch ein
García González, Dora E.: Konzeptionen von der Universali-
tät der Gerechtigkeit in der mexikanischen politischen
Vierteljahrhundert nach Erscheinen der englischspra-
Philosophie. In: Raúl Fornet-Betancourt/Hans Schelks- chigen Fassung (1990) ihres Buches Ungerechtigkeit –
horn/Franz Gmainer-Pranzl (Hg.): Auf dem Weg zu einer einem der wenigen Werke der neueren politischen
gerechten Universalität. Philosophische Grundlagen und Philosophie, die sich expressis verbis dem Phänomen
politische Perspektiven. Aachen 2013, 111–126. und dem Begriff der Ungerechtigkeit zuwenden –
Graness, Anke: Das menschliche Minimum. Globale Gerech-
noch weitgehend zu. Während die Gerechtigkeit der
tigkeit aus afrikanischer Sicht: Henry Odera Oruka. Frank-
furt a. M. 2011. zentrale Gegenstand einer der Hauptströmungen der
Metz, Thaddeus: Auf dem Weg zu einer Afrikanischen Mo- zeitgenössischen politischen Philosophie ist, fällt der
raltheorie. In: Franziska Dübgen/Stefan Skupien (Hg.): Ungerechtigkeit weiterhin der Part zu, schlicht ›das
Afrikanische politische Philosophie. Postkoloniale Positio- Andere‹ der Gerechtigkeit zu sein und als solches eher
nen. Berlin 2015, 295–329. unbestimmt zu bleiben. Das ist in gewisser Weise er-
Murove, Munyaradzi Felix: Ubuntu. In: Diogenes 59/3–4
staunlich: Die seit dem Erscheinen von Rawls’ Eine
(2014), 36–47.
Odera Oruka, Henry: Philosophie der Entwicklungshilfe. Theorie der Gerechtigkeit (1979) anhaltende Hochkon-
Eine Frage des Rechts auf ein menschliches Minimum. In: junktur der Gerechtigkeitstheorie in der politischen
Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 6 Philosophie, die sich mittlerweile als Debatte über glo-
(2000), 6–16. bal justice (s. Kap. II.17) auch als zentrales Thema der
Parijs, Philippe van: Linguistic justice. In: Politics, Philosophy internationalen politischen Theorie etabliert hat, ist
& Economics 1/1 (2002), 59–74.
Paul, Gregor: Einführung in die interkulturelle Philosophie.
nämlich beileibe kein Zufall, sondern hier spielt Un-
Darmstadt 2008. gerechtigkeit, wenigstens indirekt, eine zentrale Rolle.
Ramose, Mogobe: African Philosophy through Ubuntu. Hara- Dass Gerechtigkeit ein so zentraler Gegenstand der
re 2000. politischen Philosophie ist, so dass teilweise der Ein-
Sen, Amartya: Die Idee der Gerechtigkeit. München 2012. druck entstehen könnte, politische Philosophie sei
Triki, Fathi: Demokratische Ethik und Politik im Islam. Ara-
wesentlich Gerechtigkeitstheorie, dürfte nämlich vor
bische Studien zur transkulturellen Philosophie des Zusam-
menlebens. Weilerswist 2011. allem auf das häufige Vorkommen globaler wie lokaler
Welsch, Wolfgang: Transkulturalität – Die veränderte Ver- Ungerechtigkeitsphänomene zurückzuführen sein.
fassung heutiger Kulturen. In: Freimut Duve (Hg.): Sicht- Umso überraschender ist es auf den ersten Blick, dass
weisen. Die Vielheit in der Einheit. Weimar 1994, 83–122. eine weitergehende Reflexion von Ungerechtigkeit
Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie. Wien großenteils ausbleibt, die dieser eine eigenständige
2004.
Wiredu, Kwasi: Cultural Universals and Particulars. India-
Betrachtung widmet und sie nicht einfach nur als Ge-
napolis 1996. genbegriff betrachtet, der selbst eine terra incognita
war und ist.
Sarhan Dhouib / Franziska Dübgen Natürlich blieb Ungerechtigkeit in der Geschichte
der politischen Philosophie keineswegs unerwähnt
oder gänzlich unreflektiert. Shklar zeichnet in ihrer
Studie über Ungerechtigkeit nach, dass es in jenen
Werken oder jenen Passagen von Werken, die gegen-
über der Formulierung oder gar Umsetzung eines an-
gemessenen Konzepts von Gerechtigkeit skeptisch
bleiben, durchaus weitergehende Reflexionen über
Ungerechtigkeit gibt. Solche finden sich dann keines-
wegs nur bei Randgestalten, sondern auch in den gro-
ßen Texten der politischen Ideengeschichte. In Shklars
54 I Der Begriff der Gerechtigkeit

Perspektive kommen hier bestimmte Facetten von Philosophie der Gegenwart eine allenfalls minoritäre
Platons Politeia (1991) ebenso in Betracht (vgl. Shklar und marginale Position einnehmen.
1997, 32–36) wie die gegenüber der Möglichkeit einer Systematisch lassen sich hier im Wesentlichen drei
innerweltlichen Gerechtigkeit skeptisch eingestellte Positionen unterscheiden, die durch die Schriften von
Theologie, die Augustinus in De civitate Dei (1997) drei Autorinnen und Autoren exemplarisch exponiert
entwirft (vgl. Shklar 1997, 36–38). Weiterhin verweist werden können. Zunächst ist dabei an die Position zu
Shklar zu Recht auf die große Relevanz von Ungerech- denken, die Judith Shklar einnimmt. Nach ihrem Ein-
tigkeitsdiagnosen im Aufklärungsdiskurs, wie sie uns druck wird Ungerechtigkeit zu wenig ausgeleuchtet,
etwa in den Schriften Voltaires und stärker noch und die Aufgabe der Ungerechtigkeitstheorie wird
Rousseaus begegnen (vgl. ebd., 105–113). von Shklar deshalb als eine komplementäre verstan-
Neben diesen von Shklar herangezogenen Beispie- den: Vermittels des Nachdenkens über Ungerechtig-
len ist in theoriegeschichtlicher Perspektive wohl vor keit sollen Gerechtigkeitstheorien nicht in Zweifel ge-
allem auch an die Stellung des Ungerechtigkeitsden- zogen, sondern vielmehr ergänzt werden (vgl. Shklar
kens in zumindest in diagnostischer Hinsicht negati- 1997, 26).
vistischen Gesellschaftstheorien in der Nachfolge He- Eine zweite und radikalere Position wird sodann
gels zu denken. Bereits Hegel selbst entwirft seine durch die Überlegungen Iris Marion Youngs besetzt:
Analytik moderner Gesellschaften ausgehend von der Im Unterschied zu Shklar lässt sich Young nämlich
Diagnose der Verwerfungen und Ungerechtigkeiten, durchaus so verstehen, dass die Reflexion über Unge-
die sie hervorbringen (vgl. Hegel 1821/1986, Teil III). rechtigkeit nicht einfach eine notwendige Ergänzung
Radikalisiert wird diese Ungerechtigkeits- und Ver- des gängigen Gerechtigkeitsdenkens darstellt. Statt-
werfungsvorstellung, die Hegel selbst noch der Ver- dessen erhebt Young den weiter reichenden Vorwurf,
mittlung zuzuführen suchte, in Adornos negativer dass die Diskurse über Gerechtigkeit insgesamt fehl-
Dialektik: Deren Konzentration auf das umfassende geleitet sind, weil sie Gerechtigkeit nicht oder in ei-
Falsche lässt sich nicht nur als ein Abgesang auf die nem deutlich zu geringen Maße von der Ungerechtig-
Geschichte der philosophischen Versuche verstehen, keit aus in den Blick nehmen, die den Blickwinkel
Gerechtigkeitskonzepte zu ersinnen, die ein richtiges nicht einfach nur erweitert, sondern neu ausrichtet
und gerechtes Leben ermöglichen sollen, sondern von (vgl. Young 1990, Kap. 1; 1996).
ihrer Warte aus wird Moralphilosophie insgesamt mit Neben der komplementären und der alternativen
der negativistischen und ungerechtigkeitstheoreti- Deutung stoßen wir drittens schließlich in Derridas
schen Aufgabe der »konkreten Denunziation des Un- Beschäftigung mit der Gerechtigkeit auf eine dekon-
menschlichen« (Adorno 1996, 261) betraut. Adorno struktive Variante, die weitreichende Verschiebungen
verpflichtet die Moralphilosophie übrigens auf diese des Gerechtigkeitsdenkens zur Folge hat. Derrida
negative Aufgabe, weil er mit Blick auf die positive nämlich arbeitet – ausgehend von seiner Beobachtung
Klärung von Normen skeptisch bleibt (vgl. ebd.). Da- einer Unmöglichkeit der Gerechtigkeit – Spannungs-
mit trifft Shklars Einsicht, dass die Konzentration auf verhältnisse sowohl im Begriff der Gerechtigkeit selbst
Ungerechtigkeit, so sie denn stattfindet, auf eine Skep- als auch in der Beziehung von Recht und Gerechtig-
sis gegenüber positiven Gewissheiten zurückgeht (vgl. keit heraus, angesichts derer hinter alle Versuche, eine
Shklar 1997, 30 f.), die Gerechtigkeitstheorien nicht positive Konzeption der Gerechtigkeit zu formulieren,
nur zu erreichen suchen, sondern deren Möglichkeit ein grundsätzliches skeptisches Fragezeichen zu set-
sie auch voraussetzen müssen, um eine positiv aus- zen ist.
zeichnende Konzeption der Gerechtigkeit formulie-
ren zu können, auch für ihn zu. Negativistische Phä-
nomene nimmt schließlich, unter Bezugnahme auf Die ausgeblendete Ungerechtigkeit
Hegel, in der Sozialphilosophie der Gegenwart Axel
Honneth zum Ausgangspunkt des Gerechtigkeitsden- Für Judith Shklars Beschäftigung mit der Ungerech-
kens, wenn er seine Anerkennungstheorie von Miss- tigkeit sind drei Grundüberlegungen wesentlich. Zu-
achtungsphänomenen und Unrechtserfahrungen her nächst ist hier natürlich an ihre bereits erwähnte Di-
schreibt (vgl. Honneth 1994, Kap. 6). Das alles ändert agnose zu denken, dass Ungerechtigkeit ein in der po-
aber nichts daran, dass diese Ungerechtigkeitstheo- litischen Philosophie weitgehend unterbelichteter Be-
rien bzw. Versuche, sich der Gerechtigkeit von der Un- griff ist. Das ist, und hierin liegt Shklars zweite
gerechtigkeit aus zu nähern, auch in der politischen wichtige Überlegung, aus ihrer Sicht kein Zufall, son-
9 Ungerechtigkeit 55

dern spiegelt vielmehr eine letztlich nicht haltbare epi- nicht so weit, wie dies etwa Raymond Geuss (2011)
stemische und kategoriale Ausgangsthese von moral- oder Bernard Williams (2005) tun, die gegen diese Art
philosophischen Versuchen, Gerechtigkeitskonzepte der moralphilosophischen Annäherung an Politik ein
zu begründen, wider. Diese gehen nämlich von der realistisch informiertes politisches Denken postulie-
Shklar zufolge ausgesprochen fragwürdigen Über- ren. Shklar hebt demgegenüber deutlich hervor, dass
legung aus, dass sich klare kategoriale Trennungen mit ihre Untersuchungen die Suche der Gerechtigkeits-
Gewissheit vornehmen und begründen lassen. Im Fal- theorien nach philosophischen Begründungen der
le der Ungerechtigkeit geht es dabei um die Möglich- Gerechtigkeit nicht in Zweifel zu ziehen suchen (vgl.
keit einer distinkten Unterscheidung von Unglück, Shklar 1997, 26). Aber dennoch versteht sie ihre eige-
das, da es letztlich auf Zufall basiert und keinen ver- ne Erkundung der Ungerechtigkeit, die »anders [...],
antwortlichen Verursacher hat, keinen Gegenstand direkter, ausführlicher und mit größerer Tiefe« (ebd.)
der Gerechtigkeit bilden kann, und Ungerechtigkeit, als in den gängigen philosophischen Gerechtigkeits-
die Gegenstand eines gerechten Ausgleichs sein müss- theorien betrachtet werden soll, aus der Perspektive
te. Nach Shklars Überzeugung lassen sich aber Un- der politischen Theorie. In dieser disziplinären Zu-
glück und Ungerechtigkeit ebenso wenig klar von- ordnung liegt ihre dritte Grundüberlegung, die auf
einander unterscheiden (vgl. Shklar 1997, 18) wie die systematische Motive zurückzuführen ist. Dabei spielt
für die liberale Moralphilosophie und politische Phi- Shklars Beobachtung, dass Unterscheidungen wie die
losophie so grundlegenden Begriffe des Privaten und zwischen Unglück und Ungerechtigkeit auf politische
des Öffentlichen (vgl. ebd., 15). Mit dieser Überlegung Entscheidungen zurückzuführen sind, eine wesentli-
berührt Shklar einen neuralgischen Punkt der bis che Rolle. Die politische Theorie scheint ihr nun des-
heute vorherrschenden liberalen Ansätze in der Ge- halb prädestiniert zur Reflexion dieses politischen
rechtigkeitstheorie und der Moralphilosophie, deren Kontextes der Ungerechtigkeit, weil sie empirisch ge-
Plausibilität in der Tat vielfach auf die Möglichkeit sättigter verfährt als die in diesen Fragen zu abstrakte
solch klarer Unterscheidungen wie der zwischen Pri- Moralphilosophie, aber gleichzeitig deutlich analyti-
vatheit und Öffentlichkeit angewiesen bleibt (vgl. scher ausgerichtet ist als die narrativ angelegte Ge-
Rössler 2001). Shklars Kritik setzt dabei auf ein Argu- schichtswissenschaft (ebd.).
ment, das bereits Hegel gegen moralphilosophisch Ein weiteres Motiv reflektiert zugleich eine zentrale
fundierte politische Philosophien ins Feld geführt hat Annahme von Shklars Ungerechtigkeitsbegriff: Wir
(vgl. Hegel 1821/1986, 37) und auf das auch in den Ge- müssen uns, wenn wir Ungerechtigkeit als ein politi-
genwartsdiskursen im Zuge der Kritik einer moral- sches Phänomen verstehen, viel stärker mit der Rolle
philosophisch verstandenen politischen Philosophie der politischen Akteure beschäftigen, als dies in übli-
zurückgegriffen wird (vgl. Geuss 2002): Nach Shklars chen Gerechtigkeitstheorien der Fall ist – und zwar
Überzeugung unterliegen solche Unterscheidungen auch und gerade mit den einfachen Akteuren, den
nämlich schlicht einem historischen Wandel (vgl. Bürgerinnen und Bürgern eines Gemeinwesens, die
Shklar 1997, 17) – und sie gehen zudem auf politische einen erheblichen Anteil an der Ungerechtigkeitspra-
Entscheidungen und nicht auf philosophisch be- xis haben, auf die wir allerorts stoßen. Hier kommt ein
gründbare Distinktionskriterien zurück (vgl. ebd., für Shklars Ungerechtigkeitsdenken wichtiger Begriff
14). Im Falle der Unterscheidung von Unglück und ins Spiel: der der passiven Ungerechtigkeit (vgl. ebd.,
Ungerechtigkeit etwa macht es einen enormen Unter- 54–66). Mithilfe dieses Begriffs kann Shklar nämlich
schied, welche Faktoren als beurteilungsrelevant er- all jene gerechtigkeitstheoretisch kaum erfassbaren Si-
achtet werden: So kann es als persönliches Unglück tuationen in den Blick nehmen, in denen Personen zu
betrachtet werden, die Arbeitsstelle zu verlieren, einer ungerechten Praxis oder ungerechten Einzelfäl-
nimmt man aber darüber hinaus größere ökonomi- len beitragen, die nach dem gängigen Modell der Ver-
sche Prozesse (z. B. Umstellungen auf Gewinnmaxi- antwortungszurechnung nicht für diese Fälle oder
mierungsstrategien) oder politische Kontexte (z. B. Praxen verantwortlich gemacht werden können. Hier
fehlenden Kündigungsschutz) oder geschlechtsspezi- ist beispielsweise an die im Alltagsleben zahlreichen
fische Dimensionen usw. in den Blick, kann sich das Fälle zu denken, in denen wir uns selbst zwar nicht di-
vermeintliche Unglück schnell als Ungerechtigkeit he- rekt eines Vergehens schuldig machen, aber untätige
rausstellen. Zeuginnen oder Zeugen von Ungerechtigkeiten wie
Zwar geht Shklar in ihrer Kritik der begründungs- Schikanen oder Formen verbaler oder gar physischer
theoretischen Ansätze in der Gerechtigkeitstheorie Gewalt sind und zu diesen Ungerechtigkeiten beitra-
56 I Der Begriff der Gerechtigkeit

gen, indem wir ihnen nicht aktiv entgegentreten. Pas- ausgleichenden Gerechtigkeit muss in vielen Fällen
siv ungerecht verhalten sich demnach all jene, die, wie konstatiert werden, dass das, was Shklar als den »Ma-
Shklar meint, ihre Rolle als Bürgerinnen und Bürger kel der Ungerechtigkeit« (ebd., 21), den die Opfer
zu eng auslegen, da sie den Blick aus Bequemlichkeit, empfinden, bezeichnet, von der ausgleichenden Ge-
Desinteresse oder ähnlichen Motiven abwenden, ob- rechtigkeit nicht getilgt wird. Ungerechte Erfahrun-
wohl sie die Opfer unterstützen könnten. Der Ver- gen hinterlassen Narben und Schäden, die sich nicht
such, Ungerechtigkeit von der Vorstellung einer direk- einfach kompensieren lassen. Teilweise kann es den
ten personalen Verantwortung abzulösen, ist übrigens Ausgleichsmechanismen gar nicht gelingen, wesentli-
ein zentrales und gemeinsames Motiv der unter- che Dimensionen der Verletzung in den Blick zu neh-
schiedlichen Bemühungen, die Gerechtigkeitstheorie men, da diese – etwa massive Erniedrigungserfah-
um eine Theorie der Ungerechtigkeit zu erweitern rungen – auch dann weiterleben, wenn z. B. ein Ver-
oder sie gar von der Warte einer Theorie der Unge- gehen als begangener Regelverstoß rechtlich geahn-
rechtigkeit aus zu denken; das ist, wie weiter unten det wird. Natürlich kann auch keine noch so
noch deutlicher wird, in einer noch emphatischeren tiefgehende Theorie der Ungerechtigkeit diesen Man-
Variante einer der grundlegenden Züge von Iris Mari- gel beheben, sie kann uns aber darauf aufmerksam
on Youngs Ungerechtigkeitsdenken. machen, wie wichtig es ist, die Stimmen und die
Mit der Vorstellung der passiven Ungerechtigkeit Selbstverständnisse der Opfer zur Kenntnis zu neh-
erweitert Shklar ganz deutlich den Skopus der gerech- men (vgl. ebd., 49 f.) – wobei wir damit rechnen müs-
tigkeitstheoretischen Reflexion der Ungerechtigkeit, sen, dass sich diese oftmals gar nicht als Opfer begrei-
indem sie eine politische Theorie des schlechten Bür- fen wollen, u. a. möglicherweise deshalb, weil das Op-
gerseins entwirft, das als ein auf den ersten Blick viel- fersein als solches eine erniedrigende Erfahrung ist
fach unscheinbarer, aber bei genauerer Betrachtung (vgl. ebd., 53). Das zeigt aber im Grunde nur umso
wesentlicher Beitrag zur Ungerechtigkeit zu begreifen mehr, inwiefern eine begründungs- und regelfixierte
ist. Passiv ungerecht sind wir nämlich bereits dann, Gerechtigkeitstheorie hier an ihre Grenzen stößt und
wie Shklar unter ideengeschichtlichem Rekurs auf Ci- durch eine politische Theorie der Ungerechtigkeit er-
cero ausführt, wenn wir der Ungerechtigkeit nicht weitert werden muss, die nicht nur Regelverstöße,
entgegentreten, obwohl wir es könnten (vgl. ebd., 55). sondern auch ungerechte Praktiken im Ganzen und
Das schlechte Bürgersein korrespondiert hier sehr eng den Beitrag, den passiv Ungerechte an ihr haben, zu
mit einer politischen Bequemlichkeitspraxis, die sich denken in der Lage ist.
aus der Ungerechtigkeit geradezu speist: Wie Shklar Von diesem Punkt aus lassen sich Shklars Über-
überzeugend darlegt, sind viele Ungerechtigkeitsphä- legungen bündeln: Was ihr vorschwebt, ist eine politi-
nomene für einen häufig großen Teil eines politischen sche Theorie der Ungerechtigkeit, die den histori-
Gemeinwesens schlicht in dem Sinne angenehm, dass schen Wandel von Maßstäben sowie deren politischen
sie Ruhe und Frieden bieten (vgl. ebd., 61). Ungerech- Charakter mitdenkt und die zudem die Stimmen der
tigkeit ereignet sich nämlich vielfach in etablierten Opfer hört, um dem Zusammenspiel von politischen
Strukturen, die zu hinterfragen ungewisse Folgen ha- und subjektiven Dimensionen Rechnung zu tragen.
ben kann, oder sie findet in Situationen statt, gegen die Shklars Überlegungen kulminieren dabei in der The-
einzuschreiten unbequem sein kann, weil der übliche se, dass sich eine feste oder gar universelle Begrün-
Ablauf gestört oder weil unangenehmes Aufsehen er- dung von Maßstäben der Gerechtigkeit bzw. Unge-
regt wird. Was eine solche politische Theorie der Un- rechtigkeit gerade nicht liefern lässt und dass wir des-
gerechtigkeit demnach lehrt, ist, dass Ungerechtigkeit halb als Bürgerinnen und Bürger stets dazu aufgefor-
häufig nicht in erster Linie davon abhängt, dass klare dert sind, möglichen Ungerechtigkeiten unserer
Gerechtigkeitsmaßstäbe fehlen (ebd.), sondern von Gemeinwesen und ihrer Institutionen im Dialog mit
den Beziehungen der Bürgerinnen und Bürger unter- jenen, denen sie widerfahren, nachzuspüren. Ohne
einander, ihrem Verhältnis zu politischen und sozia- mit jenen, denen Ungerechtigkeit widerfährt, zu spre-
len Institutionen und, in institutionentheoretischer chen, und zwar immer wieder zu sprechen, und ohne
Perspektive, von deren Beschaffenheit. stets aufs Neue zu erkunden, worin diese Ungerechtig-
Zudem lenkt Shklars Ungerechtigkeitstheorie un- keit besteht, lassen sich Maßstäbe der Gerechtigkeit
seren Blick darauf, dass eine positive, auf Gerechtig- eben gerade nicht ex cathedra verordnen. Diese politi-
keit bedachte Perspektive unvollständig bleibt: Selbst sche Theorie der Ungerechtigkeit ist damit zugleich
bei einer wohletablierten institutionellen Praxis der die Aufforderung zu einer gestalterischen Politik, die
9 Ungerechtigkeit 57

sich nicht durch Notwendigkeitssemantiken stillstel- hängigkeit gefördert werden, die Menschen in ihrer
len lässt (vgl. ebd., 89–103). Autonomie aufgrund einer (gesetzlichen oder fak-
tischen) Beraubung bestimmter Rechte und Freihei-
ten, obwohl diese allen qua Menschsein zustünden,
Ungerechtigkeit als Ausdruck von Unter- eingeschränkt werden. Objektiv drücke sich Margina-
drückung lisierung z. B. in fehlender faktischer Partizipations-
möglichkeit von Individuen in Zusammenhängen, in
Anhand von Iris Marion Youngs Ansatz, fünf Formen denen sie Betroffene sind, aus. Subjektiv erführen die
der Unterdrückung als Formen (faces) der Ungerech- Betroffenen Marginalisierung in Form des Gefühls
tigkeit auszuweisen (vgl. Young 1990, Kap. 1; 1996), der Nutzlosigkeit oder des Überflüssigseins. ›Macht-
lässt sich exemplarisch zeigen, inwiefern Theoretike- losigkeit‹ bedeute für Betroffene, dass ihnen aufgrund
rinnen und Theoretikern die Diagnostizierung von mangelnder Respektbezeigung durch andere die nöti-
Phänomenen der Ungerechtigkeit als plausibler er- ge Autorität und Macht im Hinblick auf z. T. basale
scheint denn eine positive Benennung von Kriterien Entscheidungskompetenzen, nicht nur in Bezug auf
der Gerechtigkeit. Youngs Ungerechtigkeitsansatz ihre eigenen Belange, sondern auch im Hinblick auf
nimmt explizit keinen Bezug auf eine mögliche Be- die Kommunikation und Interaktion mit anderen,
gründung von Gerechtigkeitsprinzipien, sondern fehlt. ›Kulturimperialismus‹ wirke sich auf Individuen
wendet sich insbesondere gegen das liberale (Vertei- wie Kollektive vor allem so aus, dass sie Unverständnis
lungs-)Paradigma, das Individuen als abstrakte An- gegenüber den ihnen in identitärer Hinsicht bedeut-
spruchsberechtigte behandelt, ohne deren kontextuel- samen sozialen und kulturellen Lebensbedingungen
le und interaktionale Bezüge und Beziehungen, ge- und -inhalten erfahren. Dieses Unverständnis kann
schweige denn die damit verbundenen Macht- und sich in der Beschränkung oder Verwehrung bestimm-
Hierarchieverhältnisse angemessen zu berücksichti- ter Rechte auf ein kulturell selbstbestimmtes Leben
gen. Young betont demgegenüber, dass Individuen in ausdrücken. ›Gewalt‹ sei als ein systemisches – und
gesellschaftliche Interaktionszusammenhänge ein- das heißt nicht kontingentes – Phänomen anzusehen,
gebunden sind, die sich nicht allein unter dem Ge- das sich als Unterdrückung Einzelner und Gruppen
sichtspunkt der (Verteilungs-)Gerechtigkeit erfassen insofern erkennen lasse, als sie sich gegen Betroffene
lassen. Deshalb wählt sie die umgekehrte Blickrich- aufgrund spezifischer Merkmale (z. B. Hautfarbe, Ras-
tung, aus der heraus sie die phänomenologisch erfass- se, Geschlecht, sozialer Status) richte (vgl. Young
baren Dimensionen von Ungerechtigkeit darlegt, die 1996, 114–132).
sie vornehmlich als Unterdrückung (oppression) ver- Youngs Ansatz, Unterdrückung als strukturelles
steht (vgl. Young 1990, Kap. 1; 1996, 114–132). Problem zu begreifen, bietet zunächst einmal den
Youngs These lautet hierbei, dass Unterdrückungs- Vorteil, vereinfachende Täter- und Opferzuweisungen
verhältnisse sich gerade nicht als binäre Beziehungs- von Ungerechtigkeit zu vermeiden. Anders als vielen
strukturen von Unterdrückern versus Unterdrückten liberalen Gerechtigkeitstheorien geht es Young jedoch
klassifizieren lassen, sondern dass die meisten For- darum, herauszustreichen, dass eine ȟberzeugende
men der Ungerechtigkeit darin bestehen, dass Indivi- Konzeption von Gerechtigkeit« nicht (nur) in der Klä-
duen als Angehörige bestimmter Gruppen von für das rung der Frage der Verteilung, sondern vor allem in
kapitalistische Gesellschaftssystem charakteristischen der Klärung der für die »Entwicklung und Ausübung
strukturellen Benachteiligungen betroffen sind (vgl. individueller Fähigkeiten sowie der kollektiven Kom-
Young 1996, 104–105; vgl. auch Nagl-Docekal 1996, munikation und Kooperation notwendigen institutio-
11–15): So produziere ›Ausbeutung‹ als zentrales nellen Bedingungen« (ebd., 99) besteht. Im Anschluss
Merkmal moderner Arbeitsprozesse ein spezifisches an Young lässt sich etwa Armut als Form von Unter-
soziales Machtgefälle, durch das sich die gesellschaftli- drückung und damit als Ungerechtigkeit auffassen.
che Ordnung insofern als ungerecht erweist, als Men- Armut sei nicht nur begleitet von »systematischen
schen einer bestimmten Güterverteilungsordnung Verletzungen von Grundfreiheiten, sondern Armut
unterstellt werden, die weder ihre Grundbedürfnisse ist tiefergehend Teil eines sozialen Mechanismus, der
noch ihre spezifischen Leistungen innerhalb des die Integrität von Menschen verletzt, indem sie in ei-
Übertragungsprozesses von Arbeitserträgen von einer nen Zustand unzulässiger Unterwerfung unter den
Gruppe zu einer anderen angemessen berücksichtigt. Willen anderer versetzt werden« (Fleurbaey 2007,
›Marginalisierung‹ finde statt, wenn Formen der Ab- 154; eigene Übers.). In dieser Lesart werden insbeson-
58 I Der Begriff der Gerechtigkeit

dere die Wirkungen von Armut auf das soziale Gefüge zur Welt« (Derrida 2000, 14 f.). Diese provokative
ganzer politischer Gemeinschaften, aber auch auf die These, die Derrida vor allem in Auseinandersetzung
Beziehungen zwischen einzelnen Menschen in Bezug mit Walter Benjamins berühmtem Aufsatz »Zur Kri-
auf die aus ihr resultierenden Abhängigkeiten betont. tik der Gewalt« (Benjamin 1980) diskutiert (Derrida
1991, Teil II), hat eine lange ideengeschichtliche Tra-
dition, auch wenn sie eher abseits des Mainstreams
Die Dekonstruktion der Gerechtigkeit der okzidentalen Rechts- und Staatslegitimierungs-
diskurse zu verorten ist: So findet sich eine vergleich-
Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Theorie der Un- bare Überlegung bereits bei Augustinus, der festhält,
gerechtigkeit finden wir schließlich bei Derrida. Der- dass die Legitimität von politisch-rechtlichen Ord-
ridas Gerechtigkeitsdenken bewegt sich dabei auf mä- nungen eine Frage der Macht und nicht der Gerech-
andernden Pfaden um eine Beobachtung, die vielfälti- tigkeit sei (Augustinus 1997, 173 f.), und sie taucht
ge Konsequenzen für die Gerechtigkeitstheorie und wieder auf in Spinozas bekannter Formel, dass das
die Beziehung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit Recht der Natur nicht auf eine Vorstellung von Ge-
hat. Nach seinem Eindruck ist Gerechtigkeit »eine Er- rechtigkeit, sondern auf die Macht der Natur verweise
fahrung des Unmöglichen« (Derrida 1991, 33). Dieser (vgl. Spinoza 1677/2006, 11).
Satz könnte leicht wie eine Verabschiedung allen Wenn die Rechtsgewalt aber eine Gewalt ist, die
Nachdenkens über Gerechtigkeit erscheinen, tatsäch- nicht auf eine legitime und gerechte Quelle verweist,
lich aber versteht ihn Derrida als nachdrückliche Auf- dann gerät die rechtliche Umsetzung der Gerechtig-
forderung, die Reflexionen über Gerechtigkeit gerade keit in Gefahr, ungerecht zu verfahren. Eben dies ist
nicht abreißen zu lassen. Eine Absage ist dieser Satz Derrida zufolge der Fall, wie sich am Spannungsver-
aber tatsächlich an alle Gerechtigkeitskonzeptionen, hältnis von Recht und Gerechtigkeit zeigt: Denn wäh-
die versuchen, ein festes, gewisses und regelbewehrtes rend das Recht im Medium der allgemeinen Regel ver-
Modell der Gerechtigkeit zu begründen. Gerechtig- fährt, verlangt die Gerechtigkeit, dass der Besonder-
keit, so versucht Derrida nahezulegen, muss als etwas heit auch jenseits der Regel Gerechtigkeit widerfährt
begriffen werden, das sich niemals aneignen, niemals (Derrida 1991, 33–35). Jemandem gerecht zu werden,
erreichen lässt, sondern das stets im Kommen bleibt meint, ihr oder ihm in ihrer oder seiner Besonderheit
(ebd., 56), sich also fortwährend entzieht. Man könnte gerecht zu werden. Weit gefehlt wäre allerdings der
das auch so formulieren, dass Gerechtigkeit perma- Schluss, dass eine angemessene Praxis der Gerechtig-
nent von der Ungerechtigkeit heimgesucht wird – und keit dann eben jenseits des Rechts zu suchen sei: Die
das nicht in dem Sinne, dass Ungerechtigkeit der Ge- Spannung zwischen dem Allgemeinen des Rechts und
rechtigkeit äußerlich widerstreitet, sondern in dem dem Besonderen der Gerechtigkeit ist nämlich keine
ungleich grundsätzlicheren Sinne, dass Gerechtigkeit äußerliche Spannung zwischen Recht und Gerechtig-
selbst in sich und in ihrer Umsetzung gebrochen ist. keit, sondern sie kehrt im Inneren der Gerechtigkeit
Diese Überlegung lässt sich an Derridas Behand- wieder. Die Gerechtigkeit kann die allgemeine Regel
lung des Spannungsverhältnisses von Recht und Ge- nicht einfach suspendieren, denn eine Praxis ohne Re-
rechtigkeit verdeutlichen, in dem sich gewissermaßen gel würde ebenfalls nicht als gerecht gelten können
die interne Spannung der Gerechtigkeit spiegelt. Üb- (ebd., 46–48).
licherweise wird Recht als Medium der Gerechtigkeit Diese Dekonstruktion der Gerechtigkeit mündet
verstanden, und zugleich wird Gerechtigkeit als die le- nun zwar in die These der unmöglichen Gerechtigkeit,
gitime Quelle des Rechts aufgefasst, die dessen Ge- allerdings besagt diese gerade nicht, dass Gerechtig-
walt, im Unterschied zur rohen Gewalt, zur legitimen keit zu verabschieden ist. Ganz im Gegenteil fordert
Gewalt außerrechtlicher Zustände macht. Derrida uns Derridas Satz, dass die Dekonstruktion die Ge-
zeigt nun, dass es sich bei diesen beiden Annahmen, rechtigkeit sei (ebd., 30), dazu auf, uns nicht bequem
die für das Zusammenspiel von Recht und Gerechtig- in eingespielten Regelwerken, Institutionen und Prak-
keit wesentlich sind, um ausgesprochen fragwürdige tiken einzurichten, sondern zu bedenken, dass Ge-
Annahmen handelt. Zunächst lässt sich Recht keines- rechtigkeit eine unendliche Aufgabe bleibt. Hier be-
wegs so einfach auf eine durch Gerechtigkeit legiti- rühren sich seine Überlegungen übrigens mit denen
mierte Gewalt zurückführen, sondern kommt durch Shklars und Youngs, die ja beide auch immer wieder
bloße Gewalt in die Welt: »Der Gewaltstreich macht darauf hingewiesen haben, dass sich Gerechtigkeit
und gründet Recht, gibt Recht, er bringt das Gesetz nicht durch feste Unterscheidungen und Konzeptio-
9 Ungerechtigkeit 59

nen erreichen lässt. Wie Young und Shklar nimmt Butler, Judith: Kann das ›Andere‹ der Philosophie sprechen?
auch Derrida den konkreten Einspruch gegen Unge- In: Dies. (Hg.): Die Macht der Geschlechternormen. Frank-
rechtigkeiten in den Blick, indem er darauf hinweist, furt a. M. 2009, 367–393.
Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der
dass die Dekonstruktion der Gerechtigkeit gerade Autorität«. Frankfurt a. M. 1991.
nicht »eine Unempfindlichkeit gegenüber der Unge- –: OTOBIOGRAPHIEN – Die Lehre Nietzsches und die
rechtigkeit« (ebd., 41) bedeutet, sondern im Gegenteil Politik des Eigennamens. In: Ders./Friedrich Kittler (Hg.):
ein Aufdecken von Ungerechtigkeiten gerade dort er- Nietzsche – Politik des Eigennamens. Berlin 2000, 7–63.
möglicht, »wo das gute und ruhige Gewissen bei die- Fleurbaey, Marc: Poverty as a form of oppression. In: Tho-
mas W. Pogge (Hg.): Freedom from Poverty as a Human
ser oder jener überkommenen Bestimmung der Ge-
Right. Who Owes What to the Very Poor? Oxford 2007,
rechtigkeit stehenbleibt« (ebd.). 133–154.
Geuss, Raymond: Privatheit. Eine Genealogie. Frankfurt
a. M. 2002.
Perspektiven –: Kritik der politischen Philosophie. Hamburg 2011.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philoso-
phie des Rechts [1821]. In: Ders.: Werke, Bd. 7. Hg. von Eva
In der praktischen und politischen Philosophie ist die Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M.
Auseinandersetzung mit Ungerechtigkeit nach wie 1986.
vor eher eine Nischenbeschäftigung. Über den gerech- Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen
tigkeitsphilosophischen Diskurs im engeren Sinne hi- Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a. M. 1994.
naus hat die (kritische) Diskussion über Bedingungen Kaplow, Ian/Lienkamp, Christoph (Hg.): Sinn für Ungerech-
tigkeit. Baden-Baden 2005.
und Strukturmerkmale von Ungerechtigkeit derzeit
Kapur, Ratna: Human rights in the 21st century. Take a walk
insbesondere in den Gebieten der Gender/Queer on the dark side. In: Sidney Law Review 28/4 (2006), 665–
Theory und der Postcolonial Studies ihren Ort gefun- 687.
den. Hier werden insbesondere Vermachtungs- und Nagl-Docekal, Herta: Gleichbehandlung und Anerkennung
Exklusionsmechanismen, die Ungleichheiten in Ge- von Differenz: Kontroversielle Themen feministischer po-
schlechterverhältnissen wie auch in der von der litischer Philosophie. In: Dies./Herlinde Pauer-Studer
(Hg.): Politische Theorie. Differenz und Lebensqualität.
Asymmetrie eines Nord-Süd-Gefälles gekennzeichne-
Frankfurt a. M. 1996, 9–53.
ten globalen Ordnung haben virulent werden lassen, Platon: Politeia. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. V (grie-
reflektiert. Judith Butler etwa problematisiert mit der chisch und deutsch). Frankfurt a. M. 1991.
Frage, ob das ›Andere‹ der Philosophie sprechen kann Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
(2009), dass Diskurse über Bedeutungen bereits auf 1979 (engl. 1971).
der begrifflichen Ebene vergeschlechtlichte Macht- Rössler, Beate: Vom Wert des Privaten. Frankfurt a. M. 2001.
Shklar, Judith N.: Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu ei-
strukturen aufweisen, die marginalisierende und ex- nem moralischen Gefühl. Frankfurt a. M. 1997 (engl.
kludierende Auswirkungen auf weite gesellschaftliche 1990).
Bereiche haben. Gayatri Chakravorty Spivak (2008) Spinoza, Baruch de: Politischer Traktat [1677]. In: Ders.:
thematisiert die Schwierigkeiten eines postkolonialen Werke, Bd. 3. Hamburg 2006.
Righting Wrongs angesichts des Eurozentrismus inner- Spivak, Gayatri Chakravorty: Righting Wrongs – Unrecht
richten. Berlin/Zürich 2008.
halb des internationalen Gerechtigkeitsdiskurses.
Williams, Bernard: Realism and Moralism in Political Theo-
Und Ratna Kapur beispielsweise zeigt die ebenso pa- ry. In: Ders. (Hg.): In the Beginning Was the Deed. Realism
ternalistischen wie strukturvergessenen Implikatio- and Moralism in Political Argument. Princeton NJ/Oxford
nen eines »discriminatory universalism« (Kapur 2006, 2005, 1–17.
673) auf, der insbesondere im Namen der Menschen- Young, Iris Marion: Justice and the Politics of Difference.
rechte Modi der Ungerechtigkeit perpetuiert und ze- Princeton NJ 1990.
–: Fünf Formen der Unterdrückung. In: Herta Nagl-Doce-
mentiert. kal/Herlinde Pauer-Studer (Hg.): Politische Theorie. Diffe-
renz und Lebensqualität. Frankfurt a. M. 1996, 99–139.
Literatur
Adorno, Theodor W: Probleme der Moralphilosophie Oliver Flügel-Martinsen / Franziska Martinsen
[1963]. In: Ders.: Nachgelassene Schriften, Bd. IV.10.
Frankfurt a. M. 1996.
Augustinus, Aurelius: Vom Gottesstaat (De civitate dei).
2 Bde. München 41997.
Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt. In: Ders.: Gesam-
melte Schriften, Bd. II.1. Frankfurt a. M. 1980, 179–203.
60 I Der Begriff der Gerechtigkeit

10 Kritik am Gerechtigkeitsbegriff davon aber wenig hat, wenn es gleichzeitig andere gibt,
die ohne Hemmung das Recht brechen. Entscheidend
Angesichts der traditionellen und auch zeitgenössi- ist für Thrasymachos hier die Kategorie des Glücks.
schen Hochschätzung der Gerechtigkeit als individuel- Während die gehorsam Gerechten die Starken durch
ler und sozialer Tugend sind radikale Formen der Kri- ihr Dienen glücklich machen, sind sie selbst »alles an-
tik an Gerechtigkeit philosophisch eher marginal. Ei- dere eher als glücklich« (ebd., 343c–d). In Frage steht
nige Typen einer solchen radikalen, die Gerechtigkeit also, ob Gerechtigkeit dem Glücksinteresse des Men-
insgesamt in Frage stellenden Kritik lassen sich gleich- schen widerstreitet oder ob sie kompatibel damit ist,
wohl ausfindig machen. So konzentriert sich eine Kri- und die Antwort des Thrasymachos ist eindeutig: Da
tik auf die rationalitätstheoretische Annahme, Gerech- Glück in der Befriedigung eigener Interessen liegt,
tigkeit lohne sich nicht; ein anderer Typ der Kritik wirft wird nur der wirklich glücklich sein, der im Zweifels-
den gängigen Theoriemodellen vor, Gerechtigkeitsfra- fall auch gegen die Interessen anderer oder gegen die
gen zu sehr an normativen Prinzipien zu orientieren Forderungen der Gerechtigkeit agiert. So wird der Ge-
und damit unabhängig von den konkreten sozioöko- rechte im Geschäftsverkehr am Ende weniger Gewinn
nomischen Umständen zu thematisieren, auf die diese haben als der Ungerechte und auch mehr Steuern zah-
Prinzipien angewendet werden sollen. Weniger radi- len als dieser; der Ungerechte wiederum wird sich
kale Modelle der Kritik akzeptieren Gerechtigkeit als auch aus Ämtern, die er innehat, mehr Vorteile »wider
zentrale, individuelle und soziale Tugend, zweifeln das Recht« (ebd., 343d–e) verschaffen als der Gerechte.
aber am Sinn der Orientierung an Fragen der Distribu- Der Gerechte dient dem Ungerechten dabei wohl nicht
tion oder verweisen auf Konflikte zwischen dem Wert einmal in einem direkten Sinne, sondern eher indem
der Gerechtigkeit und anderen Werten wie Liebe, Frei- er tut, was das Recht vorschreibt, und damit den Un-
heit, Anstand oder Fürsorge, die, so die Annahme, gerechten in die Lage versetzt, einseitig von der Ge-
durch eine einseitige Ausrichtung an Gerechtigkeit in rechtigkeit anderer zu profitieren. Ungerechtigkeit
ihrem Eigenwert aus dem Blick geraten. In dieser Per- lohnt sich dabei vor allem im großen Maßstab: Der
spektive gibt es erstrebenswerte Formen des sozialen glückseligste ist der Tyrann, der den anderen die Re-
Zusammenlebens jenseits der Gerechtigkeit, so dass geln zu seinem eigenen Vorteil vorschreibt.
der Wert der Gerechtigkeit relativiert wird. Die radika- Klar ist damit auch, dass Thrasymachos einen kon-
len und die weniger radikalen Formen einer Kritik der ventionellen Gerechtigkeitsbegriff zugrunde legt und
Gerechtigkeit sind an verschiedenen Punkten der Phi- keine eigene Definition von Gerechtigkeit oder Unge-
losophiegeschichte in unterschiedlicher Ausprägung rechtigkeit vorschlägt. Der glücklich Ungerechte zehrt
artikuliert worden, die sich allerdings eher in einer sys- parasitär von der Gerechtigkeit anderer, auf die er an-
tematischen denn einer historisch-chronologischen gewiesen ist, um selbst ungerecht zu sein. Im Mittel-
Logik entschlüsseln lassen. punkt dieser Gerechtigkeitskritik steht folglich weni-
ger die Frage nach der besten Definition von Gerech-
tigkeit oder Ungerechtigkeit als die Frage nach den eu-
Platon, Nietzsche und Aristoteles dämonistischen Folgen der Einhaltung oder des
Bruchs der wie immer begründeten oder etablierten
Trotz der insgesamt großen Akzeptanz des Gerechtig- Gerechtigkeitsprinzipien (Kersting 2006, 30).
keitsgedankens in der abendländischen Philosophie Glaukon wird im zweiten Buch des Staats ähnliche
findet sich gleich in ihrer Frühphase eine scharfe Ge- Überlegungen anstellen. Ursprünglich zieht es jeder
rechtigkeitskritik, ja man kann sagen, dass sich Platons Mensch vor, ungerecht zu sein, sofern keine Strafe
Der Staat als Antwort auf diese Kritik verstehen lässt, droht; die, die zu ›schwach‹ zum Unrechttun sind und
die als Kritik damit durchaus ernst genommen wird. folglich unter den Ungerechtigkeiten anderer leiden,
Es ist Thrasymachos, der definiert, Gerechtigkeit sei vereinbaren Gesetze und Verträge, die sie dann als
»das dem Stärkeren und Herrschenden Zuträgliche, »Gesetzliches und Gerechtes« (Platon 1988a, 359a)
dagegen des Gehorchenden und Dienenden eigener bezeichnen. Gerechtigkeit ist, so gesehen, kein Gut an
Schaden« (Platon 1988a, 343c). Mehr noch, Ungerech- sich, sondern nur der Ausweg aus einer Situation ei-
tigkeit »im Großen verübt [sei etwas viel] Kraftvol- gener Schwäche. Sie ist eine Fessel, die den Starken an-
leres, Vornehmeres und Herrenmäßigeres als die Ge- gelegt wird, um sie daran zu hindern, auf Kosten der
rechtigkeit« (ebd., 344c). Mit anderen Worten, gerecht Schwachen ungerecht zu sein, ein Verhalten, das jeder,
ist der Schwache oder Feige, der sich an das Recht hält, der es kann, allerdings vorziehen würde. Platon muss
10 Kritik am Gerechtigkeitsbegriff 61

nun in seiner Antwort auf diese Gerechtigkeitskritik keit schlicht als »Gewinnsucht« (NE 1130a), die darauf
zeigen, dass Gerechtigkeit mit Glückseligkeit kom- hinausläuft, mehr haben zu wollen als einem zusteht.
patibel ist, weil sie nicht an den ›begehrlichen Teil‹ der Eine Kritik der Gerechtigkeit sucht man bei Aristo-
Seele, sondern an den vernünftigen Teil appelliert, teles folglich vergeblich, allerdings eröffnet Aristoteles
dessen Aufgabe es ist, innerhalb der Seele so zu herr- mit seinen Überlegungen zur Güte (Billigkeit) eine
schen wie die Philosophenkönige außerhalb. Tradition, die gleichwohl ein Gespür für die Grenzen
Friedrich Nietzsche hat in neuerer Zeit in seiner Ge- dessen offenbart, was Aristoteles selbst als »Gesetzes-
nealogie der Moral (1887/1988) diesen Gedanken einer Gerechtigkeit« bezeichnet (NE 1137b). In dem Maße
von den ›Schwachen‹ ersonnenen Moral aufgegriffen, nämlich, in dem Gesetze eine allgemeine, Einzelfälle
mit Blick auf die Gerechtigkeitsthematik allerdings umfassende Ausrichtung haben, kann es gar nicht
ausdrücklich vor einer Herleitung der Gerechtigkeit ausbleiben, dass sie nicht alle Aspekte an einem Fall
aus dem Ressentiment der ›Schwachen‹ gewarnt. Weil erfassen und damit einer ›Fehlerquelle‹ unterliegen.
zur Gerechtigkeit das Vergleichen gehöre, das Verglei- Platon lässt den Fremden in seinem Dialog Politikos
chen aber nach einem ›freien‹ Auge und einer unper- ganz ähnlich formulieren, dass die »Ungleichheiten
sönlichen ›Abschätzung‹ verlange, eigne sich das der Menschen [und die] Unbeständigkeit der mensch-
»Wüthen« (ebd., 311) des Ressentiments nicht, um lichen Dinge« die »genaue Anpassung« des Gesetzes
Gerechtigkeit zu etablieren. Vielmehr sind es die »Ak- an Einzelfälle unmöglich machen (Platon 1988b,
tiven, Starken, Spontanen [und] Aggressiven« (ebd.), 294b). Für Aristoteles ist Güte nun der Gesetzes-Ge-
die durch das Aufrichten des Gesetzes überhaupt die rechtigkeit in dem Sinne überlegen, dass sie über das
Kategorien Recht und Unrecht und damit ein gewisses hinausgeht, was die Gesetze verlangen, und ein Ge-
Maß schaffen, um das Ressentiment der ›Schwachen‹ spür für unverwechselbare Aspekte eines Einzelfalls
zu bändigen. Allerdings nähert sich Nietzsche einzel- entwickelt. Damit liegt allerdings deswegen keine Kri-
nen Gedanken aus der im Staat verhandelten Gerech- tik der Gerechtigkeit vor, weil die Güte zwar als ›Be-
tigkeitskritik doch wieder an, wenn er nahelegt, dass richtigung‹ der Gesetze betrachtet wird, gleichwohl
Rechtsordnungen von den ›Starken‹ im »Kampf von aber weiterhin der Gattung des Gerechten zugehörig
Macht-Complexen« (ebd., 313) eingesetzt werden. Der bleiben soll. Die Güte, so scheint es, verkörpert gleich-
Genealogie der Gerechtigkeit aus dem Ressentiment sam eine höhere Form der Gerechtigkeit. Unklar ist
wird eine Genealogie der Gerechtigkeit aus der Stärke nur, ob Aristoteles davon ausgeht, dass dieser Defekt
gegenübergestellt, der zufolge Gerechtigkeit den ›Star- die Gesetzes-Gerechtigkeit generell trifft, weil sie per
ken‹ und ›Aktiven‹ dazu dient, die unberechenbaren se ›lückenhaft‹ ist, oder bestimmte Gesetze, die sich
Züge der »reaktiven Affekte« (ebd., 310), also vor allem nur so formulieren lassen, dass sie sich auf die meis-
den Wunsch nach Rache, zu bändigen. ten, aber eben nicht auf alle Fälle anwenden lassen
Im Anschluss an Platon verbindet auch Aristoteles (Wolf 2007, 113). Der Gütige ist in jedem Fall derjeni-
im fünften Buch der Nikomachischen Ethik den Ge- ge, der nicht auf dem Wortlaut des Gesetzes beharrt
rechtigkeits- und den Glücksgedanken, aber auf der und es »so lange verfolgt, bis es zum Unrecht wird«
Ebene des allgemeinen Gerechtigkeitsbegriffs ist die (NE 1137b), sondern der im Einzelfall auf das, was
Glücksorientierung explizit auf den Mitbürger bezo- ihm qua Gesetz zusteht, verzichtet. Der Gesetzes-Ge-
gen, so dass die stärker egozentrische Position des rechtigkeit wird damit eine Perspektive hinzugefügt,
Thrasymachos und Glaukons von Anfang an bestritten die den Gefahren, ja dem Unrecht eines ungebroche-
ist. Wenn Gerechtigkeit in einer ersten – allgemeinen – nen Gesetzesgehorsams Rechnung trägt; gleichzeitig
Bedeutung heißt, die Gesetze zu achten, die Gesetze wird eine höhere Gerechtigkeit formuliert, deren Auf-
aber die Aufgabe haben, »das Glück sowie dessen gabe es ist, über das Gesetz hinaus alle relevanten As-
Komponenten für das Gemeinwesen hervorzubringen pekte eines Einzelfalls zu berücksichtigen.
oder zu erhalten« (NE 1129b), dann kann der Unge-
rechte offensichtlich an diesem Glück nicht partizipie-
ren. Auch im Kontext der speziellen Gerechtigkeit, die Wertkonflikte und die Grenzen
um die Frage der Güterverteilung kreist, kann der Un- der Gerechtigkeit
gerechte kaum als glücklich bezeichnet werden, zumal
andere ihn tadeln werden – die leise Bewunderung des Die Kritik des Thrasymachos zielt auf Gerechtigkeit
Ungerechten bei Thrasymachos und Glaukon fällt ganz nur in dem Maße, in dem diese mit dem Glücksstre-
weg. Aristoteles bezeichnet diese Art der Ungerechtig- ben des Menschen kollidiert. Damit ist ein Konflikt er-
62 I Der Begriff der Gerechtigkeit

öffnet, der auf der Annahme möglicher Kollisionen weisen, die aus ihrer Orientierung an Gleichheit,
zwischen dem Wert der Gerechtigkeit und anderen, Gleichbehandlung und Neutralität der Prinzipien-
der Gerechtigkeit offenbar nicht allzu fernen Werten anwendung stammen, gleichzeitig aber bemüht sind,
beruht. Dabei zeigt sich, dass die Feststellung be- die Idee der Gerechtigkeit so zu erweitern, dass sie um
stimmter Wertkollisionen oft den Versuch nach sich die Komponente der Rücksichtnahme auf individuelle
zieht, den vermeintlich mit Gerechtigkeit kollidieren- Aspekte der Person oder ihrer Situation erweitert
den Wert in die Gerechtigkeit zu integrieren, so dass wird. So glaubt Martha Nussbaum etwa, in juristi-
der Konflikt entschärft wird. Die Perspektive der aris- schen Kontexten die regelgeleiteten formalen Ent-
totelischen Güte dagegen sensibilisiert für mögliche scheidungsprozesse um eine literarisch geschulte Vor-
Formen des Unrechts im vermeintlich gerechten stellungskraft ergänzen zu müssen, die eine größere
Recht selbst. Sensibilität für Einzelfälle und Einzelschicksale mit
Neben dem Glück ist etwa die Liebe der Gerechtig- sich bringt, will damit das Ideal der Neutralität aber
keit entgegengesetzt worden, Paul Ricœur spricht von nicht preisgeben, sondern reformulieren und zu ei-
einer »Disproportion zwischen beiden Begriffen« nem »komplexen Ideal juridischer Neutralität« ver-
(Ricœur 1990, 7), die darin besteht, dass die Gerech- dichten (Nussbaum 1995, 82).
tigkeit einer »Logik der Entsprechung«, die Liebe aber Eine Kritik an einem zu engen Verständnis von
einer »Logik der Überfülle« folgt (ebd., 57–58). Die Recht und Gesetz liegt auch Jacques Derridas Versuch
Liebe geht nach diesem Verständnis insofern über die zugrunde, jenseits von Recht und Gesetz Platz für eine
Gerechtigkeit hinaus, als sie sich nicht in einer stren- Gerechtigkeit zu schaffen, die sich ihrer epistemischen
gen Logik der Gegenseitigkeit erschöpft, wie sie etwa und moralischen Grenzen bewusst ist; die also mit ei-
mit Hilfe der Goldenen Regel formuliert wird: »Was nem Bewusstsein dafür einhergeht, dass Gerechtigkeit
du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem in ihrer rechtsstaatlichen Implementation stets eine
andern zu.« Die Liebe folgt eher dem Gebot der Gabe, allgemeine Form aufweist, die jedem Einzelfall Un-
das für Ricœur seinen strengsten Ausdruck im christ- recht tut. Wahre Gerechtigkeit, eine Gerechtigkeit,
lichen Gebot der Feindesliebe findet, das mit jeder Lo- »die kein Recht ist«, bemüht sich demgegenüber gera-
gik der Gegenseitigkeit bricht. Der Gegensatz, der da- de aufgrund ihrer Universalität um die Besonderheit
mit zwischen Liebe und Gerechtigkeit etabliert ist, des Anderen (Derrida 1991, 52 und 41), von der sie
wird von Ricœur allerdings nicht absolut gesetzt; am allerdings auch weiß, dass sie unerreichbar bleiben
Ende geht es ähnlich wie bei Aristoteles darum, der muss. So wird Gerechtigkeit zu einer »unendlichen«
Gerechtigkeit das »Korrektiv des Liebesgebots« an die Gerechtigkeit (ebd., 51), zu einer Bewegung ohne Ab-
Seite zu stellen und gleichzeitig zu erkennen, dass die schluss, die gleichwohl darauf setzen muss, nicht un-
Liebe aufgrund ihrer radikalen Gabestruktur das erreichbar zu bleiben, ja deren einziger Ort am Ende
»notwendige Medium der Gerechtigkeit« braucht, doch die Anwendung oder der Vollzug des Rechts ist;
weil sie, die sonst jedes ethische Gebot überfordert, ein Vollzug, der mit der je gegebenen Ordnung des
nur so auf ein praktikables ethisches Maß gebracht Rechts bricht und es damit bestenfalls im Sinne der
werden kann (ebd., 59, 63). Forderung nach größerer Gerechtigkeit erweitert. Ge-
In diesem Sinne kann die Liebe im Innern der Ge- rechtigkeit dynamisiert das Recht, das gerecht nur ap-
rechtigkeit Forderungen nach Gleichheit und Fairness proximativ sein kann, sie sensibilisiert es für seine ei-
insoweit affizieren, als sie die Perspektive des rezipro- genen Beschränkungen und Ungerechtigkeiten. Auch
ken Eigennutzes bricht, die sonst den Diskurs der Ge- hier handelt es sich um eine Kritik der Gerechtigkeit
rechtigkeit beherrscht, und auf die Perspektive der im Namen der Gerechtigkeit oder einer höheren Ge-
Uneigennützigkeit hin erweitert. Ricœurs Ansatz rechtigkeit (Forst 2011, 193).
gleicht damit jenen Modellen, die auf die Begrenztheit Als normative Konkurrenzprinzipien zur Gerech-
der Gerechtigkeit verweisen, nur dass er glaubt, durch tigkeit werden in der Regel solche Werte betrachtet, die
eine Reinterpretation der Gerechtigkeit zeigen zu durch Gerechtigkeit gefährdet sind (Glück) oder mit
können, dass die Inkompatibilität zur Liebe eine ihr unvereinbar zu sein scheinen (Liebe), selbst wenn
scheinbare ist. Richtig verstandene Gerechtigkeit ent- sie – wie im Fall der Liebe – einer gewissen Logik der
hält Elemente der Liebe. Verteilung folgen; die ›Überfülle‹ der Liebe impliziert
Wie damit die Perspektive der Gerechtigkeit intern schließlich, mehr zu geben, als von der Gerechtigkeit
erweitert wird, zeigt sich auch an anderen Ansätzen, gefordert werden kann, und ist damit immerhin auch
die einerseits auf die Grenzen der Gerechtigkeit ver- ein Geben. Anders verhält es sich mit dem Gegensatz
10 Kritik am Gerechtigkeitsbegriff 63

von Gerechtigkeit und Freiheit, der etwa im Kontext »argwöhnische Tugend« (cautious, jealous virtue; Hu-
liberalen Denkens an manchen Punkten als scharf und me 1751/1984, 101), die nur unter der Bedingung der
unversöhnlich gedeutet wird. Friedrich A. Hayek etwa Güterknappheit und des begrenzten Wohlwollens der
räumt zwar ein, dass freie Gesellschaften der gerechten Menschen wirklich nötig ist. Wo Güter in Überfülle
Anwendung eines Rechts bedürfen, das die Freiheiten vorhanden sind oder wo die Menschen voller Wohl-
aller sichern hilft, er polemisiert allerdings heftig ge- wollen gegenüber allen anderen sind, da ist Gerechtig-
gen die Idee einer »sozialen« Gerechtigkeit (Hayek keit fehl am Platz. Familien ähneln nach Hume einem
2003, 213), die von Gesellschaften verlangt, Umvertei- solchen Zustand starken reziproken Wohlwollens,
lungen im Lichte der Gerechtigkeit vorzunehmen. Un- auch die Ehe stiftet ein »Band der Freundschaft«, das
gleichheiten, die durch das ungehinderte Wirken der jede Eigentumstrennung aufhebt. Andererseits gibt es
Marktmechanismen zustande kommen, gibt es zwar, Situationen existenzbedrohender Not, die eine Orien-
aber sie können nie ungerecht sein, weil sie von nie- tierung an Gerechtigkeitsprinzipien unmöglich ma-
mandem intendiert sind und auch nicht vorhergese- chen, da in ihnen »Habgier« und »Bosheit« unaus-
hen werden können. Da sich Forderungen nach Ge- weichlich sind. Die Möglichkeit der Gerechtigkeit
rechtigkeit nur auf solche Handlungen beziehen kön- liegt gleichsam in der Mitte zwischen Wohlwollen und
nen, die gewollt und beabsichtigt sind, hat die Forde- Überfluss, Not und Habgier, sie wird möglich im Kon-
rung nach Gerechtigkeit dort nichts zu suchen, wo der text von Güterknappheit und begrenztem Wohlwollen
Bereich des Absichtlichen verlassen wird oder wo sich (ebd., Kap. 3). Auch wenn für Hume diese Mitte die
Ordnung nur durch »spontane Prozesse« einstellt »übliche Situation der Menschen« beschreibt (ebd.,
(ebd., 215). Staatliche Eingriffe in Prozesse, die nicht 107), impliziert seine Beschreibung der Umstände der
lenkbar sind, haben als Folge die »Zerstörung des un- Gerechtigkeit institutionelle Bereiche menschlichen
erläßlichen Nährbodens, auf dem allein die traditio- Handelns, die ohne Gerechtigkeit auskommen und
nellen moralischen Werte gedeihen können, nämlich die durch eine Ausrichtung auf Gerechtigkeit in ihrem
der persönlichen Freiheit« (ebd., 218). Liberale Posi- normativen Kern berührt wären. Deutlich wird damit,
tionen siedeln sich demgemäß nicht in einem Recht dass die Orientierung an Gerechtigkeit verbunden
jenseits der Gerechtigkeit an, aber sie warnen vor über- wird mit durchaus zweifelhaften menschlichen Cha-
zogenen, freiheitsgefährdenden Aspekten einer um- rakterzügen, die in der Formel von der »vorsichtigen«
verteilenden Gerechtigkeit, vor einem »Gerechtig- und »argwöhnischen« Tugend erfasst sind.
keitsfuror«, der auch »kontingente Distributionen der Vor allem die feministisch inspirierte Fürsor-
Natur« durch gesellschaftliche Maßnahmen korrigie- geethik hat aus ähnlichen Überlegungen heraus eine
ren will (Kersting 2002, 61). Hier geht es also um eine am Rechtsbegriff orientierte Gerechtigkeit kritisiert,
deutliche Einschränkung einer ›sozialen‹ Gerechtig- da diese zu wenig Platz lasse für solche Fürsorgeleis-
keit, die im Namen der Gerechtigkeit regeln will, was tungen, die einzelnen Individuen in ihrer unverwech-
sich nicht regeln lässt oder nicht geregelt werden sollte, selbaren, immer auch leiblich gebundenen Hilfs-
weil dadurch andere wichtige Werte wie die Freiheit bedürftigkeit gelten (Baier 1994). Fürsorge und Ge-
gefährdet wären. rechtigkeit wurden entsprechend in vielen Modellen
Es bleibt aber dabei, dass alle bislang vorgestellten konflikthaft gegeneinandergestellt; andere Ansätze
Ansätze den Boden der Gerechtigkeit nicht wirklich wiederum bemühen sich um eine Integration von Ge-
verlassen. Gerechtigkeit bleibt eine Tugend oder ein rechtigkeit in die Fürsorge oder von Fürsorge in die
zentraler Wert, umstritten ist nur, wie sie genau zu Gerechtigkeit, und wieder andere Ansätze versuchen,
verstehen ist und welche Gefahren in einem verkürz- eine beide Tugenden umfassende Moral zu entwerfen,
ten oder ›maßlosen‹ Gerechtigkeitsverständnis liegen. die mögliche Differenzen zwischen Forderungen der
Versuche, den Boden der Gerechtigkeit in normativer Gerechtigkeit und Forderungen der Fürsorge bewahrt
Hinsicht tatsächlich zu verlassen, sind rar; eine gewis- (Held 2006, 546–549).
se Vorstufe mag man aber in all jenen Ansätzen sehen,
die zwar nicht bestreiten, dass Gerechtigkeit eine für
das soziale Zusammenleben zentrale Tugend ist, die Radikalere Kritikformen
aber Umstände markieren, unter denen Gerechtigkeit
nicht nötig wäre, oder sogar Tugenden benennen, die Wie schwierig eine radikale Kritik der Gerechtigkeit
der Gerechtigkeit überlegen sind. David Hume etwa ist, zeigt sich daran, dass die meisten Ansätze dieser
bezeichnet die Gerechtigkeit als »vorsichtige« und Art eher gestisch bleiben. Wenn Avishai Margalit etwa
64 I Der Begriff der Gerechtigkeit

betont, das »dringlichste« Problem unserer Gesell- wie sehr das, was jeweils als gerecht oder ungerecht
schaften sei nicht die »gerechte«, sondern die »anstän- angesehen wird, abhängig ist vom Zusammenspiel der
dige Gesellschaft« (Margalit 1997, 11), in der Institu- ökonomischen Verhältnisse mit den politischen, kul-
tionen Menschen nicht demütigen, macht die Anlage turellen und sozialen Verhältnissen. Karl Marx ist, wie
des Modells deutlich, dass es um eine vollkommen häufig betont wurde, weder selbst als Gerechtigkeits-
neue Perspektive auf Gesellschaft geht, in deren Rah- theoretiker noch als Kritiker der Gerechtigkeit auf-
men Fragen der Gerechtigkeit nicht vorrangig sind. getreten (Wood 1972). Gleichwohl lässt sich mit Marx
Wie sich allerdings Gerechtigkeit und Anständigkeit festhalten, dass eine abstrakte Formulierung von Prin-
(decency) genauer zueinander verhalten, bleibt un- zipien der Gerechtigkeit der Tendenz nach den gege-
deutlich. An manchen Punkten wird suggeriert, dass benen Stand der Produktionsverhältnisse widerspie-
eine ungerechte Gesellschaft nicht unbedingt un- gelt oder sogar rechtfertigt und darüber hinaus, soll
anständig sein muss (ebd., 63), was die Ausgangsthese sie kritisch sein, ohne eine echte Reform oder Trans-
zu bestätigen scheint, dass Fragen der Anständigkeit formation dieser Verhältnisse leer und sinnlos bleiben
Vorrang haben und Fragen der Gerechtigkeit gleich- muss. So ist Sklaverei nach Marx unter kapitalisti-
sam erst dann relevant werden, wenn Fragen der An- schen Produktionsbedingungen ungerecht, nicht aber
ständigkeit institutionell erfolgreich bearbeitet wor- gewisse Formen der Ausbeutung, die diese Bedingun-
den sind. Eine Kritik der Gerechtigkeit liegt diesem gen wesentlich definieren (Marx 1988, 352). Ein sol-
Modell also insofern zugrunde, als die Annahme, Ge- cher Ansatz kritisiert nicht Gerechtigkeit an sich, son-
rechtigkeit sei die »erste Tugend sozialer Institutio- dern nur Formen der Theoretisierung von Gerechtig-
nen« (Rawls 1975, 19), mit dem Hinweis bestritten keit, die ihre Einbettung in ökonomische Zusammen-
wird, eine Konzentration auf Gerechtigkeitsfragen hänge außer Acht lassen.
unterschlage andere Formen der normativ angemes-
senen oder unangemessenen Behandlung durch Insti-
tutionen, die nicht aufgehen in einer Perspektive der Ausblick
Gerechtigkeit und für die stellvertretend der Begriff
der Anständigkeit gewählt wird. Wie kaum ein anderer Begriff der Praktischen und Po-
Während Margalit damit die Spannung zwischen litischen Philosophie besitzt der Gerechtigkeitsbegriff
Gerechtigkeit und anderen Tugenden (Anstand) nicht die Eigenschaft, Formen der Kritik an Gerechtigkeit in
aufzulösen versucht, bemühen sich andere Ansätze sich aufzusaugen oder, mit Hegel gesprochen, in sich
darum, die Kritik an bestimmten Gerechtigkeits- aufzuheben und dadurch eine neue, weitere oder um-
modellen so zu formulieren, dass als Zielpunkt eine fassendere Gerechtigkeitskonzeption zu generieren.
umfassendere Konzeption der Gerechtigkeit steht, die Selten ist die Kritik an Gerechtigkeit so radikal, dass
die scheinbar konkurrierenden Werte integriert. tatsächlich Gerechtigkeit als solche zur Disposition
Wenn Iris Marion Young und Axel Honneth etwa das gestellt wird. Die Mehrzahl der kritischen Ansätze ist
Distributionsparadigma der Gerechtigkeit kritisieren, in dem Sinne konstruktiv, dass sie eine Verbesserung
tun sie das nicht, weil sie Gerechtigkeit insgesamt für überkommener Modelle anstrebt. Allerdings haben
einen problematischen Wert halten. Sie wollen aber sich verschiedene Ansätze herauskristallisiert, die
darauf hinweisen, dass viele Güter keinen materiellen durchaus alternative Werte betonen, die zumindest in
Charakter haben und folglich nicht im gleichen Maße einem konflikthaften Bezug zur Gerechtigkeit stehen.
verteilt werden können wie materielle Güter (Young Dieser Konflikt sollte nicht vorschnell eingeebnet wer-
1990, 24) oder aber anerkennungsrelevante Bezie- den, indem darauf verwiesen wird, dass eine umfas-
hungsmuster ausblenden, die ebenfalls nicht zur Ver- sende Gerechtigkeit will, was die Liebe, die Fürsorge,
teilung stehen (Honneth 2010). der Anstand oder das Wohlwollen will. Eher schon
Eine wirklich radikale Kritik der Gerechtigkeit scheint es sinnvoll, die anspruchsvollen Vorausset-
kann vielleicht nur dort artikuliert werden, wo, wie im zungen und den kontinuierlichen Korrekturbedarf
marxistischen Kontext, Gerechtigkeit an sich als Teil der Gerechtigkeit stärker hervorzuheben, ohne dass
der Rechtsverhältnisse begriffen wird, die wiederum dies gleich im Namen einer ›höheren‹ Gerechtigkeit
in den »materiellen Lebensverhältnissen wurzeln« geschieht. Wenn Hume Recht hat und Gerechtigkeit
(Marx 1985, 8). Eine Gerechtigkeitstheorie, die von eine vorsichtige und sogar argwöhnische Tugend ist,
diesen materiellen Lebensverhältnissen abstrahiert müsste dies auch für jede Form einer höheren Gerech-
und den Gerechtigkeitsgedanken isoliert, übersieht, tigkeit gelten, es sei denn, die Gerechtigkeit wird so
10 Kritik am Gerechtigkeitsbegriff 65

stark aus ihrer Assoziation mit Fragen der Verteilung Kersting, Wolfgang: Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen
von Gütern herausgelöst, dass ihre Differenz zu Wer- der Gerechtigkeit und der Moral. Weilerswist 2002.
ten und Prinzipien, die nicht primär verteilungsorien- –: Platons Staat. Darmstadt 2006.
Margalit, Avishai: Politik der Würde. Über Achtung und Ver-
tiert sind, verschwindet. Eine solche Einebnung aber achtung. Berlin 1997 (engl. 1996).
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II Gerechtigkeitstypen
und Aspekte des
Gerechtigkeitsbegriffs

A. Goppel et al. (Hrsg.), Handbuch Gerechtigkeit, DOI 10.1007/978-3-476-05345-9_2,


© Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2016
11 Empirische Gerechtigkeits- empirischen Gerechtigkeitsforschung darstellen und
forschung für philosophische Konzepte besondere Bedeutung
entfalten können.
Dieses Vorgehen soll auch der Tatsache gerecht wer-
Methoden der empirischen Gerechtigkeits- den, dass empirische Sozialforschung nicht einfach
forschung mit Fragebogenumfragen und Demoskopie gleichge-
setzt werden kann, sondern dass eine Vielzahl von
Im Gegensatz zu normativen Gerechtigkeitstheorien Techniken und Methoden zur Erhebung und Auswer-
beschäftigt sich die empirische Gerechtigkeitsforschung tung empirischer Daten existieren: persönliche,
mit der Beschreibung und Erklärung der tatsächlich schriftliche und telefonische Interviews, qualitative
vorhandenen Vorstellungen von sozialer Gerechtig- Befragungen, systematische Beobachtungsverfahren,
keit. Zentraler Ausgangspunkt ihrer Überlegung ist Fallstudien, Inhaltsanalyse von Texten, Verfahren der
die Einsicht, dass sich Gerechtigkeitsvorstellungen Stichprobenziehung, Einstellungsmessung und Skalie-
nicht vornehmlich durch die Auseinandersetzung mit rung, Randomized-Response-Technik und nichtreak-
rationalen Argumenten bilden, sondern dass für die tive Verfahren, experimentelle und quasiexperimen-
Entwicklung eines bestimmten Gerechtigkeitsstand- telle Längs- und Querschnittstudien, Laborexperi-
punktes vielmehr unterschiedliche Einflüsse der Per- mente, ökonometrische Verfahren etc. (Diekmann
sönlichkeit, der sozialen Herkunft, des ökonomischen 2009, 18–20, 236).
und politischen Interesses sowie die Zugehörigkeit zu Ohne Zweifel ist nicht jede Erhebungsmethode
einem bestimmten Kulturkreis entscheidend sind. Im gleichermaßen geeignet, eine spezifische Forschungs-
Gegensatz zum normativen Ansatz wird Gerechtig- frage zu beantworten und relevante empirische Daten
keit also nicht als Maßstab für moralisch richtiges zu liefern. Vielmehr empfiehlt sich – je nach Fragestel-
Handeln bzw. als Grundsatz für die Gestaltung sozia- lung und Untersuchungsziel – eine Auswahl unter-
ler Institutionen verstanden, sondern es wird empi- schiedlicher bzw. eine Kombination verschiedener
risch untersucht, welche Faktoren dazu führen, dass empirischer Methoden und Techniken: die so ge-
Menschen einen bestimmten Gerechtigkeitsstand- nannte ›Triangulation‹ (Flick 2004; Kelle 2007). Durch
punkt einnehmen, von welchen sozialen Bedingun- die Kombination verschiedener Methoden gelingt es
gen diese Wahl beeinflusst wird, welche Funktion nach Norman K. Denzin (1978), die Begrenztheit von
Gerechtigkeitsvorstellungen für das alltägliche Han- Einzelmethoden methodologisch zu überwinden und
deln haben und welche Verhaltensweisen aus wahr- die Qualität bzw. Güte von empirischen Befunden zu
genommenen (Un-)Gerechtigkeiten resultieren (Lie- steigern, v. a. hinsichtlich Validität, Objektivität und
big/Lengfeld 2002, 8; Müller/Wegener 1995, 25). Reliabilität der Ergebnisse (Webb et al. 1966, 35). Die
Um einen möglichst umfassenden Einblick in die Triangulation von empirischen Befunden erfüllt im
Methodik und zentralen Befunde der empirischen Ge- Wesentlichen drei Funktionen: Erstens ist empirische
rechtigkeitsforschung zu geben, werden im Folgenden ›Verifizierung‹ grundsätzlich problematisch, so dass
nicht nur die zentralen Befunde der empirischen Ge- die wechselseitige Methodenüberprüfung Validie-
rechtigkeitsforschung aufgelistet (vgl. hierfür exem- rungsprobleme und Erhebungsfehler identifizieren
plarisch die Zusammenfassung von Konow 2003), und korrigieren kann. Zweitens kann die Methoden-
sondern darüber hinaus die grundlegenden Methoden kombination der wechselseitigen Ergänzung von For-
der Einstellungs- sowie der Entscheidungs- und Ver- schungsergebnissen dienen, d. h. mit Hilfe von Ver-
haltensanalyse systematisch zusammengefasst. Auf- fahren aus einem bestimmten Forschungsgebiet kön-
grund der Vielzahl vorliegender Studien und konkur- nen soziale Phänomene in den Blick genommen wer-
rierender Erhebungsansätze wird nicht der gesamte den, die durch Methoden anderer Fachdisziplinen
Forschungsstand referiert. Stattdessen werden die Be- nicht oder nur ungenügend erfasst bzw. beschrieben
funde derjenigen Forschungsansätze zusammengetra- werden können. Drittens ermöglicht eine trianguläre
gen, die unserer Meinung nach den Grundkanon der Analyse eine überdurchschnittlich hohe interdiszipli-
11 Empirische Gerechtigkeitsforschung 69

näre Anschlussfähigkeit. Durch die Rückbindung von Im Kern zielt die empirisch-soziologische Gerech-
theoretischen Überlegungen an empirische Befunde tigkeitsforschung darauf ab, mittels standardisierter
aus verschiedenen Fachbereichen steigt die Chance, Survey-Befragungen die subjektiven Gerechtigkeits-
dass relevante Überlegungen auch in anderen Fach- einstellungen von Personen zu ermitteln und in Bezug
disziplinen Anerkennung finden. zu deren sozialer Position zu setzen. Als maßgeblicher
Vor dem Hintergrund dieser Gedanken werden im Impulsgeber für diesen Forschungszweig ist das zu
Folgenden die empirischen Arbeiten zu Gerechtig- Beginn der 1990er Jahre gegründete International So-
keitsvorstellungen danach kategorisiert, ob die Pri- cial Justice Project (vgl. grundsätzlich Kluegel et al.
märdaten durch die Methode der Befragung oder die 1995; Mason et al. 2000) zu nennen, das mittels Ein-
Methode der Beobachtung erhoben wurden. Die Be- stellungsanalysen komparative Gerechtigkeitsana-
funde aus den Forschungsgebieten, die einen direkten lysen in 13 Ländern durchführte. Im Rahmen des
Rückschluss auf Gerechtigkeitsvorstellungen ermögli- International Social Justice Project wurden in den
chen, da subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen un- Jahren 1991, 1996, 2000 und 2006 in verschiedenen
mittelbar abgefragt werden, werden im Abschnitt ›Ein- Ländern Umfragen zu Gerechtigkeitseinstellungen
stellungsanalyse subjektiver Gerechtigkeitsvorstellun- durchgeführt, aus denen sich ein Großteil der empiri-
gen‹ besprochen. Bei diesen Forschungsbereichen schen Befunde der soziologischen Gerechtigkeitsfor-
handelt es sich um die soziologische Gerechtigkeitsfor- schung bis heute speist (Jasso 1999; vgl. auch http://
schung, die wohlfahrtsstaatliche Akzeptanzforschung www.isjp.de; für Befunde zu Deutschland vgl. Wege-
sowie die Markt- und Demoskopieforschung. Die em- ner 1992; 1995; Wegener/Liebig 1993; 1995; Liebig/
pirischen Befunde, welche indirekte Rückschlüsse auf Lengfeld/Mau 2004). Ausgangspunkt des Forschungs-
zugrunde liegende Gerechtigkeitsvorstellungen durch projektes war die Frage, welche sozialen Faktoren für
Beobachtung ermöglichen, werden hingegen im Ab- die Ausbildung spezifischer Gerechtigkeitssichtwei-
schnitt »Entscheidungs- und Verhaltensanalyse vor- sen verantwortlich sind und wie sich die Einstellungs-
herrschender Gerechtigkeitsvorstellungen« behandelt. strukturen in ost- und westeuropäischen Ländern im
Die relevanten Forschungsgebiete hier sind die sozial- Zeitablauf seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion
psychologische Gerechtigkeitsforschung, die experi- entwickelt haben.
mentelle Ökonomik sowie die Verhaltensökonomik. Methodisch arbeitet die soziologische Gerechtig-
keitsforschung mit dem klassischen Instrument der so
genannten Survey- bzw. Meinungsbefragung (Jasso/
Einstellungsanalyse subjektiver Gerechtig- Wegener 1997). Grundidee dieses Vorgehens ist, dass
keitsvorstellungen mit Hilfe von standardisierten Fragebögen statistische
Repräsentativität und internationale Vergleichbarkeit
Empirisch-soziologische Gerechtigkeitsforschung
erreicht werden kann. Hierzu werden den Teilneh-
Die empirisch-soziologische Gerechtigkeitsforschung mer/innen einheitlich formulierte Fragen zu verschie-
hat sich – insbesondere durch die Arbeiten von Bernd denen Gerechtigkeitsmotiven gestellt und die Befrag-
Wegener und Stefan Liebig – in den vergangenen Jah- ten wählen zwischen vorgegebenen Antworten aus.
ren als eigenständiges Forschungsgebiet etabliert. Ei- Dabei wird besonders häufig auf so genannte Rating-
ne zweite Strömung der empirisch-soziologischen Ge- skalen zurückgegriffen (Beispiel: ›Wie (un-)gerecht ist
rechtigkeitsforschung, die jedoch an dieser Stelle ver- Ihr Bruttoeinkommen?‹ Antwortspektrum von (-5)
nachlässigt werden muss, wäre der von Jon Elster ›ungerechterweise zu niedrig‹ über (0) ›gerecht‹ bis
(1992) entwickelte und insbesondere von Volker H. (+ 5) ›ungerechterweise zu hoch‹). Durch die Ver-
Schmidt (1992; 2000) auf Deutschland übertragene knüpfung mit sozialstrukturellen Merkmalen wie Ge-
institutionenanalytische Ansatz. Dieser geht davon schlecht, Alter, sozialer Herkunft oder Nationalität ge-
aus, dass Gerechtigkeit immer kontextuell eingebun- lingt es der empirisch-soziologischen Gerechtigkeits-
den ist und entsprechend eine ›lokale‹ oder ›bedingte‹ forschung, bestimmten Bevölkerungsgruppen bzw.
Gerechtigkeit existiert. Entsprechend wird empirisch -schichten spezifische Gerechtigkeitseinstellungen
untersucht, wie und in welcher Gestalt Gerechtig- zuzuschreiben. Beispiel: Menschen aus höherer sozia-
keitserwägungen Eingang in die Entscheidungen von ler Stellung befürworten eher Leistungsgerechtigkeit,
Organisationen gefunden haben und welche Rolle Bürger osteuropäischer Länder eher egalitäre Vertei-
Gerechtigkeitsvorstellungen in institutionalisierten lungen (vgl. Kluegel et al. 1995; Mason et al. 2000;
Verteilungsprozessen spielen (vgl. Liebig 2004, 4). Scharpf/Schmidt 2000).
70 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

Im Kern sind für die philosophische Gerechtig-


Wohlfahrtsstaatliche Akzeptanzforschung
keitsforschung drei Befunde der empirisch-soziologi-
und Demoskopieforschung
schen Gerechtigkeitsforschung von Relevanz (Liebig
2004, 5 f.): Die wohlfahrtsstaatliche Akzeptanzforschung ist ur-
1. Gerechtigkeitsurteile beziehen sich sowohl auf sprünglich in der Politikwissenschaft beheimatet und
distributive wie auch auf prozessuale Gerechtig- untersucht, wie groß die jeweilige Zustimmung der
keitsnormen, d. h. Subjekte bewerten die Ergeb- Bürger/innen zu verschiedenen Wohlfahrtsstaaten ist
nisse einer Güterverteilung wie auch die zugrunde (Esping-Andersen 1990; Mau 2003). Ausgangspunkt
liegenden Regeln, nach denen die Güterverteilung dieses Forschungsansatzes bildet das so genannte Ein-
zustande gekommen ist. stellungsmodell von Edeltraut Roller (1992); er wird
2. Entgegen der philosophischen Annahme univer- in Deutschland heute prominent von dem Soziologen
sell gültiger Gerechtigkeitsnormen zeigt die empi- Carsten G. Ullrich (2008) vertreten. Der Ansatz geht
risch-soziologische Gerechtigkeitsforschung, dass allgemein davon aus, dass bestimmte Einstellungen
in der Praxis die ergebnisbezogenen Gerechtig- zur wohlfahrtsstaatlichen Ausgestaltung die Akzep-
keitsvorstellungen von Menschen in Abhängigkeit tanz beeinflussen und dabei den subjektiven Gerech-
von der sozialen Position variieren und sich dem- tigkeitsvorstellungen der Bürger/innen eine zentrale
entsprechend sozialstrukturelle Gemeinsamkeiten Rolle zukommt. So ist davon auszugehen, dass wohl-
bei Gerechtigkeitsurteilen rekonstruieren lassen. fahrtsstaatliche Institutionen, deren Gerechtigkeits-
3. Schließlich lassen sich verschiedene ›Gerechtig- prinzipien mit den Überzeugungen der Bürger/innen
keitsideologien‹ rekonstruieren. Gesellschaften übereinstimmen, eine hohe Akzeptanz erfahren.
unterscheiden sich demnach grundlegend darin, Methodisch ist in Abgrenzung zur soziologischen
welche Verteilungsprinzipien als ›gerecht‹ emp- Einstellungsforschung darauf hinzuweisen, dass die in
funden werden. Länder wie die USA, die einen In- der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat erhobe-
dividualismus vertreten, legitimieren hohe soziale nen Gerechtigkeitsurteile und Präferenzen sich in der
Ungleichheiten und befürworten eine Verteilung Regel nicht unmittelbar auf Gerechtigkeitsurteile oder
über den Marktmechanismus. Egalitaristische Ge- die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen selbst bezie-
sellschaften wie Dänemark oder Schweden hin- hen, sondern dass typischerweise Einstellungen zu ein-
gegen befürworten eine Gleichverteilung über zelnen Maßnahmen (z. B. höhere Selbstbeteiligungen
staatliche Interventionen. In Ländern mit askripti- bei Arzneimitteln) oder Präferenzen zu spezifischen
vistischen Gerechtigkeitsideologien herrscht die Aspekten wie der Leistungs- oder Ausgabenhöhe und
Auffassung vor, dass Güter in Abhängigkeit von der staatlichen Zuständigkeit für Bereiche der sozialen
bestimmten Gruppenzugehörigkeiten ungleich Sicherung erhoben werden (Ullrich 2008, 31).
verteilt werden sollten. Fatalistische Gesellschaften Grundsätzlich hat die internationale Akzeptanzfor-
schließlich verzichten auf Gerechtigkeitsforde- schung vier zentrale empirische Gerechtigkeitsbefun-
rungen und sehen gesellschaftliche Verteilungen de herausgefiltert (Ullrich 2008, 59–61; vgl. auch
durch transzendentale Phänomene begründet. Rothstein 1998):
Zusammenfassend hat die empirisch-soziologische 1. Insgesamt besteht in Wohlfahrtsstaaten hohe Zu-
Gerechtigkeitsforschung in einer Vielzahl von natio- stimmung zu sozialpolitischen Zielen und sozia-
nalen und internationalen Studien gezeigt, dass indi- len Sicherungssystemen.
viduelle Gerechtigkeitsurteile zu weiten Teilen durch 2. Dabei unterscheiden sich die Akzeptanzraten aber
die soziale Position der Urteilenden sowie den gesell- international: In Europa finden Wohlfahrtsmaß-
schaftlichen bzw. kulturellen Kontext, in dem die be- nahmen mehr Unterstützung als in den USA, aber
troffenen Subjekte leben, geprägt werden (vgl. für ei- die Variation innerhalb eines Nationalstaates ist
nen generellen Überblick über die internationale For- zu groß, als dass von ›stabilen Mustern‹ gespro-
schungsliteratur Miller 1992; 1999). chen werden könnte (Ullrich 2008, 60).
3. Die Befragten differenzieren zwischen verschie-
denen Leistungssystemen. Alterssicherung findet
am meisten Zuspruch, eine Arbeitslosenversiche-
rung sowie Mindestsicherungs- und Fürsorgeleis-
tungen zur Armutsbekämpfung (wie die Sozialhil-
fe) sind weit unpopulärer.
11 Empirische Gerechtigkeitsforschung 71

4. Innerhalb einer Bevölkerung ist eine leicht stärke- Vergleich zur Gleichheit deutlich und liegt inzwi-
re Unterstützung durch Leistungsempfänger zu schen als Folge der Wiedervereinigung fast gleich-
verzeichnen, wobei aber auch Menschen ohne ak- auf. Insgesamt lässt sich somit aus den vielfältigen
tuellen oder absehbaren Leistungsbezug grund- Befunden der Demoskopieforschung unseres Er-
sätzlich positiv eingestellt sind. Der Einfluss von achtens eine deutliche Zunahme von Gerechtig-
soziodemographischen Faktoren (wie Schicht und keits- und Gleichheitspräferenzen im Zeitablauf
Klasse, Einkommen, Alter und Geschlecht) und herauslesen (vgl. exemplarisch die Allensbacher
von Parteipräferenzen bleibt uneindeutig (Ullrich Jahrbücher der Demoskopie, Band 1–11).
2008, 66).
Die Demoskopieforschung (oder auch politische Mei-
nungs- oder Umfrageforschung) hat das Ziel, die Mei- Entscheidungs- und Verhaltensanalyse vor-
nungen von bestimmten Gruppen zu erheben, also die herrschender Gerechtigkeitsvorstellungen
Einstellungen und Stimmungen der Bürger zu unter-
suchen. Wie auch bei der soziologisch-empirischen Ge- Der folgende Abschnitt widmet sich der experimen-
rechtigkeitsforschung werden mittels Befragungen auf tellen Forschung zu Gerechtigkeitseinstellungen. Der
der Basis eines repräsentativen Querschnitts der Bevöl- Schwerpunkt liegt dabei auf der Zusammenfassung
kerung Primärdaten erhoben, wobei zwischen einmali- der wesentlichen Ergebnisse der Sozialpsychologie
gen Erhebungen und Langzeituntersuchungen zu un- und der experimentellen Ökonomik zu Fairnesspräfe-
terscheiden ist. Relevant ist die Demoskopieforschung renzen, wobei auf einzelne, das Feld prägende Arbei-
für die empirische Gerechtigkeitsforschung, weil in ten besonders eingegangen wird.
Deutschland die Demoskopieforschung insbesondere
durch die großen Meinungsforschungsinstitute betrie-
Sozialpsychologie
ben wird und entsprechend umfangreiches empirisches
Material vorliegt. Der entscheidende Vorteil der Demo- Die Sozialpsychologie erforscht menschliche Inter-
skopieforschung liegt darin, dass in bestimmten Berei- aktionen mithilfe psychologischer Methoden. Sozial-
chen Längsschnittstudien zu Gerechtigkeitsfragen vor- psychologen interessieren sich dafür, wie sich per-
liegen, z. B. hinsichtlich der Einstellungen zu Freiheit, sönliche Einstellungen, Annahmen, Gefühle und be-
Gleichheit, Gerechtigkeit, Gemeinwohl oder Eigeninte- wusste Gedanken auf das Entscheidungsverhalten
resse, Leistungsgesellschaft, Einkommensverteilung, auswirken – sei es im Rahmen einer Gruppe oder als
sozialer Marktwirtschaft etc. Zudem werden die Ein- Individuum im Beisein anderer (z. B. Deutsch 1985).
stellungen zu konkreten politischen Maßnahmen er- Als empirische Wissenschaft bedient sich die Sozial-
hoben, so dass Rückschlüsse auf die langfristige Ent- psychologie oft Laborversuchen, um die zu unter-
wicklung der zugrunde liegenden Gerechtigkeitsurteile suchenden Faktoren isolieren und ggf. reproduzieren
der Bevölkerung möglich werden. zu können. Aufgrund ihres Gegenstandes, weniger
Da es sich aber bei der Demoskopieforschung in wegen gemeinsamer empirischer Methoden, weist sie
der Regel um Auftragsarbeiten handelt und sie sich Schnittmengen mit der Soziologie auf.
deswegen durch eine noch größere Heterogenität aus- Laut John T. Jost und Aaron C. Kay (2010, 1123)
zeichnet, ist es schwierig, die Unmengen an Einzel- beschäftigen sich Sozialpsychologen bereits seit den
befunden allgemein zusammenzufassen. Dennoch 1960er Jahren mit Gerechtigkeits- und Fairnessfra-
lässt sich mithilfe der Demoskopieforschung festhal- gen. Allerdings geschah dies oftmals noch nicht un-
ten, dass sich das Verhältnis zur Gerechtigkeit in der ter explizitem Bezug auf ›justice‹ oder ›fairness‹,
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland auch wenn viele Arbeiten aus heutiger Sicht ein-
fundamental gewandelt hat. deutig diesem Themenbereich zugeordnet werden
1. Untersuchungen zu Gerechtigkeit und Wahlver- können (Jost/Kay 2010; Deutsch 1985). Dabei inter-
halten zeigen, dass Gerechtigkeitseinstellungen pretierten Sozialpsychologen zu Anfang Handlun-
die Parteiidentifikation prägen, die Wahlentschei- gen ihrer Probanden in der Regel durch das so ge-
dung für eine bestimmte Partei maßgeblich beein- nannte Equity-Prinzip. Equity bedeutet dabei in
flussen und einen Einfluss auf die Wahlbeteiligung Anlehnung an Aristoteles’ Prinzip ›proportionaler
ausüben (Mühleck 2009). Gleichheit‹ (Deutsch 1985), dass Individuen einen
2. Über die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sinkt Anteil an einem Gesamtprodukt erhalten, der pro-
beispielsweise die Zustimmung zur Freiheit im portional zu ihren Aufwendungen ist. Equity-An-
72 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

sätze basieren somit im Wesentlichen auf sozialen equity, equality und need, also proportionaler Gleich-
Vergleichen (Liebig 2004, 1). heit, absoluter Gleichheit und Bedürftigkeit vor. Für
In ihrer einfachsten Form verlangt equity formal die ihn ist aber zentral, dass Gleichheit und Bedürftigkeit
Gültigkeit folgender Beziehung (Konow 2003, 1211): nicht, wie es oft geschieht (vgl. Konow 2003), einan-
der gleichgestellt werden. Unterschiedliche Bedürf-
OA OB
= nisniveaus implizieren nach Deutsch logischerweise
IA IB
ungleiche Behandlung, wie z. B. die unterschiedliche
Dabei steht OA für den Output, den Person A erhält Behandlung von Kindern oder Kranken gegenüber
(z. B. Lohn), und IA für ihren Input (z. B. Menge und/ gesunden Erwachsenen zeigt. Auch das Gleichheits-
oder Qualität des Arbeitsaufwands). Analog sind in prinzip findet Deutsch zufolge weit verbreitete An-
der Gleichung die Terme für Person B zu verstehen. wendung. Gerade in weitgehend bindungslosen per-
Der wesentliche Wert von equity liegt darin, dass es sönlichen Beziehungen wie Freundschaften würden
einen Maßstab bietet, anhand dessen Maßnahmen zur viele die gleiche Verteilung von Vorteilen und Lasten
Reallokation von Ressourcen vorgenommen werden bevorzugen (Deutsch 1985).
können. Sozialpsychologisch bzw. soziologisch be- Morton Deutsch lehnt die alleinige Fokussierung
trachtet fungiert ein solches Gerechtigkeitsprinzip in auf equity aber auch aus einem zunächst unerwarteten
Kombination mit einem Sanktionsapparat als Kon- Grund ab, nämlich dem, dass sich proportionale Auf-
fliktlösungsmechanismus: Inequitables Verhalten, so wandsentschädigung entgegen landläufiger Auffas-
Stefan Liebig (2004, 1), wird dann formal oder infor- sung nicht leistungssteigernd auswirke – obwohl für
mell bestraft, equitables dagegen belohnt. Damit be- mehr Einsatz der Anreiz einer höheren Auszahlung
steht ein Ausgleichssystem, das die schädlichen Aus- vorliegt –, sondern sogar leistungssenkend wirken
wüchse der unbeschränkten Verfolgung reinen Eigen- könne. Deutsch beruft sich dabei auf eine Vielzahl ei-
interesses (Maximierungsaktivitäten) in gesellschaft- gener Experimente mit studentischen Probanden. Al-
lich verträglichen oder sogar produktiven Grenzen lem voran hält Deutsch es für bedeutend, wie sich das
hält. Aus Sicht der sozialpsychologischen Equity-For- Entlohnungssystem auf die Arbeitsmotivation aus-
schung versuchen Menschen also stets, Verstöße ge- wirkt (Deutsch 1985). Eine zu starke Orientierung an
gen das Equity-Prinzip auszugleichen. Wesentliches extrinsischer Belohnung, wie sie durch Equity-Syste-
Ergebnis ist, dass die Auflösung der Dissonanz nicht me impliziert wird, könne eine bestehende intrinsi-
notwendigerweise eine Änderung der realen Inputs sche Motivation zerstören. Im schlimmsten Fall ent-
und Outputs erfordert. Das Gleichgewicht lässt sich stünde bei den Probanden sogar der Eindruck, dass
nämlich auch durch kognitive Anpassung wiederher- eine (monetäre) Entlohnung in Abhängigkeit vom
stellen: Eine übervorteilte, weil unterproportional be- Arbeitseinsatz eine Kompensation für Arbeitsleid
zahlte Person kann ihre Meinung – auch objektiv kon- darstellt, die zu erledigende Aufgabe also per se un-
trafaktisch – dahingehend ändern, dass die eigene angenehm sein muss – denn andernfalls müsste ja
Aufwendung heruntergespielt und die des anderen in kein Leistungsanreiz gesetzt werden. Werden alle Be-
der Wahrnehmung aufgewertet, oder der Wert der teiligten jedoch gleich bezahlt, wird dieser Gedanke
Auszahlung relativiert wird. viel weniger gefördert, und die Bereitschaft, gute Ar-
Morton Deutsch wendet sich massiv gegen diese beit zu leisten, ist stark von inneren Motiven der Pro-
bis in die 1990er Jahre dominante Interpretation von banden getrieben. Diese grundsätzlich produktive Ar-
Gerechtigkeit. Seines Erachtens greift proportionale beitsatmosphäre wird zudem dadurch unterstützt,
Gerechtigkeit allein viel zu kurz und ist vielmehr eines dass in gleichbezahlten Gruppen laut Deutsch eine
von mehreren möglichen Motiven, das lediglich auf- sehr kooperative Atmosphäre gegenseitigen Vertrau-
grund bestimmter Umstände manchmal eine heraus- ens unter gleichwertigen Kollegen entsteht, während
ragende Rolle spielt. Laut Deutsch ist proportionale vordergründig leistungsbezogene Bezahlung eine
Gerechtigkeit insbesondere in marktlichen Aus- kompetitive Umwelt schaffe, in der die anderen als po-
tauschbeziehungen von Bedeutung, und solche sind tentiell gefährliche Konkurrenten angesehen werden,
außer in westlichen Kulturen moderner Prägung his- denen nicht allzu viel Vertrauen entgegengebracht
torisch nie derart dominant gewesen, dass Gerechtig- werden sollte. Konkurrenz, so könnte man folgern,
keit sinnvollerweise auf equity reduziert werden belebt hier nicht das Geschäft, sondern lähmt es. Die
könnte. Anstelle dieser eindimensionalen Betrach- zentrale Meta-Folgerung, die der Autor als »Deutsch’s
tung schlägt Deutsch einen Prinzipiendreiklang aus crude law of social relations« (Deutsch 1985, 69) be-
11 Empirische Gerechtigkeitsforschung 73

zeichnet, ist dabei folgende: Nicht nur führen unter- ken. Dies ist gerade dann relevant, wenn ex ante
schiedliche Produktions- und Entlohnungssysteme zu Unklarheit bezüglich eines gerechten Ergebnisses
den dargestellten Verhaltensunterschieden; diese spe- herrscht (vgl. Rawls 1971, 83–90). Als fair empfunde-
zifischen Verhaltensmuster sorgen auch stets dafür, ne Prozesse, bei denen z. B. alle betroffenen Parteien
dass die sie erzeugende Situation aufrechterhalten und die Möglichkeit hatten, Informationen einzubringen
sogar verstärkt wird. und bei einer Entscheidung mit abzustimmen, erhö-
Allerdings könnte diese starke intrinsische Motiva- hen ceteris paribus die empfundene Legitimität des
tion der Versuchsteilnehmer auch auf den soziokul- Ergebnisses entscheidend (Jost/Kay 2010). Dies kann
turellen Hintergrund zurückzuführen sein. Studieren- so weit gehen, dass eigentlich als ungerecht betrachte-
de, so auch Deutsch, seien kaum von ihrer Arbeit und te Ergebnisse durch die Beteiligung an dem Verfahren,
deren Ergebnissen ›entfremdet‹, so dass von vorn- welches das Ergebnis hervorbrachte, wesentlich an
herein eine positive Einstellung zu vielen Tätigkeiten Akzeptanz gewinnen.
bestehe. Bei Tätigkeiten, für die kaum intrinsischer Eine damit verwandte, aber nicht identische Di-
Antrieb vorhanden ist – etwa Produktionsarbeit am mension, die in der Sozialpsychologie zunehmend un-
Band – könne es daher durchaus sein, dass eine extrin- tersucht wird, ist ›Interaktionsgerechtigkeit‹ bzw. ›in-
sische Komponente (z. B. durch monetäre Entlohnung formelle Gerechtigkeit‹ (Jost/Kay 2010). Diese hebt
im Einklang mit dem Equity-Prinzip) die Produktivi- hervor, dass die Legitimität von Ergebnissen auch da-
tät gegenüber Gleichbezahlung wesentlich erhöhe. von abhängt, ob sich die Betroffenen bzw. an der Ent-
Wie im Kapitel zuvor dargestellt, bezieht sich sozio- scheidung Beteiligten als Personen ernst genommen
logische Gerechtigkeitsforschung im Wesentlichen auf und berücksichtigt fühlen. Der Bezug zu prozeduraler
kontextbasierte Urteile. Diese werden anhand sozialer Gerechtigkeit ist offensichtlich: Ein optimales Proze-
Vergleiche in unterschiedlichen Situationen gefällt, dere integriert alle relevanten Stakeholder, so dass die-
wobei sich diese Situationen zu sehr voneinander un- se sich als gerecht behandelter Teil der politischen Ge-
terscheiden, als dass man allgemeine Gesetze erken- meinschaft fühlen können. Gerade der Begriff ›in-
nen könnte. Dies gilt nach Stefan Liebig auch für einen formelle‹ Gerechtigkeit betont aber, dass das Ernst-
Teil der damit verwandten sozialpsychologischen For- genommenwerden über rein formale Beteiligung
schung (Liebig 2004, 1). Darüber hinaus identifiziert hinausgeht und damit eine grundsätzliche Wertschät-
er einen zweiten Strang moderner Gerechtigkeitsfor- zung zum Ausdruck gebracht werden muss, insbeson-
schung, nämlich ›prinzipiengeleitete‹ Theorien, wie sie dere durch einen ehrlichen gesellschaftlichen Umgang
bei Morton Deutsch (1985) zu finden sind. So existie- miteinander. Ein formal korrekter Prozess, in dem für
ren verschiedene unabhängige Gerechtigkeitsprinzi- alle Beteiligten gleiche Möglichkeiten zur gegenseiti-
pien (equity, equality und need), die zueinander im Wi- gen Falschinformation bestehen, könnte daher im Ein-
derspruch stehen können. Relevant ist dann für Indivi- klang mit prozeduraler Gerechtigkeit stehen, verletzte
duen, dass in Abhängigkeit von der jeweiligen Situati- aber wesentliche Prinzipien informeller Gerechtigkeit,
on das adäquate Verteilungsprinzip angewandt wird. weil Lügen mit Wertschätzung und Offenheit unver-
Bedeutende Parameter sind hierbei, um welche soziale einbar sind. Daher kann mit Jost und Kay gefolgert
Beziehung und um welches Gut es sich handelt. werden, dass es zwar einen relevanten Überlappungs-
Wie auch die soziologische Gerechtigkeitsfor- bereich von prozeduraler und interaktioneller/infor-
schung zeigen sozialpsychologische Untersuchungen, meller Gerechtigkeit gibt, beide Konzepte aber nicht
dass prozedurale Gerechtigkeitsvorstellungen massiv deckungsgleich sind (Jost/Kay 2010, 1143): Prozedu-
die Gerechtigkeitsempfindungen beeinflussen (vgl. rale Gerechtigkeit verlangt ein Mindestmaß an formal
Jost/Kay 2010): Die bisher beschriebenen Verteilungs- definierten Handlungen unabhängig von Personen, in-
prinzipien bzw. psychologischen Beurteilungsvorgän- teraktionale Gerechtigkeit stellt das Individuum als
ge basierten im Wesentlichen auf der Betrachtung von solches in den Vordergrund und betont die Notwen-
›Ergebnissen‹. Eine nicht zu vernachlässigende Rolle digkeit eines menschlichen Umgangs miteinander.
bei der Beurteilung der Legitimität eines Resultats
spielt aber nach John T. Jost und Aaron C. Kay das
Ökonomische Gerechtigkeitsforschung
›Zustandekommen‹ der betrachteten Allokation (Jost/
Kay 2010). Besonders von Bedeutung ist dabei, ob und In seinem Artikel von 2003 liefert James Konow den
wie Individuen eine Möglichkeit haben, auf das Er- wohl aktuell umfassendsten Überblick über beson-
gebnis in einer von ihnen erwarteten Weise einzuwir- ders für die Ökonomik relevante Arbeiten zum Thema
74 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

›Gerechtigkeit‹ aus deskriptiver Sicht. Aus Gründen aus auf Teile ihres eigenen Einkommens verzichteten,
der Systematisierung orientiert sich auch Konow an wenn dies zugunsten eines höheren Gesamtergebnis-
einer Anzahl zunächst distinkter Verteilungsprinzi- ses geschehe. Die utilitaristische Norm der Maximie-
pien (Konow 2003). Ähnlich wie Morton Deutsch rung des Wohlfahrtsaggregats finde also neben Equity-
(1985) identifiziert er equity/desert als leistungsorien- und Gleichheitsargumenten Eingang in individuelle
tiertes Prinzip, unterscheidet sich aber in seiner Be- oder kollektive Gerechtigkeitsüberlegungen.
handlung der beiden nach Deutsch separaten Prinzi- Drittens schlussfolgert Konow, dass viele, die wie
pien ›Gleichheit‹ und ›Bedürftigkeit‹. Entgegen der Deutsch stark in Richtung distinkter Prinzipien argu-
Argumentation von Deutsch sieht Konow beide Nor- mentierten, letztlich übersähen, dass die Wahl unter-
men als grundsätzlich verwandt an, da sich need im schiedlicher Normen oftmals eher ein Problem des je-
Wesentlichen auf ›gleiche‹ Grundbedürfnisse beziehe, weils unterschiedlichen Kontextes sei. So sei es – im
also doch enger mit equality verwandt sei. Über Widerspruch zu Deutschs Hauptthese – durchaus
Deutsch hinaus führt Konow auch noch das Prinzip plausibel, dass Menschen sich grundsätzlich am Equi-
maximization of utility/welfare an, das sich etwa mit ty-Prinzip orientierten, aber die Zuordnung von ›Leis-
›Überschussmaximierung‹ oder ›Maximierung des tung/Inputs‹ und ›entitlements/Outputs‹ verantwor-
Gesamtergebnisses‹ übersetzen ließe. Eine vierte für tungssensitiv erfolge. Konow (2003) verweist hier auf
ihn relevante Kategorie ist zudem ›Kontext‹; eine Ka- die reiche Tradition der verantwortungsbezogenen
tegorie, die in der soziologischen und partiell in der Gerechtigkeitstheorien (z. B. Dworkin 1981). Je nach-
sozialpsychologischen Forschung dominiert. Damit dem, wie sehr ein Individuum in einer Situation selbst
könnte nach Liebig gefolgert werden, dass Konows für die relevanten Inputs verantwortlich ist, ändere
Metaanalyse ökonomisch-experimenteller Studien sich die Wahrnehmung bezüglich legitimer Output-
sich zum einen an abstrakten Verteilungsprinzipien Ansprüche. Gleichheit ließe sich z. B. dort begründen,
orientiert, zum anderen aber auch die kontextbetonte wo niemand für unterschiedliche Fähigkeiten verant-
soziologisch-psychologische Ausrichtung mit berück- wortlich sei bzw. diese rein zufällig verteilt seien. Ne-
sichtigt (Konow 2003). Konow geht in seinem Artikel ben Unterschieden in der Interpretation dessen, wo-
aber explizit über eine reine Auflistung und Anord- für Individuen letztlich selbst verantwortlich seien,
nung bestehender Ansätze und Studien hinaus (ebd.). identifiziert Konow noch eine weitere Quelle für Kon-
Seine Einordnung in einen metatheoretischen Rah- troversen um Verteilungsfragen: die Verzerrung der
men dient ihm dazu, Grundzüge einer allgemeineren Wahrnehmung bzw. interessengebundene Argumente
Gerechtigkeitstheorie aufzuspüren und die vermeint- aufgrund persönlicher Ansprüche. Ohne persönliche
lich separaten Stränge zu vereinen. Betroffenheit und bei klarer Verantwortungszuschrei-
Die Arbeit Deutschs kritisiert er dabei aus dreierlei bung müsse es daher zu einer Konvergenz von Nor-
Gründen: Erstens sei Deutschs Auffassung, Indivi- men kommen. Ein relevantes Forschungsobjekt sei al-
duen würden sehr viel stärker nach Gleichverteilung so die Untersuchung solch unverzerrter Gerechtig-
streben als gemeinhin angenommen, angesichts einer keitsvorstellungen, wie sie z. B. Adam Smiths ›unpar-
Vielzahl neuerer Untersuchungen nicht haltbar (ebd.). teiischem Beobachter‹ oder dem Rawlsschen ›Schleier
Deutschs eigene Arbeiten seien viel zu eng ausgerich- des Nichtwissens‹ zugrunde lägen.
tet. Gerade auf der Makroebene, also gesamtgesell- John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (1971) liefert
schaftlich betrachtet, fänden Gleichverteilungsansätze auch die Vorlage für eines der bekanntesten ökonomi-
kaum Unterstützung seitens der Bevölkerung. Auch schen Experimente im Bereich der Gerechtigkeitsfor-
auf der Mikroebene, also in experimentellen Studien, schung. Er argumentierte, dass sich Individuen in ei-
sei die Zustimmung zu Gleichverteilung im Allgemei- ner Situation ohne Wissen über die eigene gesell-
nen weitaus geringer, als Deutsch (1985) impliziere. schaftliche Position hinsichtlich der materiellen Aus-
Equity-Argumente fänden in den meisten Unter- stattung für die Maximierung der Mindesteinkommen
suchungen recht starken Zuspruch, wenn auch meist entscheiden würden (Differenzprinzip), sofern dies
mit gewissen Einschränkungen hinsichtlich allzu nicht mit maximalen Freiheitsrechten kollidiere. Der
niedriger Einkommen. Ökonom John Harsanyi widersprach diesem Ansatz
Ein zweiter Kritikpunkt von Konow ist, dass und argumentierte, dass rationale Individuen sich
Deutsch die relevante Dimension der Überschuss- eher risikoneutral am Durchschnittseinkommen ori-
maximierung ignoriere. Auch hier liege eine Reihe von entieren würden, statt einseitig nur den schlimmsten
Ergebnissen vor, die belegten, dass Menschen durch- Fall in Betracht zu ziehen (Harsanyi 1975). In einem
11 Empirische Gerechtigkeitsforschung 75

Experiment mit 85 Teilnehmergruppen konfrontier- wurde; allzu ungleiche Aufteilungen (z. B. 80:20) sen-
ten Norman Frohlich und Joe A. Oppenheimer (1990; ken die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz durch den
1992) jeweils fünf Probanden mit der Aufgabe, aus decider wesentlich (vgl. Güth et al. 1982). Dabei zeigen
vier verschiedenen Verteilungsprinzipien im Konsens sich kulturell gewisse Unterschiede, innerhalb der
eines zu bestimmen. Die Prinzipien erlaubten dabei westlichen Welt entsprechen die Ergebnisse aber recht
auch die Wahl zwischen Maximierung des Durch- robust dem Dargestellten (Henrich et al. 2005). Eine
schnitts und dem Rawlsschen Differenzprinzip. Nach mögliche Interpretation dafür ist, dass in westlichen
der Wahl wurde den Teilnehmern abhängig vom Gesellschaften, die stark auf Tauschbeziehungen be-
Schema ein Einkommen zugelost. Knapp 80 % aller ruhen, die Bestrafung unkooperativen und unfairen
Gruppen – sowohl in den USA als auch in Kanada und Verhaltens dauerhaft allen einen Vorteil verschafft,
Polen – entschieden sich dabei für die Maximierung wodurch wir wieder an sozialpsychologisch-evolutio-
des Durchschnitts unter der Bedingung, dass ein näre Argumente anknüpfen.
von der Gruppe gewähltes Mindesteinkommen nicht
unterschritten wurde (vgl. Frohlich/Oppenheimer
1992). Selbst in einem alternativen Setting, in dem das Fazit
Einkommen erst erwirtschaftet werden musste, war
dies die mit Abstand populärste Norm (Frohlich/Op- Insgesamt hat die empirische Gerechtigkeitsfor-
penheimer 1990). Die beiden Autoren schlussfolger- schung die Betrachtung von Gerechtigkeitsmotiven
ten, dass sowohl die Theorie Rawls’ als auch der Ge- bzw. gerechtigkeitsbezogenen Entscheidungen realer
genentwurf John Harsanyis durch die empirische Individuen und Gruppen wesentlich beeinflusst. Mo-
Konfrontation mit realen Gerechtigkeitspräferenzen derne Gerechtigkeitsforschung beschäftigt sich da-
widerlegt seien. her, wie Konow argumentiert, intensiv damit, wie
Einen anderen Weg der Erforschung sozialer Prä- ökonomische und sozialstrukturelle Variablen Ge-
ferenzen bieten spieltheoretisch fundierte ökonomi- rechtigkeitseinstellungen beeinflussen bzw. welche
sche Experimente wie das Ultimatum-Spiel (z. B. Auswirkungen bestimmte Gerechtigkeitsvorstellun-
Güth et al. 1982). Im Ergebnis zeigten Individuen gen auf ökonomische, politische und soziale Ent-
selbst dann starke soziale Präferenzen, wenn sie ohne scheidungsfindung haben (Konow 2003). Ob dabei
größere formale Sanktionsmechanismen ihren eige- eine allumfassende Theorie distributiver Gerechtig-
nen Nutzen maximieren konnten. Konkret stellten keit geschaffen werden kann, die – durch Integration
die Forscher Studierende vor folgende Aufgabe: In ei- von Verantwortungssensibilität in den Equity-Ansatz
ner Zweiergruppe wurde einer Person zufällig die – sowohl den Prinzipienpluralismus als auch die so-
Rolle des proposer zugeteilt, der andere spielte den de- zialstrukturelle Einbettung und die prinzipienfreie
cider. Der proposer kann einen Geldbetrag, z. B. 10 Kontext-Dominanz gleichsam überwindet, sei an
Euro, nach eigener Entscheidung zwischen beiden dieser Stelle dahingestellt. Wahrscheinlich würde ei-
aufteilen und seinen Vorschlag dem decider anonym ne solche, fast schon tautologische Theorie das Pro-
mitteilen. Der decider, der den proposer nicht kennt, blem dann einfach auf die definitorische Ebene ver-
aber über den Aufteilungsvorschlag informiert wird, schieben, es also auf die Frage reduzieren, was je nach
hat nur zwei Möglichkeiten: Entscheidet er sich, die Situation genau unter ›Verantwortung‹ zu verstehen
Aufteilung zu akzeptieren, wird die Summe wie vom sei. Festzuhalten bleibt aber, dass sowohl Soziologie
proposer angegeben aufgeteilt. Der decider kann aber als auch Politikwissenschaft, Sozialpsychologie und
den Vorschlag auch ablehnen, woraufhin keiner der Ökonomik ganz wesentlich zur Erforschung beste-
beiden Geld erhält. Streng rational betrachtet sollte hender Gerechtigkeitsvorstellungen beigetragen ha-
ein decider jede Aufteilung akzeptieren, die ihm mehr ben, wobei die gewählten Methoden und Befunde
als 0 Euro überlässt. Ein Verzicht auf eine positive sich grundlegend unterscheiden und entsprechend
Auszahlung wäre gleichbedeutend mit einer indivi- für einen dezidierten Einsatz von Methodentriangu-
duell irrationalen Investition in die Bestrafung eines lation sprechen: auf der einen Seite die direkte Befra-
vollkommen Fremden. gung der Betroffenen, auf der anderen Seite das Expe-
Überraschend war für die Forscher, wie stark die riment, das mittels kontrafaktischer Zustände verzer-
Ablehnungsrate in den Versuchen war. Alvin Roth et rende Faktoren eliminieren und reproduzierbare
al. (1991) stellten fest, dass am häufigsten eine Gleich- Grundmechanismen aufdecken möchte. Daraus las-
verteilung der verfügbaren Summe vorgeschlagen sen sich zwar noch nicht direkt normative Schlussfol-
76 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

gerungen ziehen, sofern man nicht von reinem Sein analysis of justice theories. In: Journal of Economic Litera-
auf ein Sollen schließen möchte, aber relevante Er- ture 41 (2003), 1188–1239.
kenntnisse lassen sich daraus auch für die normative Liebig, Stefan: Empirische Gerechtigkeitsforschung: Überblick
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12 Distributive Gerechtigkeit 77

schung. In: Müller, Hans-Peter/Wegener, Bernd (Hg.): 12 Distributive Gerechtigkeit


Soziale Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit. Opladen
1995, 195–218. In diesem Kapitel wird die Entwicklung der Idee der
–/Liebig, Stefan: Eine Grid-Group-Analyse sozialer Gerech-
tigkeit: Die neuen und alten Bundesländer im Vergleich. distributiven Gerechtigkeit von ihren aristotelischen
In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Anfängen bis in die Gegenwart nachgezeichnet. Dabei
45/4 (1993), 668–690. wird gegenüber dem aristotelischen Paradigma die
–/Liebig, Stefan: Dominant ideologies and the variation of strukturelle Neuartigkeit des modernen Verständnis-
distributive justice norms: A comparison of East and West ses der distributiven Gerechtigkeit als einer Form der
Germany, and the United States. In: James R. Kluegel/Da-
sozialen Gerechtigkeit herausgestellt.
vid S. Mason/Bernd Wegener (Hg.): Social Justice and Po-
litical Change. Public Opinion in Capitalist and Post-Com-
munist States. Berlin 1995, 239–259.
Die aristotelische Einteilung
Alexander Lenger / Stephan Wolf
Aristoteles unterscheidet im fünften Buch der Niko-
machischen Ethik (NE) zwischen der Gerechtigkeit in
einem allgemeinen und in einem speziellen Sinn, wo-
bei letztere noch einmal in die ›austeilende‹ und die
›ausgleichende‹ Gerechtigkeit unterteilt wird. Die Ge-
rechtigkeit im allgemeinen Sinn besteht in der Fähig-
keit und Bereitschaft zum Handeln in Übereinstim-
mung mit den Gesetzen der Polis und wird gelegent-
lich auch ›Gesetzesgerechtigkeit‹ genannt. ›Gesetz‹
(nomos) ist bei Aristoteles in einem weiten, über das
Juridische hinausgehenden Sinn zu verstehen und
schließt alle sozialen Regeln ein, von denen Aristoteles
annimmt, dass sie in einer wohlgeordneten Polis zum
tugendhaften und damit ethisch richtigen Handeln an-
leiten (vgl. NE 1129b–1130a; Kraut 2002, Kap. 4.5).
Die Gerechtigkeit im speziellen Sinn bezieht sich
auf Güterverteilungen, und ihr allgemeines Kriterium
ist die Gleichheit. Als ungerecht gilt nach Aristoteles,
wer ›mehr haben will‹ und eine ›Einstellung der Un-
gleichheit‹ hat. Gerecht handelt dagegen, wer ande-
ren nicht um des eigenen Vorteils willen oder wegen
der Lust daran, mehr zu haben als diese (pleonexia),
Güter vorenthält oder entwendet, die ihm unter dem
Gesichtspunkt der Gleichheit nicht zustehen (NE
1129a–1130b).
Die Gerechtigkeit im speziellen Sinn unterteilt sich
in die ›austeilende‹ und die ›ausgleichende‹ Gerechtig-
keit. Erstere befasst sich mit der Güterverteilung ›an‹
Bürger, letztere mit dem freiwilligen und unfreiwil-
ligen Austausch von Gütern ›unter‹ Bürgern. In den
Anwendungsbereich der austeilenden Gerechtigkeit
fällt bei Aristoteles die Vergabe von politischen Äm-
tern und Ehren, aber auch die Verteilung von Kriegs-
beute, Ländereien und Tributzahlungen durch die da-
für autorisierten Amtsinhaber der Polis. Die Grund-
sätze der ausgleichenden Gerechtigkeit regulieren, von
den Ämtern und Ehrungen abgesehen, denselben Be-
reich allgemein nützlicher und teilbarer Güter.
78 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

Bei Aristoteles heißt die ›austeilende‹ Gerechtigkeit in demselben Verhältnis wie A und B zueinander ste-
›dianemetische Gerechtigkeit‹. Daraus wurde in den hen (NE 1131a). Das Verhältnis von A und B ist dabei
Übersetzungen und Kommentaren des Mittelalters ein Verhältnis ihrer relativen ›Würdigkeit‹, denn ver-
›iustitia distributiva‹ und später die distributive Ge- teilt wird kat’ axian, nach Wert oder Würdigkeit: Die
rechtigkeit. Die ›ausgleichende‹ Gerechtigkeit heißt gerechten Anteile aller Beteiligten sollen dem entspre-
bei Aristoteles ›diorthotische Gerechtigkeit‹, woraus chen, was diese aufgrund der Vorzüge ihres Charak-
später die ›korrektive Gerechtigkeit‹ (iustitia correcti- ters im Sinne der aristotelischen Tugendlehre ›verdie-
va) und die ›kommutative Gerechtigkeit‹ (iustitia nen‹. Proportionale Gleichheit lässt Ungleichheit
commutativa) wurden. Letztere hat man dann gele- nicht nur zu; bei ungleicher Würdigkeit fordert sie
gentlich zur ›Tauschgerechtigkeit‹ verkürzt (s. Kap. diese ausdrücklich: Größere Anteile für die Würdige-
II.13), was nicht dem entspricht, worum es der Sache ren, kleinere für die weniger Würdigen. Darüber hi-
nach geht. Die diorthotische Gerechtigkeit reguliert naus setzt distributive Gerechtigkeit bei Aristoteles
zwischenmenschliche Transaktionen, und nicht alle Ungleichheit bereits voraus, denn es muss eine höher-
Transaktionen haben die Form freiwilliger Tausch- gestellte Instanz geben, die über die Autorität verfügt,
geschäfte. Der griechische Ausdruck für ›Transaktio- Güter zu verteilen. Und sie reproduziert bestehende
nen‹ ist ›synallagmata‹, woraus im Mittellateinischen Ungleichheiten zwischen denen, die aufgrund ihrer
›commutationes‹ wurde. Alle drei Ausdrücke bezeich- größeren Würdigkeit mehr erhalten, und denen, die
nen Austauschbeziehungen zwischen Personen, an weniger erhalten, und damit auch zwischen denen, die
denen diese entweder freiwillig oder unfreiwillig be- als Inhaber politischer Ämter – die ja ebenfalls nach
teiligt sind und die für ihren Besitzstand und ihr Würdigkeit verteilt werden – die Autorität haben, Gü-
Wohlergehen in der einen oder anderen Form von Be- ter zu verteilen, und denen, die sie als ›einfache‹ Bür-
deutung sind. Zu den freiwilligen Transaktionen ge- ger lediglich empfangen.
hören Tauschgeschäfte, in Bezug auf die sich die Frage Unter dem Gesichtspunkt der kommutativen Ge-
nach dem gerechten Verhältnis von Leistung und Ge- rechtigkeit werden die Mitglieder der Polis demgegen-
genleistung stellt. Bei den unfreiwilligen Transaktio- über als gleichberechtigte Bürger betrachtet. Das
nen geht es um Schädigungen oder allgemein Nach- Prinzip der kommutativen Gerechtigkeit ist die arith-
teile, die einer Person durch die Ausnutzung ihrer Un- metische oder absolute Gleichheit. Der Wert der bei
wissenheit oder durch Zwangseinwirkung durch an- einem Tauschgeschäft zu erbringenden Gegenleistung
dere entstehen. Hier stellt sich die Frage einer muss genau dem Wert der erbrachten Leistung und
gerechten Entschädigung. In beiden Bereichen be- der Wert der für einen verursachten Schaden zu leis-
steht Gerechtigkeit nach Aristoteles darin, dass tenden Kompensation muss genau dem verursachten
Gleichheit im Sinne eines Ausgleichs hergestellt wird: Schaden entsprechen. Es wird dabei von allen Unter-
bei freiwilligen Transaktionen durch die Beteiligten schieden in der Würdigkeit der Beteiligten abgesehen
selbst, bei unfreiwilligen Transaktionen ggf. durch ei- und lediglich der Wert der erbrachten Leistungen und
nen Richter. Diorthotische Gerechtigkeit ist deshalb Gegenleistungen bzw. der (negative) Wert eines erlit-
zugleich eine (ihrer Funktion nach) ›ausgleichende‹ tenen Schadens und des zu leistenden Schadensersat-
und eine (ihrem Anwendungsbereich nach) Trans- zes in Betracht gezogen.
aktionen regulierende ›synallagmatische‹ oder ›kom- Aristoteles bestreitet nicht, dass Güter und Leistun-
mutative‹ Gerechtigkeit (vgl. Bien 1995). Im Folgen- gen ausgetauscht werden, weil sich die Beteiligten da-
den wird für sie wie üblich der Ausdruck ›kommutati- von einen subjektiven Vorteil und damit auch eine
ve Gerechtigkeit‹ verwendet und für die dianemeti- Besserstellung versprechen. Es kann aber niemand
sche Gerechtigkeit der Ausdruck ›distributive durch gerechte Transaktionen einen ›objektiven‹
Gerechtigkeit‹. Wertzuwachs realisieren. Dies ist für das Zusammen-
spiel von kommutativer und distributiver Gerechtig-
keit mit Blick auf die Stabilität einer wohlgeordneten
Proportionale und absolute Gleichheit Polis von Bedeutung. Distributive Gerechtigkeit be-
wirkt – die allgemeine Akzeptanz des Prinzips der
Distributive Gerechtigkeit bedeutet bei Aristoteles proportionalen Gleichheit und Einigkeit über das ver-
proportionale Gleichheit. Eine Verteilung von Gütern teilungsrelevante Merkmal vorausgesetzt – eine ver-
auf zwei Parteien A und B wäre demnach gerecht, tikale Integration der Polismitglieder: Die ungleiche
wenn die auf sie entfallenden Güterbündel GA und GB Verteilung von Ehrungen, Ämtern und anderen Gü-
12 Distributive Gerechtigkeit 79

tern in der Polis wird im hypothetischen Idealfall auch verständnis über den ethischen Wert von Personen
von den durch sie weniger Begünstigten als gerecht besteht. Reichtum betrachten wir nicht einmal prima
angesehen und aus diesem Grunde hingenommen. facie als einen Grund, denen, die ohnehin schon mehr
Unter Voraussetzung eines allgemeinen Konsenses als andere besitzen, zusätzliche Vorteile zukommen zu
über ihre Grundsätze bewirkt die kommutative Ge- lassen. Dies hätte Aristoteles wohl nicht anders gese-
rechtigkeit demgegenüber eine horizontale Integrati- hen. Er hielt es aber zumindest für nachvollziehbar,
on: Alle Beteiligten sind sich im Idealfall einig, dass dass diejenigen, die – wie in der klassischen Polis der
sich gerechte Transaktionen zwischen ihnen durch ei- Fall – aus ihren privaten Vermögen die für das Ge-
nen Ausgleich von Wertäquivalenten auszeichnen; meinwesen nötigen Ausgaben tragen, bei der Vergabe
und in Konfliktfällen gibt es damit eine Basis für ein- von Ämtern und anderen Dingen bevorzugt werden.
vernehmliche Lösungen. Das Merkmal der freien Geburt schließlich ist in ver-
allgemeinerter Form als ›normativer Status‹ nach wie
vor relevant. So wird allgemein angenommen, dass
Konkurrierende Verteilungsprinzipien freie und gleiche Personen prima facie einen An-
spruch auf gleiche politische Partizipationsrechte ha-
Gregory Vlastos hat die aristotelische Idee der pro- ben. Ein verteilungsrelevantes Merkmal, das in der
portionalen Gleichheit als einen ideologischen Ta- Gegenwart eine wichtige Rolle spielt, das bei Aristote-
schenspielertrick verstanden. Sie sei ein Tribut des les jedoch nicht einmal erwähnt wird, ist menschliche
Meritokraten Aristoteles an populäre egalitäre Ge- Bedürftigkeit aufgrund von Notlagen wie z. B. Ar-
rechtigkeitsvorstellungen und diene lediglich dazu, beitslosigkeit oder Nahrungsmittelknappheit. Spätes-
die faktische Ungleichheit unter den Bürgern der Po- tens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts stehen ›Jedem
lis als eine besondere Form der Gleichheit und damit nach seinem Verdienst‹ und ›Jedem nach seinen Be-
auch den Schlechtergestellten als akzeptabel erschei- dürfnissen‹ als paradigmatische Gerechtigkeitsfor-
nen zu lassen (Vlastos 1962, 32 f.). Diese Sichtweise meln gleichberechtigt nebeneinander. In der ideen-
verrät realpolitischen Sinn, verkennt jedoch die syste- geschichtlichen Forschung wird die Anerkennung
matische Bedeutung der Auffassung der Gerechtig- von Bedürftigkeit als Grund für Gerechtigkeitsforde-
keit als proportionaler Gleichheit. Wenn wir anneh- rungen von einigen Autoren als ein spezifisches Cha-
men, dass gerechte Güterverteilungen jedem in per- rakteristikum des modernen Verständnisses distribu-
sonam eben das zukommen lassen, was er gerechter- tiver Gerechtigkeit genannt (vgl. etwa Miller 1976,
weise für sich beanspruchen kann, stellt sich ja nicht 83–87; Fleischacker 2004, 5–14). Es ist deshalb bemer-
nur für Aristoteles, sondern für jeden die Frage, auf- kenswert, dass Bedürftigkeit in John Stuart Mills ein-
grund welcher persönlichen Merkmale Ansprüche flussreicher Erörterung der Gerechtigkeit im 5. Kapi-
auf bestimmte Güter oder Güteranteile erhoben wer- tel von Utilitarianism (1861) nicht auftaucht. Zu beto-
den können; und eben darüber bestehen Meinungs- nen ist aber, dass Bedürftigkeit das aristotelische Prin-
verschiedenheiten. Auseinandersetzungen zwischen zip der proportionalen Gleichheit nicht infrage stellt,
konkurrierenden Gerechtigkeitskonzeptionen sind sondern es im Gegenteil bestätigt. Ebenso wie für
deshalb immer auch Auseinandersetzungen darüber, Leistung und Verdienst gilt, dass unter dem Gesichts-
anhand welcher Merkmale entschieden werden soll, punkt der Bedürftigkeit gerechte Güterzuteilungen
ob zwei Personen in für Verteilungsfragen relevanter proportional der persönlichen Bedürftigkeit sein
Weise als gleich oder ungleich zu betrachten sind (so müssen.
auch Aristoteles, vgl. NE 1131a). Anders als die Würdigkeit bei Aristoteles ist Be-
Das moderne Verständnis distributiver Gerechtig- dürftigkeit in modernen Gerechtigkeitskonzeptionen
keit beruht, nicht anders als das aristotelische, an zen- allerdings nur eines von vielen zum Teil komplemen-
tralen Punkten auf der Idee der proportionalen tären, zum Teil konkurrierenden Verteilungsprinzi-
Gleichheit. Es haben aber Verschiebungen in der Aus- pien. Die strikte Gleichverteilung von Gütern, das
wahl der als relevant betrachteten Merkmale statt- Rawlssche Differenzprinzip (Rawls 1975, Kap. 5) und
gefunden. Im Rückblick auf die von Aristoteles dis- Parfits priority principle (Parfit 1984), die gleicherma-
kutierten Merkmale Tugend, Reichtum und freie Ge- ßen bei ungleichen Güterverteilungen die weniger Be-
burt können wir feststellen, dass Tugend in modernen günstigten bevorzugen, aber auch das utilitaristische
Gesellschaften nicht länger als Kriterium distributiver Nutzenprinzip in allen seinen Varianten (vgl. etwa
Gerechtigkeit taugt, weil kein hinreichend weites Ein- Sidgwick 1907; Hare 1981; Harsanyi 1982, und all-
80 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

gemein zum Utilitarismus als einer Konzeption distri- totelische Gerechtigkeitskonzeption gehört in diese
butiver Gerechtigkeit Hinsch 2015) bieten Kriterien Gruppe, da sie sich auch auf die Verteilung von Res-
für die gerechte oder moralisch richtige Verteilung sourcen bezieht. Das Prinzip der proportionalen
von Gütern, die unabhängig von Proportionalitäts- Gleichheit fordert Gleiches für Gleiche, Ungleiches
erwägungen sind und von denen ausgehend alternati- für Ungleiche, und Aristoteles führt Verteilungskon-
ve, nicht-aristotelische Konzeptionen formuliert wor- flikte in der Polis darauf zurück, dass »Gleiche unglei-
den sind (vgl. auch Dworkin 2000; Sen 2009). che Anteile oder Ungleiche gleiche Anteile haben oder
zugeteilt bekommen« (NE 1131a). Dies zeigt, dass
sein Maß für die Gleich- oder Ungleichbehandlung
Gleichheit in Bezug auf was? von Personen die zugeteilten Ämter und Güter selbst
sind und weder das Wohlergehen dieser Personen
Eine Theorie distributiver Gerechtigkeit muss an- noch (pace Sen und Nussbaum) ihre auf dieses Wohl-
geben, woran sich bemisst, ob zwei Personen bei ei- ergehen bezogenen Handlungsmöglichkeiten oder ca-
ner gegebenen Güterverteilung mit Blick auf den pabilities.
Wert ihrer jeweiligen Güteranteile gleichgestellt sind Ein generelles Problem von Gerechtigkeitskonzep-
oder nicht. Nach einem Aufsatztitel von Amartya Sen tionen, die Personen als gleichgestellt betrachten,
wurde diese Frage seit den 1980er Jahren unter dem wenn sie über die gleiche Güter- und Ressourcenaus-
Stichwort »Equality of What?« diskutiert (vgl. Sen stattung verfügen können, besteht darin, dass ver-
1980; Dworkin 2000, Teil I). Sens Titel kann im Sinne schiedene Menschen abhängig von ihrer persönlichen
einer egalitären Gerechtigkeitsauffassung als Frage Lebenssituation unverschuldet nicht gleichermaßen
danach verstanden werden, in welchem Bereich oder in der Lage sein mögen, die ihnen verfügbaren Güter
in Bezug auf welche Güter Personen gleichgestellt und Ressourcen zur Förderung ihres eigenen Wohls
werden sollen. Sie kann aber auch als Frage nach ei- zu nutzen. So mag es ungerecht erscheinen, zwei Men-
ner Basis für interpersonelle Vergleiche verstanden schen als gleichgestellt zu betrachten, weil beide ein
werden, die auch nicht-egalitäre Gerechtigkeitskon- Fahrrad besitzen, wenn eine der beiden etwa aufgrund
zeptionen beantworten müssen. Auch für sie gilt das einer Behinderung gar nicht in der Lage ist, Fahrrad
formale Gerechtigkeitsprinzip, dass gleiche Fälle zu fahren (vgl. Sen 1983).
gleich zu behandeln sind, und auch sie müssen des-
halb angeben können, wann eine Gleichbehandlung
Equality of Welfare
vorliegt.
In der aktuellen Diskussion werden drei prominen- Zwei Personen gelten den Equality-of-Welfare-Ansät-
te Antworten auf die Equality-of-What-Frage dis- zen zufolge dann als gleichgestellt, wenn ihre Güter-
kutiert: Equality of Resources, Equality of Welfare und und Ressourcenausstattung bei ihnen zum selben
der Capability-Ansatz von Amartya Sen und Martha Grad persönlichen Wohlergehens führt, wobei der Be-
Nussbaum. griff des Wohlergehens auf verschiedene Weisen kon-
kretisiert werden kann. Utilitaristische Konzeptionen
gehören in diese Gruppe (etwa Hare 1981 und Harsa-
Equality of Resources
nyi 1982), aber auch an der Befriedigung von Grund-
Zwei Personen gelten dann als gleichgestellt, wenn sie bedürfnissen orientierte Ansätze (etwa Stewart 1989),
über das gleiche Güterbündel oder die gleiche Res- insoweit sie sich bei den relevanten Vergleichen nicht
sourcenausstattung verfügen. Dies könnte z. B. dann an den jeweiligen Handlungsmöglichkeiten von Men-
der Fall sein, wenn sie das gleiche Einkommen bezie- schen orientieren, sondern daran, inwieweit diese eine
hen oder gleichermaßen mit gewissen grundlegenden vorgegebene Konzeption des individuellen Wohls fak-
Gütern versorgt sind. Diese Auffassung wurde in der tisch verwirklichen. Equality-of-Welfare-Ansätze ste-
aktuellen Diskussion u. a. von John Rawls und Ronald hen in modernen pluralistischen Gesellschaften vor
Dworkin vertreten (vgl. Rawls 2001, § 17; Dworkin der schwierigen Aufgabe, eine zugleich hinreichend
2000, Teil I). Bei Rawls etwa bildet die Liste der umfassende und konsensfähige Konzeption des
Grundgüter (primary goods) die Basis für die nötigen menschlichen Wohls zu formulieren, die als Maßstab
interpersonellen Vergleiche: Zwei Personen wären für interpersonelle Vergleiche dienen könnte. Utilita-
demzufolge gleichgestellt, wenn sie über die gleiche ristische Ansätze haben mit den zahlreichen tech-
Grundgüterausstattung verfügen. Aber auch die aris- nischen und grundsätzlichen Schwierigkeiten zu
12 Distributive Gerechtigkeit 81

kämpfen, die mit der Messung von Graden des hedo- persönlichen Konstitution nicht dieselben sind. Men-
nischen Glücks bzw. der Präferenzerfüllung verbun- schen dagegen, die bei einer gegebenen Güterausstat-
den sind (vgl. Hinsch 2002, Kap. 7). Ein grundsätzli- tung dieselben Handlungsmöglichkeiten (die glei-
ches Problem für Ansätze des utilitaristischen Typs be- chen capability-sets) haben, werden als gleichgestellt
steht darüber hinaus darin, dass in ihnen das von einer betrachtet, und zwar auch dann, wenn sie mit den
Person realisierte Wohlergehen von deren persönli- verfügbaren Gütern jeweils bei der Verwirklichung
chen Bedürfnissen, Wünschen und Präferenzen ab- ihrer ambitionierteren oder weniger ambitionierten
hängig ist, das heißt aber von Faktoren, die selbst be- Lebenspläne nicht gleichermaßen weit kommen. Ob
reits das Resultat womöglich ungerechter Gütervertei- der Capability-Ansatz alles in allem eine den anderen
lungen sind. Wer in Wohlstand aufgewachsen ist, wird Ansätzen überlegene und über sie hinausgehende Al-
häufig kostspieligere und schwieriger zu erfüllende ternative darstellt, muss hier offen bleiben (vgl. kri-
Wünsche und Präferenzen haben als jemand mit einer tisch dazu Dworkin 2000, Kap. 7 und die Erwiderung
durch Armut gekennzeichneten Lebensgeschichte. Bei in Sen 2009, 264–268 und Pogge 2010). Ebenso wie
gleicher Güterzuweisung könnte er dann unter dem die am faktischen Wohlergehen orientierten Ansätze
Gesichtspunkt der Equality of Welfare aufgrund seiner steht er vor dem Problem, eine in pluralistischen Ge-
weiter gesteckten Lebensziele schlechter gestellt er- sellschaften umfassende und konsensfähige Konzep-
scheinen als die in Armut aufgewachsene Personen tion des menschlichen Wohls zu formulieren, denn
mit ihren bescheideneren Vorstellungen vom eigenen ohne eine solche Konzeption könnte nicht ermittelt
Wohl, und dies stünde im Konflikt mit weit verbreite- werden, ›welche‹ Handlungsmöglichkeiten für inter-
ten Gerechtigkeitsvorstellungen. In der neueren Dis- personelle Vergleiche und Gerechtigkeitsurteile rele-
kussion ist dieser Punkt von Sen unter dem Stichwort vant sind. Auch dürften die Schwierigkeiten der Er-
der »adaptiven Präferenzen« hervorgehoben worden mittlung und des Vergleichs individueller capability-
(Sen 1992, 55; 2009, 282–284; vgl. Arrow 1973; Dwor- sets kaum geringer sein als die, welche mit interper-
kin 2000, 50–52, 56–58). sonellen Vergleichen von Graden des hedonischen
Glücks oder der Präferenzerfüllung verbunden sind
(vgl. die Beiträge in Brighouse/Robeyns 2010 und
Equality of Capability Rawls 2001, § 51).

Amartya Sen und Martha Nussbaum zufolge werden


die Schwächen der an Güter- und Ressourcengleich- Was wird verteilt?
heit oder am gleichen Wohlergehen orientierten An-
sätze durch den Capability-Ansatz überwunden (vgl. Die Rede von ›Güterverteilung‹ muss in der Gerech-
Sen 1992; 2009; Nussbaum 2011). Diesem Ansatz zu- tigkeitstheorie in einem weiten Sinne verstanden wer-
folge gelten zwei Personen dann als gleichgestellt, den. Es geht nicht lediglich um die Verteilung von üb-
wenn ihre Güter- und Ressourcenausstattung ihnen licherweise erstrebenswerten Dingen (Gütern), son-
unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Eigen- dern auch um die Verteilung von lästigen Dienstver-
schaften und Fähigkeiten dieselben Handlungsmög- pflichtungen und anderen Nachteilen (Übeln), die
lichkeiten oder Verwirklichungschancen (capabili- sich beim Zusammenleben mit anderen ergeben.
ties) bietet, Dinge zu realisieren, die ihr eigenes Wohl- Denn es ist, wie schon Aristoteles feststellt, ein Gut,
ergehen ausmachen, wie Gesundheit, soziale Integra- weniger mit einem Übel belastet zu werden als andere
tion und Bildung. Sen und Nussbaum bezeichnen die (NE 1131b). Auch müssen wir uns vor allzu konkreten
konstitutiven Bestandteile des menschlichen Wohls Vorstellungen darüber hüten, was gerecht verteilt wer-
als functionings, so dass zwei Menschen genau dann den soll: Die Kuchenstücke, welche die Mutter ihren
gleichgestellt sind, wenn ihre capability-sets, das heißt Kindern zuschneidet und auf den Teller legt, sind eher
die Menge aller Functioning-Kombinationen, die sie die Ausnahme. Selten werden materielle Güter im
verwirklichen können, die gleichen Elemente enthal- wörtlichen Sinne zugeschnitten, ausgeteilt oder über-
ten. Der Capability-Ansatz ist geeignet, Probleme der geben, wenn es um distributive Gerechtigkeit geht. In
anderen beiden Ansätze zu vermeiden. Menschen mit der Regel geht es um abstrakte Rechte (Eigentums-,
und ohne Behinderungen werden bei gleicher Güter- Nutzungs-, Zugangs-, Partizipationsrechte), die ›ver-
ausstattung nicht als gleichgestellt betrachtet, weil ih- teilt‹ werden, indem wir sie Personen zu- oder abspre-
re capability-sets aufgrund ihrer unterschiedlichen chen. Die Aufteilung und Übergabe konkreter Dinge
82 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

spielt demgegenüber eine untergeordnete Rolle. So ist ben, denn stets müssen wir mit Verteilungen z. B. von
die ›Schlüsselübergabe‹ ein symbolischer Teil der Eigentumsrechten rechnen, die distributiv ungerecht
Übertragung von Eigentumsrechten (an einer Woh- sind, so dass es zu einem Zielkonflikt zwischen dem
nung oder einem Fahrzeug). Sie bietet ein praktisches Schutz dieser Rechte auf der einen und der Verwirk-
Hilfsmittel zur Markierung des Zeitpunktes der Ei- lichung distributiver Gerechtigkeit auf der anderen
gentumsübertragung. Für die Frage nach der Gerech- Seite kommt.
tigkeit oder Ungerechtigkeit einer solchen Übertra-
gung ist sie dagegen irrelevant.
›Güterverteilung‹ kann in einem aktiven und ei- Personelle und soziale distributive
nem passiven Sinn verstanden werden: Aktivisch ver- Gerechtigkeit
standen geht es um den Vorgang des Verteilens oder
um Verteilungsprozesse, passivisch um das Vertei- Für das gegenwärtige durch John Rawls’ Theorie ge-
lungsergebnis. Auch ist ›Verteilung‹ nicht so zu ver- prägte Verständnis distributiver Gerechtigkeit ist die
stehen, dass notwendigerweise ein Akteur voraus- Annahme grundlegend, dass sich deren Forderungen
gesetzt wird, der einseitig etwas an andere verteilt. primär und direkt auf Institutionen und soziale Struk-
Vielmehr sollen alle Transaktionen und sozialen Pro- turen beziehen und nur sekundär und indirekt auf
zesse eingeschlossen sein, die bestimmend dafür sind, Personen. Distributive Gerechtigkeit ist bei Rawls
über welche Güter die Mitglieder einer Gemeinschaft nicht länger in erster Linie personale Gerechtigkeit
verfügen können, also auch solche Transaktionen, die (s. Kap. II.24) wie bei Aristoteles, sondern sie ist vor-
in den Anwendungsbereich der kommutativen Ge- rangig soziale Gerechtigkeit (s. Kap. II.18).
rechtigkeit fallen. Im aristotelischen Paradigma ist Gerechtigkeit eine
Bei Aristoteles ist der Bereich der nach Grundsät- komplexe Disposition natürlicher Personen, die Ein-
zen der distributiven Gerechtigkeit zu verteilenden sichten, Intentionen, Wünsche und Gefühle ein-
Güter auf solche Dinge beschränkt, die sich nicht be- schließt, welche in ihrer Gesamtheit Menschen dazu
reits im privaten Besitz der Polismitglieder befinden. befähigen und motivieren, andere Personen gerecht
Es geht neben den politischen Ämtern und Ehrungen zu behandeln. Kollektive, Institutionen, Sozialstruk-
um Güter wie Kriegsbeute oder Tributzahlungen, die turen und statistische Verteilungen etwa von Einkom-
zu ihrer Nutzung unter den Bürgern der Polis auf- men oder Lebenschancen können unter dieser Vo-
geteilt werden. Es ist Aristoteles nicht in den Sinn ge- raussetzung nur indirekt als gerecht oder ungerecht
kommen, die Verteilung tendenziell aller für das betrachtet werden, nämlich mit Bezug auf Personen,
menschliche Wohl relevanten Güter – also auch Pri- die sie durch ihr Handeln hervorgebracht haben. Bei
vatbesitz – unter Grundsätze der distributiven Ge- Rawls legen die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit
rechtigkeit zu stellen. Einen Konflikt zwischen den demgegenüber »die richtige Verteilung der Früchte
Besitzstand wahrenden Ansprüchen der kommutati- und der Lasten der gesellschaftlichen Zusammen-
ven Gerechtigkeit und womöglich gegenläufigen For- arbeit fest«. Ihm zufolge »ist der erste Gegenstand der
derungen der distributiven Gerechtigkeit – wenn etwa Gerechtigkeit die Grundstruktur der Gesellschaft, ge-
die weniger Würdigen de facto über die größeren Be- nauer: die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen
sitzstände verfügen – kann es bei Aristoteles aus die- Institutionen Grundrechte und -pflichten und die
sem Grund nicht geben. Das moderne philosophische Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit ver-
Verständnis distributiver Gerechtigkeit ist demgegen- teilen« (Rawls 1975, 20–23). Hier geht es weder um
über in Bezug auf ihren Anwendungsbereich tenden- Personen und ihre Tugenden noch um persönliche
ziell totalisierend und eben deshalb kontrovers: Alle Fähigkeiten und Dispositionen. Gegenstand der (dis-
für die Lebenschancen von Menschen wichtigen Gü- tributiven oder sozialen) Gerechtigkeit ist vielmehr
ter – einschließlich der privaten Einkommen und Ver- die institutionelle Grundstruktur der Gesellschaft und
mögen – sollen etwa im Utilitarismus oder in der die mit ihr verbundene Verteilung grundlegender
Rawlsschen Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness Rechte und Pflichten sowie der aus der sozialen Ko-
so verteilt werden, wie es den Grundsätzen der distri- operation resultierenden Gewinne.
butiven Gerechtigkeit entspricht. Ein konfliktfreies Die Grundstruktur und die durch sie bedingten
Nebeneinander von kommutativer und distributiver Formen politischer, ökonomischer und sozialer Un-
Gerechtigkeit aufgrund klar getrennter Regelungs- gleichheit bilden den normativen und empirischen
bereiche kann es unter dieser Voraussetzung nicht ge- Hintergrund für alle individuellen Handlungen und
12 Distributive Gerechtigkeit 83

Transaktionen. Die distributive Gerechtigkeit dieses Nach Hayek müssen wir ›spontane Ordnungen‹
Hintergrundes muss, so Rawls, bereits vorausgesetzt wie marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaften
werden, bevor wir über die Gerechtigkeit individuel- von ›Organisationen‹ wie Unternehmen oder Kran-
ler Handlungen und Transaktionen urteilen können kenhäusern unterscheiden (vgl. zum Folgenden Ha-
(ebd., Abschn. 2). Darüber hinaus gilt, dass weder die yek 1976, Kap. 7 und 8). Organisationen dienen der
institutionelle Grundstruktur selbst noch die durch Verfolgung spezifischer Ziele, z. B. der Erzielung von
sie mitbewirkte Güterverteilung auf das gerechte oder Profit oder der Bereitstellung von Gesundheitsleistun-
ungerechte Handeln Einzelner zurückgeführt werden gen. Wenn sie wohlorganisiert sind, sind alle ihre Teile
können. Sie sind zum Teil das Ergebnis organisierten und alle Handlungen ihrer Mitglieder so aufeinander
kollektiven Handelns und zum Teil das nicht-inten- abgestimmt, dass das Organisationsziel so gut wie
dierte kumulative Resultat unzähliger individueller möglich erreicht wird. Eine spontane Ordnung beruht
Handlungen und Transaktionen. demgegenüber auf Handlungsregeln, die kein ge-
Wenn wir Institutionen analog zu natürlichen Per- meinsames Ziel vorgeben oder voraussetzen, sondern
sonen als (korporative) Akteure verstehen, können lediglich der Verfolgung individueller Ziele wechsel-
wir uns – mit Rawls und mit Aristoteles – fragen, ob seitig anzuerkennende Grenzen setzen. Dies geschieht
sie gerecht eingerichtet worden sind und ob sie ge- im Wesentlichen durch Verbote.
recht handeln. Darüber hinaus können und müssen Marktwirtschaften sind, anders als Planwirtschaf-
wir uns – mit Rawls, aber eben nicht mit Aristoteles – ten, spontane Ordnungen und keine Organisationen.
fragen, ob Institutionen mit Blick auf die aus ihrem Die für sie charakteristischen Regeln sind individuelle
Bestehen resultierende gesamtgesellschaftliche Güter- Eigentumsrechte und Regeln für den Transfer von Ei-
verteilung gerecht oder ungerecht sind. Denn für die- gentum. Eigentumsrechte verbinden eine bestimmte
se Verteilung gilt, dass sie zwar durch die Institutionen Freiheit – sein Eigentum innerhalb gewisser Grenzen
einer Gesellschaft maßgeblich beeinflusst, aber kei- nach Gutdünken zu gebrauchen – mit einem Verbot –
nesfalls durch diese Institutionen in geplanter und das Eigentum anderer ohne deren Zustimmung zu be-
kontrollierter Weise hervorgebracht wird. Ein aus nutzen. Anders als die Regeln einer Organisation die-
diesem Umstand resultierender notorischer Streitfall nen Eigentumsrechte nicht dazu, individuelles Han-
ist die Gerechtigkeit von Einkommensverteilungen deln so zu koordinieren, dass ein allen gemeinsames
durch Märkte. Egalitären Theoretikern wie Rawls zu- Ziel erreicht wird. In spontanen Ordnungen kann Ge-
folge sind Umverteilungsmaßnahmen hier angezeigt. rechtigkeit nach Hayek deshalb nur die Befolgung von
Andere Autoren wie Friedrich von Hayek und Robert Regeln für individuelle Handlungen und Transaktio-
Nozick bestreiten dies. Nozick geht so weit, die Be- nen (im Sinne einer kommutativen Gerechtigkeit) be-
steuerung von rechtmäßig erwirtschafteten Marktein- deuten. Grundsätze distributiver oder sozialer Ge-
kommen als eine Form der Zwangsarbeit zu betrach- rechtigkeit können, so Hayek, in ihnen prinzipiell kei-
ten (vgl. Nozick 1974, 169). ne sinnvolle Anwendung finden.
Hayeks Begründung für seine These beruht im We-
sentlichen auf zwei (aristotelischen) Voraussetzungen.
Kritik der sozialen Gerechtigkeit Die erste Voraussetzung ist, dass etwas nur in Bezug
auf menschliche Handlungen als gerecht oder unge-
In The Road to Serfdom konstatiert Friedrich von Ha- recht bezeichnet werden kann. Von Gerechtigkeit zu
yek, dass die westlichen Demokratien im Namen der sprechen, impliziert bereits, dass es jemanden gibt,
sozialen Gerechtigkeit in das Wirtschaftsgeschehen der eine Handlung ausführen oder nicht ausführen
eingreifen, um die aus Marktprozessen resultierenden soll. Die zweite Voraussetzung besteht in der Annah-
Einkommensverteilungen zu korrigieren. Im Ergeb- me, dass soziale Gerechtigkeit – ebenfalls ganz aristo-
nis werde dadurch die Idee der individuellen Freiheit telisch gedacht – darin besteht, jedem Einzelnen ge-
preisgegeben und eine Entwicklung zu einer kollekti- nau das Einkommen zukommen zu lassen, das ihm
vistischen, sozialistischen Planwirtschaft in Gang ge- gerechterweise zusteht. Beide Voraussetzungen kön-
setzt. ›Soziale Gerechtigkeit‹ sei lediglich eine rhetori- nen, so Hayek, in der spontanen Ordnung einer
sche Phrase, die politisch von denjenigen genutzt wer- Marktwirtschaft nicht erfüllt sein. Ein Markt ist keine
de, die den marktwirtschaftlichen Wettbewerb ab- Organisation, und es gibt keinen Akteur, der die aus
lehnten, sobald er ihre Besitzstände gefährde (vgl. unzähligen Marktgeschäften hervorgegangene Güter-
Hayek 1944). verteilung durch sein planerisches Tun und durch ent-
84 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

sprechende Anweisungen an alle Beteiligten hervor- Für Nozicks Kritik an der Rawlsschen Idee der dis-
gebracht hätte. Die aus dem Marktgeschehen resultie- tributiven Gerechtigkeit ist die Annahme entschei-
rende Einkommensverteilung ist das kumulative Er- dend, dass konsistente Gerechtigkeitstheorien entwe-
gebnis eines anonymen Prozesses, der von keiner der historische oder strukturelle Theorien sind, je-
Instanz vollständig kontrolliert werden kann. Es gibt doch niemals beides zugleich. Nozick konstatiert –
deshalb niemanden, dem diese Verteilung aufgrund ebenso wie zuvor schon Hayek –, dass in der Praxis
seines falschen Handelns als ungerecht zugerechnet jedes von einer Theorie strukturell vorgeschriebene
werden könnte. In der spontanen Ordnung einer Verteilungsergebnis auf längere Sicht durch eine Folge
Marktwirtschaft kann Gerechtigkeit nach Hayek des- individueller Transaktionen aufgehoben würde, und
wegen nur darin bestehen, dass die beteiligten Per- zwar auch dann, wenn diese Transaktionen historisch-
sonen sich an die für die Ordnung konstitutiven wech- prozeduralen Gerechtigkeitskriterien genügen: Man
selseitigen Verhaltensbeschränkungen halten. Und beginnt etwa, so die intuitive Idee, mit einem mut-
ebendiese Regeln legen kein bestimmtes Verteilungs- maßlich gerechten Verteilungsmuster distributiver
ergebnis für individuell gerechte Transaktionen fest Gleichheit und endet, aufgrund der Dynamik freiwil-
(vgl. ebd., Kap. 7). liger Tauschgeschäfte und Kooperationsbeziehungen
Hayeks Argumentation beruht nicht auf der (fal- und der aus ihnen resultierenden unterschiedlichen
schen) Annahme, dass es Regierungen unmöglich wä- Gewinne, doch bei einer (strukturell gesehen unge-
re, durch Märkte zustande gekommene Einkommens- rechten) ungleichen Güterverteilung (ebd., 160–164).
verteilungen zielgerichtet zu beeinflussen oder zu kor- Da nun jede Gerechtigkeitstheorie historische Infor-
rigieren. Er spricht sich etwa für die Gewährleistung mationen über das Zustandekommen von Güterver-
eines sozialen Minimums und damit für eine korrekti- teilungen als relevant betrachtet und damit historisch
ve Umverteilungsmaßnahme aus (vgl. ebd., Kap. 11). sein muss – es ist ja ein Unterschied, ob man Geld be-
Was er allerdings bestreitet, ist die Möglichkeit, in ei- sitzt, weil man in der Vergangenheit dafür gearbeitet
ner spontanen Ordnung durch Regeln individuellen oder weil man es gestohlen hat –, scheint Nozicks und
Handelns sicherzustellen, dass jedes Gesellschaftsmit- Hayeks Zurückweisung struktureller Theorien distri-
glied ein bestimmtes Einkommen erhält, das von ei- butiver Gerechtigkeit zwingend. Dies gilt zumindest,
ner Konzeption distributiver Gerechtigkeit festgelegt falls es zutrifft, dass Grundsätze für gerechte Güter-
wird. Hieran knüpft Robert Nozicks kritische Analyse verteilungen nicht zugleich historische und struktu-
der distributiven Gerechtigkeit an. relle Grundsätze einschließen können (vgl. Hinsch
Nozick unterscheidet zwischen strukturellen und 2016, 101–115).
historischen Gerechtigkeitstheorien (vgl. Nozick
1974, 153–155). Strukturelle Theorien beurteilen die
Gerechtigkeit einer Güterverteilung ausschließlich Distributive Hintergrundgerechtigkeit
aufgrund ihres Verteilungsergebnisses (Profils), das
heißt danach, welche Güteranteile auf die beteiligten Wenn distributive Gerechtigkeit darin bestünde, je-
Personen jeweils entfallen. Abhängig von dem Krite- dem das Einkommen (oder das Güterbündel) zukom-
rium, das zur Beurteilung eines Verteilungsprofils he- men zu lassen, das ihm gerechterweise zusteht, müsste
rangezogen wird, fragen sie z. B., ob alle Beteiligten eine Theorie distributiver Gerechtigkeit in der Tat eine
gleich viel bekommen haben oder ob alle das be- historische Theorie sein. Denn natürlich können wir
kommen haben, was ihrem Verdienst oder ihren Be- jemandem nur das Einkommen gerechterweise zu-
dürfnissen entspricht. Historische Theorien dagegen gestehen, das von ihm in rechtmäßiger Weise erwirt-
beurteilen Güterverteilungen nicht aufgrund ihres schaftet wurde und das damit eine gerechte Erwerbs-
Ergebnisses, sondern aufgrund des Hergangs ihres historie hat. Wenn wir uns allerdings das Rawlssche
Zustandekommens. Ihnen liegt ein prozedurales Ge- Differenzprinzip (s. Kap. II.25) als ein Prinzip der dis-
rechtigkeitsverständnis zugrunde: Gerecht ist, was tributiven Gerechtigkeit anschauen, stellen wir fest,
durch eine gerechte Vorgehensweise erreicht wurde, dass es gar keine Aussagen darüber zulässt, wer in ei-
wobei vorausgesetzt wird, dass die Ausgangslage, von ner Gesellschaft welches Einkommen beziehen sollte.
der aus eine bestimmte Güterverteilung erreicht wur- Das Differenzprinzip besagt, dass soziale und öko-
de, selbst gerecht war. Gerecht wäre dann, was immer nomische Ungleichheiten nur insoweit zulässig sind,
aus einer gerechten Ausgangslage in einer gerechten als sie sich zum größten Vorteil der am wenigsten be-
Weise hervorgeht. günstigten Mitglieder einer Gesellschaft auswirken.
12 Distributive Gerechtigkeit 85

Dies bedeutet aber nicht, dass irgendeine konkrete onsstandards und dergleichen mehr. Diese Regeln
Person ein bestimmtes Einkommen erhalten müsste. können aber keine Grundsätze der Hintergrund-
Es legt lediglich fest, dass die Einkommen der nied- gerechtigkeit wie etwa das Rawlssche Differenzprin-
rigsten Einkommensklasse so hoch wie möglich sein zip ersetzen, denn eine Person bezieht nicht schon
sollen, und zwar ganz unabhängig davon, wer in per- dann ein gerechtes Einkommen, wenn sie zu ihrem
sonam zu dieser Klasse gehört. Platz in der gesellschaftlichen Einkommensvertei-
Das Differenzprinzip bezieht sich als ein Prinzip lung auf rechtmäßige Weise gelangt ist, sondern erst
der distributiven Gerechtigkeit nicht auf Einzelper- wenn auch diese Einkommensverteilung selbst struk-
sonen, die in seinem Namen bestimmte Dinge für sich turellen und ergebnisorientierten Grundsätzen dis-
reklamieren könnten. Es bezieht sich auf Einkom- tributiver Gerechtigkeit genügt. Eine Theorie der Ge-
mensklassen, das heißt auf abstrakte statistische Grö- rechtigkeit gesellschaftlicher Einkommens- und Gü-
ßen, die nicht durch konkrete Personen und deren terverteilungen muss deshalb, anders als Nozick und
persönliche Eigenschaften definiert werden, sondern Hayek annehmen, sowohl ein historisches als auch
ausschließlich durch eine bestimmte Einkommens- ein strukturelles Gerechtigkeitsverständnis einschlie-
höhe. Das Differenzprinzip ist ein strukturelles Prin- ßen und damit Grundsätzen der kommutativen und
zip der distributiven Gerechtigkeit, insofern es ein be- der institutionellen distributiven (Hintergrund-)Ge-
stimmtes Verteilungsschema – mit maximalen Ein- rechtigkeit genügen.
kommen in der niedrigsten Einkommensklasse – vor-
gibt. Es legt uns aber auf kein Verteilungsprofil im Literatur
Sinne Nozicks fest, das eine bestimmte Gütervertei- Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hg. und übers. von Ursula
lung auf Einzelpersonen vorschreiben würde. Viel- Wolf. Reinbek bei Hamburg 2006 [NE].
Arrow, Kenneth J.: Some ordinalist-utilitarian notes on
mehr zielt es auf statistische Einkommensklassen und Rawls’ theory of justice. In: The Journal of Philosophy 70
deren Verhältnis untereinander, völlig unabhängig da- (1973), 245–263.
von, welche Personen jeweils zu ihnen gehören. Bien, Günther: Gerechtigkeit bei Aristoteles. In: Otfried
Als ein strukturelles Prinzip, das statistische Ein- Höffe (Hg.): Die Nikomachische Ethik. Berlin 1995, 135–
kommensklassen und keine Beziehungen zwischen 164.
Brighouse, Harry/Robeyns, Ingrid (Hg.): Measuring Justice.
Individuen reguliert, ist das Differenzprinzip eine
Primary Goods and Capabilities. Cambridge 2010.
Norm der sozialen Hintergrundgerechtigkeit und Dworkin, Ronald: Sovereign Virtue, the Theory and Practice
nicht der personellen bzw. interpersonellen Gerech- of Equality. Cambridge MA 2000.
tigkeit. Es ist eine Frage, ob eine Person sich zu Recht Fleischacker, Samuel: A Short History of Distributive Justice.
oder gerechterweise in einer bestimmten sozialen Po- Cambridge MA 2004.
sition befindet, z. B. in der eines Arztes in einem städ- Hare, Richard M.: Moral Thinking: Its Levels, Method, and
Point. Oxford 1981.
tischen Krankenhaus. Und es ist eine andere Frage, ob
Harsanyi, John C.: Morality and the theory of rational beha-
das Einkommen, das sie in dieser Position bezieht, im viour. In: Amartya Sen/Bernard Williams (Hg.): Utilita-
Verhältnis zu allen anderen individuellen Einkom- rianism and Beyond. Cambridge 1982, 39–62.
men in der gesellschaftlichen Gesamtverteilung ge- Hayek, Friedrich A. von: The Road to Serfdom. Chicago
recht ist oder nicht. Auf beide Fragen müssen wir eine 1944.
prinzipiengeleitete Antwort geben können, wenn wir –: The Mirage of Social Justice. London 1976.
Hinsch, Wilfried: Gerechtfertigte Ungleichheiten. Grundsätze
über die Gerechtigkeit von gesellschaftlichen Güter- sozialer Gerechtigkeit. Berlin 2002.
verteilungen urteilen wollen. Und natürlich ist die –: Die gerechte Gesellschaft. Stuttgart 2016.
Antwort auf die Frage, ob Ärzte in städtischen Kran- Kraut, Richard: Aristotle. Political Philosophy. Oxford 2002.
kenhäusern gerecht entlohnt werden, völlig unabhän- Mill, John Stuart: Utilitarianism. London 1861 (dt. Stuttgart
gig davon, ob eine konkrete Person zu Recht das Ein- 1976).
Miller, David: Social Justice. Oxford 1976.
kommen eines Arztes in einem städtischen Kranken-
Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. New York 1974.
haus bezieht. Zur Beantwortung dieser letzten Frage Nussbaum, Martha: Creating Capabilities. The Human Deve-
benötigen wir Regeln individuellen Handelns, die lopment Approach. Cambridge MA 2011.
sich im Sinne einer kommutativen Gerechtigkeit auf Parfit, Derek: Reasons and Persons. Oxford 1984.
interpersonelle Transaktionen beziehen, wie sie in Pogge, Thomas: A critique of the capability approach. In:
Hayeks und Nozicks Konzeptionen eine zentrale Rol- Harry Brighouse/Ingrid Robeyns (Hg.): Measuring Justice.
Primary Goods and Capabilities. Cambridge 2010, 17–60.
le spielen: wechselseitige Verhaltensbeschränkungen,
Eigentumsrechte, Kooperationsregeln, Qualifikati-
86 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 13 Tauschgerechtigkeit


1975 (engl. 1971).
–: Gerechtigkeit als Fairness. Frankfurt a. M. 2006 (engl. Gegenstand der Tauschgerechtigkeit sind Tauschver-
2001).
Sen, Amartya K.: Equality of What? In: The Tanner Lectures hältnisse, zu denen neben dem nicht-kommerziellen
on Human Values I. Cambridge 1980, 195–220. Austausch von Gaben oder Leistungen insbesondere
–: Poor relatively speaking. In: Oxford Economic Papers 35/2 vertragliche Transaktionen wie Kauf-, Miet-, Darle-
(1983), 153–169. hens- und Arbeitsverträge gehören. Ein solches Ver-
–: Inequality Reexamined. Oxford 1992. hältnis liegt vor, wenn mehrere (meist zwei) Personen,
–: The Idea of Justice. Cambridge MA 2009.
von denen jede berechtigt ist, über bestimmte Güter
Sidgwick, Henry: The Methods of Ethics. London 71907.
Stewart, Frances: Basic needs strategies, human rights, and oder Leistungen zu disponieren, aus freien Stücken
the right to development. In: Human Rights Quarterly auf einen wechselseitigen Transfer solcher Güter oder
11/3 (1989), 347–375. Leistungen übereinkommen. Da Tauschverhältnisse
Vlastos, Gregory: Justice as equality. In: Richard Brandt auf die Zirkulation privater Besitz- und Verfügungs-
(Hg.): Social Justice. Englewood Cliffs NJ 1962, 31–72. rechte an knappen Gütern zielen, um die Menschen
Wilfried Hinsch konkurrieren, unterliegen sie Erfordernissen der Ge-
rechtigkeit. Und da sie der freien Einwilligung der be-
teiligten Parteien bedürfen, die diese bei rechter Erwä-
gung nur dann erteilen werden, wenn sie sich davon
einen Vorteil erwarten, liegt es nahe anzunehmen,
dass die Gerechtigkeit ein wohlausgewogenes, aus un-
parteiischer Sicht allgemein annehmbares Verhältnis
der getauschten Güter oder Leistungen zum allseiti-
gen Vorteil der Parteien verlangt. Damit stellt sich die
Frage nach den Erfordernissen der Gerechtigkeit, die
Tauschverhältnisse erfüllen müssen, um diesem Pos-
tulat zu entsprechen.
Die Beschäftigung mit dieser Frage hat eine lange
Tradition, die bis auf Aristoteles zurückgeht. Sein
Vorschlag war, Tauschverhältnisse dann als gerecht
zu betrachten, wenn die getauschten Güter oder Leis-
tungen gleichwertig oder äquivalent sind. Dieser Vor-
schlag war bis in die frühe Neuzeit die Leitidee diver-
ser Lehren des gerechten Preises, die versuchten, die
Angemessenheit der Preise der auf Märkten gehan-
delten Waren wie auch der Löhne für Arbeitstätigkei-
ten auf den diesen Gütern und Tätigkeiten inhärenten
Wert zurückzuführen. Da sich diese Lehren zuneh-
mend in unfruchtbare Spekulationen verliefen, ging
man nach und nach dazu über, den Blick auf die
Rahmenbedingungen vertraglicher Transaktionen zu
richten, welche die Vermutung der Äquivalenz der ge-
tauschten Waren oder Leistungen begründen könn-
ten. Damit verschob sich der Fokus der Theorien des
gerechten Preises von den Eigenschaften der ge-
tauschten Güter und Leistungen auf die prozeduralen
Bedingungen des Zustandekommens von Trans-
aktionen. Daraus hat sich schließlich die moderne,
heute vorherrschende Vorstellung der Tauschgerech-
tigkeit entwickelt, der zufolge vertragliche Trans-
aktionen dann als gerecht gelten, wenn sie von ent-
scheidungsfähigen Personen in Kenntnis der relevan-
13 Tauschgerechtigkeit 87

ten Tatsachen aus freien Stücken in ihrem wohlüber- dem Titel iustitia correctiva zu behandeln (s. Kap.
legten Interesse eingegangen werden. II.19). Dementsprechend wird es auch im Folgenden
nur um die Gerechtigkeit vertraglicher Tauschverhält-
nisse gehen, für die im Deutschen der Name Tausch-
Tauschgerechtigkeit bei Aristoteles gerechtigkeit zur Verfügung steht, während sie in ande-
ren Sprachen vielfach weiterhin als kommutative Ge-
Aristoteles hat zwei partikulare Grundformen der rechtigkeit angesprochen wird (im Englischen auch
Gerechtigkeit unterschieden, die sich auf verschiede- als justice in exchange oder transactional justice).
ne Handlungsbereiche beziehen und unterschiedli- Aristoteles’ Ausführungen über Tauschgerechtig-
che Erfordernisse der Gerechtigkeit inkludieren: ers- keit sind gedankenreich, aber auch ziemlich unklar
tens die Gerechtigkeit der Verteilung von öffent- (Bien 1995). Hier sollen nur die zentralen Thesen her-
lichen Anerkennungen, Geld oder sonstigen Gütern, vorgehoben werden:
die den Mitgliedern eines Gemeinwesens zugeteilt 1. Da die Bürger infolge der Arbeitsteilung verschie-
werden können, und zweitens die Gerechtigkeit des dene Leistungen erbringen und zur Befriedigung
Ausgleichs der Vorteile oder Nachteile von Inter- ihrer Bedürfnisse die Leistungen Anderer benöti-
aktionen zwischen einzelnen Personen, wobei er zu gen, gehen sie zum Austausch ihrer jeweiligen
diesen Interaktionen sowohl freiwillige Vertragsver- Leistungen vertragliche Transaktionen ein, wo-
hältnisse (wie Kauf, Darlehen, Bürgschaft) als auch durch zugleich der Zusammenhalt der Gesell-
unfreiwillig erlittene Rechtsverletzungen (wie Dieb- schaft gesichert werde (NE V 8 1132b 32–1133a
stahl, Ehebruch, Misshandlung, Raub, Freiheitsbe- 14).
raubung) zählte. In diesem Beitrag interessiert nur 2. Solche Transaktionen seien gerecht, wenn Gleiches
die zweite Grundform, die, in Anlehnung an den von mit Gleichem nach ›arithmetischer Proportionali-
Thomas von Aquin eingeführten Terminus iustitia tät‹ vergolten werde, d. h. allein in Hinsicht auf die
commutativa, als kommutative oder ausgleichende ausgetauschten Leistungen und unabhängig von
Gerechtigkeit bezeichnet wird (s. Kap. II.12), weil sie den Eigenschaften der beteiligten Parteien, die
mit Bezug auf beide Sorten von Interaktionen einen von Rechts wegen als Gleiche behandelt werden
Ausgleich zwischen den beteiligten Personen im Sin- (NE V 7 1131b 32–1132a 10).
ne einer gewissen Gleichheit ihrer Vor- und Nachtei- 3. Als Messeinheit, mit der die getauschten Güter be-
le verlangt. züglich ihres Werts verglichen werden können,
Die zweifache Bezugnahme der kommutativen Ge- diene zunächst das Geld, das eben zu diesem
rechtigkeit auf vertragliche Transaktionen und auf Zweck durch Übereinkunft geschaffen worden sei.
Rechtsverletzungen leuchtet allerdings kaum noch Da aber der Bereitschaft, für ein Gut Geld zu zah-
ein, auch wenn sie im Kontext des archaischen Rechts- len, stets ein Bedarf an diesem Gut zugrunde liege,
denkens, dem Aristoteles noch bis zu einem gewissen sei der letzte Maßstab des Werts der Tauschobjek-
Grade verhaftet war, als naheliegend erscheinen te der Bedarf der Menschen (NE V 8 1133a 19–31).
mochte, weil das grundlegende Prinzip dieses Den- 4. Die Gleichheit der Tauschgüter liege vor, wenn die-
kens, das Prinzip der Vergeltung, sowohl die Erwide- se zueinander im gleichen Verhältnis stünden wie
rung empfangener Leistungen durch angemessene die Vertragsparteien, was wohl bedeuten soll:
Gegenleistungen als auch die Berichtigung eines erlit- wenn diese an den eingetauschten Gütern glei-
tenen Unrechts durch eine entsprechende Entschädi- chen Bedarf haben und daher gleichen Vorteil da-
gung oder Strafe verlangte (vgl. NE V 8 1132b 21– raus ziehen (NE V 8 1133a 31–1133b 20).
1133a 6). Diese Verknüpfung ist aber im Kontext grö- Diese Thesen können trotz der vielen Fragen, die sie
ßerer Gesellschaften, in denen sich der marktliche Ge- aufwerfen, wohl nur so gedeutet werden, dass die Ge-
schäftsverkehr und die staatliche Rechtsprechung zu rechtigkeit von Tauschverhältnissen die Gleichwertig-
eigenständigen Handlungsbereichen ausdifferenziert keit oder Äquivalenz der Tauschgüter verlangt, welche
haben, nicht mehr tragfähig. Infolgedessen ist es sich ihrerseits letztlich am Nutzen dieser Güter für die
schon seit dem späten Mittelalter zunehmend üblich Beteiligten bemisst. In diesem Sinn wurde Aristoteles’
geworden, die Kategorie der iustitia commutativa in Auffassung jedenfalls von den Denkern des Mittel-
erster Linie auf vertragliche Transaktionen zu bezie- alters verstanden, die an sie anknüpfend Lehren des ge-
hen und die Gerechtigkeit der Kompensation oder Pö- rechten Preises entwickelten. Zu diesem Zweck muss-
nalisierung von Rechtsverletzungen separat unter ten sie sich mit einer Reihe von Fragen beschäftigen,
88 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

die Aristoteles offengelassen oder aus christlicher einzuwenden, »wann jemand den maßvollen Gewinn,
Sicht nicht überzeugend beantwortetet hatte. Eine of- den er als Kaufmann sucht, auf die Erhaltung seines
fene Frage war das von Aristoteles nicht geklärte Ver- Hauses hinordnet, oder auch, um den Bedürftigen zu
hältnis zwischen dem Gebrauchswert von Gütern, der helfen; oder auch, wann einer sich auf den Handel ver-
sich aus dem an ihnen bestehenden Bedarf ergibt, und legt des öffentlichen Nutzens wegen, damit nämlich
ihrem Tauschwert, der in ihrem Preis Ausdruck findet nicht die notwendigen Dinge für das Leben im Vater-
und offensichtlich nicht bloß vom Bedarf, sondern lande fehlen, und er den Gewinn nicht sozusagen als
auch vom Grad der Knappheit der Güter und dem für Zweck, sondern als Lohn der Mühe erstrebt« (STh II-
ihre Herstellung erforderlichen Aufwand abhängt. Ein II, 77 Art. 4, zit. nach Thomas 1985, 353). Obwohl
weiteres Problem ergab sich aus der von Aristoteles Thomas im Prinzip die aristotelische Auffassung der
weitgehend vernachlässigten Rolle der menschlichen Tauschgerechtigkeit als Äquivalenz verteidigte, reflek-
Arbeit, die durch das Christentum eine erhebliche tieren seine Überlegungen bis zu einem gewissen Gra-
Aufwertung gegenüber dem Denken der antiken Skla- de schon eine davon abweichende Auffassung. Das gilt
venhaltergesellschaften erfahren hatte. Auch Aristote- insbesondere für seine Erörterungen in Quaestio 77
les’ Geringschätzung gewinnorientierter Handels- über Betrügereien beim Kauf und Verkauf, also über
geschäfte, vor allem solcher des Fernhandels, konnte Umstände, die vertragliche Geschäfte ungerecht ma-
angesichts ihrer wachsenden Bedeutung für die wirt- chen, wie überteuerte Preise, Sachmängel der verkauf-
schaftliche Entwicklung der Städte im Hochmittel- ten Dinge und das Verschweigen solcher Mängel
alter nicht mehr überzeugen. durch den Verkäufer. Darin stellt Thomas nicht auf ei-
nen – wie auch immer zu messenden – wahren Wert
der Güter ab, sondern vielmehr auf das Verhalten der
Die Lehren des gerechten Preises Vertragsparteien und die Bedingungen, unter denen
und ihre Probleme sie sich auf ein Geschäft einigen.
Dessen ungeachtet wurden nach Thomas bis zum
In Reaktion auf diese Probleme hat schon Albertus ausgehenden Mittelalter weiterhin vielfältige Bemü-
Magnus (1193–1280), der Aristoteles’ Konzeption von hungen unternommen, ein brauchbares Maß für den
Gerechtigkeit weitgehend übernahm und bekräftigte, Wert von Gütern und Leistungen zu finden, indem
dessen Herleitung des Werts von Gütern aus dem man die subjektiven Komponenten ihres Gebrauchs-
nach ihnen bestehenden Bedarf durch eine objektive werts zu präzisieren und mit diversen objektiven Fak-
Bestimmungsgröße des Tauschwerts ergänzt. So toren der für ihre Produktion und Bereitstellung er-
schlug er vor, die Gleichheit der Tauschgüter in dem forderlichen Kosten zu kombinieren suchte. So wurde
Sinne zu verstehen, »dass gleiche Mengen von Arbeit z. B. vorgeschlagen, dass bei der Bemessung des Prei-
und Kosten (labores et expensae) gegeneinander aus- ses von Gütern auch die erwarteten künftigen Wert-
getauscht werden müssen. Denn wenn der Verfertiger steigerungen zu berücksichtigen seien oder dass der
von Betten nicht an Quantität und Qualität so viel gerechte Preis von Gütern und Leistungen deren Ver-
empfängt, als seinem Aufwand für dieselben ent- käufern oder Anbietern ein standesgemäßes Einkom-
spricht, wird er in Zukunft kein Bett mehr machen; so men sichern müsse (vgl. Kaulla 1904, 597 f.). Besonde-
wird das Gewerbe des Bettmachens zerstört werden. re Probleme bereitete dabei der Versuch, den Wert
Ähnlich steht es mit den übrigen Gewerben« (Alber- von Arbeitsleistungen für die Bemessung gerechter
tus Magnus 1651, Ethicorum, V II, 7, zit. nach Kaulla Löhne zu ermitteln (Johnson 1938; Epstein 1991). Alle
1904, 588 f.). diese Bemühungen haben jedoch wenig gefruchtet,
Noch einen Schritt weiter ging Alberts Schüler weil sie die für den Wert von Gütern oder Leistungen
Thomas von Aquin (1225–1274), der für die Einschät- maßgeblichen Kriterien zunehmend vermehrten und
zung des Werts gehandelter Güter neben dem für ihre damit den Maßstab selber immer unklarer werden lie-
Produktion erforderlichen landesüblichen Aufwand ßen. Dennoch waren sie insofern durchaus produktiv,
an Arbeit und Kosten auch die mit ihrem Transport als sie in Lehren des gerechten Preises mündeten, die
verbundenen Risiken gelten ließ und überdies den ge- von der Vermutung ausgingen, der gerechte Preis zei-
winnorientierten Handel nicht mehr verdammte, son- ge sich in der Regel im Marktpreis, dessen Gerechtig-
dern wegen seines öffentlichen Nutzens als moralisch keit sie jedoch dann in Frage stellten, wenn der Markt-
erlaubt betrachtete: Gegen die im kaufmännischen prozess, durch den er sich bildete, als unausgewogen
Geschäft erzielten Gewinne sei nämlich dann nichts erschien (vgl. Trusen 1997; Langholm 1998, 77–99).
13 Tauschgerechtigkeit 89

Die Marktkonzeption Demgemäß gilt eine Transaktion als gerecht, wenn sie
der Tauschgerechtigkeit unter Bedingungen zustande kommt, die sicherstellen,
dass sie im wohlverstandenen Interesse aller beteilig-
Diese Annäherung an das Problem des gerechten ten Parteien liegt, also jeder Partei hinreichenden Vor-
Preises hat sich der einschlägigen historischen For- teil bringt. Und da ein wohlgeordneter Markt diese Be-
schung zufolge im späten Mittelalter und in der frü- dingungen prima facie zu garantieren scheint, kann
hen Neuzeit weithin durchgesetzt (vgl. Höffner 1953; vermutet werden, dass die Preise, die sich auf einem
De Roover 1958; Trusen 1997; Langholm 1998; Wood solchen Markt durch das Zusammenspiel von Angebot
2002). So waren sich laut Winfried Trusen die deut- und Nachfrage von selber bilden, gerecht sind. Diese
schen Gelehrten des Spätmittelalters, Theologen wie Konzeption der Tauschgerechtigkeit steht und fällt al-
Juristen, weitgehend darüber einig, »daß sich der Wert lerdings mit der Möglichkeit, die Bedingungen eines
einer Ware in der Regel nach der allgemeinen Schät- wohlgeordneten Marktes auf eine Weise zu spezifizie-
zung und der Stärke der Nachfrage in gerechter Weise ren, welche die Annahme rechtfertigt, dass die auf ihm
bestimme. Allerdings muß dabei Betrug, Zwang und getätigten Transaktionen tatsächlich im besten Inte-
Irrtum ausgeschlossen sein. Der Marktpreis, so meint resse der beteiligten Parteien liegen, aber auch das Ge-
man, sei immer dann gerecht, wenn er nicht durch un- meinwohl fördern (vgl. Langholm 1998; Wood 2002,
lautere Manipulation und Spekulationen sowie durch 132–158; Sturn 2007).
eine unverantwortliche Haltung bestehender Mono- Eine Theorie der Tauschgerechtigkeit, die eben dies
pole gestört werde, wenn er also das Ergebnis ehr- leistet, stand jedoch lange Zeit nicht zur Verfügung.
lichen Wettstreites verantwortungsbewußter Kaufleu- Die Tradition der Lehre vom gerechten Preis erreichte
te sei« (Trusen 1997, 535). ihren Gipfelpunkt in der Spätscholastik des 16. Jahr-
Eine ziemlich ausgefeilte Lehre der gerechten Preis- hunderts und ist danach weitgehend zum Stillstand ge-
bildung auf einem wohlgeordneten Markt wurde von kommen; die sich von der Theologie zunehmend
der spanischen Spätscholastik der Schule von Salaman- emanzipierende akademische Philosophie hat sich für
ca des 16. Jahrhunderts entwickelt. Deren Vertreter, so die Tauschgerechtigkeit nicht mehr interessiert; und
insbesondere Francisco de Vitoria (1483–1546) und die sich zugleich entwickelnde Ökonomik hat zwar
Luis de Molina (1535–1600), erklärten, der gerechte dem Markt wachsende Aufmerksamkeit geschenkt,
Preis bestimme sich nicht nach dem Gewinn und Ver- aber nicht unter dem Gesichtspunkt der Tausch-
lust der Kaufleute, sondern nach dem Verhältnis von gerechtigkeit, sondern dem der Nützlichkeit für die
Angebot und Nachfrage an dem Ort, wo die Waren Beteiligten und die Gesellschaft insgesamt. Allerdings
verkauft werden. Infolgedessen könne der Preis eines kristallisierte sich in der Jurisprudenz eine vage Vor-
Gutes zwar von Ort zu Ort variieren, pendle sich am stellung davon heraus, welcher Regelungen Märkte be-
selben Ort aber auf einen einheitlichen Preis ein. Die dürfen, damit sie funktionieren und einigermaßen ge-
genannten Gelehrten betonten auch die Bedeutung rechte, zumindest nicht allzu ungerechte Ergebnisse
des Wettbewerbs für die Bildung gerechter Marktprei- zeitigen. Die Grundzüge dieser juristischen Vorstellung
se und überhaupt für das richtige Funktionieren des des Marktes kann mit etwas Mut zur Typisierung wie
Marktes. Deshalb hielten sie regulierende Maßnah- folgt resümiert werden.
men der öffentlichen Autoritäten für zulässig, ja für ge- Der Bereich marktfähiger Güter umfasst all jene
boten, wenn bestimmte Umstände den Marktprozess Dinge, die Objekt veräußerlicher Eigentums- oder
behinderten. Als solche Umstände galten insbesonde- Verfügungsrechte sein können. Dieser Bereich wird
re private Monopole, wozu alle Formen von Markt- beschränkt durch Normen, die bestimmte Dinge ent-
macht gerechnet wurden, die es einzelnen Beteiligten, weder überhaupt für unveräußerlich erklären oder der
wie etwa Zünften und Kaufleuten, ermöglichten, die kommerziellen Verwertung entziehen. Den Kreis
Preise entweder über oder unter das Wettbewerbs- möglicher Marktteilnehmer bilden all jene Personen,
niveau zu drücken (vgl. Höffner 1941, 101–146; Höff- die geschäftsfähig, d. h. zur Durchführung gültiger
ner 1953, 190–202; De Roover 1958, 424–430). Rechtsgeschäfte befugt sind. Diese Personen müssen
Damit schälte sich nach und nach eine neue, proze- wenigstens über ein Mindestmaß jener geistigen Fä-
durale Konzeption der Tauschgerechtigkeit heraus, higkeiten verfügen, die dafür erforderlich sind, eigene
welche die Gerechtigkeit vertraglicher Transaktionen Interessen selber wahrzunehmen. Die Regeln über die
an deren Rahmenbedingungen statt an den von ihnen zulässigen Formen vertraglicher Transaktionen sollen
unabhängigen Wert der Güter oder Leistungen knüpft. gewährleisten, dass solche Transaktionen von den Be-
90 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

teiligten freiwillig in Kenntnis der wesentlichen Ei- ren (vgl. Buchanan 1985, 14–18; Gauthier 1986, 85–
genschaften der in Betracht stehenden Güter und 90; Stiglitz 1999, Kap. 8 und 13).
Leistungen zustande kommen. Zu diesem Zweck Markttransaktionen, die unter diesen Bedingungen
muss das Recht den Gebrauch von Gewalt und Zwang zustande kommen, sind jedenfalls effizient, weil sie
ebenso wie Irreführung und Betrug verbieten und na- von jeder Vertragspartei gegenüber dem jeweils zuvor
türlich auch die Einhaltung gültig geschlossener Ver- bestehenden Zustand vorgezogen werden und keine
träge sicherstellen. Und die Regelung des Marktwett- nachteiligen Auswirkungen auf Dritte haben. Sie er-
bewerbs soll einen fairen Wettbewerb garantieren, der scheinen aber auch als gerecht, also aus unparteiischer
die Bildung von Marktmacht verhindert, damit es kei- Sicht akzeptabel, wenn gilt, dass jede Vertragspartei ei-
ner Partei möglich ist, andere zur Einwilligung in nen begründeten, auch gegenüber Dritten vertret-
nachteilige Vertragskonditionen zu nötigen. baren Anspruch hat, über die von ihr jeweils trans-
Eine elaborierte ökonomische Markttheorie, die die- ferierten Güter oder Leistungen zu verfügen. Das setzt
se rechtliche Vorstellung fundieren konnte, ist erst mit allerdings voraus, dass die den Transaktionen voran-
der Entwicklung der klassischen politischen Öko- gehende Verteilung der Eigentums- und Verfügungs-
nomie entstanden. Der locus classicus dieser Theorie rechte der Beteiligten selber schon gerecht ist, also den
ist Adam Smiths berühmte These der unsichtbaren dafür maßgeblichen Erfordernissen der Gerechtigkeit
Hand: Eine freie Marktwirtschaft, die das Privateigen- entspricht. Gerechte Tauschverhältnisse erfordern
tum garantiert, die Einhaltung von Verträgen er- demnach zweierlei: erstens einen fairen Markt, der im
zwingt und einen freizügigen Wettbewerb sichert, idealen Fall dem Modell eines perfekten Marktes na-
bringe auch dann, wenn jede Person nur ihren eige- hekommt, von dem reale Märkte freilich stets mehr
nen Vorteil verfolgt, von selber Ergebnisse hervor, die oder minder abweichen; und zweitens eine gerechte
allen Beteiligten größtmöglichen Nutzen bringen und Ausgangsverteilung der getauschten Güter, die jedoch
den allgemeinen Wohlstand steigern. Denn der Markt nicht allein den Erfordernissen der Tauschgerechtig-
bewirke nicht nur, dass sich das Angebot eines jeden keit, sondern letztlich jenen der distributiven Gerech-
Guts von selber auf die Nachfrage einpendle, sondern tigkeit unterliegt, da auch den früheren Transaktionen,
er induziere auch eine stetige Steigerung der Arbeits- aus denen sie hervorgegangen sein mag, selber schon
teilung und der Arbeitsproduktivität, die schließlich eine gerechte Ausgangsverteilung zugrunde gelegen
der ganzen Gesellschaft zum Nutzen gereiche (Smith haben muss. Dies führt zu der Konzeption der Tausch-
1776/1974, 9–22, 48–56). Diese These hat eine pro- gerechtigkeit als Marktgerechtigkeit, die zum Abschluss
duktive Tradition ökonomischer Theoriebildung in- in aller Kürze skizziert sei (dazu näher Koller 2010).
spiriert, die bis zur gegenwärtig vorherrschenden
Neoklassik führt (dazu Haslinger/Schneider 1983;
Kurz 2013, Kap. 4–9). Konklusion
Die neoklassische Theorie geht zur Erklärung und
Bewertung realer Märkte vom idealisierten Modell ei- Die vorgeschlagene Konzeption der Tauschgerechtig-
nes perfekten Wettbewerbsmarktes aus, das einen for- keit, deren Erfordernisse den Bedingungen eines per-
malen Beweis dafür liefert, dass unter bestimmten fekten Marktes nachgebildet sind, kann in erster An-
Idealbedingungen ein Gleichgewicht von Angebot näherung etwa so formuliert werden: Marktliche
und Nachfrage entsteht, bei dem der Preis der Güter Tauschverhältnisse sind gerecht, wenn sie von voll-
auf das geringstmögliche Niveau der notwendigen kommen rationalen Personen, die ihr bestes Interesse
Produktionskosten sinkt und eine Pareto-optimale zu verfolgen vermögen, in vollkommener Kenntnis al-
Allokation knapper Ressourcen zustande kommt. Zu ler hierfür relevanten Informationen aus freien Stü-
diesen Bedingungen gehören vor allem die folgenden: cken unbeeinflusst von sozialen Machtungleichheiten
die Ausstattung aller Teilnehmer mit marktfähigen geschlossen werden, unter der Voraussetzung einer
Ressourcen, die ihnen einen freien Marktzugang er- gerechten Ausgangsverteilung der individuellen Ei-
möglichen; die vollkommene Rationalität und Infor- gentums- und Verfügungsrechte an den getauschten
miertheit aller Beteiligten; die Nichtexistenz von Gütern und Leistungen. So formuliert, stellt die Kon-
Transaktionskosten und externen Effekten; die Elas- zeption allerdings extrem hohe Anforderungen, die
tizität von Angebot und Nachfrage; sowie ein freier von realen Vertragsgeschäften ebenso wenig erfüllt
Wettbewerb, in dem kein Teilnehmer die Macht hat, werden können wie die Idealbedingungen des perfek-
die Ergebnisse marktlicher Transaktionen zu diktie- ten Marktes von realen Märkten. Diese Version kann
13 Tauschgerechtigkeit 91

daher nur als eine Idealvorstellung, als eine regulative oder minder gravierenden Mängeln leiden. Aus die-
Idee, verstanden werden, von der entsprechende Ab- sem Grund ist es entgegen der Ansicht der Verfechter
striche gemacht werden müssen, um zu einer prakti- eines radikalen Marktliberalismus wie Robert Nozick
kablen Deutung der Tauschgerechtigkeit zu gelangen, (1974) oder Friedrich A. von Hayek (1976) auch ver-
die einerseits die Anforderungen an zulässige Trans- fehlt, von der Annahme einer Marktordnung, in
aktionen auf ein erfüllbares Niveau reduziert, ande- der sich aus einer für gerecht oder akzeptabel gehalte-
rerseits aber die freie Selbstbestimmungsfähigkeit je- nen ursprünglichen Anfangsverteilung individueller
der Person garantiert und deren Übervorteilung und Rechte im Wege einer Sequenz gerechter Transaktio-
Ausbeutung unterbindet. Eine solche Deutung muss nen eine bestimmte Güterverteilung ergeben hat, auf
aber doch stärkere Anforderungen an den Marktver- deren Gerechtigkeit oder Unanfechtbarkeit zu schlie-
kehr stellen als das positive Recht, das die Gültigkeit ßen. Die Gewährleistung einer akzeptablen Ausgangs-
von Verträgen nur an Minimalbedingungen knüpfen verteilung, welche die Tauschgerechtigkeit verlangt,
kann, um dem Geschäftsleben nicht allzu große Hin- ist daher eine ständige Aufgabe einer gerechten sozia-
dernisse entgegenzusetzen. len Ordnung. Die Frage, wie diese Ausgangsverteilung
Eine praktikable Deutung der Tauschgerechtigkeit, beschaffen sein muss, ist jedoch nicht allein eine Frage
die diesen Erwägungen Rechnung trägt, könnte so der Tauschgerechtigkeit, sondern insbesondere auch
lauten: Vertragliche Transaktionen können als gerecht eine der sozialen Verteilungsgerechtigkeit (Koller
gelten, wenn sie 2008; s. auch Kap. II.18).
• im Wege freier Übereinkünfte hinreichend selbst-
bestimmungsfähiger und informierter Personen Literatur
zustande kommen, Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Hg. von Olof Gigon.
• keine gravierenden negativen Auswirkungen auf München 1972 [NE].
Bien, Günther: Gerechtigkeit bei Aristoteles. In: Otfried Höf-
Dritte haben, fe (Hg.): Die Nikomachische Ethik. Berlin 1995, 135–164.
• nicht von erheblichen sozialen Machtungleichhei- Buchanan, Allen: Ethics, Efficiency, and the Market. Totowa
ten bestimmt werden und schließlich 1985.
• auf der Basis einer einigermaßen akzeptablen, zu- De Roover, Raymond: The concept of the just price: Theory
mindest nicht offenkundig ungerechten Aus- and economic policy. In: The Journal of Economic History
18/4 (1958), 418–434.
gangsverteilung der individuellen Eigentums-
Epstein, Steven A.: The theory and practice of the just wage.
und Verfügungsrechte stattfinden. In: Journal of Medieval History 17 (1991), 53–69.
Demgemäß sind Transaktionen in dem Maße unge- Gauthier, David: Morals by Agreement. Oxford 1986.
recht, in dem sie diese Anforderungen nicht erfüllen. Haslinger, Franz/Schneider, Johannes: Die Relevanz der
Infolgedessen hat eine Marktordnung für Rahmen- Gleichgewichtstheorie. In: Ökonomie und Gesellschaft, Jb.
bedingungen des Vertragsverkehrs Sorge zu tragen, 1: Die Neoklassik und ihre Herausforderungen. Frankfurt
a. M. 1983, 1–55.
die einerseits sicherstellen, dass die getätigten Trans-
Hayek, Friedrich August von: Law, Legislation and Liberty,
aktionen im Großen und Ganzen den genannten An- Vol. 2: The Mirage of Social Justice. London 1976.
forderungen entsprechen, andererseits aber auch ge- Höffner, Joseph: Wirtschaftsethik und Monopole im fünf-
eignete Mittel bieten, die Ergebnisse ungerechter zehnten und sechzehnten Jahrhundert. Jena 1941.
Transaktionen zu korrigieren, sei es durch deren Au- –: Der Wettbewerb in der Scholastik. In: Ordo 5 (1953), 181–
ßerkraftsetzung, Nachbesserung oder Berichtigung 202.
Johnson, E. A. J.: Just price in an unjust world. In: Ethics 48
im Wege der Kompensation erlittener Nachteile. Da (1938), 165–181.
jedoch selbst wohlfunktionierende und einigermaßen Kaulla, Rudolf: Die Lehre vom gerechten Preis in der Scho-
gerechte Märkte wegen ihrer Eigendynamik oder in- lastik. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 60
folge der kumulativen Effekte kleiner Ungerechtigkei- (1904), 579–602.
ten zu erheblichen Ungleichheiten führen können, Koller, Peter: Markt, Tauschgerechtigkeit und Macht. In:
Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik,
welche die nachfolgenden Transaktionen zunehmend
Jb. 7: Macht in der Ökonomie. Marburg 2008, 215–240.
verzerren, kann es auch notwendig sein, diese Un- –: Market efficiency and contractual justice. In: Tadeusz
gleichheiten durch eine Neujustierung der individuel- Czarnecki et al. (Hg.): The Analytical Way. Proceedings of
len Verfügungsrechte oder durch umverteilende Maß- the 6th European Congress of Analytic Philosophy. London
nahmen zu korrigieren, um den Marktprozess wieder 2010, 167–186.
in halbwegs gerechte Bahnen zu lenken. Und das gilt Kurz, Heinz D.: Geschichte des ökonomischen Denkens. Mün-
chen 2013.
umso mehr für die meisten realen Märkte, die an mehr
92 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

Langholm, Odd: The Legacy of Scholasticism in Economic 14 Feministische Gerechtigkeit


Thought. Antecedents of Choice and Power. Cambridge
1998. Ausgangspunkt feministischer Theorien der Gerech-
Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. New York 1974.
Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. Eine Unter- tigkeit ist die Frage nach dem Verhältnis der Ge-
suchung seiner Natur und seiner Ursachen. Hg. von Horst schlechter und die Kritik an geschlechtshierarchischen
Claus Recktenwald. München 1974 (engl. 1776). Strukturen, gesellschaftlicher Diskriminierung und
Stiglitz, Joseph E.: Volkswirtschaftslehre. München 1999 Marginalisierungen von Frauen. Grundlegend ist folg-
(engl. 1997). lich ein Interesse daran, zu analysieren und zu konzep-
Sturn, Richard: Gerechter Preis und Marktpreis. Zur Inter-
tualisieren, welche Relevanz der Unterschied zwischen
dependenz von Religion, Ökonomie und Sozialtheorie. In:
Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomie, Geschlechtern in gerechten Gesellschaften noch ha-
Jb. 6: Ökonomie und Religion. Marburg 2007, 89–111. ben kann und sollte (s. Kap. V.62). Trotz dieses ein-
Thomas von Aquin: Summe der Theologie, Bd. 3: Der Mensch heitlichen Kennzeichens sind feministische Theorien
und das Heil. Hg. von Joseph Bernhart. Stuttgart 21954, der Gerechtigkeit so vielfältig wie feministische Theo-
Nachdr. 1985. rien generell: Es gibt nicht eine feministische Gerech-
Trusen, Winfried: Äquivalenzprinzip und gerechter Preis im
Spätmittelalter [1967]. In: Ders.: Gelehrtes Recht im Mittel-
tigkeitstheorie, sondern unterschiedliche Positionen,
alter und in der frühen Neuzeit. Goldbach 1997, 531–547. Traditionen und politische Ideale (vgl. Dietz 1998; vgl.
Wood, Diana: Medieval Economic Thought. Cambridge 2002. auch Jaggar/Young 1998, 487–581). Diese verschiede-
nen Perspektiven sollen anhand dreier Problemfelder
Peter Koller
beschrieben werden, nämlich dem von Gleichheit vs.
Differenz, dem der Differenz zwischen dem Privaten
und Öffentlichen und dem von Demokratie und Öf-
fentlichkeit. Abschließend werden gegenwärtig zen-
trale und richtungsweisende Debatten skizziert.

Gleichheit und Differenz

Zentraler Aspekt in der Diskussion feministischer Ge-


rechtigkeitstheorien ist die Frage, ob Nicht-Diskrimi-
nierung von Frauen einfachhin die ›Gleichheit‹ der
Geschlechter bedeutet, respektive was denn eine sol-
che ›Gleichheit‹ impliziert: Welche Gleichheit ist
möglich, welche Differenz ist nötig? Besonders in den
ersten Jahren feministischer Theoriebildung in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Debatte
um Gleichheit vs. Differenz erbittert geführt (vgl. ge-
nauer meinen Beitrag Rössler 1996, auf den ich mich
im Folgenden stütze).
In einer ersten Runde des Streits lassen sich die
beiden Positionen noch vergleichsweise schematisch
beschreiben: Kultivierung, Zelebrierung weiblicher
Eigenschaften und ›weiblicher Differenz‹ auf der ei-
nen Seite und Orientierung an Gleichheit (mit den
Männern) auf der anderen Seite, wie etwa im Blick auf
die gleiche Verteilung von Erwerbsarbeit, einher-
gehend allerdings mit einer grundsätzlichen Kritik an
der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung (z. B. Mol-
ler Okin 1989). Demgegenüber beharrten die Positio-
nen der Differenz auf der Unterschiedlichkeit der Ge-
schlechter und damit auch auf der Unterschiedlich-
keit ihrer gesellschaftlichen Rollen und klagten deren
14 Feministische Gerechtigkeit 93

gesellschaftliche Gleichbewertung – also eine beson- soziale Anerkennung von Differenzen in der Lebens-
dere Aufwertung der Familie und der im traditionel- situation von Frauen überschritten werden, da das
len Privatbereich verrichteten Arbeiten – ein (z. B. männliche Paradigma dessen, was als gleich zu gelten
Elshtain 1981). Deshalb wurde der Position der Diffe- habe, permanent unterlaufen werde, wenn Frauen da-
renz generell ein Essentialismus vorgeworfen, der die rauf insistieren, dass sie gegebenenfalls anderer Rech-
so genannten weiblichen Eigenschaften oder das so te bedürfen, um gleiche Freiheiten zu erringen (das
genannte weibliche Denken verabsolutiere und onto- betrifft den Schwangerschaftsabbruch ebenso wie
logisch verfestige, während umgekehrt der Position Quotenregelungen im Erwerbsarbeitsbereich, das
der Gleichheit die Orientierung an einem nur schein- Scheidungsrecht oder die Forderung nach Kinder-
bar humanistischen, eigentlich jedoch ›männlichen‹ tagesstätten). Damit wird die Idee liberaler Gleichheit
Gleichheitsideal zum Vorwurf gemacht wurde (Bock/ nicht tout court infrage gestellt, sondern benutzt, um
James 1992; Butler/Scott 1992; Hackett/Haslanger ›gleiche‹ als vergleichbare Rechte und Freiheiten auch
2006). für Frauen zu sichern. Dreh- und Angelpunkt ist
In einer zweiten Runde der Auseinandersetzungen dann die Frage, in welcher Weise Diskriminierungen
steht die Kritik an der thetischen Gegenüberstellung von Frauen rechtlich und sozial beseitigt, differente
im Vordergrund: Die Schematisierung von ›weibli- Lebenssituationen ›anerkannt‹ werden können, ohne
cher Differenz‹ und ›männlich orientierter Gleichheit‹ diese Diskriminierungen und differenten Verhältnis-
führe in eine theoretische Sackgasse. Deshalb ver- se festzuschreiben (Nagl-Docekal/Pauer-Studer 1996;
schob sich die Debattenlage in den Jahren danach sig- Olson 2008).
nifikant. Die erste Form einer solchen differenzierten In den letzten Jahren kann man nun eine weitere
Kritik am Begriff der Gleichheit ohne den Rekurs auf Runde der Debatte um Gleichheit vs. Differenz aus-
essentialisierende Differenzpositionen findet sich machen, die zugleich eine thematische Verschiebung
prominent bei Catherine MacKinnon (1989): Mit der bedeutet: Hier steht zum einen im Vordergrund, wie
Orientierung an der ›Gleichheit‹ der Geschlechter sei- mit den nicht bestreitbaren Differenzen zwischen
en die tatsächlichen Macht- und Dominanzstruktu- Frauen untereinander angemessen umzugehen sei,
ren, die in einer patriarchalen Gesellschaft herrschen, wer also eigentlich mit ›den Frauen‹ gemeint sei. Un-
nicht zu analysieren; der Begriff der Gleichheit setze terschiedliche Lebenskontexte von Frauen, damit ver-
notwendigerweise die Situation und Bedürfnisse ›des bundene unterschiedliche Interessen, unterschiedli-
Mannes‹ als die Norm, die Gleichheit definiere, gegen- che ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung, all die-
über der die Situation und Bedürfnisse von Frauen se Differenzen zwischen Frauen rückten zunehmend
immer als ›anders‹ und damit als unterlegen, als devi- in den Vordergrund und führten zu einer Modifizie-
ant begriffen würden. Stattdessen müsse es darum ge- rung und noch stärkeren Pluralisierung feministi-
hen, die Idee liberaler Gleichheit und Neutralität des scher Theorien, auch feministischer Theorien der Ge-
liberalen Staates von Grund auf zu kritisieren, ebenso rechtigkeit (Young 1990; Hackett/Haslanger 2006; Ro-
wie den Begriff von Gerechtigkeit, der jenen zugrunde beyns/Brighouse 2010).
liege: allerdings gerade ohne damit einer Essentialisie- Zum anderen liegt ein Grund für eine Verschiebung
rung und Ontologisierung weiblicher Eigenschaften der Kontroverse in der zunehmenden Kritik an der Di-
das Wort zu reden. Deshalb muss die Analyse von chotomie zwischen sex und gender, zwischen biologi-
Macht- und Dominanzstrukturen im Zentrum fe- schem und kulturellem oder sozialem Geschlecht. War
ministischer Theoriebildung stehen (ebd.). diese Unterscheidung zunächst als ein emanzipativer
Auch die zweite Form der differenzierteren Kritik Schritt begriffen worden, weil sie gerade die Unabhän-
am Gleichheitsbegriff hält nicht mehr fest am ›Feiern gigkeit kulturell geformter so genannter weiblicher Ei-
der Differenz‹, hat jedoch einen anderen Ausgangs- genschaften vom biologisch-anatomischen Geschlecht
punkt. Sie behauptet, dass das alte Schema von beweisen sollte, so wurde zunehmend deutlich, dass
Gleichheit und Differenz nicht ausschließlich in Be- das Festhalten an der biologischen Zweigeschlechtlich-
griffen von Macht und Dominanz analysiert werden keit immer noch mit kulturell codierten Hierarchisie-
könne, da so eine grundsätzliche Kritik an einem rungen, wie denen der normalisierenden Heterosexua-
›männlichen‹ Begriff von Gleichheit nur durch die lität, einherging (Hackett/Haslanger 2006; Butler 1991;
Viktimisierung von Frauen zu leisten sei (dies der Hartsock 1998; Mikkola 2012). Bei der Frage, was Ge-
Vorwurf gegen MacKinnon). Sie behauptet weiterhin, rechtigkeit zwischen den Geschlechtern bedeutet, was
jenes Schema könne gerade durch die rechtliche und die sozial-kulturelle, ökonomische Konstruktion von
94 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

gender beinhaltet, wie soziale und andere Differenzen (Moller Okin 1989). Und drittens sorgt genau dieser
zwischen Frauen anerkannt werden können, ohne zu- angeblich idyllische Bereich für die Unsichtbarkeit
gleich sanktioniert zu werden, müssen folglich diese und Unterrepräsentation von Frauen in allen Formen
heterogenen Formen struktureller Diskriminierung von Öffentlichkeit (Fraser 1992). Diese gegenseitige
mit berücksichtigt werden. Diese Fragen sind auch in Abhängigkeit des Privaten und Öffentlichen und die
den gegenwärtigen Debatten noch umstritten. Einer Weise, wie sie aufeinander verweisen, wurde in der li-
der zentralen Streitpunkte ist dabei die Bedeutung und beralen Tradition weitgehend ausgeblendet und ist
Rolle der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. konstitutiv für soziale Geschlechterungerechtigkeit in
modernen Gesellschaften.
Nun geht jedoch mit dieser fundamentalen ideo-
Privat und öffentlich logiekritischen Argumentation gegen den liberal kon-
struierten Bereich des Privaten häufig zugleich der
Auch deshalb ist die Analyse und Kritik der Unter- rechtlich-konventionelle Aspekt von Privatheit ver-
scheidung zwischen ›privat‹ und ›öffentlich‹ zentral für loren, der sich in der Idee privater Freiheiten zum
eine feministische Theorie der Gerechtigkeit: Die ge- Ausdruck bringt und auf der Notwendigkeit und dem
schlechtsspezifische Arbeitsteilung gehört zu den fun- Sinn einer privaten Sphäre für jede Person einer Ge-
damentalen Hindernissen sozialer Gerechtigkeit. Mitt- sellschaft gleichermaßen insistiert. Deshalb haben
lerweile klassisch geworden ist Carole Patemans Über- auch feministische Theorien versucht, den Begriff des
zeugung: »[T]he dichotomy between the private and Privaten als verbunden mit spezifischen Freiheiten zu
the public is central to almost two centuries of feminist retten, so etwa Autorinnen wie Jean Cohen und Anita
writing and political struggle; it is, ultimately, what the Allen (vgl. Allen 1988; Cohen 2004). Sie begreifen als
feminist movement is about« (Pateman 1989, 118). ein zentrales Desiderat feministischer Politik- und
Im liberalen Verständnis von Privatheit kann man Gerechtigkeitstheorie die Entwicklung eines Kon-
nämlich eine fundamentale Ambivalenz der politi- zepts von Privatheit, das einerseits der Lebenssituati-
schen Semantik feststellen: Ist auf der einen Seite der on und den Bedürfnissen von Frauen gerecht wird,
Begriff des Privaten rechtlich-konventionell begrün- ohne in die alte Falle der ideologischen Zuordnung
det – im Sinne von Bürger- und ökonomischen Frei- von Frauen zum Bereich des angeblich ›natürlich‹ Pri-
heiten –, markiert er auf der anderen Seite einen quasi vaten zu laufen, und andererseits als ›Neubeschrei-
natürlichen Bereich, dem ebenso natürlicherweise die bung der Privatsphäre‹ eine normative Konzeption
Frauen als Gruppe zugeordnet sind (vgl. Moller Okin gleicher privater Freiheitsräume für Frauen und Män-
1989; Rössler 2001). Es ist dieser quasi natürliche Be- ner sichert.
griff von Privatheit, der von Beginn der feministi- Feministische Konzeptionen von Privatheit setzen
schen Kritik an im Mittelpunkt steht, da er mit einem grundsätzlich anders an als über den Rekurs auf eine
grundlegenden, hierarchisierenden Strukturmerkmal wie auch immer spezifizierte ›natürliche‹ Sphäre,
moderner Gesellschaften konstitutiv verknüpft ist, wenn sie nämlich ausgehen vom Begriff der (relatio-
nämlich der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. nalen) Autonomie, so dass Frauen wie Männer in glei-
Zum einen sind mit der Zuordnung der Frauen cher – vergleichbarer – Weise angewiesen sind auf den
zum Bereich des Privaten diese aus dem öffentlichen, Schutz privater Räume und Lebensdimensionen, um
gesellschaftlichen und politischen Leben und – jeden- den Sinn individueller – auch sozialer – Freiheit, das
falls symbolisch – aus dem Bereich der Erwerbsarbeit selbstgewählte Leben mit anderen, zu gewährleisten.
ausgeschlossen und damit zugleich die Reprodukti- Mit einem solchen Ansatz wird die mit dieser Unter-
onsarbeit, die Betreuung von Familie und Kindern als scheidung einhergehende und von ihr sanktionierte
gesellschaftlich nicht relevante, da nicht bezahlte Ar- geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gerade unter-
beit ausgewiesen. Zum zweiten ist es falsch, zu meinen laufen, da von vornherein ein egalitärer, nichtdiskri-
(wie die liberale Theorie), der ›private‹ Bereich der Fa- minierender Ansatz in der Bestimmung des Privaten
milie sei der idyllische Bereich, frei von Repressionen vorgenommen wird und mit ihm gerade nicht eine an-
und gesellschaftlichen Macht- und Dominanzstruktu- geblich biologisch begründete gesellschaftliche Rol-
ren. Falsch ist dies, weil der häusliche Bereich struk- lenverteilung für Frauen und Männer verbunden ist.
turell durch häusliche Gewalt gekennzeichnet ist; weil Generelle Idee dieser feministischen Theorie von Pri-
andererseits auch öffentliche Regelungen permanent vatheit ist offensichtlich, dass gesellschaftliche Diskri-
in die Familie hineingreifen und diese organisieren minierungen und soziale Ungerechtigkeit über den
14 Feministische Gerechtigkeit 95

Weg der Kritik an der traditionellen Unterscheidung Gerechtigkeit, Demokratie und Staats-
zweier Sphären beseitigt werden müssen. bürgerschaft
Dies gilt insbesondere für das Recht auf die ›Privat-
heit des Körpers‹: Denn es ist besonders diese Form Die meisten feministischen Autorinnen sehen einen
von Privatheit, auf die Frauen historisch keinen oder direkten kausalen Zusammenhang zwischen der tra-
jedenfalls keinen gleichwertigen Anspruch hatten wie ditionellen liberalen Unterscheidung zwischen pri-
Männer (dazu besonders Allen 1988). In den USA hat vatem und öffentlichem Bereich einerseits und der
in diesem Kontext auch das Recht auf Schwanger- Marginalisierung von Frauen in der Öffentlichkeit an-
schaftsabbruch eine besondere Bedeutung, da der dererseits (vgl. Phillips 1995; Moller Okin 1989; 1999).
Oberste Gerichtshof 1973 in einem folgenreichen Ur- Es kann nicht einfach Zufall sein, so etwa Seyla Ben-
teil dieses Recht mit dem Recht auf Privatheit begrün- habib, dass Frauen in der liberaldemokratischen poli-
det hat (vgl. Cohen 2004). Nun ist allerdings auch die- tischen Öffentlichkeit so gut wie keine Rolle spielen.
se Form der Begründung des Rechts auf Schwanger- Dies müsse mit der theoretischen Konzeption selbst
schaftsabbruch auf feministische Kritik gestoßen, und zu tun haben und mit den verzerrenden Kategorien,
zwar von zwei Seiten: Prominent unter den Kritike- die liberalen Theorien notwendigerweise innewohnen
rinnen eines solchen Konzepts liberaler Privatheit aus (Benhabib 1995).
›radikaler‹ Perspektive ist Catherine MacKinnon Aus der Perspektive feministischer Gerechtigkeits-
(1989). Für sie zeigt sich im Rekurs auf Privatheits- theorien gesehen, muss folglich Ausgangspunkt fe-
rechte nur weiterhin die Idee, Frauen in einen ideo- ministischer Kritik und Diskussion des Begriffs der
logisch besetzten Bereich des Privaten und damit des Öffentlichkeit und der Demokratie- und Staatsbür-
Nicht- und Vorpolitischen abzudrängen und ihnen gerschaftstheorie zunächst einmal die Tatsache der
wiederum Rechte immer nur als differente und devi- Unterrepräsentation von Frauen sein – in so gut wie
ante ›zuzugestehen‹. Zum anderen kam Kritik aus den allen Bereichen sozialer, ökonomischer, zivilgesell-
Reihen der Maternal-thinking-Theoretikerinnen, ei- schaftlicher und politischer Öffentlichkeit. Auf die
nerseits wegen der für ein Recht auf Privatheit not- Frage danach, warum die Anwesenheit und die (poli-
wendigen Orientierung am Begriff der liberalen Auto- tische) Repräsentation von Frauen in der Öffentlich-
nomie, beispielsweise von Mary Ann Glendon (1987), keit so wichtig ist, geben feministische Theoretikerin-
andererseits von Jean B. Elshtain mit der Verteidigung nen verschiedene Antworten (Mouffe 1992; Moller
der klassischen Privatheit, da in ihr die ›weiblichen‹ Okin 1989; 1999; Phillips 1995; Young 2000).
Tugenden (wie Mütterlichkeit, Fürsorge (care), Ver- Relevant ist zunächst die politische Repräsentation
antwortlichkeit in Beziehungen), die unverzichtbar von Frauen deshalb, weil der Einfluss der politischen
für das Wohlergehen der Gesellschaft als ganzer seien, auf alle anderen Sphären der Gesellschaft so immens
ausgebildet werden (Elshtain 1981; kritisch Dietz ist und deshalb Diskriminierung oder Unterrepräsen-
1998). Ziel einer an weiblichen Beziehungsbedürfnis- tation in dieser Sphäre durchgreift auf alle anderen ge-
sen orientierten Theorie müsse folglich die gesell- sellschaftlichen Sphären und Bereiche (vgl. zum Fol-
schaftliche Aufwertung dieser Tugenden und damit genden Fraser 1992). Damit hängt zusammen, dass
die Gleichwertigkeit männlicher und weiblicher Le- die Interessen von Frauen besonders unterdrückt wer-
benssituationen und Eigenschaften sein. den, wenn sie in der Öffentlichkeit nicht oder nicht
Doch aus der Perspektive feministischer Gerech- ausreichend vielfältig artikuliert werden, da gerade in
tigkeitstheorien kann man gerade jene »Neubeschrei- den Jahren seit der ›zweiten Frauenbewegung‹ deut-
bungen des Privaten« (Cohen) als aussichtsreiche Ver- lich geworden ist, wie zentral und bestimmend öffent-
suche begreifen, die unterschiedlichen gesellschaft- liche Diskurse mit und zwischen Frauen für die Refle-
lichen Diskriminierungen von Frauen, die sich in der xion auf die je eigene Situation und die Artikulation
strukturell ungerechten Rollenzuordnung der ge- von Bedürfnissen und Identitäten sind, für alle Frau-
schlechtsspezifischen Arbeitsteilung manifestieren, en, die von solchen Diskursen betroffen sind (vgl.
normativ zu begreifen und normativ tragfähige Ge- ebd.; Young 2000).
genentwürfe zu entwickeln, die rechtlich sensibel sind Hier lassen sich unterschiedliche feministische Be-
für die differenten Lebenssituationen von Frauen, oh- gründungsstrategien unterscheiden: auf der einen Sei-
ne auf dem Weg einer solchen sozialen und recht- te Iris M. Youngs Idee der Gruppenrepräsentation, auf
lichen Anerkennung die Differenzen als hierarchische der anderen Seite Anne Phillips’ Idee der gleichen de-
festzuschreiben. mokratischen Partizipation (Young 1990; Phillips
96 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

1995 und besonders Teil III und IV in Phillips 1998). Gleichheit) ist, sondern zugleich unabdingbares Mit-
Beide Strategien stützen sich im Prinzip auf ein Mo- tel, um notwendige Transformationen sozialer Ge-
dell deliberativer Demokratie und streben eine größe- rechtigkeit im Sinne der (institutionalisierten) Mög-
re Beteiligung von Frauen in den politischen Organen lichkeit der Artikulation und Interpretation, der Ein-
und Institutionen an, tun dies aber im Rekurs auf un- flussnahme auf Meinungs- und Willensbildung von
terschiedliche Ideen. unterschiedlichen Frauen-Standpunkten aus herbei-
Während die erste auf ein Prinzip der Interessen- zuführen.
oder Standpunktvertretung rekurriert, das sich auf
die Tatsache spezieller Interessen oder Sichtweisen,
auf weibliche Erfahrungen, Bedürfnisse und Wahr- Weitergehende Fragen und Debatten
nehmungen gründet (Young 2000), rekurriert die
zweite auf das Prinzip demokratischer Gleichheit Abschließend soll eine Reihe von Problemstellungen
und Gerechtigkeit und damit auf die Idee, dass glei- skizziert werden, die derzeit als relevant und richtung-
che politische Partizipationsrechte, die für alle Per- weisend begriffen werden müssen. Sie schließen an
sonen einer Gesellschaft in gleicher Weise zu gelten die skizzierten Problemgebiete auf verschiedene Wei-
haben, nur dann realisiert seien, wenn tatsächlich alle se an und können zugleich Hinweise darauf geben,
gesellschaftlich relevanten Gruppen in ungefähr glei- warum die Ungerechtigkeit im Geschlechterverhält-
cher Weise vertreten sind (Phillips 1995). Beide Mo- nis so persistent ist.
delle zielen auf (feministisch motivierte) substanziel- A) In der traditionellen Trennung zwischen dem
le Änderungen von Politiken, und beide Modelle ver- privaten und öffentlichen Bereich bildet die Familie
binden diese Theorie mit einer fundamentalen Kritik die zentrale Schnittstelle. Sie steht immer noch, auch
an der traditionellen liberalen Unterscheidung zwi- als Bezugspunkt für die strukturelle Ungerechtigkeit
schen einem privaten und einem öffentlichen Be- der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, im Zen-
reich. In der feministischen Debatte um den Begriff trum der Debatten um feministische Gerechtigkeit.
der Staatsbürgerschaft spiegeln sich dieselben Be- Wenn man davon ausgeht, dass die familiäre Struktur
gründungsstrategien (Dietz 1998), hier werden je- keine vollständig von anderen gesellschaftlichen
doch auch weitere Probleme multikultureller moder- Strukturen abgetrennte Einheit bildet, sondern sich
ner Gesellschaften diskutiert (vgl. vor allem Fried- jene in diesen ebenso wie diese in jener fortsetzen und
man 2005). widerspiegeln, dann kommt der Problematik, wie
Gerechtigkeitsfragen ergeben sich, das wurde denn diese familiären Strukturen begriffen werden
schon deutlich, auch in der zivilgesellschaftlichen Öf- sollen, zentrale Bedeutung zu. Dabei sind es vor allem
fentlichkeit; auch hier ist die Beteiligung und Abwe- drei Fragen, die sich hier für eine feministische Ge-
senheit von Frauen wiederum in erster Linie als Folge- rechtigkeitstheorie stellen: Wie soll die Verteilung und
problem der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung Bewertung der so genannten ›Reproduktionsarbeiten‹
zu konzeptualisieren. In der Öffentlichkeit werden in und Betreuungsarbeiten vorgenommen werden? Ist
den unterschiedlichen öffentlichen Diskursen – wie die Anwendung des Gerechtigkeitsbegriffs auf fami-
freien Assoziationen, Medien etc. – Themen gesetzt liäre Strukturen nicht unangebracht, da es hier nicht
und Themen ausgehandelt, die Konsequenzen nicht um Gerechtigkeit, sondern doch um Liebe geht? Und
nur für die parlamentarische Willensbildung haben, schließlich: Welcher Stellenwert soll in einer normati-
sondern konstitutiv sind für das Verständnis dessen, ven Konzeption von Familie (und Gesellschaft) der
was allererst als ›politisch‹ im Sinne von ›von all- Differenz der Geschlechter überhaupt noch zukom-
gemeinem Belang‹ begriffen werden kann und soll. men? Auf alle drei Fragen geben feministische Theo-
Öffentlich werden Bedürfnisse artikuliert und inter- rien unterschiedliche Antworten (Fraser 1997; Ander-
pretiert, unterschiedliche Positionen konstituiert und son/Kleingeld 2008; Moller Okin 1989; Gheaus 2012).
diskutiert, Gerechtigkeitsfragen als solche bestimmt Eine wichtige Rolle spielt auch hier die Auseinander-
oder verworfen und damit auch generell Gründe und setzung mit der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit
Folgen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung thema- (Rawls 1979; 1993) und dem Platz der Familie in der
tisch (vgl. Fraser 1992). Dabei muss als gerechtigkeits- Grundstruktur (Moller Okin 1989; kritisch dazu
theoretische Pointe begriffen werden, dass eine gleich- Chambers 2008). Weiterhin kann man hier darauf
berechtigte Teilhabe von Frauen an öffentlichen Dis- verweisen, dass die Debatte um ideale versus nicht-
kursen in jedem Sinn nicht nur Ziel (demokratischer ideale Theorien der Gerechtigkeit auch in der feminis-
14 Feministische Gerechtigkeit 97

tischen Diskussion eine wichtige Rolle spielt (Young Literatur


2000). Allen, Anita: Uneasy Access: Privacy for Women in a Free So-
B) Eine weitere Problematik bildet die Frage nach ciety. Totowa 1988.
Anderson, Joel/Kleingeld, Pauline: Die gerechtigkeitsorien-
den Konsequenzen von Multikulturalismus und der tierte Familie: Jenseits der Spannung zwischen Liebe und
Globalisierung von Gerechtigkeit für eine feministi- Gerechtigkeit. In: Axel Honneth/Beate Rössler (Hg.): Von
sche Gerechtigkeitstheorie; beide Probleme schlie- Person zu Person: Zur Moralität persönlicher Beziehungen.
ßen an die Themen von Demokratie und Staatsbür- Frankfurt a. M. 2008, 283–312.
gerschaft an. Zum einen geht es hier um Debatten, Benhabib, Seyla: Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im
Spannungsfeld von Kommunitarismus, Feminismus und
die Susan Moller Okin angestoßen hat: In welcher
Postmoderne. Frankfurt a. M. 1995.
Weise sind multikulturelle Gesellschaften und Politi- Bock, Gisela/James, Susan (Hg.): Beyond Equality and Diffe-
ken nachteilig für Frauen, in welcher Weise können rence. Citizenship, Feminist Politics, Female Subjectivity.
sie Geschlechtergerechtigkeit ermöglichen? Zu die- London 1992.
sen Debatten gehören auch die Frage der grundsätz- Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt
lichen feministischen Kritik am Liberalismus (Mol- a. M. 1991.
–/Scott, Joan W. (Hg.): Feminists Theorize the Political. New
ler Okin 1999; Benhabib 1995; Nussbaum 1999;
York 1992.
Phillips 2009), die Frage von Quoten und deren mo- Chambers, Clare: The Family as basic institution: a feminist
ralischer und politischer Relevanz (Rössler 1993) analysis of the basic structure as subject. In: Ruth Abbey
und die Auseinandersetzung um ideale vs. nicht- (Hg.): Feminist Interpretations of John Rawls. Pennsylvania
ideale Ansätze in den Gerechtigkeitstheorien (Young 2008, 75–95.
2000). Cohen, Jean L.: Regulating Intimacy. A New Legal Paradigm.
Princeton 2004.
Zum zweiten muss hier auf die feministischen De- Dietz, Mary G.: Context is all: Feminism and theories of citi-
batten über internationale Gerechtigkeit verwiesen zenship. In: Anne Phillips (Hg.): Feminism and Politics.
werden: Hier werden Fragen diskutiert wie die nach Oxford 1998, 378–401.
dem Status von Migrantinnen, den Folgen der Globa- Elshtain, Jean B.: Public Man, Private Woman. Princeton
lisierung für die Arbeitssituation von Frauen, dem 1981.
Fraser, Nancy: Rethinking the public sphere. In: Craig Cal-
Problem von Sexarbeiterinnen und des trafficking in
houn (Hg.): Habermas and the Public Sphere. Cambridge
women (O’Neill 1993; Nussbaum 1999; Olson 2008, MA 1992.
273 ff.; Jaggar 2014). –: Justice Interruptus. New York 1997.
C) Schließlich will ich auf eine Reihe von methodo- Fricker, Miranda: Epistemic Injustice. Power and the Ethics of
logischen Problemstellungen verweisen. Bei jeder die- Knowing. Oxford 2007.
ser Problemstellungen geht es um (teilweise erst in Friedman, Marilyn (Hg.): Women and Citizenship. Oxford
2005.
den letzten Jahren entwickelte) Formen des Auf- Gheaus, Anca: Gender justice. In: Journal of Ethics and So-
deckens, Analysierens, Erkennens und Interpretierens cial Philosophy 60/1 (2012), 1–25.
von Ungerechtigkeiten im Geschlechterverhältnis. So Glendon, Mary Ann: Abortion and Divorce in Western Law.
entwickelt Miranda Fricker mit dem Begriff der epi- Cambridge 1987.
stemischen Ungerechtigkeit ein neues Instrumentari- Hackett, Elizabeth/Haslanger, Sally: Theorizing Feminisms. A
Reader. Oxford 2006.
um, um Ausschlussmechanismen und Diskriminie-
Hartsock, Nancy: The Feminist Standpoint Revisited and Ot-
rungen von Frauen aus einer epistemologischen Per- her Essays. Boulder 1998.
spektive zu analysieren und zu kritisieren (Fricker Jaggar, Alison M. (Hg.): Gender and Global Justice. Cam-
2007). Die neueren Diskussionen, anknüpfend an em- bridge 2014.
pirische Forschungen, über implicit bias und die Rolle –/Young, Iris Marion (Hg.): A Companion to Feminist Phi-
von Schemata und Stereotypisierungen geben neue losophy. Malden MA 1998.
MacKinnon, Catharine: Towards a Feminist Theory of the
Hinweise auf die alltägliche Re-Produktion von Ge- State. Cambridge MA 1989.
schlechterungerechtigkeit (Saul 2013). Und schließ- Mikkola, Mari: Feminist perspectives on sex and gender. In:
lich sind hier die Entwicklungen in der feministischen Edward N. Zalta (Hg.): Stanford Encyclopaedia of Philoso-
Ideologiekritik wichtig, die weniger an der Kritik von phy (Fall 2012 Edition), https://plato.stanford.edu/archi-
individuellen psychologischen Mikromechanismen ves/fall2012/entries/feminism-gender/ (30.4.2015).
Moller Okin, Susan: Justice, Gender, and the Family. New
als an der von tiefgreifenden Machtstrukturen interes-
York 1989.
siert ist und an der Frage, wie Unterdrückung von –: Is Multiculturalism Bad for Women? Princeton 1999.
Frauen begriffen und kritisiert werden muss (Velt- Mouffe, Chantal: Feminism, citizenship and radical demo-
man/Piper 2014).
98 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

cratic politics. In: Judith Butler/Joan W. Scott (Hg.): Fe- 15 Internationale Gerechtigkeit
minists Theorize the Political. New York 1992.
Nagl-Docekal, Herta/Pauer-Studer, Herlinde: Politische Mit Blick auf die über- bzw. zwischenstaatliche Ge-
Theorie: Differenz und Lebensqualität. Frankfurt a. M.
1996. rechtigkeitsdebatte kann zwischen den Begriffen der
Nussbaum, Martha: Sex and Social Justice. Oxford 1999. globalen, internationalen und transnationalen Ge-
O’Neill, Onora: Justice, gender, and international bounda- rechtigkeit differenziert werden (s. Kap. II.16, 17). Ein
ries. In: Martha Nussbaum/Amartya Sen (Hg.): The Quali- wesentliches Unterscheidungskriterium ist dabei die
ty of Life. Oxford 1993. Position souveräner Staaten im Theoriegefüge. Theo-
Olson, Kevin (Hg.): Adding Insult to Injury. Nancy Fraser
rien internationaler Gerechtigkeit sehen eine durch
Debates her Critics. London 2008.
Pateman, Carole: Feminist critiques of the public/private souveräne Staaten geordnete Welt als gegebenen Sach-
dichotomy. In: Dies.: The Disorder of Women. Democracy, verhalt an und klassifizieren Staaten als die dominante
Feminism and Political Theory. Cambridge 1989. Organisationseinheit.
Phillips, Anne: Geschlecht und Demokratie. Hamburg 1995. Der folgende Beitrag nähert sich dem Konzept der
– (Hg.): Feminism and Politics. Oxford 1998. internationalen Gerechtigkeit aus einer primär poli-
–: Multiculturalism without Culture. Princeton 2009.
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
tikwissenschaftlichen Perspektive, d. h. er konzen-
1979. triert sich vorwiegend auf die Zustände und Entwick-
–: Political Liberalism. Cambridge MA 1993. lungsmöglichkeiten in der realen, nicht-idealen Welt.
Robeyns, Ingrid/Brighouse, Harry: Measuring Justice: Pri- Es werden drei Schritte unternommen, um den Ge-
mary Goods and Capabilities. Cambridge 2010. genstand der internationalen Gerechtigkeit zu er-
Rössler, Beate: Quotierung und Gerechtigkeit. Eine moralphi-
schließen: Erstens wird auf Basis einer ideengeschicht-
losophische Kontroverse. Frankfurt a. M. 1993.
–: Feministische Theorien der Politik. In: Klaus v. Beyme/ lichen Einordnung erläutert, warum der Begriff der
Claus Offe (Hg.): Politische Theorien in der Ära der Trans- internationalen Gerechtigkeit bis Ende des Kalten
formation. Opladen 1996, 267–294. Krieges keine prägende Rolle in den einschlägigen po-
–: Der Wert des Privaten. Frankfurt a. M. 2001. litikwissenschaftlichen Debatten spielte. Zweitens
Saul, Jennifer: Implicit bias, stereotype threat and women in wird der Einzug gerechtigkeitsbezogener, insbesonde-
philosophy. In: Fiona Jenkins/Katrina Hutchison (Hg.):
re den kosmopolitischen philosophischen Ansätzen
Women in Philosophy: What Needs to Change? Oxford
2013. nahestehender Ideen in die politikwissenschaftlichen
Veltman, Andrea/Piper, Mark (Hg.): Autonomy, Oppression, und politischen Diskurse nach Ende des Kalten Krie-
and Gender. Oxford 2014. ges besprochen. Hierbei wird anhand von zwei Bei-
Young, Iris Marion: Justice and the Politics of Difference. spielen – der Debatte zu gerechten Kriegen und der in-
Princeton 1990. ternationalen Entwicklungszusammenarbeit als einem
–: Inclusion and Democracy. Oxford 2000.
Beitrag zur Entwicklungsgerechtigkeit – aufgezeigt,
Beate Rössler dass die Aufnahme kosmopolitischer Überlegungen
zwar normativ sinnvoll, aber in einer nicht-idealen
und nach wie vor staatenbasierten Welt nur schwer
implementierbar ist. Drittens schließlich werden aus
dieser Erkenntnis einige Schlussfolgerungen abgelei-
tet und diskutiert.

Internationale Gerechtigkeit bis zum Ende


des Kalten Krieges

Lässt man die wenigen historischen Vordenker wie


Immanuel Kant, der (wenn auch ohne explizite Ver-
wendung des Gerechtigkeitsbegriffs) mit seinem
Werk Zum ewigen Frieden (1795) versuchte, eine Ver-
tragstheorie auf die internationale Ebene zu übertra-
gen, außen vor, wird ersichtlich, dass es sich bei der
Thematik der internationalen Gerechtigkeit in Phi-
losophie und Politikwissenschaft um ein relativ jun-
15 Internationale Gerechtigkeit 99

ges Forschungsfeld handelt. Wählt man Charles Beitz’ tikpunkt auch für die anderen politikwissenschaft-
Political Theory and International Relations von 1979 lichen Großtheorien der IB formuliert werden, spielt
als Ausgangspunkt, kann zudem festgestellt werden, der Aspekt der Gerechtigkeit doch bei keiner eine ent-
dass die systematische Beschäftigung mit dem Feld scheidende Rolle. Stattdessen wird auch bei idealisti-
der internationalen Gerechtigkeit auch innerhalb der schen (bzw. liberalen) und institutionalistischen (bzw.
vielschichtigen Gerechtigkeitsdebatte zu den Teil- neoliberalen) Theorien der IB der Fokus auf die Schaf-
aspekten zählt, denen bisher vergleichsweise geringe fung von Frieden und Sicherheit gerichtet und der Be-
wissenschaftliche und politische Aufmerksamkeit griff der Gerechtigkeit in aller Regel nicht verwendet.
eingeräumt worden ist. Beitz’ Werk ist sowohl in phi- Staaten spielen dabei eine entscheidende Rolle, sei es
losophischer als auch in politikwissenschaftlicher als Garanten eines stabilisierenden Kräftegleichge-
Hinsicht als zentral zu bewerten: In philosophischer wichts (Neorealismus), als Akteure der Gewährleis-
Hinsicht argumentiert er für die Berücksichtigung ei- tung und Ausbreitung von Demokratie und Rechts-
ner über das Individuum hinausgehenden Gerechtig- staatlichkeit (Idealismus) oder als Initiatoren wirt-
keitsdimension in Form einer modifizierten Übertra- schaftlicher und sozialer Interdependenzen in Form
gung der Rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien auf intergouvernementaler oder supranationaler Rege-
die globale Ebene. Somit kann Beitz als wichtiger lungsinstanzen bzw. Regime (Institutionalismus). So-
Vordenker des philosophischen Kosmopolitismus ge- lange diese Ziele nicht erreicht sind, erweisen sich Fra-
sehen werden. In politikwissenschaftlicher Hinsicht gen internationaler Gerechtigkeit in der Theoriedebat-
kritisiert Beitz die generelle Blindheit der Forschung te als von peripherer Relevanz. Daran ändern auch die
gegenüber Gerechtigkeitsüberlegungen, insbesonde- mittlerweile verbreiteten konzeptionellen Abhandlun-
re in den Theorien des (Neo-)Realismus (vgl. hierzu gen zu den Möglichkeiten des ›Regierens jenseits des
etwa Morgenthau 1948/1993; Waltz 1959/2001). Folgt Nationalstaates‹ (vgl. Zürn 1998), die vorliegenden
man diesen (neo-)realistischen Theorien der Politik- Analysen zur ›postnationalen Konstellation‹ (vgl. Ha-
wissenschaft, sind die Internationalen Beziehungen bermas 2001) oder etwa die Überlegungen zur Ver-
(IB) durch rational handelnde Staaten charakterisiert, rechtlichung bzw. Habitualisierung globaler Struktu-
die in einem anarchischen Umfeld nach Macht (Rea- ren und Normen (vgl. Ougaard/Higgott 2002) nichts.
lismus) bzw. nach Sicherheit (Neorealismus) streben. Abseits der einschlägigen Theoriedebatte der IB
Der Vordenker des Neorealismus, Kenneth Waltz, wurde der Gedanke einer internationalen distributi-
fasst das grundlegende Kalkül von Staaten in einer ven Gerechtigkeit allerdings auch schon während des
solchen Welt dahingehend zusammen, dass diese Kalten Krieges aufgegriffen; hier insbesondere im
permanent verteidigungsfähig sein müssten, um Kontext der internationalen Entwicklungszusam-
nicht aufgrund ihrer Schwäche erpresst oder erobert menarbeit. Interessant dabei ist jedoch der Befund,
zu werden (vgl. Waltz 1959/2001, 160). In einer sol- dass Gerechtigkeit nicht als Selbstzweck, sondern als
chen Welt ohne eine übergeordnete ordnungsstiften- notwendiges Mittel zur Schaffung und Absicherung
de Instanz existiert kein Spielraum für Gerechtig- von Frieden betrachtet wurde – der bereits innerhalb
keitsfragen, in ihr dominiert die bereits von Hobbes der Großtheorien der IB etablierte Fokus auf Frieden
zum Ausdruck gebrachte Irrelevanz von Gerechtig- blieb also, wenngleich nun anders veranschlagt, letzt-
keit: »Begriffe von Recht und Unrecht, Gerechtigkeit lich konstant. So entwickelte z. B. der norwegische Po-
und Ungerechtigkeit haben hier keinen Platz. Wo kei- litikwissenschaftler Johan Galtung im Rahmen des
ne öffentliche Macht ist, gibt es kein Gesetz, wo kein Aufkommens so genannter Dependenztheorien das
Gesetz ist, gibt es keine Ungerechtigkeit« (Hobbes Konzept des ›positiven Friedens‹, das zu dieser Zeit
1651/1996, 106). Nach realistischer Lesart wäre ent- zwar eine bereits sichtbare, aber im politikwissen-
sprechend jedweder Bezug auf moralisches oder ge- schaftlichen wie politischen Kontext keinesfalls domi-
rechtes Handeln staatlicher Akteure überflüssig. Soll- nante Rolle spielte. Durch die Bekämpfung ›struktu-
te dennoch gerechtes oder moralisches Handeln von reller Gewalt‹ könne, so Galtung, ein dauerhafter Frie-
Staaten erkennbar sein, so diene dies, wie von Mor- denszustand erreicht werden, entsprechend müssten
genthau postuliert, als bloße Verschleierung ihres ei- »die Bedingungen der strukturellen Gewalt zuweilen
gentlichen Strebens nach Macht (vgl. Morgenthau als soziale Ungleichheit bezeichnet« werden (Galtung
1948/1993, 219). 1975, 13). Bei Aufrechterhaltung der zentralen Rolle
Auch wenn sich Beitz in seiner Kritik vorwiegend des Nationalstaates geht Galtung davon aus, dass eine
auf den (Neo-)Realismus bezieht, kann derselbe Kri- distributive internationale Gerechtigkeit das Errei-
100 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

chen eines Friedenszustandes erleichtern und dieser Debatten in der Politik, die sich zunächst mit Defini-
Sachverhalt dann wiederum positiv auf Gerechtig- tionen von Gerechtigkeit sowie den Möglichkeiten
keitsaspekte rückwirken würde. Er bemerkt: »Die po- und Grenzen der Implementierung auf internationa-
sitiven Aspekte von ›Frieden‹ würden uns veranlas- ler Ebene befassen. Bereits an dieser Stelle ist es wich-
sen, uns [...] um die Anwesenheit einer gewaltlosen tig darauf hinzuweisen, dass beide Punkte bis zum
Form der egalitären, nicht-ausbeuterischen und heutigen Tage nicht abschließend geklärt wurden und
nicht-unterdrückerischen Kooperationen zwischen somit nach wie vor Bestandteil des wissenschaftlichen
[...] Nationen« zu bemühen (ebd., 48). Sollten diese wie politischen Diskurses sind. Die Rede ist erstens
Bemühungen scheitern, fände laut Galtung jedoch von den so genannten gerechten Kriegen, d. h. dem
nicht weniger als »der ›dritte Weltkrieg‹ zwischen Fragekomplex ob, unter welchen Bedingungen und in
Reich und Arm« statt (ebd., 53). Diese Gedankengän- welcher Form unter der Prämisse von Gerechtigkeit
ge einer Friedenssicherung durch distributive Gerech- von außen in innerstaatliche Konflikte militärisch ein-
tigkeit sollten im Zuge der Weiterentwicklung politik- gegriffen werden darf. Darüber hinaus sind zweitens
wissenschaftlicher Theorien nach Ende des Kalten Fragen von Bedeutung, ob bzw. wie die erheblichen
Krieges aufgegriffen und das lange vernachlässigte Entwicklungsunterschiede zwischen verschiedenen
Konzept der Gerechtigkeit zumindest in Ansätzen auf Staaten und Weltregionen überwunden werden kön-
die internationale Agenda gehoben werden. nen. Beiden Debatten ist hierbei auch heutzutage eine
gewisse Ironie gemein: Während im Zeitalter des Kal-
ten Krieges Fragen nach internationaler Gerechtigkeit
Internationale Gerechtigkeit nach Ende zugunsten von Fragen nach Sicherheit und Frieden
des Kalten Krieges vernachlässigt wurden, wird seit Ende des Kalten
Krieges die Schaffung von internationaler Gerechtig-
Mit dem Niedergang der Sowjetunion und dem damit keit, ganz im Sinne der frühen Überlegungen Johan
einhergehenden Ende der Blockkonfrontation ver- Galtungs, als ein utilitaristisches Mittel zur Errei-
änderte sich die internationale Arena, was in zweierlei chung von Frieden betrachtet (vgl. UNDP 1994, 22).
Hinsicht auch Auswirkungen auf die Debatte über in- Bemerkenswert ist dabei, dass der Begriff ›internatio-
ternationale Gerechtigkeit hatte: Zum einen eröffnete nale Gerechtigkeit‹ als solcher nach wie vor kaum Ver-
die so genannte Friedensdividende, die sich aus dem wendung findet, wohl aber etwa ›social injustice‹ als
Wegfall des Spannungsverhältnisses zwischen Ost Sicherheitsbedrohung definiert wird (ebd., 40). Im
und West ergab, neue ideelle, konzeptionelle und ma- Folgenden werden die beiden die Thematik der inter-
terielle Spielräume für politikwissenschaftliche und nationalen Gerechtigkeit bis heute prägenden politik-
politische Themen jenseits von Krieg und Frieden – wissenschaftlichen und politischen Debatten – gerech-
und damit auch für normative Fragen, die in den te Kriege und die damit verbundene Fragestellung
Theorien der IB und in außenpolitischen Entschei- nach humanitären Interventionen sowie Aspekte der
dungsprozessen bis zu diesem Zeitpunkt nur eine un- internationalen Entwicklungszusammenarbeit – pro-
tergeordnete Rolle gespielt hatten. Zum anderen er- blemorientiert skizziert.
hielt die Hoffnung auf ein Zeitalter des dauerhaften
Friedens dahingehend einen Dämpfer, dass zwar die
Anzahl zwischenstaatlicher Kriege nach Ende der Internationale Gerechtigkeit durch
Blockkonfrontation tatsächlich abgenommen hat, humanitäre Interventionen: Probleme
sich jedoch parallel die Anzahl innerstaatlicher Kon- des gerechten Krieges
flikte steigerte (vgl. UCDP). Beide Sachverhalte haben
eine stärkere Berücksichtigung von Fragen zur inter- Auch wenn man die Debatte über gerechte Kriege (vgl.
nationalen Gerechtigkeit begünstigt; während ersterer dazu etwa Walzer 1977/2006; s. Kap. V.64) historisch
dafür notwendige Kapazitäten freisetzte, unterstrich weit zurückverfolgen kann, sollen hier vor allem ak-
letzterer durch zunehmende und durch mediale Prä- tuelle Bezugspunkte unter besonderer Beachtung der
senz immer sichtbarer werdende Menschenrechtsver- Richtlinien der Vereinten Nationen (VN) berücksich-
letzungen, Armutsprobleme usw. eine akute Hand- tigt werden. Hierbei steht wiederum die Frage im Zen-
lungsnotwendigkeit. In Kombination aus beiden Ar- trum, inwiefern Kriegsverbrechen und Verletzungen
gumenten entwickelten sich hinsichtlich der Thema- der Human Security (vgl. dazu etwa Schuck 2011) in
tik internationaler Gerechtigkeit zwei übergeordnete einem innerstaatlichen Konflikt ein Eingreifen von au-
15 Internationale Gerechtigkeit 101

ßen rechtfertigen, wie also aus einer Gerechtigkeits- an die Generalversammlung 1999 zur Schaffung von
perspektive das Verhältnis zwischen individueller und Richtlinien über humanitäre Interventionen auf (vgl.
staatlicher Souveränität gewichtet werden soll. Gerade Annan 1999, SG/SM/7136). Dieser Initiative folgend,
für die Bewertung des jus ad bellum (des Rechts zur setzte der Staat Kanada (und nicht etwa ein suprana-
Kriegsführung) wäre ein kosmopolitischer Ansatz in tionales Gremium) im Jahr 2000 die so genannte In-
Gestalt eines globalen, gleichwohl nicht staatsbezoge- ternational Commission on Intervention and State
nen Zugangs wünschenswert. Um nicht in das vom Sovereignty (ICISS) ein, die Vorschläge zur Implemen-
Neorealismus beschriebene staatsfokussierte Sicher- tierung verbindlicher Kriterien für humanitäre Inter-
heitsdilemma zurückzufallen, wären überstaatliche ventionen entwickeln sollte. Der 2001 veröffentlichte
Institutionen und vor allem Regime notwendig, die Abschlussbericht der ICISS unter dem Titel The Re-
universell anerkannte Regeln verabschieden und um- sponsibility to Protect sollte fortan die Grundlage für
setzen. Definiert man jedoch die 1945 unterzeichnete die Debatte innerhalb der VN darstellen. Die sechs
Charta der Vereinten Nationen und damit das gegen- von der Kommission vorgeschlagenen Kriterien –
wärtig einschlägigste Regelwerk des kodifizierten Völ- right authority, just cause, right intention, last resort,
kerrechts als Ausgangspunkt, lässt sich feststellen, dass proportional means und reasonable prospects (vgl.
sich in ihr das Konzept einer von Staaten dominierten ICISS 2001, 32) – sind hierbei keineswegs als neu zu
Welt widerspiegelt: Die Mitglieder der VN sind Staaten bewerten, sondern konnten aus der langen Tradition
(Art. 3/4), in den Gremien treffen Staaten die Be- der Formulierung von Kriterien für das jus ad bellum
schlüsse (Art. 18/27) und diese werden wiederum von sowie das jus in bello (das Recht während der Kriegs-
den Mitgliedstaaten umgesetzt (z. B. Art. 42 bei Inter- führung) übernommen werden.
ventionen). Auch wenn in Artikel 1 der Charta von Für die Betrachtung der Implementierung in der
den »Grundsätzen der Gerechtigkeit« als Mittel der realen Welt ist jedoch der Abschlussbericht des Welt-
friedlichen Konfliktbeilegung gesprochen wird, wer- gipfels der VN von 2005, in dem das Konzept der Re-
den diese nicht näher definiert. Explizit verboten sind sponsibility to Protect (R2P) in das offizielle Regelwerk
dagegen Eingriffe in die inneren Angelegenheiten ei- der VN aufgenommen wurde, wesentlich entschei-
nes anderen Staates (Art. 2/1 und 2/7), wodurch sämt- dender als der Bericht der Expertenkommission. Zwei
liche aus den kosmopolitischen Strömungen hergelei- Beobachtungen sind für die Bewertung der Imple-
teten Grundsätze im Rahmen der Charta der Verein- mentierung wichtig: Zum einen hat der Abschluss-
ten Nationen nur durch das Wohlwollen der Mitglied- bericht den Status einer Resolution der VN-General-
staaten – die Betonung liegt auch hier einmal mehr auf versammlung, d. h. er ist de jure nicht bindend. Somit
Staaten – implementiert werden können. Die einzige kann zwar durchaus argumentiert werden, dass das
rechtliche Ausnahme des Nichteinmischungsgebots Konzept von einem Großteil der Staaten der Erde als
besteht im Fall einer »Bedrohung oder ein[es] Bruch[s] normativer Zugewinn betrachtet wird und damit de
des Friedens« (Art. 39). Ein solcher Fall ist jedoch in facto an Akzeptanz gewonnen hat, doch bleibt es letzt-
der Charta nicht klar nach Gerechtigkeits- oder lich nicht mehr als eine unverbindliche Erklärung.
Rechtsgrundsätzen definiert, sondern wird vielmehr Zum anderen blieben nur zwei der sechs Kriterien in
bei Bedarf durch einen Mehrheitsentscheid der Mit- angepasster Form erhalten, nämlich right authority in
glieder des Sicherheitsrates festgelegt (Art. 39). Aus Form der Notwendigkeit des Mandats des VN-Sicher-
dieser Konstruktion erwachsen ein konzeptionelles heitsrats sowie just cause in Form von vier definierten
und ein machtpolitisches Problem internationaler Ge- Sachverhalten, die ein Eingreifen von außen erforder-
rechtigkeit. lich machen; im Einzelnen: genocide, war crimes, eth-
Aus konzeptioneller Sicht stellt sich die Gerechtig- nic cleansing und crimes against humanity (UN A/
keitsfrage, nach welchen Kriterien überhaupt in Kon- RES/60/1, para. 138). Andere Kriterien, die nicht nä-
flikte eingegriffen werden darf und wer berechtigt ist, her definiert werden, sollen dagegen »on a case-by-ca-
diese festzulegen. Nachdem die Interventionspraxis se basis« (ebd., para. 139) in die Bewertung einfließen.
der 1990er Jahre auf einer reinen Ad-hoc-Basis erfolgt Für die Praxis bedeutet das, dass die Gefahr von will-
war und sowohl gescheiterte (Somalia) als auch trotz kürlichen Entscheidungen selbst in einem vergleichs-
offensichtlicher Notwendigkeit nicht erfolgte (Ruan- weise stark regulierten Kontext bestehen bleibt, dass
da) und sogar formal völkerrechtswidrige Interven- also, ganz im Sinne des realistischen Verständnisses
tionen (Kosovo) beinhaltet hatte, rief der damalige Morgenthaus, etwa machtmotivierte Handlungen un-
VN-Generalsekretär Kofi Annan in seiner Ansprache ter dem Deckmantel von Moral und Gerechtigkeit im
102 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

Einklang mit dem Regelwerk der VN eine prozedurale wie vor erfolgen, wie z. B. der Angriff der US-geführ-
Legitimation erfahren können. ten Coalition of the Willing auf den Irak 2003 verdeut-
Das machtpolitische Gerechtigkeitsproblem ist da- licht hat. Trotz erster Ansätze zur Verrechtlichung der
mit eng verbunden und lässt sich durch folgende Di- internationalen Beziehungen und der Entwicklung
lemmasituation illustrieren: Wenn einerseits die fünf kosmopolitischer Konzepte zur Konfliktbearbeitung
Vetomächte (VR China, Frankreich, Russland, UK, erinnert der Ist-Zustand der nicht-idealen Welt nach
USA) VN-Sicherheitsratsbeschlüsse zur Bedrohung wie vor an die Warnung von Thomas Hobbes, dass oh-
des Weltfriedens im Sinne des Artikels 39 aus eigenen ne Sanktionsmöglichkeiten Abkommen zum Schutz
machtpolitischen Interessen blockieren können, der Menschen von begrenztem Wert sind: »Und Ver-
zeichnen sich im Umkehrschluss Konflikte, bei denen träge ohne das Schwert sind nur Worte und haben
ein Konsens der Vetomächte besteht, häufig dadurch überhaupt keine Kraft, einen Menschen zu sichern«
aus, dass keine Vetomacht herausgehobene macht- (Hobbes 1651/1996, 141).
politische Interessen in diesem Konflikt verfolgt. In
solchen Fällen sind die betreffenden Vetomächte in
der Regel aber auch nicht bereit, in den Konflikt zu in- Internationale Gerechtigkeit durch Umver-
tervenieren, so dass eine erfolgversprechende Inter- teilung: Probleme der internationalen Ent-
vention aufgrund mangelnder Ressourcen erschwert wicklungszusammenarbeit am Beispiel der
wird. Herfried Münkler fasst dieses Dilemma für die Millennium Development Goals
reale Welt treffend zusammen: Es »stehen sich zu Be-
ginn des 21. Jahrhunderts eine schnell wachsende Das zweite hier betrachtete Fallbeispiel umfasst die
Zahl von Krisengebieten und eine eng begrenzte Men- Thematik der internationalen Entwicklungszusam-
ge interventionsfähiger, aufgrund ihrer spezifischen menarbeit mit besonderer Berücksichtigung der Mil-
Interessenlage sowie ihrer politischen Verfassung je- lennium Development Goals (MDG) der VN, stellte
doch nur selten interventionsbereiter Mächte gegen- dieses Konzept doch im weiteren Sinn einen Versuch
über« (Münkler 2007, 232; kursiv im Original). Inso- der Implementierung distributiver Gerechtigkeit dar.
fern lässt sich also die Frage nach gerechten Kriegen Nach dem offensichtlichen Scheitern sowohl von
und humanitären Interventionen in der nicht-idealen staatszentrierten Modernisierungs- als auch von De-
Welt wie folgt zusammenfassen: Einerseits besteht ei- pendenz- bzw. Abkoppelungsansätzen begann sich in
ne Debatte, wann eine militärische Intervention legi- den 1990er Jahren ein neuer, insbesondere auf VN-
tim sein kann (mit der Responsibility to Protect als prä- Ebene diskutierter Ansatz zu etablieren: die Idee des
gendem Konzept), doch würde die Festlegung detail- Human Development, die zu wesentlichen Teilen eine
lierter Kriterien, die nicht willkürlichen politischen Operationalisierung der philosophischen Konzepte
Mehrheitsstrukturen unterliegen, in letzter Kon- Amartya Sens darstellt (vgl. u. a. Sen 1999). Human
sequenz einen Weltstaat erfordern, der in der Lage wä- Development wird hierbei zunächst allgemein durch
re, verbindliche Regeln weltweit zu definieren und das United Nations Development Programme (UNDP)
auch durchzusetzen. Eine derartige Institutionen- als eine Erweiterung der Möglichkeiten der Men-
struktur ist derzeit und wohl auch in absehbarer Zu- schen, ihr Leben selbstbestimmt zu leben, definiert
kunft nicht gegeben, vielmehr verbleibt die internatio- (vgl. UNDP 1990, 10) und weist somit mehrere inhalt-
nale Konstellation nach wie vor klar staatszentriert. liche Parallelen zum bereits angesprochenen Konzept
Eine Konsequenz dessen ist, dass potenziell interven- der Human Security auf. Insofern hebt dieser Entwick-
tionsfähige Staaten entweder aus Machtinteressen – lungsansatz insbesondere die Bekämpfung extremer
d. h. unabhängig von Fragen internationaler Gerech- Armut (s. Kap. V.57), die Schaffung von Bildungs-
tigkeit – oder, wenn das nicht der Fall ist, nur halbher- chancen (s. Kap. V.59) sowie einer gesundheitlichen
zig bzw. gar nicht intervenieren. Daraus folgt wiede- Grundversorgung (s. Kap. V.62) als Schwerpunkte
rum, dass externe Eingriffe zur Verhinderung von hervor, um rein ökonomische Kriterien der Entwick-
Menschenrechtsverletzungen häufig entweder schei- lungsförderung (wie etwa die Steigerung des Brutto-
tern oder trotz festgestellter Notwendigkeit erst gar inlandprodukts, BIP) zu überwinden. In der Praxis
nicht durchgeführt werden. Völkerrechtswidrige In- der Entwicklungspolitik der VN wurde dieser Ansatz
terventionen aus den von realistischen Theorien be- weiter operationalisiert und führte schließlich im Jahr
tonten Machtinteressen können dagegen mangels su- 2000 zur Annahme der MDG durch die Generalver-
pranationaler Sanktionierungsmöglichkeiten nach sammlung (A/RES/55/2, para. 19). Das Konzept be-
15 Internationale Gerechtigkeit 103

stand darin, konkrete, messbare Richtwerte zu de- standen ist. Ein Beispiel hierfür ist das formal erreich-
finieren, die bis zum Jahr 2015 erreicht werden sollten. te Ziel, die absolute Armut (d. h. die Anzahl der Per-
Diese Kriterien wiederum rückten explizit die indivi- sonen, die von weniger als 1, später 1,25 US-Dollar
duelle – und nicht, wie bisher üblich, die staatliche – pro Tag leben) zu halbieren: Zwar ging die Zahl dieser
Entwicklung in den Mittelpunkt: So wurde z. B. be- Personen tatsächlich um über eine Milliarde weltweit
absichtigt, die Zahl der Menschen, die von weniger als zurück, doch handelt es sich bei ca. zwei Drittel davon
1 US-Dollar pro Tag leben, zu halbieren (ebd.), und um chinesische Bürgerinnen und Bürger, die vom na-
nicht etwa, das BIP eines Staates um einen bestimm- tionalen Wirtschaftswachstum Chinas profitierten
ten Prozentsatz zu steigern, wie es klassische moder- (vgl. ebd., 14). Ob jedoch auf Basis der Ergebnisse na-
nisierungstheoretische Ansätze veranschlagten. Inso- tionaler Politiken noch die Verwendung des Begriffs
fern stellen die Ziele auf konzeptioneller Ebene durch- einer explizit internationalen Gerechtigkeit angemes-
aus eine Initiative dar, einen kosmopolitischen Ansatz sen ist, darf mit guten Gründen bezweifelt werden. In-
in der realen Welt zu implementieren. sofern kann zwar ein sichtbarer Fortschritt im Bereich
Beim Versuch der Implementierung der MDG in des Human Development nach MDG-Kriterien attes-
einer durch Staaten dominierten Welt sind jedoch tiert werden, doch zeigen sich nach wie vor große Un-
mehrere Probleme aufgetreten, von denen für die hier terschiede zwischen einzelnen Staaten und Weltregio-
zu besprechende Thematik drei von besonderer Be- nen. Hierbei bleibt mit Blick auf die Thematik der in-
deutung sind: Erstens handelt es sich bei der Fest- ternationalen Gerechtigkeit vor allem die Frage beste-
legung der MDG, ähnlich wie bei der Einführung der hen, wie derartige Programme in Zukunft organisiert
Responsibility to Protect, um eine Resolution der Ge- werden sollen. Wahrscheinlich wird sich auch hier
neralversammlung der VN, d. h. sie ist de jure nicht wieder eine Gemengelage aus einer formal nicht-ver-
bindend. Zweitens legt die Millennium Declaration nur bindlichen Zielvorgabe durch die VN, einer Imple-
die zu erreichenden Ziele fest, nicht aber, wie diese mentierung durch Nationalstaaten und fehlenden
Ziele erreicht werden sollen, d. h. es werden keine Ver- Sanktionsmöglichkeiten für nicht eingehaltene Zusa-
antwortlichkeiten definiert, wer für die Implementie- gen ergeben. Aus diesem Grund bleiben auch mit
rung der Ziele zuständig ist. Es bleibt unklar, ob dies in Blick auf die Thematik der internationalen Entwick-
der Verantwortung internationaler Organisationen lungszusammenarbeit die Fragen bestehen, ob erstens
wie des UNDP, der so genannten Industrieländer oder kosmopolitische Konzepte der Gerechtigkeit über-
gar der Entwicklungsländer selbst liegt. Drittens haupt in einer durch Staaten dominierten Welt an-
schließlich ergibt sich ein Implementierungsproblem wendbar sind und wie ausgeprägt zweitens der politi-
aus den nicht vorhandenen Möglichkeiten einer su- sche Wille von Staaten ist, Konzepte der internationa-
pranationalen Sanktionierung für den Fall, dass Zusa- len Gerechtigkeit nachhaltig zu implementieren.
gen nicht eingehalten werden. So ist etwa auffällig,
dass die von den Industriestaaten beschlossene Ver-
einbarung, mindestens 0,7 Prozent ihres BIP in Maß- Fazit
nahmen der Entwicklungszusammenarbeit zu inves-
tieren, von vielen Staaten nicht eingehalten wird. Kon- Auch wenn die Ergebnisse der beiden Fallbeispiele im
sequenzen entstehen für diese Industrieländer daraus Hinblick auf die Implementierung von internationaler
freilich nicht. Dieser auch mit der oben beschriebenen Gerechtigkeit in der nicht-idealen Welt als ernüch-
Problematik humanitärer Interventionen korrespon- ternd zu bezeichnen sind, lässt sich dennoch ein posi-
dierende Befund unterstreicht einmal mehr, wie we- tiver Aspekt der Debatte hervorheben: Die eher phi-
nig Staaten Sanktionen einer übergeordneten Organi- losophisch als politikwissenschaftlich geprägte Debat-
sationseinheit fürchten müssen, wenn sie Beschlüsse te über internationale Gerechtigkeit ist zumindest in
nicht umsetzen oder gar Abkommen verletzen. Vor ihren Anfängen in der politischen Welt angekommen,
diesem Hintergrund fällt auch die Bewertung der Er- auch wenn der Gerechtigkeitsbegriff selbst nach wie
gebnisse des MDG-Programms schwer. Zwar konn- vor kaum in der internationalen Politik verwendet
ten, wenn auch regional sehr unterschiedlich, in meh- wird. Aus politikwissenschaftlicher Sicht lässt sich ge-
reren Bereichen Fortschritte vermeldet werden (vgl. genwärtig (und wohl auch in den kommenden Jahren)
UN 2015, 9). Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern feststellen, dass der Versuch, länderübergreifende Ge-
dieses Ergebnis eher durch nationale Politikentschei- rechtigkeitskonzepte in einer von Staaten dominierten
dungen als durch internationale Anstrengungen ent- Welt zu implementieren, nur unter größten Schwierig-
104 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

keiten möglich ist – nämlich dann, wenn die Staaten Höffe, Otfried: Für und Wider eine Weltrepublik. In: Chris-
der Welt bereit sind, signifikante Teile ihrer nationalen toph Broszies/Henning Hahn (Hg.): Globale Gerechtigkeit.
Souveränität an eine supranationale Ebene zu trans- Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und
Kosmopolitismus. Berlin 22013, 242–262.
ferieren und dieser dann auch Sanktionsrechte und vor ICISS (International Commission on Intervention and State
allem -fähigkeiten einzuräumen. Die Schwierigkeiten Sovereignty): The Responsibility to Protect. Report of the In-
einer solchen Entwicklung lassen sich in der in einigen ternational Commission on Intervention and State Sove-
Bereichen bereits supranational organisierten Euro- reignty. Ottawa 2001.
päischen Union (EU) erkennen. Dies lässt erahnen, McGrew, Anthony: From Global Governance to Good Go-
vernance: Theories and Prospects of Democratizing the
wie wenig realistisch gegenwärtig ein Transfer solcher
Global Polity. In: Morton Ougaard/Richard Higgott (Hg.):
Steuerungsmechanismen auf eine globale Ebene ist. Towards a Global Polity. New York 2002, 207–227.
Eine Auseinandersetzung mit Konzepten interna- Morgenthau, Hans J.: Politics among Nations. The Struggle for
tionaler Gerechtigkeit muss dennoch als Grundlage Power and Peace, Brief Edition [1948]. Hg. von Kenneth
und Voraussetzung dafür verstanden werden, dass W. Thompson. Boston 1993.
sukzessive Implementierungen in der politischen Pra- Münkler, Herfried: Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg
32007.
xis überhaupt erfolgen können. Insofern kann vor die- Ougaard, Morton/Higgot, Richard (Hg.): Towards a Global
sem Hintergrund auch festgehalten werden, dass die Polity. New York 2002.
Beschäftigung mit dem noch relativ jungen Thema in- Schuck, Christoph (Hg.): Security in a Changing Global En-
ternationaler Gerechtigkeit notwendiger denn je ist vironment. Challenging the Human Security Approach. Ba-
und der normativ unbefriedigende empirische Be- den-Baden 2011.
Sen, Amartya: Development as Freedom. Oxford 1999.
fund nicht Hindernis, sondern vielmehr Motivation
UCDP (Uppsala Conflict Data Program): Armed Conflict by
sein sollte, sich noch eingehender mit diesen Fragen Type 1946–2013.
zu beschäftigen (vgl. McGrew 2002, 216). Die zentrale United Nations Millennium Declaration 2000 (= UN Ge-
Überlegung, die sich in diesem Zusammenhang er- neral Assembly Resolution A/RES/55/2).
gibt, besteht darin, welcher Zweig der Gerechtigkeits- UN (United Nations): Millennium Development Goals Re-
theorien in Zukunft fokussiert werden soll: Ist es sinn- port 2015. New York 2015.
UNDP (United Nations Development Programme): Human
voll, wie Otfried Höffe fordert, das kosmopolitische
Development Report 1990. New York 1990.
Konzept der Gerechtigkeit zu einer konkreten Utopie –: Human Development Report 1994. New York 1994.
auszuarbeiten? Höffe strebt hier »eine Utopie des Waltz, Kenneth N.: Man, the State and War. A Theoretical
Noch-Nicht« an, »ein politisches Ideal, zu dessen Ver- Analysis [1959]. New York 2001.
wirklichung wir schon unterwegs sind« (Höffe 2013, Walzer, Michael: Just and Unjust Wars. A Moral Argument
262). Oder aber soll die von Staaten dominierte Welt with Historical Illustrations [1977]. New York 42006.
Zürn, Michael: Regieren jenseits des Nationalstaates. Frank-
auch in der Theoriebildung als gegebener Parameter furt a. M. 1998.
angesehen werden, was mit bestehenden kosmopoliti-
schen Ansätzen jedoch nur schwer zu vereinen wäre? Steve Schlegel / Christoph Schuck
In jedem Fall scheint es erforderlich, dass bei der The-
matik der internationalen Gerechtigkeit stets auch
Fragen nach ihrer Implementierbarkeit berücksichtigt
werden.

Literatur
Annan, Kofi: Address of the Secretary-General to the General
Assembly (= SG/SM/7136) 1999.
Beitz, Charles: Political Theory and International Relations.
Princeton 1979.
Charta der Vereinten Nationen. Hg. von der Deutschen Ge-
sellschaft für die Vereinten Nationen e. V. Berlin.
Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens-
und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg 1975.
Habermas, Jürgen: The Postnational Constellation. Political
Essays. Cambridge MA 2001.
Hobbes, Thomas: Leviathan. Hg. von Hermann Klenner.
Hamburg 1996 (engl. 1651).
16 Transnationale Gerechtigkeit 105

16 Transnationale Gerechtigkeit polites) zu sein. Als Verantwortungskonzeption inte-


ressiert sich der Kosmopolitismus für Verpflichtun-
Globale Probleme wie die anhaltende weltweite Ar- gen, die nicht nur gegenüber Verwandten, Freunden
mut, Migration und die schädlichen Folgen des Klima- und Nachbarn gelten, sondern auch gegenüber jenen,
wandels haben dazu beigetragen, dass einige philoso- die uns fremd sind. Und in der Theorie internationaler
phische Konzeptionen wie Gleichheit, Freiheit, aber Beziehungen schließlich wird ›Kosmopolitismus‹ häu-
auch Gerechtigkeit nicht mehr allein als nationalstaat- fig mit der Konzeption eines Weltstaates oder auch
liches, sondern als weltweites Problem thematisiert globaler Bürgerschaft gleichgesetzt (Brock/Brighouse
werden. Ein »methodologischer Nationalismus« 2005, 1–10). Die ›transnationale Gerechtigkeit‹ ist
(Beck/Grande 2010, 187) ist auf einigen Gebieten der ebenso wie die ›globale Gerechtigkeit‹ eine Spielart des
politischen Philosophie einem ›methodologischen Kosmopolitismus, die sich anhand einiger Unterschei-
Kosmopolitismus‹ bzw. ›methodologischen Trans- dungen charakterisieren lässt.
nationalismus‹ gewichen, bei dem beispielsweise Fra- Nicht-relationale Ansätze transnationaler Gerech-
gen der Gerechtigkeit nicht mehr von vornherein aus tigkeit schlagen völlig unabhängig von existierenden
einer Perspektive staatlich organisierter politischer Beziehungen zwischen Menschen Prinzipien einer
Gemeinschaften (von Staatsbürgern), sondern aus globalen Ethik vor. Relationale Gerechtigkeitsansätze
Sicht von Individuen (bzw. Weltbürgern) unabhängig hingegen verteidigen grundlegende Gerechtigkeits-
von ihrer staatlichen Zugehörigkeit analysiert und be- prinzipien auf Basis einer zwischen den Beteiligten
wertet werden. Gerechtigkeit wird daher seit einiger bestehenden Beziehung. Sie können dann zum nor-
Zeit mit Adjektiven wie ›international‹, ›kosmopoli- mativen Standard einer gerechten internationalen
tisch‹ und ›transnational‹ bzw. ›global‹ beschrieben. Ordnung werden, der alle Menschen in der einen oder
Trotz einiger Gemeinsamkeiten gibt es aber durchaus anderen Weise unterworfen sind. Auf einer anderen
Unterschiede zwischen diesen vier Konzeptionen der Ebene liegt die Unterscheidung zwischen Ansätzen
Gerechtigkeit. Die größte Verschiedenheit besteht zwi- transnationaler distributiver Gerechtigkeit, die da-
schen ›internationalen‹ und den anderen drei genann- nach fragen, wie Vorteile und Lasten weltweit gerecht
ten Ansätzen. Während Konzeptionen transnationaler verteilt werden können, und Positionen, die die ›klas-
und globaler Gerechtigkeit (s. Kap. II.17) davon aus- sischen‹ Verteilungsansätze kritisieren und ihnen an-
gehen, dass staatliche Bedingungen für eine normative thropologisch begründete Fähigkeiten des Menschen
Bewertung gesellschaftlicher Verhältnisse keine Rolle als Basis für eine Güterverteilung gegenüberstellen.
spielen bzw. spielen sollten, gehen internationale Posi- Eine fünfte Position schließlich versteht transnationa-
tionen von einer staatlich geordneten realen Welt aus, le Gerechtigkeit als politische Gerechtigkeit, die,
die durch Globalisierungsprozesse geprägt ist. Wäh- durch Moral gespeist, im politischen Prozess und in
rend ›internationale‹ Gerechtigkeitstheorien von ei- Auseinandersetzung mit bestehenden Machtkonstel-
nem normativen Vorrang jener Beziehungen spre- lationen erst begründet und juridifiziert werden kann.
chen, die in einem institutionellen (meist staatlichen) Für die Zukunft scheint diese Position aussichtsreich,
Rahmen stattfinden, berufen sich ›transnationale‹ und da in ihr transnationale Gerechtigkeit durch den poli-
›globale‹ Gerechtigkeitstheorien auf eine Kontinuität tischen Prozess vermittelt ist und so auch weitere Pro-
zwischen inner- und überstaatlichen normativen Ge- blembereiche wie Fragen der Klimagerechtigkeit, der
rechtigkeitsbedingungen. Aus der einen Sicht sollen Verteilung natürlicher Ressourcen und des Nord-Süd-
Grundsätze internationaler Gerechtigkeit die Bezie- Konfliktes mit aufgenommen werden können.
hungen zwischen Staaten auf faire Weise regeln, aus
der anderen soll das Verhältnis zwischen allen Men-
schen weltweit gerecht geregelt werden (Forst 2002, Nicht-relationale Gerechtigkeit
215). ›Kosmopolitismus‹ hingegen ist der ›Dach-
begriff‹ aller Ansätze, die eine normative Sicht auch Die Unterscheidung zwischen nicht-relationaler und
jenseits nationalstaatlicher Grenzen in Betracht zie- relationaler Gerechtigkeit geht auf Andrea Sangiovan-
hen. Das Bedeutungsspektrum ist dabei sehr breit. Als ni zurück (2007). Demnach schlagen relationale An-
Identitätsbeschreibung bezeichnet ›kosmopolitisch‹, sätze vor, Gerechtigkeit sei für Beziehungen relevant,
dass jemand weltgewandt ist und viel gesehen hat. In bei denen Menschen einen bestimmten personalen
der griechischen Philosophie steht ›kosmopolitisch‹ oder institutionellen Kontext teilen. Verpflichtungen
dafür, Bürger einer universellen Gemeinschaft (kosmo- ergeben sich dann beispielsweise, weil man die gleiche
106 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

Staatsbürgerschaft besitzt, oder aber, weil man einem ne effektive Verwendung der Spenden richtet (Kuper
globalen Regelsystem unterworfen ist. Relationale 2005, 160), und ob sie nicht zu stark von der selektiven
Ansätze können dabei etatistisch sein (z. B. Nagel Thematisierung in der Öffentlichkeit abhängen.
2005; Miller 2007) und davon ausgehen, dass eine ge-
teilte Staatsangehörigkeit spezielle Pflichten mit sich
bringt, oder aber sie können eine transnationale Per- Relationale Gerechtigkeit
spektive einnehmen und internationale juridische
und politische Regelsysteme als Bezugspunkt wählen Eine weitreichende Kritik an dieser Variante nicht-re-
(z. B. Pogge 2002). In beiden Fällen wird unterstellt, lationaler Gerechtigkeitstheorien kommt von Thomas
dass Gerechtigkeit innerhalb des jeweiligen geteilten Pogge, der in Anlehnung an John Rawls einen ent-
Kontextes, nicht aber außerhalb davon Bedeutung hat. scheidenden Perspektivenwechsel vornimmt – von
Im Gegensatz dazu schlagen nicht-relationale Positio- der utilitaristischen, ›interaktiven Hilfe‹ zur vertrags-
nen vor, dass Menschen Ansprüche einfach als Men- theoretischen, ›institutionellen Reform‹. Die utilita-
schen besitzen. Sie gehen davon aus, dass unserem ristische Ethik, so die Kritik, unterlässt es, die Ursa-
Menschsein oder unserer Würde bereits gleiche An- chen weltweiter Armut zu untersuchen. Aber erst
sprüche innewohnen, gerecht behandelt zu werden – durch eine Ursachenanalyse gerät in den Blick, dass
was wiederum, je nach Theorie, Unterschiedliches be- das internationale Finanz-, Wirtschafts- und Rechts-
deuten kann. system durch internationale Investitionen, Handels-
Ein wichtiger Vertreter einer nicht-relationalen Po- regeln und Kreditvergabepraktiken maßgeblichen
sition ist der australische Philosoph Peter Singer. Er Einfluss auf innerstaatliche Verhältnisse und somit auf
hat bereits zu Beginn der 1970er Jahre die Diskussion die Armuts- und Reichtumsentwicklung ausübt (Pog-
geprägt (Singer 1972). Singer sieht es als moralisches, ge 2002). Pogge steht zwar in der Rawlsschen Traditi-
nicht als politisches oder juridisches Versagen an, dass on, aber während Rawls davon ausgeht, dass das große
vielen Menschen weltweit trotz des Wohlstands in den Übel für arme Länder vielfach die lokale Kultur und
Industrieländern nicht hinreichend geholfen wird. die korrupten Eliten und Regierungen sind (Rawls
Das utilitaristische Moralprinzip, das seiner Theorie 1999, 89), analysiert Pogge, ähnlich wie die ›Depen-
zugrunde liegt, besagt, dass, wenn es in unserer Macht denztheorien‹ in den 1970er Jahren, die Auswirkun-
steht, etwas Schlechtes zu verhindern, ohne dabei et- gen internationaler Abkommen auf das Leben von
was von gleicher moralischer Bedeutung opfern zu Menschen. Und während Rawls in seiner »Charta des
müssen, wir dies tun sollten. Auf die Situation der Rechts der Völker« (ebd., 78) eine Pflicht aufnimmt,
Menschen in Entwicklungsländern übertragen be- anderen Völkern zu helfen, spricht Pogge von Ver-
deutet dies, dass die Bürger der relativ reichen Indus- pflichtungen, die sich für diejenigen ergeben, die von
trieländer moralisch falsch handeln, wenn sie nichts dem bestehenden Regelsystem profitieren, etwa durch
unternehmen, obwohl Tausende von Menschen ster- billige Rohstoffe. Für Rawls liegt ein entscheidender
ben – genauso, als würden wir an einem Teich, in dem Schritt zur Beförderung globaler Gerechtigkeit darin,
ein Kind ertrinkt, achtlos vorbeigehen. Singer hat in dass es Ziel jeglicher materiellen und technologischen
späteren Schriften akribisch dargelegt, wie wenig es Hilfe sein sollte, gerechte und demokratische Institu-
kosten würde, Kinderleben zu retten; wir müssten nur tionen zu installieren; dazu könnten Bildungspro-
auf ein paar Luxusartikel wie teure Markenkleidung gramme ebenso beitragen wie Maßnahmen zur Ge-
oder ein Abendessen in einem noblen Restaurant ver- burtenkontrolle (Rawls 1999). Pogge hingegen setzt
zichten, um unseren moralischen Pflichten nach- auf die schrittweise Reform des internationalen Regel-
zukommen (Singer 2009). systems. Alle Bürger, die in irgendeiner Weise von
Diese Position wurde von verschiedenen Seiten dem bestehenden Regelsystem profitieren, haben die
kritisiert. Singers Theorie fordere weit umfangreiche- negative Pflicht, diese ungerechten Institutionen nicht
re Opfer von jedem Einzelnen, und eine Moraltheorie, weiter aufrechtzuerhalten und Kompensationen zu
die so umfangreiche Opfer fordere, schränke unsere leisten.
autonome Lebensplanung unzulässig ein, denn sie Zu den jüngsten Reformvorschlägen gehört Pogges
würde einzig für den Zweck der Hilfe instrumentali- Vorschlag, das bestehende Patentrecht zu ändern. Bis-
siert (Mieth 2012). Empirisch stellt sich die Frage, wie lang bietet dies keine Anreize für die Erforschung und
wirkungsvoll Spenden tatsächlich sind, wenn sich das den Vertrieb von Medikamenten, die sich auf jene
politische Umfeld (etwa durch Korruption) gegen ei- Krankheiten richten, von denen vor allem die Armen
16 Transnationale Gerechtigkeit 107

betroffen sind (z. B. Malaria). Ein Health Impact Fund rie von Pogge ist Gerechtigkeit nicht ein normativer
(HIF), der hauptsächlich von Regierungen finanziert Maßstab für das internationale Regelsystem, sondern
wird, soll diese Lücken schließen und die weltweite bildet den normativen Kern eines wechselseitigen Gü-
Versorgung mit neuen Medikamenten verbessern. teraustauschs bzw. Güterverzichts. Nach Höffe (1999)
Auf diese Weise soll auch das Menschenrecht auf si- ist ein transzendentaler Tausch ein hypothetisch glo-
cheren Zugang zu Gesundheitsgütern gewährleistet bal ablaufender Tausch, bei dem alle Weltbürger ihre
werden (Pogge 2009). negativen Freiheiten durch einen primären Vertrag
Kritik an dieser Position ließ nicht lange auf sich wechselseitiger, allseits vorteilhafter Selbsteinschrän-
warten. So sei eine kausale Verknüpfung zwischen kung gegen die Geltung sozialer Regeln tauschen.
globalen Regelungen und innerstaatlichen Auswir- Transzendental ist dieser Tausch, weil durch ihn die
kungen auf die Armutsentwicklung weder empirisch Bedingungen von Handlungsfähigkeit überhaupt ge-
nachweisbar noch philosophisch überzeugend. Denn sichert werden, die auf universellen anthropologi-
dies würde bedeuten, dass gravierende Armut in Län- schen Interessen basieren. Auf Basis dieses Vertrags
dern wie Kongo oder Simbabwe beendet werden entwirft Höffe rechtsnormierende Gerechtigkeits-
könnte, selbst wenn die innerstaatlichen Verhältnisse prinzipien, die sich auf Freiheitsrechte, Gewaltentei-
unverändert blieben, und genau diese Annahme wird lung sowie auf ein universales Demokratie- und Sozi-
bestritten (Cohen 2010). Unklar sei auch, wer eigent- alstaatsgebot beziehen und dann in einer Kantischen
lich zu welchen Maßnahmen verpflichtet ist, da es kei- Version der komplementären Weltrepublik mit föde-
ne genaue Bestimmung dessen gibt, was es heißt, un- ralem Charakter ausbuchstabiert werden. Diese
rechtmäßigerweise zu profitieren (Anwander/Bleisch rechtsnormierenden Gerechtigkeitsprinzipien sind
2007), und da man, durch die Fixierung auf das ano- deckungsgleich mit Menschenrechten. Sie gehen be-
nyme Regelsystem, nicht diejenigen zur Verantwor- reits aus diesem originären Vertrag, dem primären
tung ziehen kann, die durch ihr Handeln die üblen Rechtsvertrag hervor, der einem eigentlichen, globa-
Zustände erst herbeigeführt haben (Miller 2007). len Staatsvertrag vorausgeht (ebd., 62–66). Der vor-
staatliche Rechtsvertrag besitzt einen Kern der Ge-
rechtigkeit, wie Höffe es ausdrückt (ebd., 63), der in
Distributive Gerechtigkeit distributiv-kollektiven Vorteilen liegt, etwa dem
Schutz von Rechtsgütern wie Leib, Leben und Eigen-
Ein weiterer Grund für die lange Abstinenz der politi- tum.
schen Theorie, sich mit globaler bzw. transnationaler
Gerechtigkeit zu befassen, mag auch darin liegen, dass
Verteilende Gerechtigkeit
unter ›Gerechtigkeit‹ vor allem Verteilungsgerechtig-
keit (s. Kap. II.12) verstanden wurde. Diese setzt üb- Vertreter der zeitgenössischen ›verteilenden Gerech-
licherweise eine enge soziale Kooperation und die tigkeit‹ stellen die bisherige Annahme in Frage, dass
Verteilung gemeinsam erwirtschafteter Güter voraus eine ungleiche Verteilung von Gütern (Bruttosozial-
(Brooks 2008) und scheint daher auf politische Ge- produkt, natürlichen Ressourcen, Bildungschancen,
meinschaften zugeschnitten zu sein. Inzwischen hat Gesundheitsversorgung und Umweltlasten) als selbst-
sich die Vorstellung durchgesetzt, dass Verteilungs- verständlich angesehen wird oder aber, wie bei utilita-
gerechtigkeit auch jenseits von Nationalstaaten ihre ristischen Positionen, durch Hilfeleistungen (ein we-
Berechtigung hat. Man kann sie, allgemein gespro- nig) ausgeglichen werden kann (Gosepath 2004). Ei-
chen, als Art und Weise verstehen, wie Vorteile und ner der Ersten, der ein Modell globaler Umverteilung
Lasten unseres Lebens zwischen uns geteilt werden vorgeschlagen hat, ist der Politikwissenschaftler
sollten (Armstrong 2012, 16). Es lassen sich auch hier Charles Beitz (1979). In Anlehnung an John Rawls
verschiedene Ansätze unterscheiden. entwickelt er ein ›globales Differenzprinzip‹, das Maß-
stab für eine transnationale Grundstruktur ist und
Auskunft darüber gibt, wann Ungleichheiten zugelas-
Tauschgerechtigkeit
sen sind. Noch einen Schritt weiter als Beitz geht der
Mit der Arbeit von Otfried Höffe erhält die Vertei- Vorschlag von Darrell Moellendorf, der von einem
lungsgerechtigkeit in der Begründung einer globalen Ideal des globalen Egalitarismus ausgeht (Moellen-
politischen Ordnung einen prominenten Platz. Aber dorf 2002, 42). Für Moellendorf drückt sich ein sub-
anders als bei der institutionellen Gerechtigkeitstheo- stanzieller Egalitarismus in ›fairer Chancengleichheit‹
108 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

mit globaler Reichweite aus. Das hieße beispielsweise, (Forst 2011, 31). Dieser Punkt wird weiter unten
dass ein Kind, das auf dem Land in Mozambique auf- nochmals aufgenommen.
wächst, statistisch gesehen die gleiche Chance auf ein
gutes Leben besitzen soll wie das Kind des geschäfts-
führenden Direktors einer Schweizer Bank (ebd., 49). Anthropologische Gerechtigkeit:
der Fähigkeitenansatz
Korrektive Gerechtigkeit
Schließlich kritisieren Martha Nussbaum (2006) und
Theorien globaler, korrektiver Gerechtigkeit beziehen Amartya Sen (2010) an den vorherrschenden Vertei-
sich auf die Wiedergutmachung historischen Un- lungsansätzen, dass bei der Ressourcenverteilung
rechts (Meyer 2005). Die bestehenden enormen öko- zwar auf die Gleichverteilung von Gütern geachtet
nomischen Ungleichheiten können nicht einfach auf wird, nicht aber darauf, dass die Verteilung die indivi-
geographische und klimatische Besonderheiten zu- duellen Voraussetzungen mit in Betracht zieht. Wel-
rückgeführt werden. Entscheidender Faktor für die chen Einfluss diese Güter auf das subjektive Wohl-
ungleichzeitigen Entwicklungen ist der Kolonialis- ergehen haben, das heißt auf die Erfüllung von indivi-
mus, der zum einen zur Verfestigung imperialer poli- duellen Wünschen und Verlangen, wird nicht weiter
tischer und sozialer Strukturen geführt (Randeria/ berücksichtigt (Neuhäuser 2013, 91–114). Nussbaums
Eckert 2009), aber auch zur ökonomischen Schädi- und Sens Position wurde auch als midfare bezeichnet
gung der Entwicklungsländer beigetragen hat. Studi- (Cohen 1993, 18), die in die Gerechtigkeitsüberlegun-
en zu transitional justice, bei denen es stets um die gen die Auswirkungen von Gütern auf das Wohlerge-
Wiedergutmachung erfahrenen Unrechts geht, bezie- hen von Menschen mit einbezieht. Die Lebensqualität
hen sich nicht immer auf transnationale Gerechtig- soll auf Basis von Fähigkeiten beurteilt werden, über
keit, sondern haben die verschiedenen Formen der die eine Person verfügt. Unter ›Fähigkeit‹ verstehen
nationalen Verarbeitung von historischem Unrecht in Nussbaum und Sen das tatsächliche oder potenzielle
Wahrheits- und Versöhnungskommissionen zum Vermögen, die als wertvoll eingeschätzten mensch-
Gegenstand (Rotberg/Thompson 2000). Zu einer lichen Funktionsfähigkeiten zu erlangen.
strafrechtlichen Auseinandersetzung mit dieser Form Vor allem Nussbaum hat den Fähigkeitenansatz
historischen Unrechts ist es jedoch bislang nicht ge- auch für die globale Ebene ausgearbeitet (Nussbaum
kommen. 2006). Sie wendet sich gegen globale Vertragstheorien
Eine grundlegende Kritik an Konzeptionen trans- wie die von John Rawls, aber auch diejenigen von Beitz
nationaler Verteilungsgerechtigkeit – gleich welcher und Pogge, da sie alle von einer Naturzustandssituati-
Variante – stammt u. a. von Wolfgang Kersting. Ein on ausgehen, in der unterstellt wird, alle Beteiligten
solcher Weltegalitarismus kennt, so Kersting, nur seien gleichwertige Vertragspartner, die sich mit ratio-
noch bedürftige Erdenmenschen und verwandelt die nalen Gründen auf geteilte Gerechtigkeitsprinzipien
ganze Weltbevölkerung in die Klientel einer ›anony- einigen können. Diese idealisierte Entscheidungs-
men globalen Verteilungsagentur‹ (Kersting 2002). situation blende jedoch die tatsächlich bestehenden
Auch wurde eingewandt, dass eine Fokussierung auf Ungleichheiten zwischen Nationen und zwischen
Ungleichverteilung andere Formen der Erniedrigung, Menschen völlig aus. Mehr noch, Nussbaum wirft den
der Ausgrenzung und Unterdrückung gar nicht in den Kontraktualisten vor, dass ihre gesamten Begrün-
Blick geraten lässt (Honneth 2010; Young 1996). Zu- dungsverfahren einzig dazu dienen, eine bestimmte
dem werden die strukturellen Ursachen von globalen Moralvorstellung zu begründen, die man viel überzeu-
Ausbeutungs-, Abhängigkeits- und Ausgrenzungsver- gender auch anders haben kann: durch einen gehalt-
hältnissen nicht thematisiert, wenn sich das Augen- vollen Würdebegriff, der eben nicht prozeduralistisch,
merk allein auf die ungerechte bzw. gerechte Vertei- sondern substantialistisch ist und ganz konkrete Aus-
lung von Gütern, Vorteilen oder Lasten konzentriert. sagen über universale menschliche Fähigkeiten macht.
Ungerechte Verhältnisse werden nicht abgeschafft, Dazu gehört, körperlich gesund und politisch aktiv
wenn es nur darum geht, »welche Güter aus welchen zu sein, Vernunft und Gefühle auszubilden und Bezie-
Gründen in welchem Maße an wen zu verteilen sind«; hungen zu anderen Menschen herzustellen. Diese Be-
es sollte daher vor allem darum gehen, »wie diese Gü- dürfnisse können sich in Ansprüchen auf die politi-
ter zuallererst in die Welt kommen sowie wer über die sche Realisierung eben dieser Bedürfnisse ausdrü-
Verteilung bestimmt und wie sie vorgenommen wird« cken. Die entscheidende Frage ist natürlich, was all
16 Transnationale Gerechtigkeit 109

dies für die globale Ebene bedeutet. Transnational ist Kommunikationsblockaden, die eine gleichberechtig-
dieser Ansatz allein schon deshalb, weil er auf das Sub- te gesellschaftliche Partizipation verhindern. Oder in
jekt zielt und immer Einzelpersonen (und nicht Völ- anderen Worten: Sie spüren gesellschaftliche Unge-
ker oder Nationen) im Zentrum der Gerechtigkeits- rechtigkeiten auf – Ausbeutung, Erniedrigung, Ent-
überlegungen stehen: Die Fähigkeiten und Tätigkeits- würdigung, Respektlosigkeit.
felder sind unabdingbar für ein menschliches Leben Die Analyse von Ungerechtigkeiten aber reicht
in Würde. Der Fähigkeitenansatz ist dabei vorpoli- nicht aus, sie bedarf der Ergänzung durch normative
tisch und erlaubt es, Anforderungen an den Staat zu Überlegungen darüber, aus welchen Gründen etwas
stellen, so dass die entsprechenden Bedingungen zur als ungerecht oder gerecht klassifiziert wird. Die Be-
Entwicklung der Fähigkeiten durchgesetzt werden antwortung dieser Frage ist auf Verfahren angewiesen,
(Nussbaum 2006, 285). Internationale Organisationen in denen die Rechtfertigungen bestehender Güterver-
sind erst dann in der Pflicht, wenn die Nationalstaaten sorgungen, Regelsysteme und anderer sozialer Prakti-
in der Umsetzung versagen; die Institutionen auf glo- ken analysiert und unter Einbeziehung der Betroffe-
baler Ebene bleiben in Nussbaums Ansatz rar und de- nen hinterfragt werden können (Forst 2007). Auf diese
zentral organisiert (ebd., 314). Weise wird auch ausgeschlossen, dass die Bestimmung
Nussbaums Versuch, transnationale Gerechtigkeit der Gerechtigkeit ein paternalistisches Unterfangen
aus anthropologischer Sicht zu begründen, ist auf brei- bleibt, bei dem die betroffenen Personen nicht auto-
te Kritik gestoßen. Aus machtrealistischer Perspektive nome Subjekte, sondern bloße Objekte einer Gerech-
ist die Vorstellung, dass Staatenvertreter aus men- tigkeitstheorie wären.
schenrechtlicher Verbundenheit die umfangreiche Fä- Allen Ansätzen eines diskurstheoretischen Kosmo-
higkeitenliste in ihre Verfassungen integrieren und politismus ist gemein, dass eine Gesellschaft, auch die
umsetzen, zumindest fraglich. Schwer wiegt auch, dass Weltgesellschaft, dann ungerecht ist, wenn sie nicht je-
ihr moralischer Kosmopolitismus ganz losgekoppelt dem Mitglied die Chance einräumt, Interessen gegen-
von politischen Verfahren ausbuchstabiert wird und über Entscheidungsträgern zu rechtfertigen und an
zwischen der moralisch-anthropologischen Begrün- Regelsetzungen zu partizipieren, von denen man be-
dung der Fähigkeitenliste und der politischen Wirk- troffen ist.
lichkeit keine Verbindung zu bestehen scheint (Hahn Für zukünftige Diskussionen ist die Frage zentral,
2009, 125–126). unter welchen Bedingungen die Regeln für trans-
nationale Beziehungen zustande kommen, die den
Anforderungen prozeduraler Gerechtigkeit entspre-
Politische Gerechtigkeit: diskurstheore- chen. Für Seyla Benhabib liegt der Schlüssel hierfür in
tischer Kosmopolitismus einer ›demokratischen Iteration‹ globalen Rechts, das
einerseits in einem Prozess anhaltender Interpretati-
Für diskurstheoretische Ansätze (s. Kap. III.37) sind on an lokale Besonderheiten angepasst wird und in
Gerechtigkeit und politische Verfahren aufeinander dem andererseits lokale Regeln, die das Potenzial zur
bezogen, daher kann man auch von ›politischer Ge- Universalisierung besitzen, Einlass ins globale Recht
rechtigkeit‹ sprechen. In der Tradition der Kritischen finden (Benhabib 2008). Jürgen Habermas’ Welt-
Theorie stehend, stellen sie die Analyse und empiri- gesellschaft besteht aus einem postnationalen Mehr-
sche Diagnose von Ungerechtigkeiten der Begrün- ebenensystem, das sich, ebenfalls durch Prozesse der
dung von Gerechtigkeitsprinzipien voran (Benhabib Deliberation, im Prozess der Verrechtlichung befin-
2008; Habermas 2005; Forst 2007; Fraser 2005). Zur det, ohne jedoch, wie beim Vorschlag von Höffe, eine
diagnostischen Seite gehört beispielsweise die Frage Staatlichkeit auszubilden. Transnationale Gerechtig-
nach den gesellschaftlichen Verhältnissen, unter de- keitsprobleme werden bei Habermas, je nach Wir-
nen zu verteilende Güter produziert, Ressourcen ge- kungsgrad, auf den unterschiedlichen Funktionsebe-
fördert oder Fähigkeiten entwickelt werden sollen nen bearbeitet (national, trans- und supranational),
(Brunkhorst 2002; Forst 2002; Honneth 2010; Young wobei Menschenrechte als Teil des UN-Systems einen
2007). Ansätze einer politischen Gerechtigkeit er- universellen Gerechtigkeitsmaßstab für die Bearbei-
örtern aus sozialtheoretischer Sicht die ökonomischen, tung globaler Probleme darstellen (Habermas 2005).
sozialen und politischen Bedingungen der Produkti- Habermas spricht von einem internen Zusammen-
onsverhältnisse, des Zustandekommens von Regelsys- hang zwischen Menschenrechten und Volkssouverä-
temen und Rechtsnormen und die Handlungs- und nität und meint damit die kontrafaktische Annahme,
110 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

dass Menschenrechte und Demokratie jeweils sowohl Grenzen des zeitgenössischen Prozeduralismus. In: Ders.:
Voraussetzung füreinander als auch Resultat sind. Er Das Ich im Wir. Frankfurt a. M. 2010, 51–77.
nennt dies die »Gleichursprünglichkeit von Men- Kersting, Wolfgang: Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen
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ist somit auf ein politisches Verfahren angewiesen, Meyer, Lukas H.: Historische Gerechtigkeit. Berlin 2005.
das selbst wiederum gerecht sein sollte: Das bedeutet, Mieth, Corinna: Positive Pflichten. Über das Verhältnis von
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17 Globale Gerechtigkeit 111

17 Globale Gerechtigkeit den auf Probleme globaler Ungerechtigkeit anwenden.


Dazu wird eine Analogie zwischen staatlicher und glo-
Es wird mittlerweile wie selbstverständlich und gera- baler Herrschaft vorausgesetzt, in deren Folge Kosmo-
dezu inflationär von globaler Gerechtigkeit gespro- politisten dieselben egalitären Gerechtigkeitsforde-
chen. Dabei wird oft übersehen, dass die Konzeption rungen aufstellen wie im innerstaatlichen Fall. In der
globaler Gerechtigkeit eine radikale Idee transpor- zweiten Phase formiert sich zunehmend Kritik an die-
tiert, die sich erst seit einer Generation durchzusetzen sem Analogieschluss. Partikularisten bezweifeln, dass
begonnen hat, deren Sinn aber nach wie vor als um- die globale Arena sinnvoll als Kontext sozialer Gerech-
stritten gelten muss. Bis heute findet sich beispielswei- tigkeit begriffen werden kann; zudem halten pragmati-
se in der Stanford Encyclopedia of Philosophy kein ei- sche Ansätze den Kosmopolitismus für politikverges-
genständiger Eintrag zu ›Global Justice‹. Teile der be- sen und utopisch. In der dritten und anhaltenden Pha-
treffenden Probleme werden im Beitrag ›International se differenziert sich der Kosmopolitismus in Reaktion
Justice‹ abgehandelt. Es gibt aber gute Gründe, den auf diese Kritik weiter aus. Das bedeutet vor allem,
Gegenstandsbereich von globaler und internationaler dass er sich stärker mit den politischen Realisierungs-
Gerechtigkeit klarer zu unterscheiden. Die globale bedingungen globaler Gerechtigkeit auseinander-
Gerechtigkeitsperspektive markiert einen Paradig- zusetzen beginnt. Das Resultat dieser Neuformierung
menwechsel. Internationale Gerechtigkeit evoziert, der kosmopolitischen Philosophie ist derzeit nicht ab-
dass souveräne Staaten ihre Außenpolitik fair gestal- sehbar. Trotzdem lassen sich bereits Tendenzen erken-
ten, rechtmäßige Vereinbarungen miteinander treffen nen. Auf der einen Seite bilden sich einzelne Bereichs-
und internationale Gremien zur Regulierung und Be- ethiken heraus, etwa in Form globaler Wirtschafts-,
friedung internationaler Beziehungen einrichten sol- Migrations- oder Umweltethik; andererseits geht der
len. Demgegenüber geht die globale Gerechtigkeits- Trend dahin, ein realistisches Ideal globaler Gerechtig-
theorie davon aus, dass wir es mit einer Sphäre globa- keit zu entwickeln, also eines, das an einer sorgfältigen
ler Herrschaft zu tun haben, durch die staatliche Auto- Analyse des politisch Möglichen ansetzt.
nomie erst ermöglicht, eingegrenzt und zunehmend
unterminiert wird.
Globale Herrschaftsregime bilden den ersten Ge- Phase 1: Übertragung innerstaatlicher
genstand globaler Gerechtigkeit. Dies lässt sich am Gerechtigkeitsmodelle auf globale
besten am globalen Wirtschafts- und Finanzregime Herrschaft
festmachen, das sich der Regelungskompetenz von
Staaten weitgehend entzieht, dabei aber die Möglich- Die Globalisierung stellt uns vor strukturell neuartige
keit individueller und politischer Autonomie weltweit Herausforderungen, die sich mit dem traditionellen
reglementiert. Die gegenwärtige Theoriebildung zu Methodenreservoir der politischen Philosophen nicht
globaler Gerechtigkeit reagiert damit auf eine genui- bewältigen lassen. Am Anfang der philosophischen
ne Herausforderung des 21. Jahrhunderts, nämlich Auseinandersetzung steht Immanuel Kants Philoso-
die politische Kontrolle globaler Herrschaft. Ins- phie des Weltbürgertums. In Zum Ewigen Frieden
gesamt bieten sich dazu drei Ordnungsmodelle an. (1795) entwirft Kant einen internationalen Friedens-
Erstens das kosmopolitische Modell eines föderalen vertrag, in dem sich aufgeklärte Monarchen inner-
Weltstaates, zweitens Mehrebenenmodelle mit dem staatlich auf eine gerechte Verfassung und zwischen-
Zweck, staatliche Autonomie wiederherzustellen, staatlich auf eine völkerrechtliche Friedensordnung
und drittens Modelle, die nach Alternativen für das verpflichten. Kants eigentliche Innovation liegt aber in
staatliche Ordnungsmodell suchen, indem sie etwa der Einrichtung einer kosmopolitischen Rechtsord-
auf die Emergenz eines multilateralen Netzwerks hof- nung, die jedem Weltbürger ein Grundrecht auf gast-
fen, an dem Staaten, Unternehmen und globale Insti- liche Behandlung (›Hospitalität‹) einräumt. Damit
tutionen genauso beteiligt sind wie zivilgesellschaftli- führt er ein globales Individualrecht ein, dessen un-
che Akteure. mittelbarer Zweck es ist, den globalen Handelsverkehr
Am besten lässt sich die Debatte zu globaler Ge- und diplomatische Beziehungen zu schützen, das mit-
rechtigkeit aber verstehen, wenn sie in einzelne Phasen telbar aber auch die weitere Kultivierung einer kosmo-
ihrer Entwicklung eingeteilt wird. Die erste Phase setzt politischen Gesinnung vorbereiten soll.
damit ein, dass Kosmopolitisten vorhandene, ur- Wenn in der heutigen Diskussion auf Kant zurück-
sprünglich also am Nationalstaat modellierte Metho- gegriffen wird, bleibt allerdings selten etwas von die-
112 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

ser kosmopolitischen Absicht übrig. Ein gutes Beispiel globaler Herrschaft zu übertragen. Zu den wichtigsten
hierfür ist John Rawls’ Theorie internationaler Ge- Vertretern dieser Position zählt David Held, der in
rechtigkeit (2002). Darin beruft er sich zwar auf Kant, den vergangenen Jahrzehnten ein umfassendes Re-
fällt aber hinter Kants Gedanken eines Weltbürger- formprogramm zur Demokratisierung globaler Herr-
rechts zurück. Rawls’ Ausgangsproblem ist nicht die schaft ausgearbeitet hat (1995; 2010). Held entwirft
Kontrolle globaler Herrschaft mit den damit verbun- hier kein freistehendes Ideal einer globalen Demokra-
denen Erscheinungen globaler Ausbeutung, Beherr- tie, sondern ein föderal und subsidiär organisiertes
schung und Deprivation, sondern die Außenpolitik li- Mehrebenenmodell, das in die bestehende Struktur
beraler Staaten. Seine Vision ist eine Welt unabhängi- globaler Herrschaft repräsentative Instrumente ein-
ger demokratischer (oder zumindest respektabler) baut (etwa in Form eines demokratischen Sicherheits-
Staaten, in der die kosmopolitische Ebene, die wir be- rats und eines globalen Parlamentarismus).
reits bei Kant angelegt finden, fehlt. Eine ähnliche Vision globaler Demokratie ist von
Im Grunde beginnt die zeitgenössische Philoso- Otfried Höffe (1999) entwickelt worden, der die Ein-
phie globaler Gerechtigkeit mit der Kritik an Rawls. richtung einer komplementären Weltrepublik für
Bekanntlich definiert Rawls Gerechtigkeit als »die rechtsmoralisch geboten und angesichts gemeinsamer
erste Tugend sozialer Institutionen« (Rawls 1979, 19) Risiken für unausweichlich hält. Höffes Kosmopolitis-
und läutet damit den institutional turn innerhalb der mus erscheint dabei als Konsequenz seines wiederum
Gerechtigkeitstheorie ein. Im Gegensatz zu mora- kontraktualistischen Ansatzes, den er als ›transzen-
lischen Prinzipien, die persönliche Einstellungen und dentalen Tausch‹ bezeichnet. Damit ist gemeint, dass
Interaktionen bestimmen, regeln Prinzipien der Ge- unter den Bedingungen der Globalisierung jeder
rechtigkeit institutionalisierte Beziehungen; vor al- Mensch ein Interesse daran hat, die sozialen Grund-
lem formulieren sie Standards für die Grundstruktur lagen seiner Handlungsfähigkeit in Form fundamen-
einer Gesellschaft. Nach Rawls würde sich jeder An- taler Menschen- und Mitbestimmungsrechte zu si-
gehörige einer Gesellschaft in einer unparteiischen chern und entsprechenden Reformen der globalen In-
Entscheidungssituation (original position) für seine stitutionen zuzustimmen. Höffe findet im rationalen
größtmögliche Freiheit und eine faire Umverteilung Interesse an der eigenen Handlungsfähigkeit den Kern
der Früchte gesellschaftlicher Zusammenarbeit aus- einer allgemeinmenschlichen Minimalmoral, aus der
sprechen. Dieser liberal-egalitäre Ansatz wurde von er nicht nur Standards der Kritik, sondern Konstruk-
Charles Beitz (1979) und Thomas Pogge (1989) in tionskriterien für das Design einer gerechten Weltord-
Richtung eines egalitären Kosmopolitismus aus- nung gewinnt.
gebaut. Beide weisen darauf hin, dass die globale Are- Diese Übertragung von moralischen Prinzipien auf
na in vergleichbarer Weise Formen sozialer Koope- die politische Vision einer gerechteren Weltordnung
ration organisiert und hinreichende Ansätze einer ist typisch für den moralischen Kosmopolitismus. Ge-
institutionellen Grundstruktur aufweist. Analog zu meint ist eine Position, die aus der kosmopolitischen
innerstaatlichen Institutionen müssten globale Insti- Moraldoktrin positive Gerechtigkeitspflichten zum
tutionen daher ebenfalls liberal-egalitären Legitimi- Aufbau einer globalen Gerechtigkeitsordnung ablei-
tätsanforderungen genügen. Schließlich würden sich tet. Diese kosmopolitische Moraldoktrin beinhaltet
alle Personen, deren Chancen durch das globale wiederum drei Aspekte: einen legitimatorischen Indi-
Wirtschaftsregime nachhaltig beeinflusst werden, vidualismus (von höchster moralischer Wichtigkeit ist
vernünftigerweise für ein globales distributives Ge- der einzelne Mensch), einen egalitären Universalis-
rechtigkeitsprinzip entscheiden. mus (den Status höchster moralischer Wichtigkeit tei-
Wie Rawls’ kontraktualistischer Liberalismus wur- len alle lebenden Menschen gleichermaßen) und ei-
de auch der gerechtigkeitstheoretische Republikanis- nen globalen Geltungsanspruch (moralische Pflichten
mus in kosmopolitischer Absicht weiterentwickelt. enden nicht an Staatsgrenzen). Offensichtlich handelt
Für den Republikanismus sind Herrschaftsverhältnis- es sich dabei um Grundgedanken einer jeden univer-
se nur dann gerechtfertigt, wenn sie den Allgemein- salistischen Moral; moralische Kosmopolitisten be-
willen repräsentieren, wenn sie also von jedem Betrof- haupten aber, dass die kosmopolitische Moral positive
fenen autorisiert wurden. Legitime Herrschaft setzt Pflichten begründet (etwa Peter Singer 2007) und auf
demokratische Verfahren voraus. Angesichts der zu- ein bestimmtes (egalitär-freiheitliches) Ideal kosmo-
nehmenden Macht globaler Institutionen war es na- politischer Gerechtigkeit hinausläuft (z. B. Simon Ca-
heliegend, das republikanische Modell auf die Ebene ney 2004).
17 Globale Gerechtigkeit 113

Noch einmal zusammengefasst ist die erste Phase in David Millers gerechtigkeitstheoretischem Natio-
der Theoriebildung zu globaler Gerechtigkeit dadurch nalismus deutliche Spuren hinterlassen. Für Miller ist
gekennzeichnet, dass die im Kontext innerstaatlicher es legitim, Angehörigen der eigenen Nation privile-
Gerechtigkeit eingeführten Ansätze auf die neuartige gierte Ansprüche auf soziale Gerechtigkeit einzuräu-
Wahrnehmung globaler Ungerechtigkeit übertragen men: »Die Pflichten, die wir unseren Mitbürgern [fel-
werden. Im Ergebnis begründen kosmopolitische Au- low nationals] schulden, sind sowohl verschieden von
toren substanzielle Prinzipien globaler distributiver den Pflichten, die wir Menschen als solchen schulden,
Gerechtigkeit und Demokratie, Prinzipien, die in die als auch weitgehender als diese« (Miller 1995, 111).
Forderung nach einem republikanischen und sozial- Denn »indem ich eine nationale Identität annehme,
staatlichen Design der globalen Grundstruktur mün- anerkenne ich auch, dass ich Mitgliedern meiner Nati-
den. Kurz gesagt, die Philosophie des Kosmopolitis- on spezielle Verpflichtungen schulde, die ich anderen
mus erhebt am Anfang der Debatte die Forderung Menschen nicht schulde« (ebd., 49).
nach einer freiheitlich-egalitären Weltrepublik. Was die Nation als Beziehungssystem so einzigartig
für die Entstehung besonderer Gerechtigkeitspflich-
ten macht, ist ihre Kombination aus identitätsstiften-
Phase 2: Partikularistische Kritik den und politischen Aspekten. Auf der einen Seite
und pragmatische Korrekturen gründen besondere Gerechtigkeitspflichten auf einer
gemeinsamen Nationalkultur, in der eine bestimmte
In der zweiten Phase formiert sich zunehmend Kritik Gerechtigkeitskonzeption ihre inhaltliche Bestim-
an der vorausgesetzten Strukturanalogie zwischen in- mung und verbindliche Anerkennung erhält. Zwei-
nerstaatlichen und globalen Gerechtigkeitsfragen. Zu tens bedarf es eines nationalen Zusammengehörig-
den offensichtlichen Disanalogien zählen das Fehlen keitsgefühls, damit Pflichten sozialer Gerechtigkeit
einer gemeinsamen Identität, das Fehlen effizienter motivational verankert werden; und drittens sorgt die
globaler Koordinations- und Sanktionierungsinstru- territoriale und politische Einheit der Nation dafür,
mente sowie die bedeutenden Machtasymmetrien dass Ansprüche sozialer Gerechtigkeit administrativ
zwischen den Staaten bzw. zwischen globalen Unter- organisiert und politisch durchgesetzt werden kön-
nehmen und Staaten. Partikularisten argumentieren nen. Im Zusammenspiel dieser drei Gründe bildet die
gegen die Idee einer globalen Domäne sozialer Ge- Nation für Miller die größtmögliche Domäne sozialer
rechtigkeit und Demokratie, indem sie immer neue Gerechtigkeit. Vergleichbare Voraussetzungen für
Variationen dieser Unterschiede ins Feld führen. globale soziale Gerechtigkeitsansprüche seien hin-
Generell behauptet der gerechtigkeitstheoretische gegen nicht zu erkennen; in der globalen Arena gelten
Partikularismus, dass immer nur ein bestimmter Per- zwar soziale Menschenrechte, die allgemeinmensch-
sonenkreis in einer für Gerechtigkeitsansprüche kon- liche Mindeststandards schützen (Miller 2007, 74),
stitutiven Beziehungsform zusammenlebt. In gewisser aber keine Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit.
Weise wird darin die Debatte zwischen Liberalismus Thomas Nagel (2010) unterscheidet sich von Mil-
und Kommunitarismus fortgeführt. Kommunitaristen ler, indem er den partikularistischen Einwand weni-
betonen, dass sich die Frage nach Gerechtigkeit nicht ger auf nationale Identifikation als auf den konstituti-
in abstrakter Weise stellt, sondern dass sich je be- ven Zusammenhang von Souveränität und Gerechtig-
stimmte Gerechtigkeitsvorstellungen mitsamt den keit abstellt. Damit ist auf der einen Seite gemeint,
entsprechenden Verpflichtungen immer nur in kon- dass Gerechtigkeitsansprüche nur unter bestimmten
kreten Gemeinschaften herausbilden. Anders gesagt machtpolitischen Voraussetzungen sinnvoll sind,
erzeugen distributive Gerechtigkeitsprinzipien keine nämlich dann, wenn sie sich an einen identifizier-
allgemeinen, sondern besondere Verpflichtungen; das baren Souverän adressieren lassen. Gerechtigkeits-
sind Verpflichtungen, die wir nicht gegenüber jeder standards haben die Funktion, staatliche Gewalt-
Person aufgrund ihres bloßen Menschseins haben, monopole zu legitimieren und gegebenenfalls zu kriti-
sondern allein gegenüber solchen Personen, mit denen sieren. Aufgrund dieser Funktion gelten Prinzipien
wir in bestimmten Beziehungen verbunden sind. Die sozialer Gerechtigkeit (s. Kap. II.18) ausschließlich im
hierzu relevanten Beziehungen sind durch eine ge- Kontext souveräner Herrschaft, worin sie sowohl ih-
meinsame Identität und einen gemeinsamen Sinn für ren Entstehungshintergrund als auch ihr Anwen-
die Bedeutung einzelner Verteilungsgüter konstituiert. dungsgebiet haben. Anders gesagt formulieren Forde-
Die kommunitaristische Argumentationsweise hat rungen der Gerechtigkeit konkrete Rechtsansprüche;
114 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

das sind Ansprüche, die erst dadurch entstehen, »dass das, wie schon Hobbes erklärt hat, eher einem Kriegs-
wir mit bestimmten anderen in einer politischen Ge- zustand als einem Gerechtigkeitskontext ähnelt. In
sellschaft eingebunden sind, die unter strenger zentra- dieser Lesart ist soziale Gerechtigkeit das Ergebnis so-
ler Kontrolle steht. Nur gegenüber einem solchen Sys- zialer Kämpfe, in denen sich unterprivilegierte Klas-
tem und nur gegenüber seinen Angehörigen können sen Teilhaberechte erstreiten. Dieser Kampf steht in
wir Rechte auf Demokratie, gleiche Staatsbürger- der globalen Arena allenfalls noch bevor. Bis auf Wei-
schaft, Nichtdiskriminierung, Chancengleichheit so- teres fehlt es den global Armen und Ausgegrenzten
wie auf die Verbesserung unfairer Verteilung sozialer aber an der Macht, globale Umverteilungs- und Mit-
und wirtschaftlicher Güter über die Institutionen die- bestimmungsansprüche durchzusetzen.
ses Systems geltend machen« (Nagel 2010, 121). Die zweite und dritte Variante der pragmatischen
Für Nagel ist die Frage der Gerechtigkeit aber nicht Kritik am Kosmopolitismus entsteht im Kontext der
allein auf die Legitimation politischer Zwangsverhält- Debatte um das Verhältnis von idealer zu nicht-idea-
nisse bezogen. Zusätzlich ist auch der Anspruch des ler Theorie. In dieser Debatte geht es allgemein um die
Souveräns, im Namen aller Bürger zu sprechen und zu Frage, welche Rolle – wenn überhaupt – die politische
handeln, von gerechten Partizipationsverhältnissen Philosophie in der Praxis spielen will. Im Zuge dieser
abhängig. Zusammengefasst resultieren die besonde- Debatte werden auch die Diskursposition des Theo-
ren Forderungen der Gerechtigkeit bei Nagel aus zwei retikers selbst sowie die Produktionsbedingungen sei-
Arten von Zumutungen, die mit unserer Staatsangehö- ner Theorie hinterfragt. Diese Fragen wurden in be-
rigkeit zusammenhängen. Auf der einen Seite werden sonderer Schärfe von Raymond Geuss (2008; 2010)
wir unfreiwillig in eine staatliche Herrschaftsordnung aufgeworfen. Geuss kritisiert insbesondere die ana-
hineingeboren, gegenüber der wir vollkommen macht- lytische politische Philosophie dafür, dass sie einen
los sind. Diese Zumutung soll durch sozialen Wohl- zweischrittigen Ansatz verfolgt, der in einem ideal-
stand kompensiert oder zumindest akzeptabler ge- theoretischen Teil normative Grundlagen erarbeitet,
macht werden. Dass auf der anderen Seite ein Souve- um diese dann in einem nicht-idealen Theorieteil auf
rän in unserem Namen sprechen kann, ist eine weitere die Praxis anzuwenden. Geuss sieht darin ein Pro-
Zumutung, jedenfalls so lange, wie wir dabei nicht ein blem, weil sich das theoretisch Gebotene, wenn es
Wörtchen mitreden können. Der Anspruch auf Reprä- nicht vom politisch Möglichen her gedacht wird, zu
sentation ist nur akzeptabel, wenn die Repräsentierten weit von der Praxis entfernt.
weitgehende Mitbestimmungsrechte geltend machen Der subversivere Punkt seiner Kritik lautet aber,
können. Forderungen sozialer und politischer Gerech- dass die politische Philosophie letztlich auch nur eine
tigkeit sind, so Nagels etatistische Pointe, eben auf die Form der Praxis darstellt, die unter bestimmten politi-
Institution souveräner Rechtsstaaten beschränkt. schen Voraussetzungen operiert und ein bestimmtes
Denn selbst unter den Bedingungen globaler Herr- Selbstverständnis reproduziert. Geuss’ Kontrahent ist,
schaft und in Anerkennung globaler Zwangsverhält- wie so oft, John Rawls, dessen Methode Geuss als eine
nisse fehlt es in der internationalen Arena an den für Scheinobjektivierung der liberalen Weltanschauung
besondere Gerechtigkeitsansprüche konstitutiven Be- begreift. Der Punkt ist, dass Rawls’ Konstruktivismus
dingungen, nämlich an globaler Rechtssicherheit, dem seine eigene Perspektive – die eines amerikanischen
Repräsentationsanspruch eines globalen Souveräns Autors – immunisiere und dadurch ins Ideologische
und, wie sich mit Miller hinzufügen ließe, einer ent- abzudriften drohe (vgl. Geuss 2010). Und auch wenn
sprechenden kosmopolitischen Identität. sich Rawls’ Theorie internationaler Gerechtigkeit
Zum zweiten wird die partikularistische Kritik an durchaus gegen diese Kritik verteidigen ließe, bleibt
der Idee globaler Gerechtigkeit durch eine pragma- von der Geuss-Debatte haften, dass die politische Phi-
tisch ansetzende Kritik am Kosmopolitismus ergänzt. losophie, zumal als Theorie globaler Gerechtigkeit, ih-
Kritisiert wird vor allem die Machtvergessenheit des ren eigenen Standort stärker mitzureflektieren hat
moralischen Kosmopolitismus, und zwar in mindes- und sich als nicht neutralen Teilnehmer an einem glo-
tens drei Varianten. Die erste Variante knüpft an den balen Diskurs über Gerechtigkeit verstehen sollte, der
klassischen Machtrealismus an (maßgebend Hans J. über kein privilegiertes Wissen verfügt.
Morgenthau 1948), für den Politik generell – und Au- Auch in ihrem dritten Aspekt schließt die pragma-
ßenpolitik im Besonderen – reine Interessenpolitik tische Argumentation zunächst an Geuss an. Wenn es
ist. Vom machtrealistischen Standpunkt aus betrach- in der Gerechtigkeitstheorie nicht allein um Wahrheit,
tet bildet die globale Arena ein anarchisches System, sondern um die Möglichkeit von Gesellschaftskritik
17 Globale Gerechtigkeit 115

und politischer Reform geht, dann ist dem, was sich keiner genaueren Informationen über eine vollkom-
im Namen der Gerechtigkeit sinnvoll einfordern lässt, men gerechte Weltordnung, um die vergleichsweise
durch das, was politisch möglich erscheint, eine mehr gerechtere Entscheidung zu fällen. Sens Ansatz ist
oder weniger klare Grenze gesetzt. Im Kosmopolitis- prinzipiengeleitet, aber nicht idealistisch. Er plädiert
mus der ersten Phase fallen aber Anspruch und Wirk- für die Anerkennung grundlegender Fähigkeiten (ca-
lichkeit in eklatanter Weise auseinander. Geuss mo- pabilities) zur Bewertung konkreter Entscheidungs-
niert vor allem, dass die politische Philosophie von ei- optionen, betrachtet diese aber nicht als Konstrukti-
nem naiven Begriff politischer Handlungsfähigkeit onsprinzipien für eine ideale Gerechtigkeitsordnung.
ausgeht. Seiner Auffassung zufolge sollten wir politi- Das Ideal einer vollkommen gerechten Gesellschaft, so
sches Handeln nicht als ein Handwerk (craft) betrach- die dritte Spielart pragmatischer Kritik, ist politisch
ten, in dem es um die technische Herstellung eines ge- impraktikabel und als solches verzichtbar.
danklich entworfenen Gegenstandes geht, sondern
vielmehr als eine Kompetenz (skill), die es uns erlaubt,
angemessen und flexibel auf die Erfordernisse des Ta- Phase 3: Kosmopolitische Neuansätze
ges zu reagieren: »Eine Kompetenz ist die Fähigkeit,
auf flexible Art zu handeln, so dass wir auf Eigenarten Rückblickend lässt sich sagen, dass die jüngste Theo-
der gegebenen Situation reagieren können, um Hand- riebildung zu globaler Gerechtigkeit die genannten
lungen oder Interaktionen zu verbessern bzw. zu er- Einwände in sich aufgenommen hat. Die Analogie
möglichen oder die Umwelt in einer Weise zu ver- zwischen innerstaatlicher und globaler Gerechtigkeit
ändern, die wir als positiv bewerten« (Geuss 2008, 15). wird kaum noch behauptet und die ambitionierten
Die Handlungsposition des Politikers ähnelt nicht der Forderungen nach globaler Umverteilung und De-
eines Verfassungsgebers oder Staatengründers, son- mokratie sind der Suche nach einem realistischen
dern eher der eines Torhüters, der situativ entscheiden Ideal gewichen. Gleichzeitig hat die partikularistische
muss, ob er fangen, fausten oder auf der Linie bleiben und pragmatische Kritik aber auch den Weg gewie-
soll. Dazu braucht er zwar spezifische Fähigkeiten und sen, auf dem sich der Kosmopolitismus neu aufzustel-
ein Verständnis vom Ziel des Spiels, aber keinen ferti- len beginnt. Das bedeutet nicht, dass die jüngste
gen Matchplan, keinen »vollständigen Theorieansatz, Theorieentwicklung einheitlich verläuft. Aber es
der ihm in jeder dieser Situationen die Richtung an- zeichnet sich doch ein Konsens darüber ab, dass es ei-
zeigt« (Geuss 2008, 16). nes methodischen Neuansatzes bedarf, um die politi-
Übertragen auf globale Gerechtigkeit erscheint das sche Anschlussfähigkeit der Theorie – möglichst im
Ideal einer Weltrepublik nutzlos, weil es sich nicht in Verbund mit Sozial-, Rechts- oder Wirtschaftswissen-
konkrete politische Verantwortlichkeiten zurücküber- schaften – wiederherzustellen. Auch wenn es für eine
setzen lässt. Amartya Sen (2010) hat diesen pragmati- Bilanz dieser Phase noch zu früh ist, lassen sich be-
schen Vorbehalt weiter verdeutlicht. Gerechtigkeits- reits vier Tendenzen beschreiben, die den Anfor-
ansätze, die das Ideal einer vollkommen gerechten derungen an eine pragmatische und motivational ver-
Grundstruktur in die Zukunft projizieren, bezeichnet ankerte Theorie globaler Gerechtigkeit entsprechen.
Sen als ›transzendentalen Institutionalismus‹. Für ihn Die erste besteht darin, die kosmopolitische Idee auf
bleibt die politische Philosophie von Platon bis Rawls einen Menschenrechtsansatz globaler Gerechtigkeit
zu stark darauf fixiert, das Ideal einer gerechten Ord- zurückzubauen (s. auch Kap. IV.45); die zweite lässt
nung unabhängig von seinen politischen Realisie- sich als Hinwendung zu spezifischen Bereichsethiken
rungsbedingungen zu entwerfen. Die politische Phi- beschreiben; eine dritte Tendenz ist die, Verantwor-
losophie, ausgeübt als ein freistehendes Strategiespiel, tung für globale Gerechtigkeit in Staaten zu ver-
hat ihre Fähigkeit zum Gespräch mit der Politik ver- ankern; und eine vierte Tendenz besteht darin, imma-
loren. Um diese Fähigkeit zurückzugewinnen, schlägt nente Standards der Kritik in der Analyse globaler In-
Sen eine komparative Methode vor. Die Aufgabe der stitutionen zu rekonstruieren.
Philosophie endet bei der Begründung allgemeiner
Prinzipien, anhand deren sich gegebene politische Op-
Menschenrechtsansätze
tionen als mehr oder weniger gerecht vergleichen las-
sen. Wie wir zum Höhenvergleich zwischen zwei Ber- Partikularistische Autoren bezweifeln zwar, dass es ei-
gen keine Beschreibung des höchsten Berges, sondern nen globalen Kontext sozialer (distributiver) Gerech-
lediglich das Metermaß benötigen, bedürfe es auch tigkeit gibt, gleichzeitig erkennen sie aber die Geltung
116 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

universal verbindlicher Menschenrechte an (etwa fristig gerechten Nachkriegsverhältnissen weiterhin


Miller 2007). Entsprechend ist es naheliegend, Men- ein holistisches Gerechtigkeitsideal voraussetzen.
schenrechte als universell anerkannte Währung glo-
baler Gerechtigkeit zu betrachten. In dieser Sichtweise
Staatsbasierter Kosmopolitismus
geht es in der globalen Arena nicht mehr um Gleich-
heit und politische Autonomie, sondern um den Ein Vorschlag dazu, wie der Kosmopolitismus die par-
Schutz fundamentaler Bedingungen der Menschen- tikularistische und pragmatistische Kritik in sich auf-
würde, minimaler Grundbedürfnisse, allgemein- nehmen könnte, präsentiert Lea Ypis Konzeption ei-
menschlicher Interessen etc. Einen Menschenrechts- nes staatsbasierten Kosmopolitismus (Ypi 2008). Für
ansatz globaler Gerechtigkeit vertreten etwa Christine Ypi sind Nationalstaaten nicht nur die wirkmächtigs-
Chwaszcza (2007), Martha Nussbaum (2010) oder ten Institutionen in der globalen Arena, sondern sie
Matthias Risse (2012). Bezeichnend ist in diesem Zu- sind auch diejenigen, in denen das Primat der Politik
sammenhang, dass die beiden bekanntesten Protago- noch gilt und die sich daher kosmopolitisch umpro-
nisten des egalitären Kosmopolitismus, Charles Beitz grammieren lassen. Möglich macht dies einerseits das
und Thomas Pogge, mittlerweile ihrerseits einen Men- Prinzip der Volkssouveränität, durch das eine kosmo-
schenrechtsansatz vertreten. Während Beitz’ prakti- politische Agenda Eingang in die Außen- und Ent-
sche Konzeption der Menschenrechte (2009) auf die wicklungspolitik einzelner Staaten finden kann; an-
politische Wirklichkeit sozialer Menschenrechts- dererseits kontrollieren Staaten die öffentlichen Bil-
ansprüche verweist, gründet Pogges institutioneller dungseinrichtungen, in denen staats-, aber eben auch
Ansatz (2011) darauf, dass globale Institutionen und weltbürgerliche Tugenden angelegt werden können.
Regelungen zu schwerwiegenden Menschenrechts- Realistischerweise lässt sich das Design globaler Herr-
verletzungen beitragen. Allgemein haben Menschen- schaft nur unter der Voraussetzung gerechter gestal-
rechtsansätze den heuristischen Vorzug, dass auch so- ten, dass Staaten ihre kosmopolitische Verantwortung
ziale und politische Menschenrechtsansprüche bereits nach außen wie nach innen, etwa gegenüber Migran-
völkerrechtlich anerkannt und zum Teil politisch rea- ten, anerkennen. Einen Weg dahin beschreibt auch
lisiert sind. Menschenrechtsstandards eignen sich so- Seyla Benhabib (2008), die unter dem Begriff der ›de-
wohl als komparative Standards der Weltinnenpolitik liberativen Iteration‹ eine Verfestigung kosmopoliti-
wie auch als Verfassungselemente eines globalen Kon- scher Menschenrechtsnormen im nationalen politi-
stitutionalismus (vgl. Habermas 1998). schen Selbstverständnis beschreibt.

Bereichsethiken Politischer Kosmopolitismus


Die Praktikabilität eines umfassenden globalen Ge- Neben der Frage, wie Staaten zu Akteuren globaler
rechtigkeitsideals steht zunehmend zur Disposition. Gerechtigkeit umprogrammiert werden können, be-
Um konkrete Akteure, Regeln und Praktiken zu beur- steht die größte Herausforderung darin, zu klären, wie
teilen, ist es hinreichend, wenn wir über bestimmte globale Herrschaftsregime, die sich staatlicher Kon-
Standards verfügen, Standards, die oft erst in der Aus- trolle entziehen, wieder in politische Verantwortungs-
einandersetzung mit bestimmten Problembereichen verhältnisse eingebettet werden können. Wer trägt die
gewonnen werden. Entsprechend lässt sich eine Aus- Verantwortung für die politische Kontrolle globaler
differenzierung in einzelne Bereichsethiken beobach- Herrschaft? Der politische Kosmopolitismus, der sich
ten. Dazu zählen die Theorie des gerechten Krieges so- mit dieser Frage beschäftigt, lässt sich in zwei mit-
wie Fragen einer globalen Entwicklungs-, Wirt- einander zusammenhängende Ausrichtungen unter-
schafts-, Gesundheits-, Migrations- oder Klimaethik. teilen. Auf der einen Seite steht der interaktionale An-
Einerseits erscheint es praktisch sinnvoll, sich auf die satz, der bei der individuellen Verantwortung von
Beurteilung konkreter Problembereiche zu konzen- Weltbürgern ansetzt (vgl. Cabrera 2010). Jeder Einzel-
trieren und dabei eine umfassendere globale Gerech- ne trägt eine politische Mitverantwortung dafür, zur
tigkeitsperspektive auszublenden. Auf der anderen Reform globaler Ungerechtigkeitsstrukturen in sei-
Seite bleibt diese Absonderung aber unbefriedigend, nem Einflussbereich beizutragen. Komplementär da-
weil Kernfragen wie die nach dem nachhaltigen Ein- zu setzt das institutionelle Modell bei der politischen
satz von Entwicklungsressourcen, nach dem Ziel einer Verantwortung globaler Institutionen wie der Welt-
gerechten Weltwirtschaftsordnung oder nach lang- bank, der WTO oder der G20 an. Das globale Herr-
17 Globale Gerechtigkeit 117

schaftsregime hat selbst ein Interesse an nachhaltiger –: National Responsibility and Global Justice. Oxford 2007.
Geltung und somit an Legitimität. An diesem Legi- Morgenthau, Hans J.: Politics Among Nations. The Struggle
timitätsanspruch kann eine immanente Kritik globa- for Power and Peace. New York 1948.
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ler Herrschaft ansetzen. Diesbezüglich wäre es ein Christoph Broszies/Henning Hahn (Hg.): Globale Gerech-
wichtiges Desiderat, die von Axel Honneth entwickel- tigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus
te Methode eines normativen Rekonstruktivismus und Kosmopolitismus. Berlin 2010, 104–146.
(vgl. Honneth 2013) auf globale Herrschaft auszuwei- Nussbaum, Martha: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behin-
ten und in den Satzungen und öffentlichen Rechtferti- derung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin 2010.
Pogge, Thomas: Realizing Rawls. Ithaca 1989.
gungen globaler Institutionen Ansatzpunkte für ihre
–: Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopolitische Verant-
immanente Kritik zu rekonstruieren. Eine Inventur wortung und Reformen. Berlin 2011.
der Legitimitätsansprüche globaler Herrschaft würde Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
die Grundzüge einer realistischen Utopie der Men- 1979 (engl. 1971).
schenrechte (vgl. Habermas 2010) im Sinne eines –: Das Recht der Völker. Berlin 2002 (engl. 1999).
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118 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

18 Soziale Gerechtigkeit rum über soziale Gerechtigkeit überhaupt gestritten


wird, wenn nicht wenigstens darüber Einigkeit be-
Was soziale Gerechtigkeit ist und welcher Stellenwert stünde, wovon dabei die Rede ist. Es ist also anzuneh-
dem Begriff innerhalb der Gerechtigkeitstheorie zu- men, dass die diversen Deutungen zumindest ein ge-
kommen sollte, ist sehr umstritten. Selbst der Gegen- wisses Grundverständnis der Bedeutung und damit
stand der sozialen Gerechtigkeit variiert mit dem einen allgemeinen Begriff von sozialer Gerechtigkeit
Kontext, in dem von ihr die Rede ist. Wird sie im po- teilen. Überdies sprechen viele Evidenzen dafür, dass
litischen Alltagsdiskurs oft mit einer gerechten Vertei- zumindest innerhalb einzelner Gesellschaften die
lung der Einkommen, Vermögen und Steuerlasten der meisten, wenn auch nicht unbedingt alle verschiede-
Gesellschaftsmitglieder gleichgesetzt, besteht in der nen Deutungen gewöhnlich auch bezüglich diverser
Fachliteratur die Tendenz, sie in einem weiten Sinn als substanzieller Fragen mehr oder minder konvergieren
die Gesamtheit der für ganze Gesellschaften geltenden und eine Schnittmenge weithin geteilter Überzeugun-
Gerechtigkeitserfordernisse zu verstehen. Alle Rede- gen bilden. Insoweit solche Konvergenzen zwischen
weisen von sozialer Gerechtigkeit haben aber insofern den in einer Gesellschaft auftretenden Deutungen be-
etwas gemeinsam, als sie sich auf soziale Ordnungen, stehen, kann deren Schnittmenge als die in dieser Ge-
d. h. auf soziale Regeln, Institutionen und Verhältnisse sellschaft vorherrschende Vorstellung von sozialer
beziehen und für diese die Geltung von Erfordernis- Gerechtigkeit angesprochen werden.
sen der distributiven Gerechtigkeit (s. Kap. II.12) un- Im Folgenden soll zunächst ein allgemeiner Begriff
terstellen. Hier sei angenommen, dass soziale Ge- der sozialen Gerechtigkeit formuliert werden, der sich
rechtigkeit die ganze Grundordnung staatlich organi- zu deren verschiedenen Deutungen neutral verhält
sierter Gesellschaften zum Gegenstand hat und alle und einen Ausgangspunkt für die Herausarbeitung
darauf Anwendung findenden Gerechtigkeitserfor- derjenigen Konstruktionselemente bietet, die für eine
dernisse umfasst. elaborierte Vorstellung sozialer Gerechtigkeit unver-
Obwohl die Vorstellung, dass gesellschaftliche Ord- zichtbar sind und auf eine ihr jeweils entsprechende
nungen gewissen Erfordernissen der Gerechtigkeit Weise spezifiziert werden müssen. Davon ausgehend
unterliegen, seit alters besteht, ist die Rede von sozia- wird es dann insbesondere darum gehen, die spezi-
ler Gerechtigkeit, mit der an eine gesellschaftliche fischen Elemente der in den westlichen Gesellschaften
Ordnung auch bestimmte Anforderungen der distri- gegenwärtig vorherrschenden Vorstellung sozialer Ge-
butiven Gerechtigkeit gestellt werden, relativ jung. Sie rechtigkeit aufzuzeigen. Diese schließt jedenfalls die
taucht erst im 19. Jahrhundert in der Debatte um die folgenden Postulate ein: rechtliche Gleichheit, bürger-
Soziale Frage vereinzelt auf und findet nach 1900 all- liche Freiheit, demokratische Teilhabe, soziale Chan-
mählich zunehmende Verbreitung (Löffler 2001). cengleichheit und wirtschaftliche Ausgewogenheit.
Dies ist vor allem auf zwei Hand in Hand gehende so-
ziale Entwicklungen zurückzuführen: die Expansion
der kapitalistischen Marktwirtschaft, die zwar die ge- Ein allgemeiner Begriff der sozialen
sellschaftliche Wertschöpfung erheblich steigert, aber Gerechtigkeit
auch enorme soziale Ungleichheiten und Notlagen
hervorbringt, und die Expansion des modernen Staa- Für eine erste Annäherung an einen allgemeinen Be-
tes, mit der nicht nur die Gefahren des Missbrauchs griff sozialer Gerechtigkeit ist es ratsam, diese zunächst
politischer Macht, sondern auch die Möglichkeiten ei- nur formal zu bestimmen. Zu diesem Zweck soll sozia-
ner planmäßigen Gestaltung der gesellschaftlichen le Gerechtigkeit verstanden werden als die Gesamtheit
Verhältnisse wachsen. der Gerechtigkeitserfordernisse, die für die institutio-
Auch wenn soziale Gerechtigkeit zu einer Aller- nelle Grundordnung einer Gesellschaft gelten. Die sich
weltsformel des politischen Diskurses geworden ist, daraus ergebende Frage, worin diese Gerechtigkeits-
gibt es über ihre Bedeutung und Sinnhaftigkeit nach erfordernisse bestehen, lässt sich in zwei Teile zerlegen:
wie vor keine Einigkeit. Das wird mitunter als Grund erstens, welche Erfordernisse der Gerechtigkeit es gibt,
dafür vorgebracht, soziale Gerechtigkeit sei nichts und zweitens, ob und inwieweit sie auf eine gesell-
weiter als eine Leerformel, die sich nach Belieben in schaftliche Ordnung Anwendung finden.
verschiedene Richtungen auslegen lasse (Hayek 1976, Die Erfordernisse der Gerechtigkeit sind mora-
65–67; Vanberg 2004, 173). Diese Ansicht ist jedoch lische Standards, die dazu dienen, soziale Beziehun-
sicher überzogen. Denn es wäre kaum erklärlich, wa- gen und Ordnungen im Hinblick auf ihre allgemeine
18 Soziale Gerechtigkeit 119

Zustimmungsfähigkeit für alle betroffenen Personen gründete Ungleichbehandlung der betroffenen Per-
aus unparteiischer Sicht zu bewerten und entspre- sonen verbietet, ein ganz allgemeines, freilich nur sehr
chende Richtlinien für ihre Gestaltung bereitzustel- unspezifisches Grundprinzip distributiver Gerechtig-
len. Von den ganz allgemeinen Geboten der Moral he- keit impliziert: Es besagt, dass die Güter und Lasten
ben sie sich dadurch ab, dass sie nicht schlechthin jede sozialer Gemeinschaftsverhältnisse auf die beteiligten
Person gegenüber jeder anderen binden, sondern auf Personen gleich zu verteilen sind, sofern ihre Un-
bestimmte Bereiche des sozialen Handelns abstellen gleichverteilung nicht durch triftige, d. h. bei rechter
und nur die jeweils beteiligten Akteure verpflichten Erwägung allgemein akzeptable Gründe gerechtfer-
bzw. berechtigen. Angesichts der Vielfalt solcher Be- tigt erscheint; solche Gründe müssen plausibel ma-
reiche hat schon Aristoteles verschiedene Arten der chen, dass die in Betracht stehende Ungleichvertei-
Gerechtigkeit unterschieden. Gute Gründe sprechen lung letztlich im vernünftigen Interesse aller liegt, was
dafür, vier basale Arten anzunehmen, die sich auf ver- voraussetzt, dass es wesentliche Unterschiede zwi-
schiedene elementare Formen sozialen Handelns be- schen den Beteiligten zu berücksichtigen gilt, so vor
ziehen: allem ihre ungleichen Beiträge und Leistungen, die
1. distributive Gerechtigkeit betreffend die Verteilung ungleichen Ergebnisse ihres selbstverantwortlichen
gemeinschaftlicher Güter und Lasten zwischen Handelns oder ihre ungleiche Befähigung, ihre
Personen, denen diese Güter oder Lasten gemein- Grundbedürfnisse aus eigenen Kräften zu decken (vgl.
sam zukommen; Frankena 1962, 9–13; Gosepath 2004, 128–211).
2. Tauschgerechtigkeit für freiwillige Tauschbezie- Die genannten Arten der Gerechtigkeit sind trotz
hungen und vertragliche Transaktionen zwischen ihrer analytischen Differenz tatsächlich eng miteinan-
einzelnen Personen; der verwoben, weil sich die verschiedenen Formen so-
3. politische Gerechtigkeit in Hinsicht auf die Aus- zialen Handelns, auf die sie sich beziehen, in der sozia-
übung autoritativer Herrschaft von Menschen len Realität ständig kreuzen, verschränken und ver-
über andere mittels zwangsbewehrter Normen; binden. Das gilt schon für kleine soziale Gruppen wie
und Familien, und noch viel mehr für große und komplexe
4. korrektive Gerechtigkeit bezüglich der Berichti- soziale Systeme wie Gesellschaften. Infolgedessen ist
gung begangenen Unrechts durch Wiedergutma- eine gesellschaftliche Ordnung jeder der diversen Ar-
chung oder Strafe (vgl. Koller 2003, 239–241; zu ten der Gerechtigkeit unterworfen, insoweit sie deren
den Arten der Gerechtigkeit vgl. auch die entspre- Anwendungsbedingungen erfüllt: der distributiven
chenden Kapitel in vorliegendem Band). Gerechtigkeit, insoweit sie die Verteilung sozialer Gü-
Jede dieser Arten inkludiert eigene Anforderungen an ter und Lasten regelt, die allen Mitgliedern gemein-
das jeweils in Betracht stehende Handeln der beteilig- sam zukommen; der Tauschgerechtigkeit, insoweit sie
ten Personen. Da im Kontext der sozialen Gerechtig- die Allokation privater Güter und Leistungen im We-
keit die distributive Gerechtigkeit eine besondere Rol- ge vertraglicher Transaktionen reguliert; der politi-
le spielt, soll hier nur diese näher betrachtet werden. schen Gerechtigkeit, insoweit sie zur Sicherung eines
Gegenstand der Verteilungsgerechtigkeit sind Kon- friedlichen und gedeihlichen sozialen Lebens Herr-
stellationen, bei denen mehrere Personen ein Anrecht schaft braucht; und der korrektiven Gerechtigkeit, in-
auf bestimmte Güter oder eine Obliegenheit zur Über- soweit sie die Berichtigung begangenen Unrechts
nahme gewisser Lasten gemeinsam haben, kurz: Ge- durch Wiedergutmachung oder Strafe regelt. Dass
meinschaftsverhältnisse, die eine gerechte Verteilung dies jedenfalls für die Tausch-, die politische und die
jener Güter und Lasten erfordern. Gemeinschaftsver- korrektive Gerechtigkeit gilt, ist unbestritten. Kontro-
hältnisse treten im sozialen Leben in vielfältigen Kon- vers ist dagegen, ob und inwieweit eine gesellschaftli-
figurationen auf, bei denen sowohl die zu verteilenden che Ordnung auch Forderungen der distributiven Ge-
Güter und Lasten als auch die relevanten Verteilungs- rechtigkeit unterliegt.
maßstäbe variieren. Angesichts dessen mag es auf den Eine Quelle dieser Kontroverse liegt darin, dass die
ersten Blick aussichtslos scheinen, Erfordernisse der distributive Gerechtigkeit, insoweit sie auf eine gesell-
distributiven Gerechtigkeit zu finden, die für alle diese schaftliche Ordnung Anwendung findet, vor den an-
Konfigurationen gleichermaßen gelten (vgl. Walzer deren Arten Priorität hat, weil sie die Rahmenbedin-
1983, 3–6). Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, gungen der anderen Arten bestimmt. So setzt die Ge-
dass eine Moral gleicher Achtung, die im Fall zwi- rechtigkeit von Tauschverhältnissen eine gerechte Al-
schenmenschlicher Interessenkonflikte jede unbe- lokation der getauschten Güter voraus, die zwar selber
120 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

durch eine Abfolge vorangehender gerechter Tausch- schlossener Verträge. Nach dieser Auffassung, die im
akte zustande gekommen sein mag, aber letztlich Lager des Wirtschaftsliberalismus beheimatet ist,
doch aus einer Ausgangsverteilung privater Rechte kann die distributive Gerechtigkeit, wenn überhaupt,
und Besitztümer hervorgegangen sein muss, die der nur auf die Anfangsverteilung der grundlegenden
distributiven Gerechtigkeit unterliegt. Ähnliches gilt Freiheits- und Eigentumsrechte der Individuen An-
für Herrschafts- und Unrechtsverhältnisse. Da sich wendung finden, macht aber sonst keinen Sinn, da es,
die distributive Gerechtigkeit damit als der Kern der abgesehen von jenen Rechten, nichts gibt, was den
sozialen Gerechtigkeit erweist, überrascht es nicht, Gesellschaftsmitgliedern gemeinsam zusteht und da-
dass diese mit jener oft gleichgesetzt wird und dass rum der Verteilung bedarf (vgl. Nozick 1974; Hayek
sich die Debatte um soziale Gerechtigkeit vorwiegend 1976). Infolgedessen lässt sie beliebige Ungleichhei-
um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit dreht. Auch ten der sozialen und ökonomischen Aussichten der
hier soll es nur mehr um diese Fragen gehen, obwohl Mitglieder zu, die sich aus deren Aktivitäten im Rah-
eine umfassende Vorstellung sozialer Gerechtigkeit men jener Rechte ergeben. Demgegenüber versteht
den Erfordernissen aller Arten der Gerechtigkeit Be- die kollektivistisch-kommunitäre Auffassung die Ge-
achtung schenken sollte. sellschaft als eine umfassende Gemeinschaft, deren
Davon ausgehend kann der allgemeine Begriff der Ordnung die Lebensbedingungen ihrer Mitglieder
sozialen Gerechtigkeit etwas näher bestimmt werden, von Geburt an maßgeblich bestimmt und deren
indem man darunter die Gesamtheit der für eine ge- Wohlstand aus dem Zusammenwirken aller Mitglie-
sellschaftliche Ordnung geltenden Gerechtigkeits- der resultiert, was diese gleichermaßen dazu berech-
erfordernisse versteht, unter denen die der distributi- tigt und verpflichtet, an den Vorteilen und Bürden
ven Gerechtigkeit Priorität besitzen, insoweit sie auf des gesellschaftlichen Lebens teilzuhaben (Schmoller
eine solche Ordnung Anwendung finden. Diese Be- 1881; Taylor 1998). Diese Auffassung, die in den Dok-
griffsbestimmung, die wiederum bloß formalen Cha- trinen des Kommunismus und des radikalen Sozialis-
rakter hat und mit jeder substanziellen Vorstellung so- mus ihre stärkste Ausprägung findet (s. Kap. III.33),
zialer Gerechtigkeit vereinbar ist, ja nicht einmal die impliziert, dass alle teilbaren und für das Wohlerge-
Negation der Geltung distributiver Forderungen aus- hen der Gesellschaftsmitglieder wesentlichen Güter
schließt, soll nun als Ausgangspunkt für die Analyse und Lasten, insbesondere auch die wirtschaftlichen,
der wesentlichen Konstruktionselemente der ver- der distributiven Gerechtigkeit unterliegen und des-
schiedenen Vorstellungen dienen, die mehr oder min- halb nur in dem Umfang ungleich verteilt werden
der strittig sind. dürfen, wie es für eine solche Ungleichverteilung trif-
tige Gründe gibt. Damit setzt sie – je nachdem, wel-
che Dinge sie als verteilungsbedürftige Güter und
Grundlegende Elemente der sozialen Lasten betrachtet und in welchem Umfang sie Un-
Gerechtigkeit gleichheiten für begründbar hält – sozialen Ungleich-
heiten mehr oder minder enge Grenzen, die entspre-
Das erste Element jeder Vorstellung sozialer Gerech- chende Einschränkungen des freien Handelns der Be-
tigkeit betrifft die Gesellschaftsauffassung, d. h. die teiligten erfordern.
Auffassung, was eine Gesellschaft ist, worin ihre Die heute in den entwickelten westlichen Gesell-
Funktionen bestehen und welche Güter und Lasten schaften vorherrschende Vorstellung sozialer Gerech-
ihren Mitgliedern gemeinsam zukommen (Koller tigkeit setzt eine Gesellschaftsauffassung voraus, die
1994). Darüber gibt es tiefgreifende Differenzen, de- zwischen den skizzierten Positionen liegt und Ele-
ren Spannweite von radikal individualistisch-libertä- mente beider verbindet. Dieser Auffassung zufolge ist
ren bis zu ausgeprägt kollektivistisch-kommunitären eine Gesellschaft weder ein Marktplatz, auf dem lauter
Auffassungen reicht. Die individualistisch-libertäre unabhängige Individuen zufällig zusammentreffen,
Auffassung sieht in einer Gesellschaft nichts weiter als noch eine Kommune, deren Mitglieder alles teilen,
eine Ansammlung selbständiger, bereits mit gewissen sondern ein politisches Gemeinwesen, das zwar je-
natürlichen Rechten ausgestatteter Privatpersonen, dem Mitglied entsprechende Grundfreiheiten für eine
die sich nur zum Zweck einer für sie vorteilhaften Ko- selbstbestimmte Lebensführung garantiert, aber auch
operation zu einer sozialen Ordnung verbinden und eine Reihe von Gemeinschaftsbelangen inkludiert,
darum einander auch nicht viel mehr schulden als die deren Güter und Lasten allen Mitgliedern zukommen.
Unterlassung von Gewalt und die Einhaltung ge- Diese Belange fallen sofort ins Auge, wenn man drei
18 Soziale Gerechtigkeit 121

Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in den Blick stimmt werden müssen, dass die Rechte jeder Person
nimmt, bezüglich welcher eine Gesellschaft die Züge mit korrelativen Pflichten anderer Personen Hand in
einer Gemeinschaft aufweist, und zwar die einer Be- Hand gehen. Dies ermöglicht es, im Weiteren einfach-
sitz-, einer Kooperations- und einer Solidaritäts- heitshalber nur mehr auf die Verteilung der Güter
gemeinschaft (Koller 1994, 132–138). bzw. der sie verkörpernden individuellen Rechte ab-
Eine Gesellschaft ist eine Besitzgemeinschaft in zustellen, wobei aber stets zu beachten ist, dass damit
dem Sinne, dass ihre natürlichen Ressourcen und kul- auch eine entsprechende Verteilung individueller
turellen Errungenschaften im Gemeinbesitz aller ih- Pflichten verbunden ist, welche die Lasten der Gesell-
rer Mitglieder stehen, einschließlich der künftigen. Je- schaftsmitglieder verkörpern.
des Mitglied hat daher grundsätzlich ein gleiches An- Das führt zum zweiten Element, das die Art der
recht auf Teilhabe an den Natur- und Kulturgütern der Güter betrifft, die der distributiven Gerechtigkeit un-
Gesellschaft, wie etwa an deren Umweltressourcen, terliegen. Da für eine nähere Erörterung dieser in der
tradierten Wissensbeständen und technischen Errun- Philosophie viel diskutierten Thematik hier nicht der
genschaften. Dieses Anrecht schließt privates Eigen- Platz ist, sei nur die Position des Autors resümiert, die
tum an solchen Gütern nicht aus, verlangt aber, dass weitgehend der Rawlsschen Konzeption sozialer
die gesellschaftliche Ordnung ihren Gebrauch so re- Primärgüter folgt, aber auch Elemente des Capability-
gelt, dass sie allen Mitgliedern zugutekommen (Stei- Ansatzes von Amartya Sen und der Theorie der Res-
ner 1981; Steinvorth 1999, 199–207). Eine Gesell- sourcengleichheit von Ronald Dworkin einbezieht
schaft ist ferner eine Kooperationsgemeinschaft inso- (vgl. Rawls 1971, 90–95; Sen 1992; Dworkin 2000, 65–
fern, als sie zur Gewährleistung eines friedlichen und 119; siehe dazu auch Roemer 1996, 163–203; Miller
zweckmäßigen sozialen Lebens die Bereitschaft ihrer 1999, 7–12; Kersting 2000, 26–30): Gegenstand der
Mitglieder verlangt, sich vielfältigen Normen zu un- distributiven Gerechtigkeit sind die fundamentalen
terwerfen, die ihr Verhalten einschränken oder sie zur gesellschaftlichen Güter, um die wegen ihres begrenz-
Erbringung bestimmter Leistungen verpflichten. Da- ten Umfangs Konkurrenz herrscht. Darunter sind Gü-
zu gehören jedenfalls die allgemein verbindlichen ter zu verstehen, die erstens im fundamentalen Inte-
Verhaltensregeln, die Gewalt und die Schädigung An- resse der Gesellschaftsmitglieder liegen, weil sie
derer verbieten, die Rechte und Freiheiten der Mit- grundlegende Voraussetzungen, Allzweckmittel oder
glieder, die es diesen ermöglichen, ihren Lebensunter- Befähigungsbedingungen für die Daseinsbewältigung
halt zu bestreiten und zur gesellschaftlichen Wert- und Selbstentfaltung der Individuen unabhängig von
schöpfung beizutragen, aber auch die Regelungen der deren jeweiligen Lebensplänen und Vorlieben verkör-
politischen Führung und Willensbildung, die eine ef- pern, und die zweitens gesellschaftlichen Charakter
fektive politische Gewalt etablieren (Rawls 1971, 520– haben, weil sie Objekt der gesellschaftlichen Besitz-,
529; Kersting 2000, 22–26). Und nicht zuletzt ist eine Kooperations- und Solidaritätsgemeinschaft sind und
jede Gesellschaft in einem gewissen Sinn auch eine durch die gesellschaftliche Ordnung verteilt werden.
Solidaritätsgemeinschaft, die ihren Mitgliedern, falls Diese Güter unterscheiden sich einerseits durch ihre
sie in Notlagen geraten und nicht für sich selber sor- Fundamentalität von privaten Gütern einzelner Per-
gen können, angemessene Unterstützung garantiert sonen, die diese durch ihre selbständigen Aktivitäten
und sie dazu verpflichtet, entsprechend ihrem Ver- im Rahmen der ihnen zukommenden Rechte erwor-
mögen zu einem entsprechenden System der sozialen ben haben, und andererseits durch ihre Gesellschaft-
Sicherung beizutragen. Infolgedessen hat jedes Mit- lichkeit von den natürlichen Gaben einzelner Per-
glied im Bedarfsfall Anspruch auf eine den gesell- sonen, über die diese aufgrund ihrer angeborenen
schaftlichen Lebensverhältnissen entsprechende Exis- physischen und psychischen Beschaffenheit verfügen.
tenzsicherung, die es ihm ermöglichen muss, seine Welche Dinge im Einzelnen als fundamentale ge-
Grundbedürfnisse zu befriedigen (Koller 2007). sellschaftliche Güter gelten sollen, hängt teils von rela-
Daraus folgt, dass jede Gesellschaft, auch eine mo- tiv konstanten Bedingungen der menschlichen Natur,
derne, eine Vielfalt an Gemeinschaftsbelangen inklu- teils von historisch und kulturell kontingenten Um-
diert, deren Güter und Lasten gerechter Verteilung be- ständen ab, so insbesondere vom Entwicklungsstand
dürfen. Diese Güter und Lasten nehmen im Rahmen der Gesellschaft. Obwohl darüber, worin diese Güter
der gesellschaftlichen Ordnung, durch die sie ja erst in den entwickelten Gesellschaften der Gegenwart be-
zur Verteilung gelangen, die Gestalt von Rechten und stehen, keine Einigkeit im Detail besteht, ist im Prin-
Pflichten der Mitglieder an, die so aufeinander abge- zip doch so viel offensichtlich, dass sie jedenfalls die
122 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

folgenden Mittel der Daseinsbewältigung und Selbst- schaftsmitglieder zur sozialen Kooperation zu ent-
entfaltung der Gesellschaftsmitglieder enthalten: sprechen, sofern deren Erträge bei unparteiischer Er-
1. die allgemeinen Rechte, die den einzelnen Mit- wägung allen zum Vorteil gereichen (Miller 1999,
gliedern unabhängig von deren besonderen Le- 131–155). Mit dem Freiheitsargument werden auch
bensumständen und Aktivitäten allein aufgrund solche Ungleichheiten legitimiert, die sich unver-
ihrer Gesellschaftszugehörigkeit zukommen; meidlich aus dem selbständigen Handeln der Einzel-
2. die individuellen Freiheiten, wozu neben den be- nen im Rahmen der ihnen durch die soziale Ordnung
kannten Grundfreiheiten auch ein grundsätzli- eingeräumten Rechte und Freiheiten ergeben, sofern
ches Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit ge- diese Ordnung bei unparteiischer Erwägung im Inte-
hört; resse aller liegt (Dworkin 2000, 120–134). Und das Be-
3. die politischen Teilhabemöglichkeiten, nämlich dürfnisargument wird angeführt, um ungleiche sozia-
die Rechte der Mitglieder auf Teilnahme an der le Leistungen für Personen, die Unterstützung brau-
politischen Meinungs- und Willensbildung über chen, mit Berufung auf deren ungleiche Bedürfnis-
kollektive Entscheidungen; lagen zu rechtfertigen (Miller 1999, 203–229). Alle
4. die sozialen Stellungen, d. h. die öffentlichen diese Argumente sind mit dem gleichen Wert aller
Funktionen und beruflichen Positionen, die mit Menschen vereinbar und zumindest prima facie plau-
mehr oder weniger Verantwortung, Einkommen, sibel. Ihr gemeinsamer Grundgedanke ist, dass soziale
Vermögen, Macht, Einfluss und Ansehen einher- Ungleichheiten dann gerechtfertigt sind, wenn (und
gehen; und insoweit, als) sie bei rechter Erwägung letztlich allen
5. die ökonomischen Ressourcen, wozu vor allem die Gesellschaftsmitgliedern, insbesondere auch den
wesentlichen Bedingungen des wirtschaftlichen schlechter gestellten, zum Nutzen gereichen (s. dazu
Wohlergehens der Mitglieder gehören, wie ihre Rawls 1971, 75–83; Hinsch 2002, 170–173).
sozialisations- und ausbildungsabhängigen Fähig- Davon ausgehend kann nun geprüft werden, ob
keiten, ihre Grundausstattung mit materiellen und inwieweit eine Ungleichverteilung der genannten
Mitteln, ihre Zugangsmöglichkeiten zur Arbeits- fundamentalen Güter gerechtfertigt werden kann.
welt und zum Einkommenserwerb, ihre Anrechte Diese Prüfung führt zu einem gemischten Befund.
auf Leistungen des sozialen Sicherungssystems Was die allgemeinen Rechte, die individuellen Frei-
und ihre Gelegenheiten zur Nutzung öffentlicher heiten und die politischen Teilhaberechte betrifft, gibt
Güter. es offensichtlich keine annehmbaren Gründe für ihre
Unter der Annahme, dass alle diese Güter der distri- Ungleichverteilung. Anders liegt der Fall bei den so-
butiven Gerechtigkeit unterliegen, impliziert deren zialen Stellungen und den ökonomischen Ressourcen.
Grundprinzip den folgenden basalen Grundsatz der Denn hinsichtlich dieser Güter scheint es recht plausi-
sozialen Gerechtigkeit: Die gesellschaftliche Ordnung bel, dass die früher genannten Argumente gewisse
hat nach Möglichkeit für eine Gleichverteilung der ge- Ungleichheiten der sozialen Stellung und der wirt-
nannten Güter Sorge zu tragen, sofern deren Un- schaftlichen Aussichten der Gesellschaftsmitglieder
gleichverteilung nicht durch triftige Gründe als ge- rechtfertigen können.
rechtfertigt erscheint.
Die Rechtfertigungsgründe für Ungleichheiten bil-
den das dritte Element jeder Vorstellung von sozialer Die vorherrschende Vorstellung sozialer
Gerechtigkeit. Welche Gründe dafür in Frage kom- Gerechtigkeit
men und welche Ungleichheiten sie rechtfertigen kön-
nen, ist zwar wiederum im Detail umstritten, doch Aus alledem ergeben sich fünf Grundpostulate der so-
gibt es weitgehende Einigkeit über einige Arten von zialen Verteilungsgerechtigkeit, die den Kern der mo-
Gründen, die im Prinzip geeignet sind, gewisse Un- dernen Vorstellung sozialer Gerechtigkeit bilden und
gleichheiten zu rechtfertigen. Diese Gründe treten ge- heute in demokratischen Gesellschaften trotz erhebli-
wöhnlich im Gewand dreier Argumente auf, des Leis- cher Meinungsdifferenzen im Detail weitgehende Ak-
tungs-, des Freiheits- und des Bedürfnisarguments zeptanz finden, nämlich die folgenden:
(vgl. Frankena 1962, 12 f.; Honoré 1970, 72–81; Wal- 1. rechtliche Gleichheit, wonach alle Mitglieder glei-
zer 1983, 21–26). Das Leistungsargument besagt, dass che allgemeine Rechte und Pflichten haben müs-
gewisse Ungleichheiten zulässig, ja geboten sind, um sen, die auf generellen und unpersönlichen Geset-
den ungleichen Leistungen oder Beiträgen der Gesell- zen beruhen;
18 Soziale Gerechtigkeit 123

2. bürgerliche Freiheit, verstanden als die gleiche erhalten, die ihnen eine selbstbestimmte Lebens-
Freiheit jeder Person, ihr Leben nach eigenem gestaltung und eine gleichberechtigte Teilnahme am
Gutdünken zu gestalten, insoweit diese Freiheit im sozialen Leben ermöglichen (Rawls 1971, 83–90; Bar-
Rahmen einer wohlgeordneten Gesellschaft für ry 2005, 37–105).
alle möglich ist; Das Postulat der ökonomischen Ausgewogenheit
3. demokratische Teilhabe, also das Recht aller mün- beruht auf der Annahme, dass eine Gesellschaft eine
digen Bürger auf gleichberechtigte Mitwirkung an Gemeinschaft der wirtschaftlichen Zusammenarbeit
der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung; darstellt, deren Vorteile und Bürden einer gerechten
4. soziale Chancengleichheit, der zufolge begehrte Verteilung bedürfen. Das schließt ökonomische Un-
soziale Positionen allen Mitgliedern entsprechend gleichheiten, die eine zweckmäßige Gestaltung der
ihren Fähigkeiten und Leistungen gleichermaßen Wirtschaftsordnung mit sich bringen mag, nicht aus,
offenstehen müssen; macht sie aber begründungsbedürftig. Der zulässige
5. ökonomische Ausgewogenheit, nach der wirt- Umfang dieser Ungleichheiten ist zwar wiederum in
schaftliche Ungleichheiten zwar einerseits zulässig hohem Maße umstritten, aber vielleicht wird der fol-
sind, insoweit sie für ein effizientes Wirtschafts- gende allgemeine Grundsatz breite Zustimmung fin-
leben erforderlich sind, andererseits aber auf ein den können: Ökonomische Ungleichheiten, also sol-
Ausmaß begrenzt werden müssen, das sicherstellt, che der ökonomischen Ressourcen, sind zulässig,
dass alle Gesellschaftsmitglieder davon profitieren. wenn sie mit einer Wirtschaftsordnung verbunden
Während die drei ersten Postulate – rechtliche Gleich- sind, die bei rechter Erwägung im Interesse aller Mit-
heit, bürgerliche Freiheit und demokratische Teilhabe glieder, insbesondere auch der schlechter gestellten,
– heute grundsätzlich unbestritten und in den Verfas- liegt, sei es deswegen, weil die betreffenden Ungleich-
sungen moderner Rechtsstaaten rechtlich verankert heiten zur Gratifikation allgemein erwünschter Leis-
sind (s. Kap. IV.50), haben die zwei letzten Postulate – tungen erforderlich sind, unvermeidlich aus einem
soziale Chancengleichheit und ökonomische Aus- dem Vorteil aller dienenden wirtschaftlichen Wett-
gewogenheit – im Wesentlichen nur den Status von bewerb resultieren oder aber dazu dienen, hilfs-
Prinzipien des politischen Diskurses, die breite An- bedürftigen Menschen eine angemessene soziale Si-
erkennung finden, im Detail aber umstritten sind. cherung zu garantieren.
Deshalb sollen nur sie abschließend kurz erläutert
werden. Literatur
Soziale Chancengleichheit verlangt, dass alle Ge- Barry, Brian: Why Social Justice Matters. Cambridge 2005.
sellschaftsmitglieder gleiche Aussichten haben, in ver- Dworkin, Ronald: Sovereign Virtue. The Theory and Practice
of Equality. Cambridge MA 2000.
schiedene soziale Positionen (berufliche Stellungen, Frankena, William K.: The concept of social justice. In: Ri-
öffentliche Funktionen) mit mehr oder weniger Ein- chard B. Brandt (Hg.): Social Justice. New Jersey 1962,
kommen, Einfluss, Macht und Ansehen zu gelangen, 1–29.
vorausgesetzt, dass die zwischen den Positionen beste- Gosepath, Stefan: Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines
henden Unterschiede gerechtfertigt sind (s. Kap. liberalen Egalitarismus. Frankfurt a. M. 2004.
Hayek, Friedrich A. von: Law, Legislation and Liberty, Vol. 2:
II.22). Dieses Postulat enthält zwei Teilforderungen,
The Mirage of Social Justice. London 1976.
formelle und materielle Chancengleichheit, von de- Hinsch, Wilfried: Gerechtfertigte Ungleichheiten. Grundsätze
nen die erste heute weithin unbestritten ist, während sozialer Gerechtigkeit. Berlin 2002.
über die zweite große Meinungsverschiedenheiten Honoré, Anthony M.: Social justice. In: Robert S. Summers
herrschen. Formelle Chancengleichheit verlangt zwei- (Hg.): Essays in Legal Philosophy. Oxford 1970, 61–94.
erlei: erstens, dass niemand von Rechts wegen von be- Kersting, Wolfgang: Theorien der sozialen Gerechtigkeit.
Stuttgart 2000.
gehrten sozialen Positionen ausgeschlossen ist (recht-
Koller, Peter: Gesellschaftsauffassung und soziale Gerechtig-
liche Offenheit), und zweitens, dass solche Positionen keit. In: Günter Frankenberg (Hg.): Auf der Suche nach der
im Wege fairer Verfahren besetzt werden (faire Aus- gerechten Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1994, 129–150.
wahl). Materielle Chancengleichheit meint dagegen –: Soziale Gerechtigkeit – Begriff und Begründung. In: Er-
eine gewisse Gleichheit der Startpositionen der nach- wägen Wissen Ethik 14/2 (2003), 237–250.
kommenden Gesellschaftsmitglieder im Sinne einer –: Solidarität und soziale Gerechtigkeit. In: Hermann-Josef
Große Kracht/Tobias Karcher/Christian Spieß (Hg.): Das
Begrenzung der Ungleichheiten ihrer Startbedingun- System des Solidarismus. Berlin 2007, 179–205.
gen dadurch, dass alle eine gleiche Grundausstattung Löffler, Winfried: Soziale Gerechtigkeit. Wurzeln und Ge-
an humanen Fähigkeiten und materiellen Ressourcen
124 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

genwart eines Konzepts in der Christlichen Soziallehre. 19 Strafgerechtigkeit


In: Peter Koller (Hg.): Gerechtigkeit im politischen Diskurs
der Gegenwart. Wien 2001, 65–88. Der Ausdruck ›Strafgerechtigkeit‹ wird in mindestens
Miller, David: Principles of Social Justice. Cambridge MA
1999. drei verschiedenen Hinsichten verwendet. Zum einen
Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. New York 1974. geht es um die Frage, ob Strafe überhaupt eine ge-
Rawls, John: A Theory of Justice. Cambridge MA 1971. rechtfertigte Reaktion auf normwidriges (und schuld-
Roemer, John E.: Theories of Distributive Justice. Cambridge haftes) Verhalten darstellt. Es geht mit anderen Wor-
MA 1996. ten um die Begründung von Strafe als gerechte Reakti-
Schmoller, Gustav: Die Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft.
on auf die Straftat. Man kann diese Frage als die nach
In: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirt-
schaft 5 (1881), 19–54. der Strafbegründungsgerechtigkeit bezeichnen. Zum
Sen, Amartya: Inequality Reexamined. New York 1992. anderen lässt sich dann, wenn die vorstehende Frage
Steiner, Hillel: Liberty and equality. In: Political Studies 29 positiv beantwortet wurde, danach fragen, welche Art
(1981), 555–569. von Strafe und in welcher Höhe eine Strafe als gerecht
Steinvorth, Ulrich: Gleiche Freiheit. Politische Philosophie im Hinblick auf die betreffende Straftat gelten kann.
und Verteilungsgerechtigkeit. Berlin 1999.
Taylor, Charles: Wesen und Reichweite distributiver Gerech-
Es geht hier mit anderen Worten um die Strafbemes-
tigkeit. In: Ders.: Negative Freiheit? Frankfurt a. M. 1988, sungsgerechtigkeit. Schließlich ist die Frage aufzuwer-
145–187. fen, auf welche Weise festgestellt wird, ob jemand eine
Vanberg, Viktor J.: Sozialstaatsreform und die soziale Ge- Straftat begangen hat, die dann auch zu einer Bestra-
rechtigkeit. In: Politische Vierteljahresschrift 45/2 (2004), fung führt. Die hier maßgeblichen Verfahrensregeln
173–180.
sollen die Garantie dafür abgeben, dass nach Möglich-
Walzer, Michael: Spheres of Justice. A Defence of Pluralism
and Equality. Oxford 1983. keit kein Unschuldiger bestraft wird, sondern nur der-
jenige, dem die Straftat gerechterweise vorgeworfen
Peter Koller werden kann. Dies ist die Frage nach der Strafverfah-
rensgerechtigkeit (s. auch Kap. II.21).
Über die so skizzierten Fragen nach dem ›Warum‹
von Strafe, nach dem ›Wie‹ der Strafe sowie nach dem
›Wodurch‹ der Feststellung einer Straftat hinaus las-
sen sich weitere für die Gerechtigkeit von Strafe rele-
vante Fragen stellen, etwa die, ob nun der Täter eher
wegen seines Charakters oder primär wegen der von
ihm begangenen Tat bestraft werden soll, oder ob
Strafe nur rechtswidriges (bzw. normwidriges) Ver-
halten voraussetzt oder auch schuldhaftes Verhalten –
und ob es Letzteres überhaupt geben kann, wenn man
insbesondere die Entscheidungsfreiheit einer Person
in Abrede stellt. Da diese und ähnliche Fragen sich je-
doch in den Kontext der oben formulierten drei
Grundfragen nach der Strafgerechtigkeit integrieren
lassen, sollen sie auch jeweils in deren Zusammen-
hang behandelt werden.

Strafbegründungsgerechtigkeit

Die Verhängung und umso mehr die Exekution von


Strafe gegen eine Person verlangt nach einer überzeu-
genden Begründung, weil sie anderenfalls kaum als
gerechte Reaktion auf die Straftat akzeptiert würde.
Dies gilt umso mehr, als es durchaus Stimmen gibt, die
die Strafe und den mit ihr verbundenen öffentlichen
Tadel durch die Autorität des Staates als ein unbe-
19 Strafgerechtigkeit 125

gründetes und daher ungerechtes Vorgehen kritisie- der Strafbegründung überhaupt eine Rolle spielt (vgl.
ren und dementsprechend für eine Abschaffung des auch Lampe 1999, 16 f.).
Strafrechts plädieren (so genannter Abolitionismus; ›Absolut‹ sind die ersteren Theorien deshalb, weil
vgl. etwa Plack 1974). Dabei kann sich diese Kritik pri- sie die Straftat durch die Strafe gewissermaßen ›aus-
ma facie sowohl auf die mangelnde (rechts-)philoso- gleichen‹ wollen und keinen darüber hinausgehenden
phische Fundierung der Strafe stützen als auch auf ih- Zweck verfolgen. Im Vordergrund stehen hier deshalb
re prinzipielle Unzweckmäßigkeit, wie dies etwa in Vergeltung, gerechter Ausgleich, Sühne, Wiederher-
manchen Feststellungen von Pädagogen zur Strafe stellung des Rechts, zum Teil auch Wiedergutma-
zum Ausdruck kommt. So heißt es etwa in einem pä- chung (die indes genau genommen Schadensersatz
dagogischen Wörterbuch: »Die Strafe ist erzieherisch und nicht Strafe ist; vgl. Hoerster 2012, 12). Als typi-
bedenklich und ein ungeeignetes Erziehungsmittel, sche Vertreter einer absoluten Straftheorie gelten Im-
weil sie das unerwünschte Verhalten nur unterdrückt, manuel Kant und G. W. F. Hegel. Wenn Kant etwa
aber nicht auf Dauer auslöscht, weil durch sie kein er- schreibt: »Richterliche Strafe (poena forensis) [...]
wünschtes Verhalten gelernt wird und weil viele un- kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu be-
erwünschte Nebenwirkungen zu befürchten sind« fördern für den Verbrecher selbst, oder für die bürger-
(Keller/Novak 1993, 334). liche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum
Jedoch ist gegen diese These im vorliegenden Zu- wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat;
sammenhang einzuwenden, dass sie nicht zugleich denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Ab-
gegen das Aussprechen von Lob oder die Belohnung sichten eines Anderen gehandhabt und unter die Ge-
eines Verhaltens votiert (was pädagogisch gesehen genstände des Sachenrechts gemengt werden« (AA
auch kaum sinnvoll wäre), der Verzicht auf Lob bzw. VI, 331), dann ist die Wendung ›weil er verbrochen
Belohnung im Einzelfall aber durchaus als Strafe gel- hat‹ nichts anderes als eine Übersetzung von quia pec-
ten muss und auch so empfunden wird. Wer demnach catum est; und Kant stellt sich damit bewusst in diese
zumindest in seiner pädagogischen Arbeit auch lobt, Tradition der Strafbegründung (vgl. auch AA VI, 363
straft auch, da er nicht jedes Verhalten loben kann. Fußnote) und damit gegen die Auffassung von Platon
Damit kommt er auch an einer Begründung für den und Seneca. Bei Hegel geht es ähnlich wie bei Kant um
Entzug von Lob, der Strafe gleichsteht, letztlich nicht die Tilgung des mit der Straftat verbundenen Rechts-
vorbei. bruchs, wenn er eine »Aufhebung des Verbrechens«
Als Ansatzpunkte für eine Begründung von Strafe durch »Verletzung der Verletzung« (bzw. »Negation
kommen zumindest seit Platon zwei Perspektiven in der Negation«) fordert, wobei die Straftat die erste Ne-
Betracht (vgl. Platon, Protagoras, 324a–b; übernom- gation (des Rechts) ist und die verhängte Strafe diese
men von Seneca, De ira I, 19): Man kann bestrafen, Negation ihrerseits negieren und dadurch das Recht
weil eine strafbare Handlung vorgenommen wurde wieder in seine ursprüngliche Position versetzen soll
(quia peccatum est – ›weil gesündigt wurde‹), oder man (vgl. Hegel 1821/1999, § 101).
kann strafen, um zu verhindern, dass weiterhin straf- Einwände gegen eine so oder ähnlich begründete
bare Handlungen vorgenommen werden (ne peccetur absolute Theorie werden etwa daraus hergeleitet, dass
– ›damit nicht gesündigt werde‹). Platon und Seneca die Strafe auf diese Weise in die Nähe bloßer Rache
lehnen dabei die erste Möglichkeit der Strafbegrün- gerückt werde (vgl. z. B. Schopenhauer 1819/1977,
dung ab und befürworten demgegenüber die zweite 433: »Alle Vergeltung des Unrechts durch Zufügung
(ebd.). Die Straftheorien, die sich auf die erste Perspek- eines Schmerzes, ohne Zweck für die Zukunft, ist Ra-
tive beziehen, werden herkömmlich als ›absolute Straf- che«), wenn sie auch nicht mehr private Rache ist,
theorien‹ bezeichnet, diejenigen Straftheorien da- sondern nunmehr staatlich vollzogene. Zudem wird
gegen, die die zweite Perspektive zugrunde legen, hei- eingewandt, dass Strafe immer Übelszufügung sei,
ßen ›relative Straftheorien‹ (vgl. etwa Jakobs 2004, die deshalb einer Rechtfertigung bedürfe durch etwas
5–7). Bei Verwendung klassischer Gerechtigkeits- Positives, das durch sie bewirkt werde. Der Blick müs-
begriffe kann man sagen, dass die absoluten Theorien se sich mit anderen Worten auf die Zukunft richten
primär den Gedanken der ›ausgleichenden Gerechtig- und nicht auf eine bloße Bewältigung der Vergangen-
keit‹ im Auge haben (Zippelius 2011, § 29 V), während heit (vgl. z. B. Hoerster 2012, 21–28, 47–50, der selbst
die relativen Theorien sich wohl eher auf die ›austei- einen interessenbasierten Ansatz der Strafbegrün-
lende Gerechtigkeit‹ (s. Kap. II.12) beziehen müssten, dung vertritt; ebd., 81–112: »Strafe im Interesse des
sofern der Begriff der Gerechtigkeit für sie im Kontext Bürgers«).
126 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

›Relative Straftheorien‹, die deshalb ›relativ‹ sind, verfolgen. Inwieweit Kant in seine Straftheorie aber
weil sie mit der Strafe einen pragmatischen (zukünfti- nicht ohnehin neben Vergeltungsaspekten auch Prä-
gen) Zweck verfolgen wollen, erstreben im Wesentli- ventionsaspekte aufgenommen hat, ist durchaus um-
chen die Prävention von möglichen neuen Straftaten stritten (vgl. Zaczyk 2005; Merle 2007 zur diesbezüg-
und nehmen die begangene Straftat letztlich nur zum lichen Debatte).
Anlass, entsprechende Vorbeugungsmaßnahmen zu So wenig wie unter Philosophen ist die Debatte
ergreifen. Dabei sind zwei Hauptziele zu unterschei- zwischen ›absoluter‹ und ›relativer‹ Straftheorie auch
den: einerseits Generalprävention, bei der es entweder in der deutschen Strafrechtswissenschaft ausgetragen
(negativ) darum geht, Personen in der Gesellschaft (vgl. dazu Pawlik 2004; Hassemer 2009; Hörnle 2011).
von der Begehung von Straftaten abzuschrecken (nä- Die meisten Autoren neigen (pragmatisch) einer ›Ver-
her Schmidhäuser 2004), oder (positiv) darum, das einigungstheorie‹ zu, die sowohl mithilfe ›absoluter‹
allgemeine Vertrauen in die Normgeltung durch die als auch ›relativer‹ Aspekte die Verhängung von Strafe
Bestrafung der Tat zu stabilisieren (näher Jakobs 1991, zu begründen sucht. Dabei liegt auf der Hand, dass die
6–8); andererseits kommt als Ziel der Strafe die Spezi- Einwände, die gegen eine ›absolute‹ oder eine ›relati-
alprävention in Betracht, der es darum geht, den Straf- ve‹ Strafbegründung sprechen mögen, auch eine ›Ver-
täter selbst von der Begehung weiterer Straftaten ab- einigungstheorie‹ treffen dürften (vgl. schon Bauer
zuhalten, sei es durch Abschreckung, sei es durch Re- 1825, §§ 233, 237).
sozialisierung etc. (vgl. etwa von Liszt 1905, 165 f.). In anderen Ländern werden partiell von der hier
Einwände gegen eine ›relative‹ Konzeption der dargestellten Diskussion abweichende rechtsphiloso-
Strafbegründung bestehen etwa darin, dass diese – phische und strafrechtliche Ansätze zur Strafbegrün-
würde sie konsequent umgesetzt – zu sehr hohen Stra- dung vertreten (z. B. Hart 1963; Finnis 1980; Feinberg
fen führen könnte, indem die begangene Straftat nur 1984; zu Japan vgl. die Beiträge in Rosenau/Kim 2010),
Anlass, aber nicht das Maß der Strafe sei und damit al- ohne dass indes gesagt werden könnte, hierdurch sei
les von dem anzustrebenden Präventionszweck abhän- die Dichotomie von ›absoluten‹ und ›relativen‹ Straf-
ge. Lasse sich z. B. Ladendiebstahl nicht anders verhin- theorien substanziell überwunden worden.
dern als durch Androhung und Verhängung langjähri- Letztlich am plausibelsten dürfte ein Begrün-
ger Freiheitsstrafen, müssten diese eben verhängt wer- dungsansatz sein, der in Anlehnung an Paul J. A. Feu-
den. Mitunter wird auch geargwöhnt, durch eine erbach zwischen der Begründung von Strafandro-
generalpräventive Theorie ließe sich sogar begründen, hung und Strafzufügung trennt (näher zur Straftheo-
die Angehörigen eines Täters zu bestrafen, etwa wenn rie Feuerbachs Naucke 1962; Hruschka 1987; Greco
man diesen nicht ergreifen könne, da auch dies einen 2009). Die Berechtigung zur Strafandrohung ließe
Abschreckungseffekt erziele. Teilweise wird aber auch sich dabei (zumindest indirekt) aus dem allgemeinen
bezweifelt, dass sich mit der Androhung von Strafe Notwehrrecht ableiten: Wenn es zulässig erscheint,
überhaupt ein präventiver Effekt erzeugen lasse, weil gegen jemanden (unter Umständen sogar gewaltsam)
bei der Begehung von (schweren) Straftaten meist ganz vorzugehen, der einen Anderen (rechtswidrig) an-
andere Motivlagen (etwa bei Mord: Eifersucht, Hass, greift (Notwehr), sollte es als Minus auch erlaubt sein,
Sexualtrieb etc.) die zentrale Rolle spielen und Täter ihm für den Fall seines Angriffs eine Sanktion an-
solcher Delikte dabei regelmäßig zuletzt an eine even- zudrohen. Dieses Recht ist allerdings dem einzelnen
tuelle Strafandrohung denken bzw. sich bei der Be- Bürger wegen des Gewaltmonopols des Staates entzo-
gehung ihrer Tat davon kaum beeinflussen lassen (nä- gen, der es treuhänderisch für den Bürger verwaltet.
her zu dieser These und ihrer Kritik Lampe 1999, 148– Dabei ergibt sich zugleich, dass keine höhere Strafe
150; Roxin 2006, 78–83, insbesondere Rn. 25). angedroht werden darf als zur Demotivation eines
Einen grundsätzlichen philosophischen Einwand (potenziellen) Täters erforderlich, wodurch sich zu-
gegen eine (rein) präventionsbezogene Begründung mindest eine gewisse Proportionalität zwischen
der Strafe hat zudem bereits Kant formuliert (s. o.). Strafhöhe und Tatschwere ergibt. Zugleich wird da-
Kant stützt sich dabei auf die von ihm entwickelte mit dem im Strafrecht anerkannten Grundsatz Rech-
Konzeption der Menschenwürde, die dadurch zu ach- nung getragen, dass das Strafrecht nur ultima ratio
ten sei, dass man keinen Menschen bloß als Mittel und der Sozialkontrolle sein sollte, weil dann, wenn es an-
nicht zugleich als Zweck gebrauche (AA IV, 429) – ein dere wirksame, weniger einschneidende Maßnahmen
Grundsatz, den man missachtete, würde man mit der zur Verhaltenssteuerung gibt, die Androhung von
Bestrafung nur (bzw. primär) einen Präventionszweck Strafe als schwerste Form staatlichen Tadels nicht ge-
19 Strafgerechtigkeit 127

rechtfertigt erscheint. Ist auf diese Weise die Andro- rechtlichen Pflichten und Pflichtverletzungen unver-
hung von Strafe jedenfalls zur Abwehr gravierender zichtbar (Wittwer 2011; Joerden 2013), wenn man
Rechtsgutbeeinträchtigungen begründbar, folgt die nicht zu einem Strafrecht einer bloßen Abwehr der
Berechtigung zur Strafzufügung daraus, dass die von Menschen ausgehenden Gefahren kommen will.
Strafandrohung leer und wirkungslos wäre, würde sie
im Fall der Begehung der Straftat nicht auch wahr ge-
macht. Feuerbach formuliert dies so: »Der Rechts- Strafbemessungsgerechtigkeit
grund der Androhung der Strafe, ist die Nothwendig-
keit die Rechte Aller zu sichern. Der Rechtsgrund der Die zweite Frage nach der Strafgerechtigkeit betrifft
Zufügung ist die vorhergegangene Drohung des Ge- die nach Art und Höhe der Strafe. Ihre Beantwortung
setzes« (Feuerbach 1801, § 21). ist in gewisser Hinsicht schon von der Entscheidung
Aber auch mit dieser Konzeption sind nicht alle über die für geeignet gehaltene Strafbegründungs-
Probleme der Strafbegründung gelöst. So bleibt bei ei- theorie vorgezeichnet (vgl. Lampe 1999). So werden
nem starren Mechanismus zwischen Androhung und ›relative Straftheorien‹ Art und Höhe der Bestrafung
Ausübung der Strafe (vgl. schon Kant AA VI, 331: grundsätzlich von der Chance auf eine Erreichung des
»Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ«) of- hiermit verfolgten Ziels abhängig machen, während
fen, weshalb es unter bestimmten Umständen sinn- die ›absoluten Theorien‹ primär den ›Ausgleich‹ der
vollerweise davon Ausnahmen geben muss, etwa weil Straftatbegehung im Blick haben werden. Letztere An-
Entschuldigungsgründe eingreifen oder Gründe für sätze tendieren daher mehr zu einer Proportionalität
eine Amnestie vorliegen etc. (vgl. Campagna 2007; zwischen der Schwere der Tat einerseits und der Straf-
2013). art und -höhe andererseits; Kants Formulierung des
Besondere Beachtung verdient die Konzeption von (ursprünglich biblischen) Prinzips der Talion lautet in
Feuerbach auch deshalb, weil sie die Bedeutung einer diesem Sinne: »[S]chlägst du ihn, so schlägst du dich
gesetzlich fixierten Strafandrohung hervorhebt, zu- selbst; tödtest du ihn, so tödtest du dich selbst. Nur das
sammengefasst in der wohl zuerst von Feuerbach so Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) aber, wohl zu
verwendeten Formel nullum crimen, nulla poena sine verstehen, vor den Schranken des Gerichts (nicht in
lege (Feuerbach 1801, § 24; vgl. auch Art. 103 Abs. 2 deinem Privaturtheil), kann die Qualität und Quanti-
GG; § 1 StGB). In Deutschland wird diese Formel in tät der Strafe bestimmt angeben [...]« (AA VI, 332).
zumindest vier Aspekte ausbuchstabiert, wenn es um Aber auch Kant war klar, dass es hierbei nur um Pro-
die Setzung und Auslegung von Strafgesetzen geht portionalität gehen kann, nicht um Gleichartigkeit
(näher dazu etwa Krey 1983; Roxin 2013): bzw. Gleichheit von Tat und Bestrafung im strengen
1. Gebot der Gesetzesbestimmtheit (nullum crimen Sinn (vgl. ebd.), die schon bei einer Vergewaltigung zu
sine lege certa); unannehmbaren Konsequenzen führen würde. Die
2. Gebot der schriftlichen gesetzlichen Fixierung meisten Vertreter ›absoluter Straftheorien‹ forderten
(nullum crimen sine lege scripta); allerdings (konsequent) bei Mord die Todesstrafe (vgl.
3. Verbot der rückwirkenden belastenden Straf- AA VI, 334 f. in Auseinandersetzung mit Beccaria).
rechtsänderung (nulla poena sine lege praevia); Heute erscheint dies indes nicht mehr akzeptabel, wo-
4. Verbot der Analogiebildung zulasten des Beschul- bei man gegen Kant einwenden könnte, schon sein ei-
digten (nulla poena sine lege stricta). gener Anspruch an die Wahrung von Menschenwürde
Ergänzt wird diese Reihe noch durch das inzwischen lasse die Todesstrafe nicht zu, weil bei ihr der Delin-
nach allgemeiner Ansicht rechtsstaatlich vorgeschrie- quent bloß noch als Mittel und gar nicht mehr als
bene Schuldprinzip (nulla poena sine culpa), wonach Zweck gebraucht werde. In Deutschland ist die Todes-
Strafe nur dann zugefügt werden darf, wenn dem Tä- strafe jedenfalls positivrechtlich durch Art. 102 GG
ter sein Normverstoß auch individuell vorgeworfen abgeschafft, und gegen eine (an sich denkbare, mit
werden kann. Dabei setzt das Strafrecht voraus, dass verfassungsändernder Mehrheit erfolgende) Strei-
es überhaupt so etwas wie Schuld geben kann, die ih- chung von Art 102 GG dürfte wohl zumindest die
rerseits die Möglichkeit zu einer freien Entscheidung (gem. Art. 79 Abs. 3 GG) »immerwährende« Men-
erfordert. Diese Voraussetzungen werden unter dem schenwürdegarantie aus Art. 1 GG stehen. Diese
Einfluss der modernen Gehirnforschung zunehmend Menschwürdegarantie spricht auch gegen Strafarten
in Zweifel gezogen (Roth 2006; Pauen/Roth 2008), er- wie Prügel oder sonstige Leibesstrafen, Prangerstrafen
scheinen aber in einer normativen Sprache von straf- etc., so dass als legitime Strafarten im Wesentlichen
128 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

(von einigen Nebenstrafen wie Berufsverbot, Fahrver- warten sind, und erwähnt insbesondere: die Beweg-
bot etc. abgesehen) nur noch die Freiheitsstrafe und gründe des Täters; seine Gesinnung, die aus der Tat
die Geldstrafe in Betracht kommen. spricht; den bei der Tat aufgewendeten Willen; das
Die für eine Straftat vorgesehene Strafhöhe wird in Maß der Pflichtwidrigkeit; die Art der Ausführung
aller Regel durch einen so genannten Strafrahmen und die verschuldeten Auswirkungen der Tat; das
(z. B. zwischen einem und fünf Jahren Freiheitsstrafe) Vorleben des Täters; seine persönlichen und wirt-
festgelegt. Denn die Zumessung der gerechten Strafe schaftlichen Verhältnisse; sein Verhalten nach der
ist insbesondere abhängig von der Schuld des Täters Tat. Einmal mehr zeigt sich hier, wie heterogen die
(vgl. § 46 StGB), die vom Richter individuell im Hin- Ansatzpunkte für die Bestimmung einer gerechten
blick auf die konkrete Tat und den konkreten Täter be- Strafe sein können und wie stark die unterschiedli-
stimmt wird und nicht durch eine ›punktgenaue‹ chen Strafbegründungskonzeptionen hier ihren Ein-
Strafandrohung seitens des Gesetzgebers vorweg- fluss ausüben.
genommen werden kann. Eine Ausnahme gilt für die
Anordnung der Strafbarkeit des Mordes, bei der das
Gesetz keinen Strafrahmen, sondern stets eine lebens- Strafverfahrensgerechtigkeit
lange Freiheitsstrafe vorsieht (vgl. § 211 StGB). Aller-
dings ist durchaus umstritten, ob diese gesetzliche Ein dritter Aspekt der Frage nach der Strafgerechtig-
Festsetzung überhaupt (verfassungsrechtlich) zulässig keit besteht darin, sicherzustellen, dass es bei dem Ver-
ist und dem Einzelfall gerecht werden kann. Die fahren der Feststellung einer Straftat und der anschlie-
Rechtsprechung unterläuft die Festsetzung des Ge- ßenden Verurteilung gerecht zugeht. Heute wird diese
setzgebers inzwischen in bestimmten Fallkonstellatio- Problematik üblicherweise als Forderung nach einem
nen unter Bezugnahme auf das verfassungsrechtliche ›fairen Strafverfahren‹ diskutiert (vgl. Art. 6 EMRK;
Verhältnismäßigkeitsprinzip durch eine Herabset- Art. 20 Abs. 3 GG). Während die oben erwähnten, im
zung der Strafe (vgl. BGH GSSt 30, 105; so genannte Anschluss an Feuerbach entwickelten Grundsätze da-
Rechtsfolgenlösung). zu dienen, die Grenzen einer möglichen Strafverfol-
Eine hiervon zu trennende Frage ist, ob im Hin- gung überhaupt zu markieren, geht es jetzt vor allem
blick auf eine Tat und ihren Täter eigentlich nur ge- um verfahrensrechtliche Vorkehrungen gegen eine
nau eine Strafhöhe innerhalb eines gesetzlich vor- ungerechtfertigte Strafverfolgung. Im Vordergrund
gesehenen Strafrahmens als angemessen und damit steht dabei zunächst die strafrechtliche Unschuldsver-
gerecht bezeichnet werden kann oder ob der Richter mutung (Achenbach 2001; Hruschka 2000), wonach
einen Spielraum hat, innerhalb dessen alle Strafhö- jeder als unschuldig zu gelten hat, bis ihm seine Schuld
hen akzeptabel sind, jedenfalls nicht mehr revisions- in einem förmlichen Gerichtsverfahren nachgewiesen
rechtlicher Überprüfung unterliegen (›Spielraum- wurde. Seine Fortsetzung findet dieses Prinzip in der
theorie‹). Danach gäbe es jeweils mehrere gerechte strafprozessualen Beweislastregel, wonach bei nicht
Strafhöhen (innerhalb des richterlichen Spielraums, nachgewiesener Schuld ein Freispruch zu erfolgen hat
der wiederum innerhalb des gesetzlichen Strafrah- bzw. bei Zweifeln über den Sachverhalt die dem Ange-
mens liegt). Dem steht die These entgegen, dass nur klagten günstigste Sachverhaltsgestaltung zugrunde zu
eine Strafe gerecht sein könne (›Punktstrafentheo- legen ist (in dubio pro reo).
rie‹). Angesichts der unterschiedlichen Ansätze zur Weiterhin setzt die Strafverfahrensgerechtigkeit
Rechtfertigung der Strafe überhaupt und der in der insbesondere voraus, dass keiner seinem gesetzlichen
herrschenden ›Vereinigungstheorie‹ einander wider- Richter entzogen werden darf (vgl. Art. 101 Abs. 1 S. 1
streitenden Konzepte – ein Widerstreit, der sich auch GG), der Beschuldigte stets einen Anspruch auf
in der gesetzlichen Vorschrift (§ 46 StGB) zur Straf- rechtliche Prüfung gegen ihn gerichteter staatlicher
zumessung widerspiegelt – dürfte indes die Spiel- Verfolgungsmaßnahmen hat (vgl. Art. 20 Abs. 3; Art.
raumtheorie schon aus pragmatischen Gründen den 104 GG), er nicht wegen ein und derselben Tat zwei-
Vorzug verdienen. mal zur Verantwortung gezogen werden darf (ne bis
Die Gründe, die im Einzelnen die Höhe einer ge- in indem; vgl. Art. 103 Abs. 3 GG), er einen Anspruch
rechten Strafe mitbestimmen, sind vielfältig; § 46 auf rechtliches Gehör hat (et audiatur altera pars; vgl.
StGB nennt in erster Linie die Schuld des Täters, Art. 103 Abs. 1 GG), er nicht ohne seinen Willen zur
aber auch die Wirkungen, die von der Strafe für das Mitwirkung bei der Aufklärung der Tat durch eigene
künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu er- Aussagen gezwungen werden darf (nemo tenetur se
19 Strafgerechtigkeit 129

ipsum accusare), er dementsprechend zu den gegen Jakobs, Günther: Strafrecht Allgemeiner Teil. Berlin 21991.
ihn erhobenen Anschuldigungen schweigen darf, er –: Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck. Paderborn 2004.
weiterhin einen Anspruch auf einen Verteidiger hat, Joerden, Jan C.: Strafrechtliche Perspektiven der Robotik. In:
Eric Hilgendorf (Hg.): Robotik und Gesetzgebung. Baden-
bestimmte Beweismethoden verboten sind (etwa Baden 2013, 195‒209.
Vernehmungen unter Androhung oder gar Anwen- Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
dung von Folter, Einsatz von Täuschungen oder Nar- [1785]. In: Königlich Preußische Akademie der Wissen-
kotika etc.; vgl. Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG; § 136a StPO) schaften (Hg.): Kant’s gesammelte Schriften [Akademie-
und das Strafverfahren in der Regel öffentlich durch- Ausgabe], Bd. IV. Berlin 1968 [AA IV].
–: Die Metaphysik der Sitten [1797]. In: Königlich Preußi-
geführt werden muss. Alle diese prozessrechtlichen
sche Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant’s gesam-
Prinzipien und Regeln (und weitere, die hier nicht im melte Schriften [Akademie-Ausgabe], Bd. VI. Berlin 1968
Einzelnen genannt werden können) dienen dazu, zu [AA VI].
gewährleisten, dass der Beschuldigte in einem gegen Keller, Josef A./Novak, Felix: Kleines pädagogisches Wörter-
ihn gerichteten Strafverfahren nicht zu einem Objekt buch. Freiburg/Basel/Wien 81993.
dieses Verfahrens wird, sondern dass er stattdessen Krey, Volker: Keine Strafe ohne Gesetz. Einführung in die
Dogmengeschichte des Satzes »nullum crimen, nulla poena
Prozesssubjekt sein kann. Kantisch gesprochen geht sine lege«. Berlin 1983.
es hier um die Wahrung der Menschenwürde auch Lampe, Ernst-Joachim: Strafphilosophie, Studien zur Strafge-
des (möglichen) Straftäters, der nicht zu einem blo- rechtigkeit. Köln 1999.
ßen Mittel einer Wahrheitsfindung ›um jeden Preis‹ Liszt, Franz von: Der Zweckgedanke im Strafrecht [1882].
werden soll. In: Ders.: Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze. Berlin
1905, 126‒179.
Merle, Jean-Christophe: Strafe aus Respekt vor der Men-
Literatur schenwürde. Berlin 2007.
Achenbach, Hans: Unschuldsvermutung. In: Historisches Naucke, Wolfgang: Kant und die psychologische Zwangstheo-
Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11. Darmstadt 2001, rie Feuerbachs. Hamburg 1962.
Sp. 266 f. Pauen, Michael/Roth, Gerhard: Freiheit, Schuld und Verant-
Bauer, Anton: Lehrbuch des Naturrechts. Göttingen 1825. wortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der
Bundesgerichtshof: Entscheidungen des Bundesgerichtshofs Willensfreiheit. Frankfurt a. M. 2008.
in Strafsachen (BGHSt). Köln (zit. nach Band und Seite). Pawlik, Michael: Person, Subjekt, Bürger. Zur Legitimation
Campagna, Norbert: Strafrecht und unbestrafte Straftaten. von Strafe. Berlin 2004.
Philosophische Überlegungen zur strafenden Gerechtigkeit Plack, Arno: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts.
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–: Der Rechtsstaat und das Problem der strafrechtlichen Platon: Protagoras. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Wal-
Amnestie. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 21 (2013), ter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck. Hamburg
167‒186. 1988.
Feinberg, Joel: The Moral Limits of the Criminal Law, Rosenau, Henning/Kim, Sangyun (Hg.): Straftheorie und
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Finnis, John: Natural Law and Natural Rights. Oxford 1980. Sicht der Hirnforschung. In: Ders./Klaus-Jürgen Grün
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Hörnle, Tatjana: Straftheorien. Tübingen 2011. hg. von Eric Hilgendorf. Berlin 2004.
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Hruschka, Joachim: Strafe und Strafrecht bei Achenwall. Zu Bänden, Bd. II. Zürich 1977.
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Aufklärung. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswis- damit sich das Schuldprinzip rechtfertigen lässt? In: Jahr-
senschaft 112 (2000), 285‒300. buch für Recht und Ethik 19 (2011), 397‒425.
130 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

Zaczyk, Rainer: Zur Begründung der Gerechtigkeit mensch- 20 Generationengerechtigkeit


lichen Strafens. In: Jörg Arnold et al. (Hg.): Menschen-
gerechtes Strafrecht. Festschrift für Albin Eser zum 70. Ge- Der Begriff der Generationen- oder intergenerationel-
burtstag. München 2005, 207‒220.
Zippelius, Reinhold: Rechtsphilosophie. München 62011. len Gerechtigkeit bezieht sich auf das Problem der ge-
rechten Verteilung von Lasten und Vorteilen zwischen
Jan C. Joerden den Angehörigen unterschiedlicher Generationen.
Dabei sind grob zwei Fälle zu unterscheiden. In dem
einen Fall geht es um die Verteilung von Lasten und
Vorteilen zwischen heute lebenden Personen in unter-
schiedlichen Altersgruppen; in dem anderen Fall be-
zieht sich der Begriff auf das Verhältnis zwischen den
heute Lebenden und den Verstorbenen oder noch
nicht Geborenen (s. Kap. V.80).
Wenn in der philosophischen Literatur von ›inter-
generationeller Gerechtigkeit‹ gesprochen wird, geht
es zumeist um Fragen, die sich im zuletzt genannten
Fall ergeben, da sich hier spezifische – und spezifisch
philosophische – Probleme stellen. Dies hat damit zu
tun, dass im Verhältnis zwischen Toten, Lebenden
und noch nicht Geborenen die üblichen Anwen-
dungsbedingungen des Gerechtigkeitsbegriffs nicht
vorliegen.
Insofern es bei Fragen der Generationengerechtig-
keit darum geht, was gegenwärtig Lebende vergange-
nen und zukünftigen Generationen schulden, werden
sie in jeder grundlegenden politischen Entscheidung
berührt. Besonders sichtbar werden diese Fragen in
umwelt-, finanz- und vergangenheitspolitischen De-
batten, wenn es um Themen wie die Erhaltung der na-
türlichen Umwelt (s. Kap. V.66), die Staatsverschul-
dung oder Wiedergutmachungspflichten geht.

Anwendungsbedingungen
der Gerechtigkeit

David Hume hatte erstmals in A Treatise of Human


Nature (1739–1740) Anwendungsbedingungen der
Gerechtigkeit formuliert und diese in An Enquiry
Concerning the Principles of Morals (1751) präzisiert.
Ihm zufolge gehört zu den besagten Bedingungen ne-
ben a) der Knappheit von Gütern (Knappheitsbedin-
gung) und b) den aufgrund der Knappheit entstehen-
den Interessendivergenzen über deren Verteilung
(Konfliktbedingung) auch c) die Fähigkeit, Ansprü-
che unter Aufbietung von Machtmitteln geltend zu
machen (Machtbedingung). Die Machtbedingung
rechtfertigt Hume in folgender Weise:

»Lebten Menschen mit einer Gattung rationaler We-


sen zusammen, die zu schwach wäre, um Widerstand
20 Generationengerechtigkeit 131

gegen uns zu leisten, und uns niemals, selbst bei größ- die Annahme eines auf die eigenen Nachkommen ge-
ter Herausforderung, die Auswirkungen ihres Zorns richteten Wohlwollens keine Abweichung von dem
fühlen lassen könnten, dann scheint mir die not- Prinzip der wechselseitigen Desinteressiertheit der Ur-
wendige Konsequenz die zu sein, dass wir durch die zustandsparteien beinhalte (Rawls 1971/1999, 167).
Gesetze der Menschlichkeit verpflichtet sind, diese Nach Brian Barry führt die Übernahme der Hu-
Wesen gütig zu behandeln; aber strenggenommen meschen Lehre von den Anwendungsbedingungen
wären uns von der Gerechtigkeit her keine Schranken der Gerechtigkeit bei Rawls dazu, dass das Wohlerge-
ihnen gegenüber auferlegt […]. Unser Umgang mit ih- hen zukünftiger Generationen nicht nur faktisch,
nen wäre nicht ›gesellschaftlich‹ zu nennen, da ein sondern auch normativ von dem Wohlwollen der
solcher einen Grad von Gleichheit voraussetzt« (Hume heute Lebenden abhängt. Ohne den Wunsch, die In-
1751/2002, 109). teressen der eigenen Nachkommen zu schützen,
werden die Parteien im Urzustand keine Verpflich-
Hume meint, dass wir »ganz offensichtlich« (ebd., tungen hinsichtlich zukünftiger Generationen ein-
110) Tieren gegenüber nicht gerecht oder ungerecht gehen (Barry 1989, 192).
sein könnten, weil der erforderliche Grad an Gleich- Eine naheliegende Reaktion auf den normativ kon-
heit nicht vorliege und wir daher mit ihnen keine Ge- tingenten und indirekten Status der Ansprüche zu-
sellschaft bildeten. Was Hume hier von Tieren sagt, künftiger Generationen bei Rawls besteht darin, die
dass ihnen die Fähigkeit abgehe, »selbst bei äußerster Humesche Machtbedingung für die Zuschreibung ge-
Herausforderung« wirksam Widerstand zu leisten, rechter Ansprüche aufzugeben. So wird nicht von
gilt a fortiori für die Angehörigen zukünftiger Genera- vornherein ausgeschlossen, dass Tiere und andere En-
tionen. Da zukünftige Personen nicht existieren, ha- titäten, mit denen Menschen keine Gesellschaft im
ben sie den Handlungen heute lebender Menschen Humeschen Sinne bilden, Träger von Rechten sein
nichts entgegenzusetzen. Heutige und zukünftige Ge- können.
nerationen bilden insofern einem Humeschen Ver-
ständnis gemäß keine Gerechtigkeitsgemeinschaft.
Folglich könnten die heute Lebenden den Nachkom- Rechtsträgerschaft zukünftiger und
men nichts schulden, sondern lediglich durch die vergangener Generationen
»Gesetze der Menschlichkeit« (ebd., 109) zur Rück-
sichtnahme verpflichtet sein. Die Preisgabe der Machtbedingung eröffnet die Mög-
John Rawls, der mit A Theory of Justice die erste sys- lichkeit, den Anwendungshorizont des Gerechtig-
tematische Diskussion des Themas ›Generationenge- keitsbegriffs zu erweitern. Jedoch ist es fraglich, ob
rechtigkeit‹ vorgelegt hat (Meyer 2003), hat zugleich Personen, die nicht mehr oder noch nicht leben, un-
Humes Anschauung über die Anwendungsbedingun- gerecht behandelt werden können. Folgt man John
gen des Gerechtigkeitsbegriffs übernommen (Rawls Stuart Mills Vorschlag, als ungerecht diejenigen
1971/1999, 109–112). Bei genauer Betrachtung erweist Handlungen zu bezeichnen, die jemandes moralische
sich, dass Rawls kein Konzept der Gerechtigkeit ›zwi- Rechte verletzen (Mill 1861/1969, 247), so hängt die
schen‹ Generationen vertritt, sondern ein Konzept der Antwort davon ab, ob und inwiefern das Handeln
Gerechtigkeit ›hinsichtlich‹ zukünftiger Generationen heute lebender Personen die moralischen Rechte ver-
(Barry 1989, 189–194). Sein Rechtfertigungsmodell storbener oder noch nicht lebender Menschen betref-
geht davon aus, dass Dritte keine ›Rechte‹ gegen die fen kann.
(ihr Eigeninteresse verfolgenden) Urzustandsparteien Es ist eine geläufige Annahme, dass verstorbene
haben (Rawls 1971/1999, 111). Vielmehr lautet die Personen nicht existieren. Fred Feldman nennt dies
Modellannahme, dass die Repräsentanten im Ur- die Auslöschungsthese (Feldman 2000, 98). Für An-
zustand den Wunsch haben, das Wohlergehen ihrer ei- hängerinnen der Auslöschungsthese muss die Ant-
genen Nachkommen über zwei Generationen sicher- wort auf die Frage, ob Tote Rechte haben können, ver-
zustellen (ebd.). Um für die Erfüllung dieses Wunsches neinend ausfallen. Ähnliches scheint für noch nicht
zu sorgen, werden sie daher mit den anderen Parteien Geborene zu gelten. Auch sie existieren nach verbrei-
des Urzustandes Bedingungen aushandeln, die den teter Auffassung nicht. Inexistente Personen können
Fortbestand einer gerechten Grundstruktur für die ge- jedoch keine Subjekte von Rechten sein (Macklin
samte Lebensspanne der eigenen Kinder und Enkel ga- 1981). Folglich kann keine gegenwärtige Handlung
rantieren (Rawls 2001/2003, 159). Rawls betont, dass ungerecht gegenüber Verstorbenen oder noch nicht
132 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

Lebenden sein. Der normative Status zukünftiger Ge- Status von Toten nach Yourgrau? Tote, wie Heinrich
nerationen kann somit nicht im Rahmen einer Theo- Heine, sind ihm zufolge Personen und nicht etwa Er-
rie intergenerationeller Gerechtigkeit bestimmt wer- innerungen oder Vorstellungen. Sie sind ›tote‹ Per-
den (Beckermann/Pasek 2001, 14). Gleiches gilt dieser sonen (Yourgrau 2000, 64). Geburt und Tod sind Än-
Ansicht zufolge für vergangene Generationen. Nennt derungen der Art, in der Personen sind. Die intrinsi-
man die Menge aller nicht-erworbenen moralischen schen Eigenschaften werden durch den Tod nach
Rechte von Individuen Menschenrechte, so lautet die Yourgrau nicht aufgehoben: Heine bleibt ein Mensch,
skeptische These, dass gegenwärtige Praktiken keine ein Schriftsteller, ein Mann usw., obwohl er jetzt nicht
Verletzung der Menschenrechte der Angehörigen zu- mehr existiert. Einen anderen Vorschlag unterbreitet
künftiger oder vergangener Generationen darstellen Niall Connolly (2011). Nach Connollys Bare Particu-
können. lar Theory sind Tote nicht, wie bei Yourgrau, Per-
sonen im Modus der Inexistenz. Vielmehr sind sie ei-
genschaftslose Einzeldinge. Mit dem Tod hört die
Die Existenzfrage hinsichtlich vergangener Person auf, zu existieren. Sie verliert ihre intrinsi-
und zukünftiger Generationen schen Eigenschaften, auch ihre Eigenschaft, Person
zu sein. Mit dem Tod wird eine Person zu einem blo-
Dass die Angehörigen zukünftiger oder vergangener ßen Partikular (Connolly 2011, 84 f.). Der Satz ›Hein-
Generationen nicht existieren (Inexistenzannahme), rich Heine ist tot‹ bezieht sich Connolly zufolge auf
wird gemeinhin als unbestreitbar richtig angesehen. ein solches Partikular, auf ein (nun) eigenschaftsloses
Zu sagen, dass Verstorbene oder noch nicht Lebende Einzelding.
existierten, scheint dagegen die problematische reli- Die Relevanz dieser offenen Debatte hinsichtlich
giöse oder metaphysische Annahme zu enthalten, sie des ontologischen Status von Verstorbenen für das
hätten ein Dasein im Jenseits (Meyer 2005, 79). Über- Thema ›Generationengerechtigkeit‹ besteht in Fol-
sehen wird dabei jedoch in der Regel, wie Palle Your- gendem: Ein Grund, der für die Behauptung ange-
grau argumentiert (2000, 51), dass die Inexistenz- führt wird, dass den Angehörigen zukünftiger Gene-
annahme es im Rahmen der klassischen Fregeschen rationen keine Menschenrechte zukommen, lautet,
Logik unmöglich macht, einem Satz wie ›Heinrich dass sie nicht existierten. Doch hierüber bestehen,
Heine ist tot‹ einen Wahrheitswert zuzuordnen. wie ausgeführt, vernünftige Meinungsverschieden-
Denn in der Fregeschen Logik muss jeder Term in ei- heiten. Laut eternalistischer Sichtweise sind noch
ner wahrheitswertfähigen Aussage auf etwas Existie- nicht Geborene nicht inexistent, sondern zeitlich ab-
rendes referieren. Wenn aber Heinrich Heine nicht wesend. Während offensichtlich zu sein scheint, dass
existiert, stellt ›Heinrich Heine ist tot‹ keine wahr- Inexistenz Rechtlosigkeit nach sich zieht, ist weit we-
heitswertfähige Aussage dar. Ein Lösungsversuch niger offensichtlich, warum aus zeitlicher Abwesen-
dieses Problems lässt die Inexistenzannahme fallen heit Rechtlosigkeit folgen sollte. Zur Veranschauli-
und nimmt an, dass alles, was jemals existiert haben chung: Joel Feinberg (1986, 154) gibt das Beispiel ei-
wird, existiert (Silverstein 1980, 418–424; 2000, 124– nes bösartigen Misanthropen, der kurz vor seinem
130). Der Satz ›Heinrich Heine existiert‹ ist zu jedem Tode in einem Kindergarten eine Zeitbombe ver-
Zeitpunkt (›für alle Ewigkeit‹) wahr; doch dies be- steckt, die erst nach zehn Jahren detoniert. Obwohl
deutet nicht, dass Heinrich Heine für alle Ewigkeit die Bombe ausschließlich Kinder verletzt, die zum
existiert. Heines Leben hat zeitliche Grenzen. Für uns Zeitpunkt der Tat noch lange nicht geboren waren,
Lebende ist der Satz: »Heinrich Heine existiert, aber liegt es nahe, zu sagen, dass ihnen seitens des Misan-
nicht jetzt« (vgl. Silverstein 2010, 285 f.) wahr. Ver- thropen schweres Unrecht zugefügt worden ist. Im
storbene und noch nicht Lebende sind dieser ›eterna- Gegensatz zu der präsentistischen Auffassung gibt es
listischen Sichtweise‹ zufolge nicht inexistent, son- dem Eternalismus zufolge keinen Grund, an dieser
dern zeitlich abwesend. Ein anderer Lösungsversuch intuitiven Sichtweise Kritik zu üben, weil Täter und
greift die Logik Alexius Meinongs auf, der zufolge es Opfer koexistieren, obwohl sich ihre Lebensspannen
inexistente Objekte gibt (vgl. Rosefeldt 2006). So geht nicht überlappen. Aus eternalistischer Perspektive ist
Yourgrau von der ›präsentistischen Sichtweise‹ aus, es unproblematisch, zu sagen, dass der Misanthrop
dass Tote nicht existieren. Unter Rückgriff auf Mei- die Rechte von Angehörigen zukünftiger Generatio-
nong nimmt er aber an, dass es Tote, obwohl inexis- nen verletzt. Denn zukünftige Personen existieren,
tent, gibt (Yourgrau 1987). Was ist der ontologische wenn auch nicht jetzt.
20 Generationengerechtigkeit 133

Gegenwärtige oder zukünftige Rechte wärtiger Rechte zukünftiger Personen, während die
zukünftiger Generationen konzessionäre Auffassung auf die Missachtung gegen-
wärtiger Pflichten aus zukünftigen Rechten abhebt.
Auch wenn die Existenz zukünftiger Personen zu-
gestanden wird, ist noch offen, ob daraus Gerechtig-
keitspflichten für Angehörige gegenwärtiger Genera- Gegenwärtige Rechte oder überlebende
tionen folgen. So lässt sich argumentieren, dass a) Pflichten: Vergangene Generationen
Personen Menschenrechte nur während ihrer Le-
bensspanne innehaben und b) aus zukünftigen Men- Während Meinungsverschiedenheiten darüber beste-
schenrechten nur Pflichten für diejenigen folgen, de- hen, ob gegenüber zukünftigen Menschen Gerechtig-
ren Lebensspanne sich mit derjenigen der Rechtein- keitspflichten bestehen, ist unstrittig, dass die Prakti-
haberinnen überschneidet. Axel Gosseries (2008a, ken gegenwärtig Lebender Einfluss auf das Wohlerge-
453–457) folgend kann man mit Blick auf b) von der hen unserer Nachkommen haben. Heutige Entschei-
Pflichten-Gleichzeitigkeitsthese sprechen und mit dungen über den Ressourcenverbrauch, die Sparrate
Blick auf a) von der Rechte-Gleichzeitigkeitsthese. oder die Menge globaler Emissionen klimaschädli-
Gemäß a) sind die Rechte zukünftiger Generationen cher Gase werden die Lebensbedingungen zukünfti-
zukünftige Rechte; gemäß b) entstehen aus den zu- ger Generationen wesentlich prägen.
künftigen Rechten einer zukünftigen Person keine ge- Ob jedoch heutige Handlungen das Wohlergehen
genwärtigen Pflichten. Verstorbener berühren können, ist weit weniger ein-
Beide Thesen lassen sich bestreiten. Derek Bell fach zu beantworten. Einerseits können heutige
(2011, 105) spricht im Anschluss an Robert Elliot Handlungen keine kausalen Faktoren für den Ablauf
(1989) von einer nicht-konzessionären Auffassung, vergangener Ereignisse sein. Wir können in diesem
wenn – entgegen a) – angenommen wird, dass zu- Sinne die Vergangenheit nicht ändern. Akzeptiert
künftige Personen gegenwärtige Rechte haben. Als man die Rechte-Gleichzeitigkeitsthese, so wird man
Schwierigkeit der nicht-konzessionären Auffassung sagen: Da man keine Ereignisse in der Vergangenheit
wird gesehen, dass sie nicht lebenden (und daher in- bewirken kann, ist es auch nicht möglich, heute ein
existenten) Personen gegenwärtige Rechte zuschreibt. Recht Verstorbener zu verletzen. Denn mit dem Tod
Rechte, so die Überlegung, können aber nicht un- einer Person enden deren Rechte. Folglich können wir
abhängig von den Inhaberinnen dieser Rechte beste- Verstorbenen kein Unrecht tun. Anders als im Falle
hen. Sie beginnen erst mit ihnen zu existieren. Die zukünftiger Generationen lässt sich gegen die Pflich-
Menschenrechte zukünftiger Generationen sind so- ten-Gleichzeitigkeitsthese nicht vorbringen, dass wir
mit zukünftige Rechte. Ereignisse und Zustände in der Zukunft mitbewirken
Die konzessionäre Auffassung akzeptiert a), be- können. Während wir Einfluss darauf haben, wie die
hauptet aber – entgegen b) –, dass aus zukünftigen Lebensbedingungen in der Zukunft ausfallen, können
Rechten durchaus gegenwärtige Pflichten folgen kön- wir an vergangenen Lebensbedingungen nichts mehr
nen. Für die konzessionäre Auffassung lässt sich anfüh- ändern. Insofern scheint es nicht nur plausibel, zu sa-
ren, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrschein- gen, dass Verstorbene keine gegenwärtigen Rechte ha-
lichkeit in der Zukunft Menschen leben werden. Daher ben, sondern auch, dass heute Lebende ihnen gegen-
sei bereits in der Gegenwart von bestimmten Praktiken über keine Gerechtigkeitspflichten haben. Denn Tote
auszumachen, dass sie zur Nichterfüllung oder Verlet- können nicht geschädigt werden (Meyer 2005, 81).
zung von Rechten in der Zukunft führen werden. Dass Jedoch findet sich auch die entgegengesetzte Auf-
die Identität der betroffenen Rechteinhaberinnen nicht fassung, dass eine Schädigung von Toten möglich sei
bekannt sei, sei unerheblich (Feinberg 1981, 147 f.). und dass daher auch davon gesprochen werden kön-
Gegenwärtige Handlungen werden nicht nur durch ge- ne, dass die Lebenden ihnen etwas schuldeten (Ridge
genwärtige, sondern auch durch zukünftige Men- 2003). Dass es für Verstorbene Gutes und Übles gebe,
schenrechte eingeschränkt (Meyer 2003, 145). ohne dass sie es spürten, hatte schon Aristoteles in der
Beide Auffassungen, konzessionäre wie nicht-kon- Nikomachischen Ethik (NE 1099 b 32) behauptet.
zessionäre, führen zu der Schlussfolgerung, dass der Jüngst ist diese Überzeugung von Ronald Dworkin
Misanthrop in Feinbergs Beispiel Gerechtigkeits- wiederholt worden: »Ob [...] ein Mensch ein gutes Le-
pflichten verletzt. Der nicht-konzessionären Auffas- ben hatte, kann sehr wohl durch Ereignisse nach sei-
sung zufolge ergibt sich dies aus der Verletzung gegen- nem Tod beeinflusst werden, die seine Leistungen
134 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

oder Hoffnungen entweder positiv oder negativ tan- dem Tod einer Person erweist, dass ihr Wunsch oder
gieren. Wie gut Ihr Leben gewesen ist, kann sich auch Vorhaben zum Scheitern verurteilt war. Doch das Ge-
dann noch verändern, wenn Sie nicht mehr sind« schehen post mortem hat dann eine rein epistemische
(Dworkin 2012, 341 f.). Die Tatsache, dass Ereignisse Funktion; es ›bewirkt‹ nicht die Schädigung ante mor-
nach unserem Tod beeinflussen können, wie gut unser tem. Vielmehr ›zeigt sich‹ post mortem der bereits ante
Leben war, erklärt nach dieser Ansicht auch, warum mortem bestehende Zustand der Schädigung. Eine Va-
wir ein Interesse an posthumen Ereignissen und Zu- riation des Bill-Beispiels zeigt die Grenzen des Vor-
ständen nehmen. George Pitcher (1984, 183) gibt fol- schlags: Wenn Bill erst nach dem Tod des Vaters ent-
gendes Beispiel für eine posthume Schädigung, die schieden hat, den Leichnam zu verkaufen, so muss
wir intuitiv zugleich als Form des Unrechts gegenüber man mit Pitcher entweder von der intuitiven Ein-
einem Verstorbenen betrachten würden: Bill ver- schätzung abweichen, dass Bill seinen verstorbenen
spricht seinem sterbenden Vater, dass er ihn beerdigen Vater betrüge und somit schädige; oder man hätte sich
lassen wird; stattdessen verkauft Bill die Leiche seines auf die Behauptung festzulegen, dass ein kontingentes
Vaters an ein medizinisches Forschungsinstitut. Intui- Post-mortem-Ereignis, der Verkauf der Leiche, eine
tiv, so Pitcher, will es scheinen, als habe Bill seinen Va- Ante-mortem-Schädigung ›bewirkt‹. Geht man von
ter betrogen und ihm damit Unrecht zugefügt. der Richtigkeit der Auslöschungsthese und der These
Ein naheliegender Einwand gegen den Gedanken von der Gerichtetheit der Zeit aus, so ist dies nicht
posthumer Schädigung lautet, dass Tote durch gegen- nachvollziehbar. Lukas Meyer (2005, 91–95) schlägt
wärtige Ereignisse nicht mehr ›affiziert‹ werden kön- daher vor, auf den Gedanken posthumer Schädigung
nen. Bills Vater ist tot. Was mit seiner Leiche geschieht, zu verzichten und stattdessen anzunehmen, dass An-
ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung für ihn. te-mortem-Pflichten den Tod einer Rechtsträgerin
Doch lässt sich hier einwenden, dass intuitiv Zustände überleben können.
oder Ereignisse als schlecht für eine Person angesehen Demgegenüber lässt sich gestützt auf eine eternalis-
werden können, auch wenn sie sich dieser Zustände tische These argumentieren, dass der Tod nicht das
oder Ereignisse nicht bewusst ist. Thomas Nagel Ende der Existenz einer Person ist und dass sie daher
(1970, 76) nennt das Beispiel eines Mannes, der hinter post mortem geschädigt werden kann (Schefczyk
seinem Rücken verspottet wird. Verspottet zu werden, 2012, 344–353). Hätte die Gestapo das Tagebuch der
so könnte man meinen, ist schlecht, auch wenn man Anne Frank vernichtet, so wäre Letztere mit einem
von dem Spott gar nichts mitbekommt. Sollte es nicht- zentralen Lebensprojekt gescheitert. Ob das Projekt
erfahrene Schädigungen geben, so reicht es zur Zu- zu Lebzeiten oder post mortem scheitert, ist in den Au-
rückweisung des Gedankens posthumer Schädigung gen derjenigen, die von der Möglichkeit nicht-erfah-
nicht aus, darauf zu verweisen, dass Tote durch Zu- rener Schädigung und der Existenz der Toten über-
stände und Ereignisse nicht affiziert werden können. zeugt sind, unerheblich.
Auf dieses Defizit reagiert das auf der Auslöschungs-
these beruhende Argument gegen den Gedanken post-
humer Schädigung oder posthumen Unrechts. Wenn Die Schädigung zukünftiger und
Tote nicht existieren, dann sind sie keine möglichen vergangener Generationen
Subjekte von Schädigungen. Dies unterscheidet Tote
von lebenden Personen, die eine nicht-erfahrene Schä- Eng verbunden mit dem Problem der möglichen
digung erleiden. Im Fall von Toten ist fraglich, wer ge- Rechtsträgerschaft ist die Frage nach der Verletzbar-
schädigt ist (Meyer 2005, 85). keit der Angehörigen zukünftiger Generationen durch
Pitcher (1984, 184) hat folgende Betrachtungsweise gegenwärtiges Handeln. Selbst wenn noch nicht le-
vorgeschlagen: Handlungen post mortem können die bende Personen Rechte hätten, ließe sich behaupten,
Person ante mortem beeinträchtigen. Wenn Bill die dass diese Rechte in paradigmatischen Fällen dessen,
Leiche seines Vaters verkauft, so schädigt er nicht sei- was gemeinhin als intergenerationelle Ungerechtig-
nen verstorbenen, sondern seinen lebenden Vater, in- keit betrachtet wird, gar nicht verletzt würden, da die
sofern er dafür sorgt, dass dessen Wunsch, beerdigt zu Handlungen der gegenwärtig lebenden Menschen
werden, nicht in Erfüllung geht. Es ließe sich sagen: weitgehend festlegen, welche und wie viele Angehöri-
Bills Vater war bereits geschädigt, als sein Sohn ihm ge zukünftiger Generationen geboren werden.
ein lügenhaftes Versprechen gab. Diese Sichtweise hat Die Überlegung ist folgende (Parfit 1984, 351–355):
eine gewisse Plausibilität in Fällen, in denen sich nach Notwendige Bedingung für die Existenz einer be-
20 Generationengerechtigkeit 135

stimmten Person ist die Empfängnis. Welche Eizelle die verstorbenen Opfer des Unrechts zur Förderung
mit welcher Samenzelle verschmilzt, ist partner- und des Wohlergehens ihrer Nachkommen verpflichtet
zeitpunktabhängig. Ereignisse, die den Zeitpunkt der waren (oder ein Interesse daran hatten), ist die Über-
Empfängnis oder die Partnerwahl beeinflussen, be- nahme dieser Pflichten (oder die Erfüllung dieses In-
einflussen somit, welche Menschen existieren. Wenn teresses) Teil der ihnen geschuldeten Restitution.
die Existenz einer zukünftigen Person von den Hand- Mit Blick auf zukünftige Generationen hat Meyer
lungen gegenwärtig lebender Menschen abhängt, so (2005, 36–39) eine »Schwellenwertkonzeption der
können diese Handlungen nicht als Schädigungen an- Schädigung« vorgeschlagen, um das Nichtidentitäts-
gesehen werden. Denn ohne diese Handlungen wür- problem zu entschärfen: Gegenwärtige Praktiken stel-
den die betreffenden Personen kein besseres Leben len eine Schädigung der Angehörigen zukünftiger Ge-
führen, sondern gar nicht existieren. Eine Vorausset- nerationen dar, wenn sie deren Lebensqualität unter
zung für die Existenz einer Person kann keine Schädi- ein bestimmtes Niveau drücken. Dies gilt auch dann,
gung eben dieser Person sein. Derartige Überlegun- wenn die Praktiken Voraussetzung für die Existenz
gen sind unter dem Titel Nichtidentitätsproblem von der Betroffenen sind. Die Schädigung besteht folglich
Derek Parfit (ebd., 351–379) in Reasons and Persons nicht in der Schlechterstellung einer Person durch die
ausführlich entwickelt worden (vgl. auch Sher 1979). fragliche Praxis. Vielmehr besteht die Schädigung in
In Feinbergs Beispiel des Misanthropen kann da- der Nichterfüllung eines Anspruchsrechts, das der
von ausgegangen werden, dass das Deponieren der fraglichen Person zukommt.
Bombe keinen Einfluss darauf hatte, welche Men-
schen geboren werden. Die Handlung war keine Vo-
raussetzung für die Existenz der betroffenen Kinder. Was schulden wir zukünftigen
In paradigmatischen Fällen intergenerationeller Un- Generationen?
gerechtigkeit ist dies jedoch nicht der Fall. So ist argu-
mentiert worden, die in den Vereinigten Staaten gebo- John Rawls verdanken wir die nach wie vor einfluss-
renen Sklaven und deren Nachfahren könnten nicht reichste Gerechtigkeitstheorie und den ersten Ent-
beanspruchen, durch die Sklaverei geschädigt worden wurf einer systematischen Konzeption der Generatio-
zu sein, da sie ohne diese niemals geboren worden wä- nengerechtigkeit. Er behandelt intergenerationelle
ren (Fishkin 1991, 91; Kershnar 1999, 95). Analoges Gerechtigkeit (ähnlich wie die internationale Gerech-
ließe sich für den anthropogenen Klimawandel, die tigkeit) als eine »Erweiterung« seiner Grundkonzepti-
Ausbeutung natürlicher Ressourcen oder die Zerstö- on (Rawls 1998, 87). Neben einem angemessenen Sys-
rung von Ökosystemen sagen: Sofern diese Prozesse tem von Freiheitsrechten und chancengleichem Zu-
Einfluss auf die Zusammensetzung der nachfolgenden gang zu Ämtern und Positionen fordert Rawls die Ma-
Generationen hatten, können sie nicht als Schädigung ximierung der sozioökonomischen Situation der am
der Angehörigen dieser Generationen angesehen wer- schlechtesten gestellten Gesellschaftsmitglieder. Die
den. Denn die besagten Prozesse waren Vorausset- hierfür zu leistenden Transfers müssen jedoch mit der
zung für deren Existenz. Von einer Schädigung könn- Aufrechterhaltung einer gerechten Grundstruktur der
te, dieser Argumentationsweise zufolge, unter den ge- Gesellschaft in der Generationenfolge vereinbar sein.
gebenen Annahmen nur in dem extremen Fall die Re- Das Existenzminimum wird daher im Urzustand si-
de sein, dass die eigene Existenz für die Angehörigen multan mit einem »gerechten Spargrundsatz« be-
der nachfolgenden Generation selbst ein Übel darstel- schlossen (Rawls 2003, 245 f.). Generationengerech-
len würde und es insofern besser für sie gewesen wäre, tigkeit ist somit ein integraler Bestandteil der Rawls-
gar nicht zu existieren. schen Gerechtigkeitstheorie; ihre Integration gelang
Das Identitätsproblem verliert im Falle histori- aber nicht auf Anhieb. Die in der ersten Ausgabe von
schen Unrechts an Bedeutung, wenn man davon aus- Eine Theorie der Gerechtigkeit vorgeschlagene Version
geht, dass Wiedergutmachungspflichten gegenüber hat er später revidiert (Rawls 1977). Zunächst hatte
Nachkommen aus den Rechten von Verstorbenen ab- Rawls in Abänderung der Grundkonzeption postu-
geleitet werden können (Wheeler 1997; Schefczyk liert, dass die Parteien im Urzustand keine rein eigen-
2012, 359 f.). Primäres Ziel der Wiedergutmachung interessierten Individuen sind, sondern Repräsentan-
historischen Unrechts ist dieser Ansicht zufolge die ten von Familien, die sich um das Wohlergehen ihrer
Wiederherstellung des moralischen Status der Opfer Kinder und Kindeskinder sorgen. Auf diesem Wege
als zu achtender Personen. Unter der Annahme, dass sollte die Schwierigkeit behoben werden, dass rein ei-
136 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

geninteressierte Parteien keinen Grund erkennen schließt das Differenzprinzip aus, dass eine Politik
würden, Kapital an nachfolgende Generationen zu des Wirtschaftswachstums betrieben wird, es sei
übertragen. Allerdings brachte der Vorschlag seiner- denn, die am schlechtesten gestellten Mitglieder ge-
seits eine Reihe gravierender Probleme mit sich (vgl. ben einer solchen Politik ihre ausdrückliche Zustim-
English 1977). In seiner revidierten Theorie geht mung (ebd., 207).
Rawls davon aus, dass die Parteien im Urzustand ei- Ob und in welcher Weise Gerechtigkeit als Fair-
nen für alle Generationen verbindlichen Spar- und In- ness mit dem Gedanken vereinbar ist, dass die ge-
vestitionsplan festlegen. Die Parteien im Urzustand genwärtig Lebenden den Nachgeborenen den Erhalt
wissen, dass sie Zeitgenossen sind, doch nicht, wel- der natürlichen Umwelt schulden, wird unterschied-
cher Generation sie angehören und auf welchem Ent- lich eingeschätzt. Klaus Mathis (2011) argumentiert,
wicklungsstand die Gesellschaft sich befindet (Rawls dass der Rawlssche Spargrundsatz einer Konzeption
2003, 247). Sie fragen, von welchem Spargrundsatz sie schwacher Nachhaltigkeit verpflichtet sei, insofern er
wollen würden, dass er in vorangegangenen Genera- den Erhalt des gesamten Kapitalstocks fordere. Eine
tionen befolgt worden wäre – unter der Annahme, Revision im Sinne einer Konzeption starker Nach-
dass sie selbst dieser Generation angehören könnten haltigkeit, die den Erhalt des Naturkapitals verlange,
(ebd.). Der Plan stimmt die Sparrate auf die erreichte sei aber ohne weiteres möglich (Mathis 2011, 111).
gesellschaftliche Entwicklungsstufe ab. In einer ge- Andere, wie Stephen Gardiner, sehen die Anpas-
schlossenen Volkswirtschaft, wie sie Rawls aus Grün- sungsfähigkeit der Rawlsschen Theorie mit Blick auf
den der Einfachheit in seinem Modell annimmt, ent- die Erhaltung der Natur als begrenzt an (Gardiner
sprechen die Ersparnisse notwendigerweise den In- 2011).
vestitionen. Arme Gesellschaften müssen einen grö-
ßeren Teil der wirtschaftlichen Produktion sparen, Literatur
um das für den Aufbau einer gerechten Grundstruk- Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt und hg. von
tur notwendige Kapital zu akkumulieren (Akkumula- Olof Gigon. München 1972 [NE].
Barry, Brian: Theories of Justice. Berkeley 1989.
tionsphase). Ist der Wohlstand hoch genug, um die Beckerman, Wilfred/Pasek, Joanna: Justice, Posterity and the
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rationen sind nicht verpflichtet, zum Wohl der Nach- Dworkin, Ronald: Gerechtigkeit für Igel. Frankfurt a. M. 2012
geborenen mehr zu sparen, als für den Erhalt der (engl. 2011).
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lich ist (Gosseries 2008b, 67; Rawls 1971/1999, 255). plied Philosophy 6/2 (1989), 159–170.
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lässt sich entsprechend als starker Suffizientarismus
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unter der Gerechtigkeitspflicht, den nachfolgenden 150.
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die Aufrechterhaltung einer gerechten Grundstruktur ming. In: Social Philosophy and Policy 4/1 (1986), 145–
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erlaubt (Bedingung institutioneller Nachhaltigkeit). Feldman, Fred: The termination thesis. In: Midwest Studies
Abweichend von Rawls’ Einschätzung, dass es ei- in Philosophy 24/1 (2000), 98–115.
ner Gesellschaft freistehe, mehr zu sparen als von der Fishkin, James S.: Justice between generations: Compensa-
Nachhaltigkeitsbedingung gefordert, ist argumen- tion, identity, and group membership. In: John W.
tiert worden, dass eine höhere Sparquote das Diffe- Chapman (Hg.): Compensatory Justice. New York 1991,
85–96.
renzprinzip verletze (Gaspart/Gosseries 2007, 203 f.).
Gardiner, Stephen M.: Rawls and climate change: does
Statt mehr zu sparen, müssen die Mittel an die am Rawlsian political philosophy pass the global test? In: Cri-
schlechtesten gestellten Mitglieder der gegenwärti- tical Review of International Social and Political Philosophy
gen Gesellschaft zu Konsumzwecken transferiert 14/2 (2011), 125–151.
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20 Generationengerechtigkeit 137

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21 Verfahrensgerechtigkeit Vollkommene und unvollkommene


Verfahrensgerechtigkeit
Ein Verfahren legt eine regelgeleitete Abfolge von Er-
eignissen oder Handlungen fest. Verfahren werden Die Vorstellung, dass gerechte Verfahren zu gerechten
durchgeführt, um Ergebnisse mit gewissen Eigen- Ergebnissen führen, ist klärungsbedürftig. Ein gerech-
schaften hervorzubringen, und die Befolgung der für tes Gerichtsverfahren führt, so nehmen wir an, zu ge-
ein Verfahren wesentlichen Regeln soll sicherstellen rechten Urteilen. Allerdings haben auch Prozesse, die
oder zumindest wahrscheinlich machen, dass die Ver- – soweit erkennbar – gerecht waren, schon zu unge-
fahrensergebnisse die gewünschten Eigenschaften tat- rechten Urteilen geführt, z. B. wenn Unschuldige für
sächlich haben. So führt die Befolgung der logischen ein Verbrechen verurteilt wurden, das sie – wie sich
Regeln mathematischer Beweisverfahren zu ›wahren‹ später herausstellte – nicht begangen hatten. Hier
mathematischen Aussagen, und medizinische Thera- kommen unterschiedliche Aspekte der Gerechtigkeit
pieverfahren beruhen auf Regeln, die es wahrschein- zum Tragen. Wir halten es ›der Sache nach‹ für unge-
lich sein lassen, dass mit ihrer Hilfe behandelte Patien- recht, wenn Unschuldige verurteilt werden, unabhän-
ten geheilt werden. gig davon, wie es dazu kam. Und wir halten es für ge-
Im sozialen Leben spielen Verfahren eine wichtige boten, Gerichtsverfahren so zu gestalten, dass mög-
Rolle, wenn es darum geht, zu verbindlichen Ent- lichst keine Unschuldigen verurteilt werden. Die An-
scheidungen und Regelungen zu kommen, und in forderungen an einen gerechten oder fairen Prozess
der Regel wird der Gerechtigkeit oder Fairness von sind insoweit Anforderungen der Zweckmäßigkeit,
Verfahren wie auch ihrer Ergebnisse eine große Be- die sich aus den unabhängig vom Gerichtsverfahren
deutung beigemessen. Man denke an politische Wah- bestehenden Anforderungen an gerechte Gerichts-
len, Abstimmungen im Parlament oder Gerichtspro- urteile herleiten. Ein ›gerechtes Verfahren‹ ist ein Ver-
zesse. In der politischen Philosophie und der Ethik fahren, das in möglichst vielen – idealerweise in allen
bezieht sich der Ausdruck ›Verfahrensgerechtigkeit‹ – Fällen zu einem unabhängig vom Verfahren gerech-
(procedural justice) sowohl auf die Gerechtigkeit von ten Urteil führt (vgl. umfassend zur prozeduralen Ge-
Verfahren als auch auf die Gerechtigkeit der Ergeb- rechtigkeit von Zivilgerichtsverfahren Solum 2004).
nisse von Verfahren, wobei angenommen wird, dass ›Verfahrensgerechtigkeit‹ ist insoweit ein teleologi-
die Gerechtigkeit der Ergebnisse aus der Gerechtig- sches Konzept (von gr. telos – Ziel), denn die Gerech-
keit der Verfahren resultiert. In der Soziologie und tigkeit des Verfahrens leitet sich von der (wahrschein-
Sozialpsychologie bezeichnet ›Verfahrensgerechtig- lichen) Erreichung seines Ziels, des gerechten Verfah-
keit‹ überdies die Eigenschaft eines Verfahrens, bei rensergebnisses, her. ›Vollkommene‹ Verfahrens-
Beteiligten und Dritten die Überzeugung hervorzu- gerechtigkeit läge dann vor, wenn die Anwendung
rufen, die durch das Verfahren zustande gekom- eines Verfahrens Ergebnisse garantieren würde, die
menen Ergebnisse seien gerecht und akzeptabel. gemessen an verfahrensunabhängigen Kriterien ge-
Ethik und politische Philosophie erörtern, was tat- recht sind. Weil die Durchführung von Verfahren in
sächlich gerecht ist, die empirischen Sozialwissen- der Praxis jedoch auch bei bestem Willen aller Betei-
schaften erforschen dagegen, was als gerecht wahr- ligten stets fehleranfällig ist, können wir im wirk-
genommen wird (perceived justice), z. B. weil es das lichen Leben nur mit ›unvollkommener‹ Verfahrens-
Ergebnis eines Verfahrens ist. Die Frage, ob es tat- gerechtigkeit rechnen, d. h. mit Verfahren, die in der
sächlich gerecht ist, bleibt offen. Vorliegendes Kapitel Mehrzahl der Fälle gerechte Ergebnisse zustande brin-
handelt von der Verfahrensgerechtigkeit als Gegen- gen, aber nicht immer. Gerichtsverfahren sind dafür
stand der politischen Philosophie und der Ethik (vgl. ein Beispiel unter vielen.
zur Verfahrensgerechtigkeit in den Sozialwissen- Anforderungen an gerechte Verfahren ergeben sich
schaften Lind/Tyler 1988 sowie Tyler 1990 und 2005 nicht ausschließlich daraus, dass ihre Erfüllung wahr-
und die dort angegebene Literatur). scheinlich zu Ergebnissen führt, die verfahrensunab-
hängigen Gerechtigkeitskriterien genügen. Neben te-
leologisch begründeten Anforderungen der Zweck-
mäßigkeit stehen andere, die auf nicht-teleologischen
Vorstellungen der Fairness und Gerechtigkeit beru-
hen. Auch wenn illegal beschaffte Beweismittel die Er-
mittlung eines Schuldigen im Gerichtsprozess unter
21 Verfahrensgerechtigkeit 139

Umständen erleichterten, mögen wir deren Verwen- liert, wenn sich nachträglich herausstellt, dass es der
dung für unfair halten, weil sie durch das Rechtssys- Sache nach falsch und ungerecht war. Die Verwen-
tem selbst gestützte und insoweit legitime Erwartun- dung des Prädikats ›fair‹ geschieht hier analog zur
gen des Angeklagten frustrieren würde. Und wenn wir ›reinen‹ Verfahrensgerechtigkeit: Die Fairness des
als Demokraten für alle Bürger gleiche politische Ergebnisses eines Verfahrens ergibt sich vollständig
Rechte fordern, so nicht notwendigerweise nur des- aus der Fairness des Verfahrens, die damit das allei-
halb, weil wir glauben, dies führe zu besseren oder ge- nige Kriterium für die Fairness des Ergebnisses ist.
rechteren Ergebnissen. Es ist eine Sache der Fairness, ›Gerechtigkeit‹ hat demgegenüber einen weiteren
dass sich die Mitglieder einer politischen Gemein- Anwendungsbereich und schließt (im Sinne der
schaft gleichberechtigt an politischen Entscheidun- vollkommenen oder unvollkommenen Verfahrensge-
gen, die für sie selbst bindend sind, beteiligen können, rechtigkeit) inhaltliche Beurteilungskriterien von Ur-
selbst wenn umstritten sein mag, ob dies bessere Er- teilen, Entscheidungen und Regelungen ein, die nichts
gebnisse bringt. mit deren prozessualer Genese oder Herleitung zu tun
Ein Gerichtsprozess ist aus diesem Grund auch haben. Ein Gerichtsurteil, dem ein fairer Prozess vo-
rückblickend nicht schon deswegen schlichtweg un- ranging und das insofern ein faires Urteil ist, kann
gerecht, weil er zu einem ungerechten Ergebnis ge- gleichwohl ein ungerechtes Urteil sein, etwa weil ein
führt hat. Nach einem fairen Prozess, in dem alle Par- Unschuldiger verurteilt wurde.
teien gehört und alle verfügbaren Informationen un- Für faire Gerichtsprozesse und faire politische Ver-
parteiisch berücksichtigt wurden, hebt die (spätere) fahren bedeutet dies, dass sie sowohl Aspekte einer
Erkenntnis, dass ein Unschuldiger verurteilt wurde, unvollkommenen Verfahrensgerechtigkeit als auch
zwar die Gerechtigkeit des ergangenen Urteils auf, Aspekte reiner Verfahrensgerechtigkeit aufweisen. Sie
aber nicht die Gerechtigkeit des Verfahrens selbst. entsprechen der Vorstellung unvollkommener Ver-
Und die Gerechtigkeit des Verfahrens überträgt sich fahrensgerechtigkeit, weil sie, auch wenn sie allen An-
in einem gewissen Maße auf das Verfahrensergebnis forderungen an faire Verfahren genügen, fehleranfäl-
selbst, unangesehen seiner inhaltlichen Ungerechtig- lig sind und zu ungerechten Ergebnissen führen kön-
keit. Ähnliches gilt für die Gesetzgebung durch demo- nen. Sie zeigen aber auch Merkmale reiner Verfah-
kratische Mehrheiten, die der Sache nach zu unge- rensgerechtigkeit, weil die Ergebnisse fairer Prozesse
rechten Ergebnissen führen kann – und zweifellos im- und Verfahren selbst bei erwiesener inhaltlicher Un-
mer wieder führt. Auch diejenigen, die ein durch ein gerechtigkeit zumindest in dem eingeschränkten Sin-
faires politisches Verfahren beschlossenes Gesetz – ne fair sind, als sie aus fairen Verfahren resultieren.
womöglich mit Recht – für ungerecht halten, müssen Aus diesem Grund verdienen sie Achtung und sie
anerkennen, dass es durch ein faires Verfahren zu- können nicht als schlichtweg ungerecht betrachtet
stande gekommen ist, so dass seine Befolgung nicht werden.
nur eine Frage der Legalität, sondern ebenso der Fair- Eine uneingeschränkt reine Verfahrensgerechtig-
ness oder Gerechtigkeit ist. keit liegt demgegenüber vor, wenn die Gerechtigkeit
eines Verfahrensergebnisses eine Funktion aus-
schließlich der Fairness des Verfahrens ist und keine
Fairness und reine Verfahrensgerechtigkeit von diesem unabhängige Gerechtigkeitskriterien ins
Spiel kommen. Beispiele für reine Verfahrensgerech-
Es ist hilfreich, in diesem Zusammenhang zwischen tigkeit in diesem exklusiven Sinn bieten faire aleato-
Gerechtigkeit und Fairness zu unterscheiden und rische Verfahren (von lat. alea – Würfel, Zufall, Risi-
Fairness auf ein Teilgebiet der Gerechtigkeit zu be- ko). Ihre Pointe liegt eben darin, dass sie Ergebnisse
ziehen (s. Kap. II.27). Der primäre Anwendungs- hervorbringen, die rein zufällig sind und die gerade
bereich von ›Fairness‹ sind Regelungen, Prozeduren, keinem anderen Kriterium außer dem der prozedu-
Abläufe und Vorgehensweisen, die bestimmte Anfor- ralen Fairness genügen sollen. Das Loseziehen zur
derungen der Fairness erfüllen und deren Ergebnisse Verteilung lästiger Gemeinschaftsaufgaben bietet ein
wir, unabhängig von ihrer inhaltlichen Bewertung, Beispiel: Derjenige, auf den das Los fällt, muss die
eben deshalb ›fair‹ nennen, weil sie durch einen fairen Aufgabe übernehmen und etwa den Einkauf besor-
Prozess zustande gekommen sind. Ein ›fairer Prozess‹ gen. Dies ist nicht deshalb gerecht, weil es irgend-
führt zu einem ›fairen Urteil‹, das seine Eigenschaft, einen sachlichen Grund dafür gäbe, dass derjenige,
ein faires Urteil gewesen zu sein, auch dann nicht ver- auf den das Los gefallen ist, die Aufgabe erledigt –
140 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

wir nehmen an, alle kämen dafür gleichermaßen in Die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness
Frage; es ist gerecht, weil bei Fehlen inhaltlicher
Entscheidungskriterien eine Lotterie mit gleichen Rawls versteht den argumentativen Aufbau seiner
Chancen ein faires Verfahren zur Aufgabenvertei- Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness im Sinne ei-
lung darstellt, das niemanden bevorzugt oder be- ner reinen Verfahrensgerechtigkeit. Gerechtigkeit als
nachteiligt. Fairness besagt eben dies, dass gerecht sei, worauf sich
die Mitglieder einer Gesellschaft als Freie und Gleiche
unter fairen Bedingungen einigen würden. Die Idee
Rawls über Verfahrensgerechtigkeit einer Übereinkunft unter fairen Bedingungen wird
von Rawls durch die Fiktion des Urzustands und des
Der locus classicus für das Thema ›Verfahrensgerech- ›Schleiers der Unwissenheit‹ modelliert. Welche
tigkeit‹ in der aktuellen Diskussion ist Abschnitt 14 in Grundsätze die Parteien im Urzustand auch immer
John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit von 1971 (Rawls wählen mögen, es sind – so die Leitidee der Gerechtig-
1975). Die oben vorgenommene Unterscheidung keit als Fairness – gerechte Grundsätze, eben weil die
zwischen vollkommener und unvollkommener Ver- Parteien im Urzustand sich unter in geeigneter Weise
fahrensgerechtigkeit auf der einen und reiner Verfah- beschriebenen fairen Bedingungen für sie entschei-
rensgerechtigkeit auf der anderen Seite schließt un- den würden (vgl. ebd., 159 f., 28, 142 f.).
mittelbar an die Rawlsschen Ausführungen an. Bei Rawls’ Vorstellung einer Herleitung von Gerech-
vollkommener und unvollkommener Verfahrens- tigkeitsgrundsätzen mithilfe des Urzustands nach
gerechtigkeit gibt es ein vom Verfahren unabhängiges dem Modell einer reinen Verfahrensgerechtigkeit
und diesem vorgegebenes Kriterium für die Gerech- passt allerdings schlecht zu seinem holistisch-ko-
tigkeit der Verfahrensergebnisse, bei der reinen Ver- härentistischen Theorieverständnis. Diesem zufolge
fahrensgerechtigkeit nicht. Im Fall der reinen Verfah- gibt es keine strikt deduktiven Begründungen von
rensgerechtigkeit sind die Ergebnisse eines Verfah- Gerechtigkeitsgrundsätzen aufgrund der Wahrheit
rens per definitionem gerecht, wenn das Verfahren ihrer Prämissen und der Gültigkeit des zugrunde lie-
einschlägige Gerechtigkeitsanforderungen (etwa der genden Schlussschemas. Stets gilt, dass Prämissen
Fairness und Unparteilichkeit) erfüllt und wenn es und Schlussschema ebenso sehr durch die Wahrheit
korrekt durchgeführt wurde (vgl. ebd., 106). Reine ihrer Konklusionen gestützt werden, wie diese sich
Verfahrensgerechtigkeit liegt demnach vor, wenn die auf die Prämissen und das Schlussschema stützen
korrekte Durchführung eines fairen Verfahrens eine (vgl. ebd., Abschn. 9; Rawls 2006, § 10). Auch für die
logisch hinreichende Bedingung für ein gerechtes von Rawls lediglich als Darstellungsmittel genutzte
Verfahrensergebnis ist, was umgekehrt genau dann Herleitung von Gerechtigkeitsgrundsätzen mithilfe
der Fall ist, wenn die Gerechtigkeit des Verfahrens- des Urzustandes (vgl. Rawls 2006, § 6) bedeutet dies,
ergebnisses eine notwendige Bedingung für die Fair- dass im Lichte wohlerwogener Überzeugungen be-
ness und die korrekte Durchführung des Verfahrens gründete Zweifel an der Richtigkeit der im Urzustand
ist. Reine Verfahrensgerechtigkeit folgt insoweit dem (hypothetisch) gewählten Grundsätze ebenso Zweifel
Schema eines deduktiven Schlusses, bei dem die an der Konstruktion des Urzustandes selbst rechtfer-
Wahrheit der Prämissen logisch hinreichend für die tigen wie umgekehrt die Plausibilität der Konstrukti-
Wahrheit der Konklusion und diese umgekehrt lo- on den Glauben an die Richtigkeit der gewählten
gisch notwendig für die Wahrheit der Prämissen ist Grundsätze rational erscheinen lässt. Die Begrün-
(vgl. ebd., 142–144). dung von Gerechtigkeitsgrundsätzen mithilfe des
Ein Problem mit Rawls’ Ausführungen zur Verfah- Urzustandes ist deshalb nach Rawls erst dann gelun-
rensgerechtigkeit ist, dass sie die Vermutung nahele- gen, wenn die im Gedankenexperiment von den Par-
gen, gerechte Verfahren ließen sich dichotomisch in teien im Urzustand gewählten Grundsätze mit unse-
solche der ›vollkommenen/unvollkommenen‹ und ren wohlerwogenen Gerechtigkeitsüberzeugungen
solche der ›reinen‹ Verfahrensgerechtigkeit einteilen. übereinstimmen und sich mit ihnen in einem ›Über-
Dies ist jedoch nicht der Fall, denn Verfahren können, legungsgleichgewicht‹ befinden (vgl. Rawls 1975,
wie wir gesehen haben, unter beide Rubriken fallen. 37 f.).
Dies berührt ein grundsätzliches Problem moderner Im Ergebnis bedeutet dies freilich, dass die Herlei-
Gerechtigkeitstheorien, das beispielhaft an der Rawls- tung von Gerechtigkeitsgrundsätzen mithilfe des Ur-
schen Theorie erörtert werden kann. zustandes kein Fall reiner Verfahrensgerechtigkeit ist.
21 Verfahrensgerechtigkeit 141

Denn für jede konkrete Ausgestaltung des Urzustan- kein von den Regelungen der Grundstruktur un-
des gilt, dass sie im Prinzip zu Grundsätzen führen abhängiges Kriterium der Gerechtigkeit gesamtgesell-
kann, die nicht mit unseren wohlerwogenen Gerech- schaftlicher Güterverteilungen gibt, wäre die durch
tigkeitsurteilen zusammenstimmen. Diese stellen da- Befolgung der Regeln einer gerechten Grundstruktur
mit ein vom Verfahren des Urzustandes zumindest kumulativ zustande gekommene Verteilung ein Fall
teilweise unabhängiges Kriterium für die Gerechtig- ›reiner‹ Verfahrensgerechtigkeit (vgl. ebd., 308 und im
keit von Grundsätzen dar, die im Urzustand gewählt engl. Orig. 243 für »pure«; Rawls 2006, 94).
werden. Sie sind vom Modell des Urzustandes aller- Rawls zufolge gehören zu den Anforderungen an
dings nur teilweise unabhängig, weil die in die Kon- eine gerechte Grundstruktur neben allgemeinen
struktion des ›Verfahrens‹ des Urzustandes eingehen- grundrechtlichen Forderungen und wirtschaftlichen
den Annahmen ebenfalls auf wohlerwogenen Ge- Freiheiten das Prinzip der fairen Chancengleichheit
rechtigkeitsurteilen beruhen, die im Überlegungs- und das Differenzprinzip. Letzterem zufolge sind die
gleichgewicht Berücksichtigung finden müssen. Der in einer Gesellschaft bestehenden Einkommens- und
Urzustand ist gleichwohl kein Beispiel reiner, sondern Vermögensungleichheiten nur dann gerecht, wenn
im idealen Grenzfall allenfalls ein Fall vollkommener sie mit größtmöglichen Vorteilen für die in dieser
Verfahrensgerechtigkeit – wenn nämlich die aus dem Hinsicht am wenigsten Begünstigten verbunden sind.
Urzustand (deduktiv) hergeleiteten Grundsätze mit Das Differenzprinzip stellt unverkennbar eine Anfor-
›allen‹ unseren wohlerwogenen Gerechtigkeitsurtei- derung an gerechte Verteilungen dar, die unabhängig
len übereinstimmen und uns insoweit ›alles in allem‹ von deren (verfahrensmäßigem) Zustandekommen
gerecht erscheinen. ist: In welcher Weise wirtschaftliche Transaktionen
zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft auch im-
mer durch die Grundstruktur einer Gesellschaft regu-
Distributive Gerechtigkeit als reine liert werden mögen und welche Transaktionen auch
Verfahrensgerechtigkeit? immer stattfinden mögen, stets gilt, dass die aus allen
Transaktionen zusammengenommen resultierende
Des Weiteren ist die Idee einer reinen Verfahrens- Einkommens- und Vermögensverteilung dem Diffe-
gerechtigkeit auch inhaltlich für das Rawlssche Ver- renzprinzip zufolge mit maximalen Vorteilen für die
ständnis distributiver Gerechtigkeit bestimmend. Die in dieser Hinsicht am wenigsten Begünstigten ver-
Rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze machen keine bunden sein muss.
Aussagen darüber, ob die bei einer gegebenen gesell- Rawls selbst betrachtet das Differenzprinzip gleich-
schaftlichen Güterverteilung auf die einzelnen Gesell- wohl ausdrücklich als Teil einer Konzeption reiner
schaftsmitglieder entfallenden individuellen Anteile Verfahrensgerechtigkeit (vgl. Rawls 2006, 91, 114).
gerecht im Lichte ihrer Verdienste, Bedürfnisse oder Dies ist nicht unproblematisch, denn wir müssen –
Wünsche sind (vgl. ebd., 106, 338, 344 f.). Ihr Gegen- wie Rawls selbst in seiner Auseinandersetzung mit
stand ist vielmehr die Grundstruktur einer Gesell- Robert Nozick herausgestellt hat – damit rechnen,
schaft. Deren Institutionen und Regelungen legen fest, dass für sich genommen gerechte Transaktionen ku-
unter welchen Bedingungen Individuen legitime An- mulativ zu ungerechten Ergebnissen führen. Die Dy-
sprüche (legitimate expectations) auf Güter erwerben, namik freiwilliger Tauschgeschäfte und Kooperati-
wenn sie im Vertrauen auf etablierte Regelungen – onsbeziehungen und der aus ihnen resultierenden un-
z. B. das Eigentums- und Vertragsrecht – kooperieren terschiedlichen individuellen Gewinne führt, auch bei
und Austauschbeziehungen eingehen (ebd.). Es ist gerechten Ausgangsbedingungen und wenn alle
nach Rawls die Aufgabe einer Konzeption distributi- Transaktionen fairen Regeln folgen, zur Entstehung
ver Gerechtigkeit, eben diejenigen Anforderungen zu oder Verstärkung von Ungleichheiten, die in vielen
benennen, die von den grundlegenden institutionel- Fällen nicht mehr als gerecht betrachtet werden kön-
len Regelungen einer Gesellschaft erfüllt werden müs- nen (vgl. Rawls 1998, § 4; Nozick 1974, Kap. 7). Dies
sen, wenn ihre allgemeine Befolgung zu einer im Ge- gilt auch dann, wenn als Kriterium für gerechte Aus-
samtergebnis gerechten Güterverteilung führen soll, gangsbedingungen das Differenzprinzip herangezo-
wenn also alle resultierenden und mit Blick auf die be- gen wird. Es ergibt sich deshalb für das Rawlssche
stehenden Regelungen berechtigten oder ›legitimen‹ Selbstverständnis die Schwierigkeit, dass bestimmte
individuellen Ansprüche zugleich gerechte Ansprü- Verteilungen zugleich als gerecht betrachtet werden
che sein sollen. Wenn es nun, wie Rawls annimmt, müssten – weil sie im Sinne einer reinen Verfahrens-
142 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

gerechtigkeit unter gerechten Ausgangsbedingungen vollkommener bzw. im idealen Grenzfall vollkom-


(im Sinne des Differenzprinzips) und in Übereinstim- mener Verfahrensgerechtigkeit aufweist. Dieses Er-
mung mit fairen Regelungen zustande gekommen gebnis ist in zweifacher Hinsicht von einer mehr als
sind – und als ungerecht, weil die aus ihnen kumulativ klassifikatorischen Bedeutung für die Gerechtigkeits-
resultierende Verteilung dem Differenzprinzip nicht theorie. Mit Blick auf die Rawlssche Theorie bedeutet
mehr genügt und gerechterweise nachträglich korri- es zunächst, dass die Spannung zwischen dem auf ge-
giert werden sollte, was der Vorstellung einer unvoll- samtgesellschaftliche Verteilungsergebnisse gerichte-
kommenen Verfahrensgerechtigkeit entspricht. ten Differenzprinzip auf der einen und den auf ein fai-
Nun sagt das Differenzprinzip nichts darüber, wel- res Verteilungsverfahren gestützten individuellen Er-
ches Einkommen oder Vermögen konkrete Personen wartungen auf der anderen Seite sich nicht vollständig
gerechterweise für sich reklamieren können. Es for- auflösen lässt. Individuelle Einkommens- und Ver-
dert lediglich, dass die Einkommen der Gruppe mit mögenserwartungen, die unter gerechten Bedingun-
dem niedrigsten Einkommen, gleichgültig wer zu die- gen und aufgrund fairer Regelungen zustande gekom-
ser Einkommensgruppe gehört, so hoch wie möglich men sind – und die insoweit legitime Erwartungen
sein sollten, und gibt damit an, innerhalb welcher sind –, müssen enttäuscht werden, wenn sichergestellt
Grenzen individuelle Einkommens- und Vermögens- werden soll, dass Einkommens- und Vermögensver-
ungleichheiten moralisch akzeptabel erscheinen, weil teilungen dauerhaft dem Differenzprinzip genügen. In
sie zumindest nicht ungerecht sind (vgl. Rawls 1975, einer weiteren Perspektive bedeutet dies für Theorien
98–100). Diese Bedingung können verschiedene Ver- distributiver Gerechtigkeit, dass die Vorstellung einer
teilungen von Einkommen und Vermögen auf die ein- reinen Verfahrensgerechtigkeit deutlich weniger zur
zelnen Mitglieder einer Gesellschaft erfüllen. Es ergibt Lösung von Verteilungsproblemen beiträgt, als sich
sich erst aus den einschlägigen Regelungen der Rawls und andere erhofften. Für Verteilungsproble-
Grundstruktur (Eigentums- und Vertragsrecht, Be- me, bei denen es auch unter gerechten Ausgangs-
steuerung, Subventionierung), wer in persona am En- bedingungen und unter Befolgung fairer Transakti-
de welches Einkommen für sich reklamieren kann. onsregeln kumulativ zu moralisch inakzeptablen Un-
Wenn nun diese Regelungen fair sind, so der Rawls- gleichheiten und deshalb distributiv ungerechten Ver-
sche Leitgedanke, dann ist jede Verteilung individuel- teilungsergebnissen kommen kann, kann es keine
ler Einkommen gerecht, die in Übereinstimmung mit ausschließlich reine Verfahrensgerechtigkeit geben.
diesen Regelungen zustande gekommen ist, voraus-
gesetzt nur, sie erfüllt die mit dem Differenzprinzip Literatur
gesetzte Bedingung. Es mag dann als eine Frage reiner Lind, Edgar A./Tyler, Tom R.: The Social Psychology of Proce-
Verfahrensgerechtigkeit erscheinen, wer in einer Ge- dural Justice. New York 1988.
Nozick, Robert: Anarchy, State and Utopia. New York 1974.
sellschaft innerhalb dieser Grenzen welches Einkom-
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
men für sich gerechterweise beanspruchen kann (vgl. 1975 (engl. 1971).
ebd., 108 f.). –: Die Grundstruktur als Gegenstand. In: Ders.: Politischer
Auch diese Argumentationslinie vermag jedoch Liberalismus, 7. Vorlesung. Frankfurt a. M. 1998 (engl.
nicht zu überzeugen. Obwohl das Differenzprinzip 1978).
keine bestimmte Verteilung individueller Einkom- –: Gerechtigkeit als Fairness. Frankfurt a. M. 2006 (engl.
2001).
men und Vermögen fordert, sondern je nach Einrich- Solum, Lawrence B.: Procedural justice. In: San Diego Legal
tung der Grundstruktur verschiedene Verteilungen Studies Research Paper Nr. 06–14 (2004).
zulässt, muss doch jede solche Verteilung die Anfor- Tyler, Tom R.: Why People Obey the Law: Procedural Justice,
derung des Differenzprinzips erfüllen und gerechter- Legitimacy, and Compliance. New Haven 1990 (mit einem
weise korrigiert werden, wenn die niedrigsten Ein- neuen Nachwort Princeton 2006).
–: Readings in Procedural Justice, 2 Bde. Burlington 2005.
kommen – wer immer sie beziehen mag – niedriger
als möglich sind. Dies aber bedeutet, dass eine durch Wilfried Hinsch
eine gerechte Grundstruktur zustande gekommene
Einkommensverteilung auch mit Blick auf die Vertei-
lung individueller Einkommen und Vermögen kein
Fall einer ausschließlich reinen Verfahrensgerechtig-
keit ist, sondern – ebenso wie Gerichtsverfahren – ein
gemischter Fall, der Merkmale reiner, aber auch un-
22 Ergebnisgerechtigkeit 143

22 Ergebnisgerechtigkeit gen der Gerechtigkeit zwar teils zurückgewiesen (vgl.


Hobbes 1994, 101), doch lief dies auf eine Verabschie-
Ergebnisgerechtigkeit wird die Auffassung genannt, dung der Tauschgerechtigkeit oder der Verteilungs-
dass Gerechtigkeit auf inhaltlich spezifizierte Resulta- gerechtigkeit hinaus und nicht darauf, zu bestreiten,
te bezogen ist. Als Alternative zur Ergebnisgerechtig- dass diese Gerechtigkeitstypen ergebnisbezogen sind,
keit wird üblicherweise die Verfahrensgerechtigkeit wenn man sie als einschlägig ansieht. Ähnliches gilt in
(s. Kap. II.21) angesehen, der zufolge nur die Regeln der zeitgenössischen Diskussion für Robert Nozick,
als gerecht ausgezeichnet werden müssen, aus deren der Verteilungsgerechtigkeit aufgrund einer starken
Anwendung sich gerechte Resultate ergeben. In die- Eigentumskonzeption für irrelevant hält: Was Per-
sem Beitrag soll der Konflikt untersucht werden, der sonen zusteht, die Respektierung ihres Eigentums an
dem Anschein nach zwischen den beiden Auffassun- der eigenen Person und an rechtmäßig erworbenen
gen besteht. Dazu wird zunächst verdeutlicht, dass Gegenständen, ist hingegen auch bei Nozick ergebnis-
die traditionellen Typen der Gerechtigkeit (Ver- bezogen (vgl. Nozick 1976). Anders als oft angenom-
teilungsgerechtigkeit, ausgleichende Gerechtigkeit, men wird, lässt sich Nozicks Position also nicht unter
Tauschgerechtigkeit) ergebnisbezogenen sind. Den- Verfahrensgerechtigkeit einordnen.
noch könnten sich Grenzen der Ergebnisgerechtig- Wenn man sich hingegen an den traditionellen
keit zeigen, die mit der Realisierung des gerechten Gerechtigkeitstypen orientiert, lässt sich Folgendes
Ergebnisses zusammenhängen und die darauf hin- konstatieren: Im Falle der Tauschgerechtigkeit ist das
deuten, dass Ergebnisgerechtigkeit in bestimmten anzustrebende Ergebnis sogar offensichtlich. Gerecht
Kontexten durch Verfahren zu ergänzen ist. Darüber ist ein Tausch dann, wenn die getauschten Güter den-
hinausgehend scheint Gerechtigkeit aus prinzipiellen selben Wert besitzen. Fraglich erscheint hier nur, wie
Gründen gelegentlich gar nicht anhand eines Ergeb- sich feststellen lassen soll, dass Güter gleichen Wert
nisses bestimmt werden zu können, so dass nach Auf- haben, weil dabei ein Maßstab für den Wert der Gü-
fassung mancher Autoren Ergebnisgerechtigkeit in ter benötigt wird, der nicht unbedingt auf der Hand
solchen Fällen durch (reine) Verfahrensgerechtigkeit liegt.
ersetzt werden muss. Ob dem so ist, soll im letzten Ähnliches gilt für Wiedergutmachung als Aspekt
Abschnitt des Kapitels untersucht und problemati- der ausgleichenden Gerechtigkeit: Gerecht ist es, den-
siert werden. jenigen Zustand herzustellen, der bestanden hätte,
wenn kein Vergehen vorgelegen hätte. Und auch der
zweite Aspekt der ausgleichenden Gerechtigkeit,
Gerechtigkeit als ergebnisgezogene Strafgerechtigkeit, besteht wesentlich in Ergebnissen:
Kategorie Es muss insbesondere dafür gesorgt werden, dass die
und nur die Personen bestraft werden, die ein Unrecht
Schon in der Antike wurde Gerechtigkeit begrifflich begangen haben, und dass die Strafen für unterschied-
so bestimmt, dass jeder bekommen solle, was ihm zu- lich schwere Delikte in einem angemessenen Verhält-
steht. Die Kontexte, in denen sich die Frage stellt, was nis zueinander stehen. Wer darüber hinaus die Auf-
Personen zusteht, wurden traditionell unterteilt in fassung vertritt, dass eine gerechte Strafe proportional
distributive Gerechtigkeit (s. Kap. II.12), ausgleichen- zum Vergehen sein müsse, bringt ebenfalls einen er-
de Gerechtigkeit (s. Kap. II.19, 23) und Tauschgerech- gebnisbezogenen Maßstab ins Spiel.
tigkeit (s. Kap. II.13). Auch wenn inhaltlich strittig Im Falle der distributiven Gerechtigkeit ist es hin-
sein mag, worin eine gerechte Verteilung, ein gerech- gegen strittiger, worin ein gerechtes Ergebnis besteht
ter Ausgleich oder ein gerechter Tausch bestehen, so – spielt Verdienst eine Rolle für die Verteilung, sollen
ist doch offenkundig, dass jede dieser Kategorien auf Bedürfnisse berücksichtigt werden, oder geht es da-
ein Ergebnis verweist. Dies wurde ebenfalls bereits in rum, für Gleichheit zu sorgen? Aber welche dieser in-
der Antike gesehen: Aristoteles vertrat die Auffassung, haltlichen Auffassungen man auch vertritt, stets sind
dass distributive Gerechtigkeit in der Herstellung ei- sie auf ein Ergebnis bezogen: Wer ein Verdienstprin-
ner proportionalen Gleichheit bestehe, während in zip befürwortet, verlangt, dass die Güterverteilung im
Tauschverhältnissen und im Rahmen der Wiedergut- Resultat den Verdiensten der jeweiligen Personen
machung eine arithmetische Gleichheit herzustellen entspricht; das Bedarfsprinzip fordert eine Vertei-
sei (vgl. NE, 1131a10–1133b28). Mit Beginn der Neu- lung, als deren Ergebnis die Bedürfnisse der Personen
zeit wurden solche ergebnisbezogenen Bestimmun- befriedigt sind; und das Gleichheitsprinzip verlangt,
144 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

als Resultat eine Gleichheit zwischen den Personen handeln, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden sind. Es
herzustellen. ist zwar nicht garantiert, dass auf diese Weise die
Gerechtigkeit erweist sich demnach als eine ergeb- Wertgleichheit der getauschten Güter erreicht wird,
nisbezogene Kategorie. Auf der anderen Seite ist es of- aber das Verhandlungsergebnis wird dem näherungs-
fensichtlich, dass wir häufig auf Verfahren zurückgrei- weise entsprechen. Wissensdefizite bestehen oft auch
fen, um Gerechtigkeit zu realisieren. Deutet dies auf im Rahmen der ausgleichenden Gerechtigkeit: Da wir
eine Grenze der Ergebnisgerechtigkeit hin? Dieser nicht sicher feststellen können, wer schuldig ist, wird
Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. das Ziel, genau die Schuldigen zu bestrafen, nur annä-
hernd erreicht werden können, indem ein geeignetes
Untersuchungs- und Gerichtsverfahren angewandt
Ergebnisgerechtigkeit durch Verfahren wird. Ähnliches lässt sich bei der Verteilungsgerech-
tigkeit konstatieren: Wenn ein Gut nach Verdienst
Ein viel zitiertes Beispiel für Verfahrensgerechtigkeit verteilt werden soll, aber sich die Verdienste von Per-
ist die gerechte Aufteilung eines Kuchens auf mehrere sonen nicht objektiv bestimmen lassen, könnte man,
Personen, die keine besonderen Ansprüche geltend um der gerechten Verteilung nahezukommen, eine
machen können: Hier liegt ein Verfahren nahe, das unabhängige Jury einsetzen, die nach ihrem Ermessen
darin besteht, eine Person den Kuchen aufschneiden über die Verdienste der Kandidaten entscheidet. In
zu lassen unter der Bedingung, dass sie das letzte Ku- solchen Fällen, in denen Informationsdefizite eine
chenstück bekommt. Um dafür zu sorgen, dass sie kei- Anwendung des ergebnisbezogenen Maßstabes be-
nen kleineren Anteil erhält als die anderen Personen, hindern, werden zwar Verfahren zur Herstellung von
wird sie den Kuchen in gleich große Stücke schneiden. Gerechtigkeit benötigt; aber das Kriterium dafür, dass
Dies ist ein Fall von vollkommener Verfahrensgerech- ein Verfahren geeignet erscheint, ist das angestrebte
tigkeit, da Gerechtigkeit durch das Verfahren mit Si- Ergebnis. Eine prinzipielle Grenze der Ergebnis-
cherheit erreicht wird (vgl. Rawls 1975, 106; Gosepath gerechtigkeit zeigt sich hier nicht, sondern nur eine
2004, 81). Aber eine Grenze der Ergebnisgerechtigkeit pragmatische.
zeigt sich hier offensichtlich nicht – das Verfahren er- Eine zweite Klasse von Fällen, in denen unvollkom-
scheint nur deshalb geeignet, Gerechtigkeit herzustel- mene Verfahrensgerechtigkeit relevant werden könn-
len, weil im Vorhinein davon ausgegangen wird, dass te, stellen Situationen dar, in denen wir uns über das
eine Gleichverteilung das gerechte Ergebnis wäre. Au- einschlägige Gerechtigkeitsprinzip nicht einig wer-
ßerdem ist das geschilderte Verfahren unter dieser den. Insbesondere hinsichtlich der inhaltlich stritti-
Maßgabe sogar verzichtbar, denn man könnte als ver- gen distributiven Gerechtigkeit sind solche fun-
teilende Instanz auch allen Beteiligten gleich große damentalen Meinungsverschiedenheiten zu erwarten:
Kuchenstücke geben. Während es den einen als gerecht erscheint, beispiels-
Anders verhält es sich in der zuletzt genannten Hin- weise die Höhe der Löhne von Verdienstgesichts-
sicht im Falle unvollkommener Verfahrensgerechtig- punkten abhängig zu machen, halten andere dies für
keit, in der durch ein Verfahren eine Annäherung an zutiefst ungerecht und fordern, dass Löhne Nachteile
Gerechtigkeit erreicht werden soll (vgl. Rawls 1975, kompensieren oder sich an den Bedürfnissen der Per-
107; Gosepath 2004, 82). Ein gerechtes Ergebnis lässt sonen orientieren sollten. Wenn sich keine Einigkeit
sich hier nicht direkt herstellen, denn es sind Gesichts- herstellen lässt und eine Entscheidung gefällt werden
punkte im Spiel, die es notwendig erscheinen lassen, muss, wird man vielleicht dazu tendieren, über die
auf ein Verfahren zurückzugreifen. Diese Gesichts- vorgeschlagenen Gerechtigkeitsprinzipien abstim-
punkte lassen sich grob in zwei Klassen unterteilen. men zu lassen. In diesem Fall kann man nicht unbe-
Zum einen kann das nötige Wissen fehlen, um ei- dingt davon ausgehen, dass das eingesetzte Verfahren
nen ergebnisbezogenen Maßstab für Gerechtigkeit näherungsweise ein gerechtes Ergebnis herstellt. Aber
anzuwenden. Im Rahmen der Tauschgerechtigkeit dennoch zeigt sich insofern keine prinzipielle Grenze
lässt sich vielleicht nicht feststellen, welchen Wert die der Ergebnisgerechtigkeit, als die Kontrahenten je-
für den Tausch vorgesehenen Güter tatsächlich haben. weils eine ergebnisbezogene Vorstellung davon haben,
Um uns einem gerechten Tausch anzunähern, könn- worin eine gerechte Verteilung besteht. Auch hier
ten wir als Verfahren vorschlagen, dass die Personen handelt es sich also nur um eine auf pragmatische
(unter geeigneten Rahmenbedingungen wie dem Gründe zurückzuführende Anwendung von unvoll-
Ausschluss von Täuschung und Zwang) so lange ver- kommener Verfahrensgerechtigkeit, die allerdings
22 Ergebnisgerechtigkeit 145

nach Auffassung der in der Abstimmung unterlege- heit kann offensichtlich beim Bedürfnisprinzip und
nen Partei gravierendere Abweichungen vom gerech- beim Verdienstprinzip auftreten. Denken wir etwa an
ten Ergebnis zur Folge haben dürfte als im Falle von folgenden Fall einer Verteilung strikt nach Bedarf: Es
Informationsdefiziten. sind Organe zu vergeben, die zum Überleben benötigt
werden, aber die Zahl derjenigen, die ein Organ brau-
chen, übersteigt die Zahl der verfügbaren Organe. In
Prinzipielle Grenzen der Ergebnis- einer solchen Situation liegt es nahe, ein Losverfahren
gerechtigkeit? anzuwenden, und der Einsatz dieses Verfahrens er-
scheint nicht unfair. Aber ist es tatsächlich so, dass wir
Eine echte Herausforderung für die Ergebnisgerech- unabhängig vom Verfahren nicht feststellen können,
tigkeit stellt hingegen die reine Verfahrensgerechtig- worin ein gerechtes Ergebnis besteht? Das scheint zu-
keit dar: Hier soll ein gerechtes Ergebnis unabhängig mindest strittig, denn man könnte meinen, dass prin-
vom Verfahren gar nicht auszumachen sein. Als Bei- zipiell durchaus ein gerechtes Ergebnis benannt wer-
spiele werden meist Losverfahren oder Wetten ge- den kann: Gerecht wäre es dem einschlägigen Bedürf-
nannt ‒ die Fairness liege allein im Verfahren, und was nisprinzip zufolge, wenn jeder Betroffene ein Organ
immer das Ergebnis eines fairen Loses oder einer fai- erhielte. Wenn wir könnten, würden wir diesen Zu-
ren Wette ist, gelte als gerecht (vgl. Rawls 1975, 107; stand auch herstellen. Allerdings ist die Realisierung
Gosepath 2004, 81). des gerechten Ergebnisses nicht möglich, und deshalb
Es ist nun sicherlich richtig, dass im Rahmen eines greift man (notgedrungen) auf ein Losverfahren zu-
Losentscheids nicht verfahrensunabhängig von einem rück. Daher scheut man sich vielleicht auch, das Er-
gerechten Ergebnis gesprochen werden kann. Aller- gebnis des Losverfahrens gerecht zu nennen: Nicht je-
dings stellt sich die Frage, inwieweit dieser Befund für de Person bekommt, was ihr eigentlich zusteht, und es
die klassischen Typen der Gerechtigkeit (Tausch- erscheint nicht gerecht, dass die eine leer ausgeht,
gerechtigkeit, ausgleichende Gerechtigkeit, Vertei- während die andere ein Organ erhält. Das Ergebnis ist,
lungsgerechtigkeit) relevant ist und insofern eine so ist man geneigt zu sagen, nur nicht ungerecht.
prinzipielle Grenze der Ergebnisgerechtigkeit anzeigt. Ein verdienstbezogenes Knappheitsbeispiel wäre
Kann es überzeugende oder gar zwingende Gründe eine Situation, in der mehrere Personen gleicherma-
geben, in diesen Kontexten auf reine Verfahrens- ßen qualifiziert sind, ein (nicht teilbares und nicht zu
gerechtigkeit zurückzugreifen, also beispielsweise ein vervielfachendes) Stipendium zu erhalten. Auch in ei-
Losverfahren anzuwenden? nem solchen Fall würde man wohl auf ein Losverfah-
Im Falle der Tauschgerechtigkeit ist ein solcher ren zurückgreifen, um einen Bewerber auszuwählen.
Grund nicht auszumachen. Ein Verfahren für einen Dieses Vorgehen ist nicht ungerecht, aber das Ergeb-
gerechten Tausch muss dadurch gerechtfertigt wer- nis erscheint auch nicht gerecht, da das Stipendium ei-
den, dass es näherungsweise das angestrebte Ergebnis, gentlich allen gleichermaßen zustünde.
eine Wertgleichheit, liefert. Analoges gilt für die Wie- Derartige Knappheitssituationen ließen sich aller-
dergutmachung: wenn hier ein Verfahren angewandt dings auch so charakterisieren, dass den Betroffenen
wird, muss es dafür sorgen, annähernd den Zustand nicht die knappen Güter (Organe oder Stipendien)
herzustellen, der eingetreten wäre, wenn kein Ver- zustehen, sondern nur die gleichen Aussichten darauf,
gehen stattgefunden hätte. Und sofern es um eine ge- das Gut zu erhalten, sofern sie dafür qualifiziert sind.
rechte Bestrafung geht, würden wir kaum akzeptieren, Unter dieser Beschreibung ist der Einsatz des Losver-
dass das Ergebnis eines Verfahrens gerecht ist, wie fahrens bereits das gerechte Ergebnis, da es die Aus-
auch immer es ausfällt ‒ wird ein Unschuldiger in ei- sichten gleich verteilt. Es zeigt sich, dass es von der
nem Gerichtsverfahren verurteilt, ist das klarerweise Charakterisierung der Verteilungssituation abhängt,
ungerecht. ob Ergebnisgerechtigkeit im Falle der Knappheit an ei-
Es verbleibt somit die distributive Gerechtigkeit: ne prinzipielle Grenze stößt.
Gibt es Verteilungsszenarien, in denen Gerechtigkeit Es gibt noch eine zweite mögliche Begründung da-
nicht unabhängig von einem Verfahren bestimmt für, in Verteilungssituationen auf reine Verfahrens-
werden kann? Dieser Fall könnte in einer Knappheits- gerechtigkeit zurückzugreifen, die nicht darin besteht,
situation vorliegen, in der nicht jede Person das be- dass der gerechte Zustand nicht hergestellt werden
kommen kann, was ihr zusteht. Hier scheint sich ein kann: (Faire) Chancengleichheit wird gelegentlich als
gerechtes Ergebnis nicht angeben zu lassen. Knapp- Surrogat für eine Gleichheit hinsichtlich ökonomi-
146 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

scher Güter eingeführt und die tatsächliche Vertei- Literatur


lung der Güter im Rahmen reiner Verfahrensgerech- Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. und hg. von Ursula
tigkeit einem geeigneten Regelsystem überlassen (vgl. Wolf. Reinbek bei Hamburg 2006 [NE].
Gosepath, Stefan: Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines
Rawls 1975, 106–109, s. Kap. II.26). Für einen solchen liberalen Egalitarismus. Frankfurt a. M. 2004.
Vorschlag mag es gute Gründe geben; doch diese Hobbes, Thomas: Vom Menschen. Vom Bürger. Hg. von
Gründe sind, sofern man meint, dass den Personen Günter Gawlik. Hamburg 1994.
mehr zusteht als eine faire Chance auf die zu verteilen- Nozick, Robert: Anarchie, Staat, Utopia. München 1976
den Güter, nicht gerechtigkeitsbezogen. Gerecht wäre (engl. 1974).
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
es aus einer ressourcenegalitären Perspektive, für
1975 (engl. 1971).
Gleichheit durch die Umverteilung ökonomischer Schlothfeldt, Stephan: Gerechtigkeit. Berlin 2012.
Güter zu sorgen. Der Preis für ein solches Vorgehen
erscheint möglicherweise zu hoch, weil dies ständige Stephan Schlothfeldt
Eingriffe in das Leben der Menschen erfordern und
die Effizienz der Ökonomie stark beeinträchtigen
würde. Es lässt sich aber nicht sagen, dass die Resultate
des Regelsystems unter Bedingungen der Chancen-
gleichheit zu einer gerechten Verteilung führen. Viel-
mehr wird die Herstellung der ressourcenegalitären
Verteilungsgerechtigkeit zurückgestellt, um einem an-
deren, als wichtiger eingeschätzten normativen Ge-
sichtspunkt entsprechen zu können. In diesem Fall er-
scheint es ‒ anders als bei Knappheit ‒ möglicherweise
nicht einmal angemessen zu behaupten, das Ergebnis
des Verteilungsmechanismus sei nicht ungerecht.
Als Fazit der angestellten Überlegungen lässt sich
festhalten, dass die traditionellen Gerechtigkeitstypen
wesentlich auf Ergebnisse bezogen sind. Verfahren
kommen meist aus pragmatischen Gründen zum Ein-
satz, oder ihre Verwendung deutet darauf hin, dass ne-
ben Gerechtigkeit andere normative Gesichtspunkte
im Spiel sind. Nur in einem für die traditionellen Ge-
rechtigkeitstypen einschlägigen Szenario lässt sich da-
für argumentieren, dass eine prinzipielle Grenze der
Ergebnisgerechtigkeit vorliegt: in Situationen der
Knappheit (bemessen an Bedarf oder Verdienst), die
eine Art Losverfahren erfordern, damit überhaupt
verteilt werden kann. Es ist aber strittig, ob man die
durch reine Verfahrensgerechtigkeit entstehende Ver-
teilung als gerecht bezeichnen will oder lediglich als
nicht ungerecht. Darüber hinaus lassen sich die ein-
schlägigen Situationen auch so charakterisieren, dass
den Betroffenen nur eine gleiche Aussicht auf die zu
verteilenden Güter zusteht, so dass die Anwendung ei-
nes Losverfahrens bereits das gerechte Ergebnis dar-
stellt. Welche der zuletzt genannten Auffassungen am
ehesten überzeugt, wäre in der zukünftigen Forschung
zu klären.
23 Historische Gerechtigkeit 147

23 Historische Gerechtigkeit wägungen beeinflusst, die keinen Bezug haben zu Ge-


rechtigkeitsargumenten. Der juristische Status quo
Der Begriff ›historische Gerechtigkeit‹ bezieht sich auf kann in solchen Fällen ein unvollkommener oder so-
Rechte und Pflichten, die sich aus historischem Un- gar gänzlich ungeeigneter Maßstab der Rechte und
recht und seinen Folgen ergeben. Historische Gerech- Pflichten aus historischem Unrecht sein. In jedem Fall
tigkeit wird geübt, wenn den entsprechenden Rechten fällt dem gerechtigkeitstheoretischen Nachdenken die
und Pflichten Genüge geleistet wird. Beispiele solcher Aufgabe zu, die Rechtfertigungsgründe der bestehen-
Leistungen sind die Rückgabe geraubten Eigentums, den Rechtslage zu überprüfen. Die öffentliche Debatte
die Behebung von angerichteten Schäden an Land, begnügt sich hingegen nicht selten mit der Erörterung
Gebäuden und Gegenständen, die Entschädigung von der juristischen Situation. Die Reaktion der deutschen
Personen für die Folgen von Freiheitsberaubungen, Bundesregierung auf die im Jahre 2015 von griechi-
Körperverletzungen oder sozialem Ausschluss. Als scher Seite erhobenen Reparationsforderungen für
Sammelbegriff hat sich im deutschen Sprachraum – deutsche Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs
mangels klarer Alternative – der Begriff der Wieder- ist ein Beispiel hierfür. Die Forderungen sind mit Ver-
gutmachung weitgehend durchgesetzt. Von manchen weis auf internationales Recht – insbesondere den
wird die Benutzung dieses Begriffs im Kontext der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf
Shoa als beschönigend abgelehnt, insofern er ver- Deutschland (›Zwei-plus-Vier-Vertrag‹) – abgewehrt
harmlose oder sogar exkulpiere (Assmann/Frevert worden, ohne dass gefragt worden wäre, ob dieses
1999, 57). Er sei mit der Vorstellung verbunden, durch Recht und seine Konsequenzen moralisch gerechtfer-
die Korrektur bestimmter Unrechtsfolgen werde das tigt sind.
Unrecht gleichsam ungeschehen gemacht, und diene
insofern der Verdrängung. Demgegenüber ist darauf
hingewiesen worden, dass der Begriff ›gutmachen‹ Methodologische Fragen
seit alters her ›ersetzen, bezahlen, sühnen‹ bedeute
(Hockerts 2001, 167). John Rawls hat in Eine Theorie der Gerechtigkeit (Rawls
Wenn von Wiedergutmachung historischen Un- 1975) und Das Recht der Völker (2002) folgendes Vor-
rechts gesprochen wird, darf jedenfalls nicht verges- gehen für die Gerechtigkeitstheorie entworfen: Zu-
sen werden, dass die entsprechenden Leistungen das nächst sei zu skizzieren, wie ein vollkommen gerech-
Unrecht nicht ungeschehen machen können und ter Zustand unter idealen Bedingungen aussehen
häufig in einem drastischen Missverhältnis zu dem würde; darauf aufbauend ist zu klären, welche Gerech-
durch das Unrecht angerichteten Schaden stehen tigkeitsprinzipien unter nicht-idealen Bedingungen
(Jankélévitch 2004). Zum einen liegt dies in der Natur gelten. Nicht-ideale Bedingungen liegen nach Rawls
bestimmter Formen von Unrecht wie Mord; zum an- vor, wenn sich nicht alle Parteien in vollem Umfang
deren kann das zur Behebung der Unrechtsfolgen Er- gerecht verhalten oder wenn die äußeren Umstände
forderliche die Leistungsfähigkeit des Schuldners ungünstig sind. Laura Valentini (2012) nennt zwei
übersteigen. Leistungen wiedergutmachender Ge- weitere Arten der Unterscheidung zwischen idealen
rechtigkeit sind oftmals unvollkommen, insofern sie und nicht-idealen Theorien: a) die Gegenüberstellung
sich nicht an dem bemessen, was den Opfern zustün- von Theorien, die von Problemen politischer Um-
de, sondern was die Täter zu leisten vermögen. Doch und Durchsetzbarkeit abstrahieren, und Theorien, die
auch wenn das zur Behebung der materiellen Un- dies nicht tun; die Unterscheidung entspricht dann
rechtsfolgen Erforderliche in vollem Umfang geleistet ungefähr der zwischen realistischen und idealisieren-
(und insofern vollkommene historische Gerechtig- den Betrachtungsweisen; b) die Entgegensetzung von
keit geübt) würde, wäre nicht ›alles wieder gut‹, weil Theorien über einen wünschenswerten Endzustand
weder das Unrecht als solches rückgängig gemacht und Theorien über wünschenswerte Verbesserungs-
noch die psychischen Versehrungen ganz geheilt wer- schritte; die Unterscheidung entspricht dann unge-
den könnten (Améry 1977). fähr der zwischen einer Status-quo-bezogenen und ei-
Fragen der Wiedergutmachung sind vielfältiger ner utopischen Sicht.
Gegenstand juristischer Regelungen und Entschei- Rawls hat, wie angedeutet, die Auffassung vertre-
dungen, und zwar auf nationaler wie auf internationa- ten, dass Fragen nicht-idealer Art nur auf der Grund-
ler Ebene (Buxbaum 2005). Diese Regelungen und lage idealer Theorie beantwortet werden können. Aus
Entscheidungen werden oftmals von politischen Er- Letzterer müsse die Orientierung über die Richtung
148 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

gewonnen werden, in der sich die Änderungsschritte aber eine ideale Forderung in teilweiser von einer
zu bewegen hätten (Rawls 2002, 113). Für Probleme idealen Forderung in vollständiger normativer Ana-
historischer Gerechtigkeit ist diese Hierarchie zwi- lyse (›Partial- und Totalanalyse‹). So ist beispielsweise
schen idealer und nichtidealer Theorie im Sinne von im April 2015 von dem griechischen Vize-Finanz-
b) strittig. Historisches Unrecht kann in der Missach- minister Dimitris Mardas eine gegen die Bundesrepu-
tung von erworbenen Rechten bestehen, auf deren Be- blik gerichtete Reparationsforderung für deutsche
stand Personen mit Grund vertraut haben. Der Schutz Verbrechen im Zweiten Weltkrieg in Höhe von 278
solchen Vertrauens gegenüber willkürlichen Eingrif- Milliarden Euro erhoben worden. Eine ideale Partial-
fen ist ein wichtiges Prinzip der Rechtlichkeit. Dieses analyse würde nun fragen, ob – ungeachtet der Reali-
Prinzip hat einer verbreiteten Auffassung zufolge auch sierungschancen – eine entsprechende Pro-tanto-
dann normatives Gewicht, wenn der Vertrauens- Pflicht auf Seiten Deutschlands besteht. Hierbei wäre
schutz sich auf nur unvollkommen gerechte Zustände beispielsweise zu prüfen, ob die genannte Summe an-
bezieht. So ist beispielsweise auch in einem Land, in gemessen den Schaden bestimmt, den das von Deut-
dem die Verteilung von Ressourcen nicht vollkom- schen begangene Unrecht verursacht hat, und ob die
men gerecht ist, das erworbene Eigentum zu schützen, Deutschen pro tanto verpflichtet sind, die Unrechts-
sofern die Eigentümerinnen und Eigentümer Grund folgen im vollen Umfang wiedergutzumachen.
hatten, in den Bestand der Ordnung zu vertrauen. Eine ideale Totalanalyse hätte darüber hinaus die
Manche Theorien schätzen das normative Gewicht Stellung der Wiedergutmachung im Gesamtgefüge
des Vertrauensschutzes als derart hoch ein, dass sogar der Pflichten zu bestimmen. Da die finanzielle Leis-
willkürliche Eingriffe in eine manifest ungerechte Ei- tungsfähigkeit eines Landes begrenzt ist, kann der Fall
gentumsordnung Wiedergutmachungspflichten be- eintreten, dass nicht alle Verpflichtungen in dem Um-
gründen. So hielt es ein so entschiedener und unzwei- fang erfüllt werden können, den eine ideale Partial-
deutiger Gegner der Sklaverei wie John Stuart Mill aus analyse für geboten erklärt. Aufgabe einer idealen To-
Gründen des Vertrauensschutzes für geboten, Skla- talanalyse ist es, das daraus entstehende Verteilungs-
venhalter für ihren Vermögensverlust aus deren Ab- problem zu lösen.
schaffung zu entschädigen (Mill 1848/2015, 233). Die Interessanterweise dürften die Akzeptanzprobleme
herausgehobene Rolle, die das Prinzip des Vertrauens- für nicht-ideale Theorien historischer Gerechtigkeit
schutzes in vielen Konzeptionen historischer Gerech- grundsätzlich höher sein, wenn der Unterschied zwi-
tigkeit innehat, führt dazu, dass Wiedergutmachungs- schen Partial- und Totalanalyse nicht zureichend ver-
pflichten formuliert werden können, ohne dass dabei deutlicht wird. In demselben Monat, in dem Madras
eine Theorie vollkommen gerechter Zustände voraus- den Wert von 278 Milliarden Euro nannte, haben sich
gesetzt wäre. Ein gewaltsam enteigneter und vertrie- 78 Prozent der Deutschen in einer repräsentativen
bener Grundbesitzer wird typischerweise auch dann Umfrage gegen Entschädigungszahlungen an Grie-
Anspruch auf Restitution und Entschädigung haben, chenland ausgesprochen. Die Ablehnung wäre mögli-
wenn er in einer vollkommen gerechten Welt gar nicht cherweise weniger ausgeprägt gewesen, wenn Klarheit
Eigentümer der fraglichen Güter gewesen wäre. darüber geherrscht hätte, dass dieser Wert aus einer
Spielt ideale Theorie im Sinne von b) in der Regel Partialbetrachtung hervorgeht und daher nur vorläu-
keine Rolle, um festzustellen, ob überhaupt wiedergut- figen Charakter haben kann.
zumachendes Unrecht begangen wurde, ist sie für die
Bestimmung des Gehalts von Wiedergutmachungs-
pflichten unerlässlich. Geht man beispielsweise davon Was ist historisches Unrecht?
aus, dass eine gewaltsame Enteignung Unrecht dar-
stellt und Wiedergutmachungspflichten begründet, so Wie gesagt, verweist der Begriff ›historische Gerech-
ist damit noch nicht bestimmt, worin diese Pflichten tigkeit‹ auf Rechte und Pflichten, die sich aus histori-
genau bestehen. Bei der Beantwortung dieser Frage schem Unrecht und seinen Folgen ergeben. Doch was
muss zunächst – wie die ideale Theorie im Sinne von wird unter ›historischem Unrecht‹ in der einschlägi-
a) fordert – von Gesichtspunkten der Um- und Durch- gen philosophischen Debatte typischerweise verstan-
setzbarkeit abstrahiert werden. Auch wenn die volle den? Das wiedergutzumachende Unrecht ist nach Art
Erfüllung einer idealen Forderung unrealistisch er- und Ausmaß gravierend. Es betrifft das Leben vieler
scheint, hat deren Formulierung eine unabdingbare Menschen; häufig ist es gegen definierte Gruppen und
Orientierungsfunktion. Zu unterscheiden ist hierbei deren Mitglieder gerichtet; es geht in der Regel um
23 Historische Gerechtigkeit 149

Vertreibung, Massenmord, Verschleppung, sexuelle den Organen der Rechtsprechung und Rechtsdurch-
Gewalt, Verstümmelung, Versklavung, Unterjochung. setzung nicht als solche behandelt wurden. Zerstörun-
Als ›historisch‹ wird Unrecht in der philosophischen gen, Misshandlungen und Brandstiftungen während
Literatur zumeist betrachtet, wenn Täter oder Opfer der November-Pogrome in Deutschland 1938 waren
(oder beide) verstorben sind (›historisches Unrecht Unrecht, auch wenn es nicht möglich war, diese Ver-
I‹). Das philosophische Problem historischer Gerech- brechen bei der Polizei anzuzeigen und die Verant-
tigkeit lautet entsprechend, unter welchen Bedingun- wortlichen vor Gericht zu bringen.
gen Nachgeborene Pflichten oder Rechte hinsichtlich
eines Unrechts haben, das sie nicht persönlich began-
gen oder erlitten haben. Auf welcher Grundlage sind Erweiterte Grundintuition wieder-
die Ansprüche und Verpflichtungen von nachgebore- gutmachender Gerechtigkeit
nen Generationen zu bestimmen? Welche zeitlichen
Grenzen gelten dabei? Dass eine die Rechte anderer verletzende Schädigung
Zuweilen ist von historischem Unrecht auch die durch den Schädiger oder Aggressor wiedergutzuma-
Rede, wenn Taten zum Zeitpunkt ihres Vollzugs durch chen ist, gehört zu den tief verwurzelten Überzeugun-
die Organe der Rechtsdurchsetzung und Rechtspre- gen unseres Gerechtigkeitssinns. Die Schädigung be-
chung nicht verfolgt und sanktioniert wurden und – trifft zum einen das, was Ziel der Aggression war: den
in diesem Sinne – nicht widerrechtlich waren (›his- verletzten Körper oder das zerstörte oder geraubte Ei-
torisches Unrecht II‹). Unrecht kann in diesem Sinne gentum; sie betrifft zum anderen die Störung des Ver-
historisch sein, ohne dass Täter oder Opfer verstorben hältnisses zwischen Aggressor und Opfer. Die ›Grun-
wären. Philosophisch stellt sich bei dieser Verwen- dintuition wiedergutmachender Gerechtigkeit‹ ver-
dung die Frage, unter welchen Bedingungen Hand- langt daher nicht nur, dass der für ein Unrecht persön-
lungen, die in einem Rechtssystem zulässig waren, als lich Verantwortliche den angerichteten Schaden nach
Unrecht gelten und den Tätern vorgeworfen werden Möglichkeit vollkommen kompensiert, sondern auch,
können. Viele Fälle von historischem Unrecht I sind dass er den begangenen Fehler als solchen anerkennt
auch Fälle von historischem Unrecht II. Als Beispiele und das Opfer als zu achtendes Subjekt von Rechten
ließen sich der Völkermord an den osmanischen Ar- bestätigt. Wenn Albert aus Bosheit Alfreds schöne Va-
meniern und den europäischen Juden oder die Skla- se zertrümmert, so hat Alfred nicht nur das Recht, von
verei in den Vereinigten Staaten im frühen neunzehn- ihm Ersatz zu verlangen; er darf von Albert auch er-
ten Jahrhundert nennen. warten, dass er sich für den von ihm begangenen mo-
Wenn in der philosophischen Literatur von his- ralischen Fehler aufrichtig entschuldigt und damit an-
torischem Unrecht im Sinne von (II) die Rede ist, so erkennt, dass er in Alfreds Rechte eingegriffen hat.
ist nicht bloß gemeint, dass wir heute etwas als Un- Wird die Grundintuition auf Körperschaften wie Staa-
recht betrachten, das früher nicht als Unrecht gese- ten oder Unternehmen angewendet, so lässt sich von
hen wurde. Gemeint ist vielmehr, dass wir heute et- der ›erweiterten Grundintuition‹ sprechen.
was als Unrecht erkennen, das tatsächlich Unrecht Die Anerkennung des moralischen Fehlers seitens
war. Nur unter dieser Voraussetzung kann die Frage des Aggressors ist ein notwendiger Schritt für die
der historischen Gerechtigkeit, also die Frage nach Wiederherstellung der moralischen Ordnung (Walker
heute bestehenden Pflichten der Wiedergutmachung 2006). Durch welche Zeichen diese Anerkennung ver-
vergangenen Unrechts, überhaupt aufkommen. Wäre deutlicht werden kann, ob durch Worte, Blicke, Ges-
mit historischem Unrecht lediglich gemeint, dass wir ten oder Taten, hängt von den besonderen Gegeben-
heute Praktiken verurteilen, die früher üblich, nor- heiten des gestörten Verhältnisses ab. Jedoch sind Zei-
mal und rechtskonform waren, so wäre damit keine chen der Anerkennung des Unrechts zu dessen Wie-
normative Anforderung an heute Lebende verbun- dergutmachung in aller Regel nicht ausreichend; sie
den. Der Begriff diente lediglich dazu, eine Bewer- müssen begleitet werden von Versuchen, den ange-
tungsdifferenz zu markieren. richteten materiellen Schaden ganz oder teilweise zu
Historisches Unrecht II setzt also voraus, dass In- korrigieren. Aus Sicht der Opfer geht es dabei oftmals
dividuen oder Gruppen Rechte haben, die nicht aus nicht um eine vollständige Kompensation des mate-
der zu einem bestimmten Zeitpunkt geltenden Ord- riellen Nachteils. So war die Wiedergutmachungszah-
nung positiven Rechts abgeleitet sind. Die Verletzung lung von 20.000 Dollar an japanischstämmige Kana-
dieser Rechte stellt Unrecht dar, auch wenn sie von dier und US-Amerikaner, die während des Zweiten
150 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

Weltkriegs interniert worden waren, von Erklärungen parationsforderungen zeichnen sich dagegen dadurch
der Opferseite begleitet, dass es »nicht um das Geld aus, dass Transfers an eine gesellschaftliche Gruppe in
gehe« (Torpey 2006, 47). Der Betrag war geringfügig einen historisch-narrativen Kontext gestellt, aber im
im Verhältnis zum angerichteten Schaden, aber doch Kern mit geschichtsunabhängigen Überlegungen dis-
beträchtlich genug, um ein ernsthaftes Bemühen um tributiver Gerechtigkeit (s. Kap. II.12) begründet wer-
Wiederherstellung der moralischen Ordnung aus- den. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn Leis-
zudrücken. Ohne Schritte zur materiellen Kompensa- tungen zugunsten einer Gruppe, die historisches Un-
tion sind die Zeichen, mit denen der Aggressor die recht erlitten hat, damit begründet werden, dass diese
Anerkennung des Unrechts bedeutet, in der Regel Gruppe heute sozio-ökonomisch schlechter gestellt
nicht glaubwürdig. Mehr noch: Zur Anerkennung des ist. Der Leistungsgrund liegt in der jetzigen Schlech-
moralischen Unrechts gehört typischerweise, dass die terstellung, nicht im vergangenen Unrecht. Auf das
materielle Wiedergutmachung nicht nur geleistet, historische Unrecht zu verweisen, muss dabei nicht al-
sondern gutgeheißen wird. Wenn Albert sich für seine lein eine politisch-rhetorische Funktion haben. Der
Bosheit entschuldigt, den angerichteten Schaden aber Verweis kann vielmehr dazu dienen, auf historische
nur mit innerem Widerwillen ersetzt, so ist dies ein Pfadabhängigkeiten aufmerksam zu machen, die er-
Hinweis darauf, dass er die Verantwortung für seinen warten lassen, dass sich die sozio-ökonomische Lage
moralischen Fehler nicht in vollem Umfang über- der betroffenen Gruppe nicht ohne staatliche Hilfe
nimmt. Anerkenntnis des moralischen Fehlers bedeu- verbessern wird. Unechte Reparationsforderungen
tet nicht nur, die moralischen Gründe zu sehen, die ließen sich beispielsweise aus Rawls’ Eine Theorie der
gegen die Handlung sprachen, sondern auch, die Fol- Gerechtigkeit gewinnen. Die Wohlergehensmetrik, die
gen der Handlung rückgängig machen zu wollen. So Rawls vorschlägt und auf deren Grundlage Umvertei-
schreibt Karl Jaspers in Die Schuldfrage, es sei eine lung vorgenommen werden kann, ist geschichtslos.
Forderung wiedergutmachender Gerechtigkeit, »aus Die Verteilung der Grundgüter (s. Kap. IV.43) ist aber
innerem Jasagen die Leistungen zu erfüllen, die in durch geschichtliche Faktoren beeinflusst. Einer
Rechtsform gebracht [...] den von Hitlerdeutschland Gruppe anzugehören, die Opfer historischen Un-
angegriffenen Völkern einen Teil des Zerstörten wie- rechts war, kann die Selbstachtung der Mitglieder, die
derherstellen« (Jaspers 1946, 102). Das ›innere Jasa- Fähigkeit, sich selbst und die eigene Lebensweise als
gen‹ ist bedeutsam, weil es anzeigt, dass der mora- wertvoll zu betrachten, beeinträchtigen. Der normati-
lische Fehler in der vollen Tragweite gesehen wird. In- ve Grund für die Umverteilung besteht zwar im
sofern lässt sich sagen, dass die materielle Kompensa- Rawlsschen Ansatz in der nicht-historischen Tatsa-
tion des Opfers nicht neben die Anerkenntnis des che, der Gruppe der am wenigsten Begünstigten an-
moralischen Fehlers durch den Aggressor tritt, son- zugehören; doch wer dieser Gruppe angehört, wird
dern ein Teil derselben bildet. Dieser Punkt ist unter nicht zuletzt durch historisches Unrecht und andere
anderem für die Beurteilung der Authentizität von po- geschichtliche Faktoren bestimmt (Schefczyk 2012,
litischen Entschuldigungen erheblich; wenn ein Staat 290–294).
zwar bereit ist, sich für vergangene Verbrechen zu ent- Echte Reparationsforderungen lassen sich mit
schuldigen, aber sich weigert, die Opfer zu entschädi- Blick auf den Gegenstand der Wiedergutmachung in
gen, so bestehen Zweifel daran, ob tatsächlich eine ›Anrechts- und Normwertkonzeptionen‹ unterglie-
Entschuldigung zustande kommt (Austin 1962; dern. Anrechtskonzeptionen gehen davon aus, dass
Schefczyk 2004b). die Wiedergutmachung historischen Unrechts in der
Wiederherstellung eines historischen Anrechts be-
steht. Normwertkonzeptionen nehmen dagegen an,
Konzeptionen wiedergutmachender dass Wiedergutmachung historischen Unrechts da-
Gerechtigkeit rauf gerichtet ist, das Erreichen einer bestimmten
Schwelle des Wohlergehens sicherzustellen. Die Diffe-
Es ist aus philosophischer Sicht angezeigt, zwischen renz zwischen beiden Konzeptionen lässt sich am Bei-
dem Grund und dem Gegenstand eines Transfers und spiel von Landraub und Vertreibung erläutern. Einer
darauf aufbauend zwischen ›echten‹ und ›unechten‹ Anrechtskonzeption zufolge ist der Gegenstand der
Reparationsforderungen zu unterscheiden. In echten Wiedergutmachung die Wiederherstellung des ver-
Reparationskonzeptionen ist historisches Unrecht ein letzten historischen Anspruchs auf Land und Wohn-
eigenständiger Grund für Leistungen. Unechte Re- sitz (Gans 2004). Dagegen fordert eine Normwertkon-
23 Historische Gerechtigkeit 151

zeption die Erfüllung bestimmter sozio-ökonomi- ter sozio-ökonomischer Verteilungsnormen gerichtet


scher Standards (Meyer 2010). Wären beispielsweise sind und ein besonders hohes Gewicht haben. Genau-
die Angehörigen einer indigenen Gemeinschaft Opfer er gesagt, die Korrektur vergangenen Unrechts ist ei-
von widerrechtlichen Landnahmen geworden und ner solchen ›libertären Normwertkonzeption‹ zufolge
lebten jetzt in Elend und Aussichtslosigkeit, so bezöge sogar die einzige Rechtfertigung für staatliche Umver-
sich ihr Anspruch gemäß Normwertkonzeption nicht teilung.
auf die Rückgabe des Landes, sondern auf die Verbes- In ›offenen Anrechtskonzeptionen‹ ist dagegen das
serung ihrer sozialen Lage. Der Unterschied zu einer Gewicht von Wiedergutmachungsforderungen ver-
unechten Reparationskonzeption besteht darin, dass gleichsweise gering (niedriger Trumpf). Das Anrecht
eine Normwertkonzeption das Unrecht (und nicht das eines Opfers historischen Unrechts wird nicht – wie in
Unterschreiten einer Anspruchsschwelle) als Grund unechten Reparationskonzeptionen oder manchen li-
für den Transfer ansieht. bertären Normwertkonzeptionen – dadurch aufgeho-
Im Rahmen einer Totalanalyse ist zu bestimmen, ben, dass es in einem Wohlergehensindex insgesamt
welchen Status Wiedergutmachungsforderungen im gut abschneidet. Jedoch sind gemäß offener Anrechts-
Gesamtgefüge von Pflichten einnehmen. Anrechts- konzeption Reparationen nur in einem Umfang zu
und Normwertkonzeptionen können den Erfordernis- leisten, der keine wesentlichen Abstriche bei der Erfül-
sen korrektiver Gerechtigkeit unterschiedliches Ge- lung anderer staatlicher Zielsetzungen wie der Finan-
wicht beimessen. Hat die Wiederherstellung eines his- zierung von Schulen und militärischen Unternehmen,
torischen Anrechts innerhalb des Gesamtgefüges von der Subventionierung der Landwirtschaft oder des
Pflichten besonders hohes Gewicht (hoher Trumpf), Nahverkehrs mit sich bringt (Schefczyk 2012, 303).
so lässt sich von ›konservativen‹ oder ›idealen‹ An- Die ›prioritäre Normwertkonzeption‹ stellt eine
rechtskonzeption sprechen. In einer konservativen Variante des Zufallsegalitarismus (s. Kap. III.39) dar,
Anrechtskonzeption wird die Wiedergutmachung mit bei dem die Tatsache, dass eine Person aufgrund von
der Notwendigkeit begründet, den Unrechtscharakter Unrecht in schlechten sozialen und wirtschaftlichen
von Handlungen zu korrigieren. Wenn der Stamm der Verhältnissen lebt, ihr einen vorrangigen Anspruch
Sioux die Restitution der Black Hills verlangt, verweist gegenüber Personen verschafft, die in der natürlichen
er auf gebrochene Verträge und nicht auf eine Theorie oder sozialen Lotterie Pech gehabt oder unvorsichtig
der Verteilungsgerechtigkeit, der zufolge eine Ressour- gehandelt haben.
cenverteilung gerechter wäre, in welcher der Stamm
über die Black Hills verfügte. Wenn ein deutscher Alt-
eigentümer auf die Rückgabe seines durch eine sozia- Konzeptionen staatsbürgerlicher Haftung
listische Regierung enteigneten Landes besteht, so
pocht er auf einen missachteten Rechtstitel und nicht Die erweiterte Grundintuition schreibt Körperschaf-
auf eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit, der zu- ten, in deren Namen Unrecht begangen wurde, eine
folge die Erfüllung eines solchen Anspruchs gefordert Pro-tanto-Pflicht wiedergutmachender Gerechtigkeit
wäre (Schefczyk 2012, 297). Einer idealen Anrechts- zu (Thompson 2002). Wenn Land A einen ungerech-
konzeption zufolge ist die Wiederherstellung eines ten Krieg gegen Land B geführt oder einen Völker-
verletzten Anrechts nur dann gefordert, wenn das An- mord begangen hat, so ist – der erweiterten Grundin-
recht selbst ohne Rechtsverletzung zustande gekom- tuition folgend – Land A für die Wiedergutmachung
men war und insofern gerechterweise bestand. Unge- des Schadens verantwortlich. Allerdings ist es fraglich,
rechtigkeiten im Erwerb und der Übertragung von Ei- wie das Verhältnis zwischen staatlichem Herrschafts-
gentum erhalten sich nach Nozick im Verlauf der Zeit apparat und herrschaftsunterworfener Bevölkerung
(Nozick 1999, 151–152). Da die erforderlichen histori- strukturiert sein muss, damit von einer Verantwortung
schen Informationen nicht zu beschaffen sind, geht des Staates gesprochen werden kann. Ein Modell strik-
Nozick davon aus, dass die Verteilung von Eigentum, ter staatsbürgerlicher Haftung, wie es beispielsweise
die ohne Unrecht vorherrschen würde, durch Theorien von Karl Jaspers in der bereits zitierten Schuldfrage
der Verteilungsgerechtigkeit zu approximieren sind. vertreten wird (Jaspers 1946, 56), geht in der Tradition
Nozick überführt insofern aus Gründen der Opera- des Hobbesschen Staatsdenkens davon aus, dass die
tionalisierbarkeit die ideale Anrechtskonzeption in ei- souveräne Gewalt die Herrschaftsunterworfenen dar-
ne Art von Normwertkonzeption, in welcher Wieder- stellt und durch diese ohne jede Einschränkung auto-
gutmachungsforderungen auf die Erfüllung bestimm- risiert ist. Als absolut autorisierte Instanz ist die souve-
152 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

räne Gewalt lediglich ausführendes Organ (actor) ei- gänglich gewesen wären und sie Grund gehabt hätten,
nes nur im Darstellungsverhältnis existierenden sich diese Informationen auch tatsächlich zu beschaf-
Volkswillens. Die Untertanen sind daher die Urheber fen. Die Normierung dessen, was die Bevölkerung
(authors) der souveränen Handlungen und damit un- hätte wissen und tun können, wird sich dabei an Theo-
eingeschränkt für staatliches Unrecht haftbar (Hobbes rien darüber orientieren, was von Akteurinnen und
1651/1839, 159 [Kap. XVIII]). Eine eingeschränkte Akteuren in gegebenen sozialen, politischen und kul-
Konzeption staatsbürgerlicher Haftung hat demgegen- turellen Kontexten realistischerweise gefordert wer-
über John Locke in der Zweiten Abhandlung über die den kann.
Regierung vertreten. Locke hat den Staat in normativer Anders als das Kontrollmodell verlangt das ›Gleich-
Weise verstanden. Die Autorisierung der herrschaftli- gesinntheitsmodell‹ nicht, dass die Bevölkerung auf
chen Gewalt durch die politische Gemeinschaft dient das staatliche Handeln einwirken können muss, um
dem Schutz der natürlichen Rechte des Individuums. für Unrechtsfolgen haftbar zu sein. Vielmehr sieht es
Verletzen die Inhaber staatlicher Gewaltmittel indivi- als ausreichend an, dass die Bevölkerung die Verbre-
duelle Rechte, so missachten sie den Zweck, zu dem ih- chen befürwortet oder befürworten würde. Als Bei-
nen diese Mittel übertragen wurden. Sie handeln nicht spiel könnte man an einen Völkermord durch ein au-
als die staatlich verfassten Organe der politischen Ge- tokratisches Regime denken, den die Mehrheitsbevöl-
meinschaft, sondern als Mitglieder einer verbrecheri- kerung aus Hass auf die betroffene Gruppe gutheißt
schen Bande (Locke 1690/1824, 444 [§ 175]). Weil das oder gutheißen würde. Auch wenn der Mehrheit die
Volk kein staatliches Unrecht autorisieren kann, ist es Mittel gefehlt hätten, den Völkermord zu verhindern,
nach Locke für staatliche Verbrechen nicht strikt, son- würde sie aus Sicht des Gleichgesinntheitmodells für
dern nur nach Maßgabe seiner individuellen Betei- dessen Folgen haften. Zur Begründung wäre zum ei-
ligung verantwortlich (ebd., 446 [§ 179]). Wesentlich nen auf die Intuition zu verweisen, dass eine Person
ist also, ob und in welcher Weise eine Person an einer auch dann für die Folgen ihres Handelns verantwort-
Verschwörung mitwirkt, die staatliche Gewaltmittel lich sein kann, wenn sie nicht anders hätte handeln
für verbrecherische Ziele nutzt. können (Frankfurt 1969); zum anderen wäre geltend
Angelehnt an David Miller (Miller 2004) lassen zu machen, dass das Gutheißen eines Verbrechens ei-
sich zwei Modelle entwickeln, die über die Lockesche ne Art von Komplizenschaft mit den Inhabern der
Vorstellung einer auf persönlicher Mitwirkung beru- staatlichen Gewaltmittel begründet.
henden Haftung hinausgehen, zugleich aber die
staatsbürgerliche Verantwortung an spezifische Be-
dingungen binden. Das erste Modell hebt auf die Die temporale Dimension wieder-
Möglichkeit der Kontrolle staatlichen Handelns durch gutmachender Gerechtigkeit
die Bevölkerung ab (›Kontrollmodell‹). Wenn die Be-
völkerung nicht über die Mittel verfügt, das Handeln Wie oben im zweiten Abschnitt angesprochen, be-
der Gewalthaber effektiv zu beeinflussen, so ist es dem zeichnet man in der philosophischen Literatur Un-
Kontrollmodell zufolge nicht plausibel, sie für staatli- recht zumeist dann als ›historisch‹, wenn Täter oder
ches Unrecht mitverantwortlich zu machen. Der zu- Opfer verstorben sind (›historisches Unrecht I‹). Der
grundeliegende Gedanke lautet, dass eine Instanz für Begriff ›historische Gerechtigkeit‹ bezieht sich in die-
ein Geschehen nicht verantwortlich gemacht werden sem Verständnis auf Rechte und Pflichten, die heute
kann, das sie nicht verhindern konnte. Unter welchen Lebenden aufgrund von Unrecht zukommen, das Ver-
Bedingungen von einer Instanz gilt, dass sie ein Ge- storbene begangen und erlitten haben. Die im fünften
schehen nicht verhindern konnte, lässt sich in unter- Abschnitt angesprochenen Modelle staatsbürgerlicher
schiedlicher Weise ausbuchstabieren. In jedem Fall Haftung geben Bedingungen an, unter denen eine po-
werden aber gewisse Normierungen dessen voraus- litische Gemeinschaft für das Handeln der staatlichen
gesetzt, was von einer Partei in bestimmten Zusam- Organe verantwortlich ist. Doch gelten die Haftungs-
menhängen zu wissen oder zu tun erwartet werden pflichten und -rechte auch für nachgeborene Genera-
kann. Auch wenn beispielsweise die Mitglieder der tionen?
Bevölkerung nicht gewusst hätten, dass die Regierung Der Anrechtskonzeption folgend zielt historische
einen Völkermord plante, könnten sie grundsätzlich Gerechtigkeit auf die Wiederherstellung eines recht-
in der Lage gewesen sein, Kontrolle auszuüben, dann lichen Anspruchs. Ein solcher Anspruch kann sich
nämlich, wenn die entsprechenden Informationen zu- auf Sacheigentum beziehen wie Land oder Wert-
23 Historische Gerechtigkeit 153

gegenstände, aber auch auf vorenthaltene Gegenleis- kann. Doch daraus folgt nicht, dass mit der Revision
tungen. Bernard Boxill (1978) hat beispielsweise ar- von Lebensplänen, die durch das Unrecht notwendig
gumentiert, das Unrecht der Sklaverei in den USA ha- geworden ist, auch das Recht auf Wiedergutmachung
be unter anderem darin bestanden, dass die Sklaven verschwände. Das Recht schützt nämlich nicht nur die
für ihre Arbeit nicht bezahlt worden seien. Die Skla- Interessen einer Person, sondern auch deren mora-
ven hatten daher eine moralische Forderung auf Ent- lischen Status. Ausbleibende Wiedergutmachung ist
lohnung gegen ihre Sklavenhalter. Diese moralische daher ein zusätzliches Unrecht (Boxill 2003; Butt
Forderung lässt sich als Eigentumsanspruch betrach- 2013). Richtig ist jedoch, dass eine Totalanalyse das
ten, den die Sklaven an ihre Nachkommen vererbt ha- Gesamtgefüge an Rechten und Pflichten würdigen
ben. Die Nachkommen der Sklavenhalter sind als Er- muss, das sich in der Generationenfolge ändert. Die
ben des zu Unrecht Angeeigneten nach Boxill ver- Bundesrepublik Deutschland könnte sich gegenüber
pflichtet, die Forderung der Nachfahren ehemaliger griechischen Opfern nationalsozialistischer Verbre-
Sklaven zu erfüllen. chen gleichwohl nicht einfach darauf berufen, dass
Anders als Anrechtskonzeptionen gehen Norm- seither mehr als siebzig Jahre verstrichen und die An-
wertkonzeptionen davon aus, dass der Gegenstand sprüche gleichsam verjährt seien. Eine solche Zurück-
der Wiedergutmachung nicht in der Wiederherstel- weisung wäre insbesondere dann wenig überzeugend,
lung eines historischen Rechts besteht, sondern in der wenn die Opfer kontinuierlich ihre Ansprüche in Er-
Erfüllung bestimmter sozio-ökonomischer Bedin- innerung gebracht hätten. Gleichwohl sind die Pflich-
gungen, die aufgrund des historischen Unrechts ver- ten historischer Gerechtigkeit in Ausgleich zu bringen
fehlt werden. Um bei dem Beispiel der Sklaverei zu mit den Pflichten, die sich aus den Rechten heute Le-
bleiben, zielte die Wiedergutmachung gemäß der bender ergeben.
Normwertkonzeption darauf, die Nachkommen von
Sklaven für die sozio-ökonomischen Nachteile zu ent- Literatur
schädigen, unter denen sie als Konsequenz des Un- Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungs-
rechts leiden. versuche eines Überwältigten. Stuttgart 1977.
Assman, Aleida/Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit, Ge-
Unterschiedliche Auffassungen herrschen darüber, schichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergan-
wie sich das normative Gewicht von Wiedergutma- genheiten nach 1945. Stuttgart 1999.
chungsansprüchen im Zeitverlauf ändert. Mit zuneh- Austin, John L.: How to Do Things With Words. Oxford 1962.
mendem zeitlichem Abstand wächst typischerweise Boxill, Bernard: The morality of reparation. In: Social Theory
die Schwierigkeit, zwischen dem Unrecht einerseits and Practice 2/1 (1978), 113–123.
–: A Lockean argument for black reparations. In: The Journal
und den Nachgeborenen andererseits einen eindeuti-
of Ethics 7/1 (2003), 63–91.
gen Zusammenhang herzustellen. Die historischen Butt, Daniel: Inheriting rights to reparation: compensatory
Informationen für die Rekonstruktion von Erb- justice and the passage of time. In: Ethical Perspectives
schaftsverhältnissen oder kausalen Zusammenhän- 20/2 (2013), 245–269.
gen sind unvollständig; die Verbindung schwächt sich Buxbaum, Richard M.: A legal history of international re-
in der Generationenfolge und mit zunehmender Zahl parations. In: Berkeley Journal of International Law 23/2
(2005), 314–346.
intervenierender kausaler Faktoren ab.
Frankfurt, Harry: Alternate possibilities and moral respon-
Waldron (1992) hat argumentiert, dass historische sibility. In: Journal of Philosophy 66/23 (1969), 829–839.
Eigentumsrechte mit der Zeit an Gewicht verlieren, Gans, Chaim: Historical rights. In: Lukas H. Meyer (Hg.):
weil die durch die Rechte ursprünglich geschützten Justice in Time. Responding to Historical Injustice. Baden-
Interessen sich abschwächen und durch andere Inte- Baden 2004, 79–99.
ressen überlagert werden. Dies gilt nach Waldron Hobbes, Thomas: Leviathan or the Matter, Form and Power
of Commonwealth, Ecclesiastical and Civil [1651]. In:
selbst dann, wenn die verletzte Partei oder deren Ders.: The English Works of Thomas Hobbes, Bd. III. Hg.
Nachkommen das Unrecht kontinuierlich beklagen. von William Molesworth. London 1839.
Diese Auffassung ist verschiedentlich als unplausibel Hockerts, Hans G.: Wiedergutmachung in Deutschland.
kritisiert worden (Schefczyk 2004a; Meyer 2006). Eine historische Bilanz 1945–2000. In: Vierteljahreshefte
Denn Rechtsverletzungen greifen nicht nur in ge- für Zeitgeschichte 49/2 (2001), 167–214.
Jankélévitch, Vladimir: Verzeihen? In: Das Verzeihen. Essays
schützte Interessen ein; sie greifen auch den mora-
zur Moral und Kulturphilosophie [1971]. Frankfurt a. M.
lischen Status der Verletzten an. Zwar trifft es zu, dass 2004.
das durch Unrecht verlorene Eigentum nicht mehr Jaspers, Karl: Die Schuldfrage. Heidelberg 1946.
Bestandteil des Lebensplans verletzter Personen sein Locke, John: The Two Treatises of Government. Book II: Essay
154 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

Concerning the True, Original, Extent and End of Civil Go- 24 Personale Gerechtigkeit
vernment [«Second Treatise«]. In: Ders.: The Works of
John Locke, Bd. 4 [1690]. London 121824, 338–485. Personale Gerechtigkeit wird Individuen im Gegen-
Meyer, Lukas H.: Historische Gerechtigkeit. Berlin 2005.
–: Reparations and symbolic restitution. In: Journal of Social satz zu Institutionen, Normen usw. zugesprochen. Sie
Philosophy 37/3 (2006), 406–422. kann a) als eine regelrechte Tugend oder b) als eine
–: Historische Gerechtigkeit. Möglichkeit und Anspruch. In: einfache Einstellung angesehen werden. Im Fall a)
Jahrbuch für Politik und Geschichte 1 (2010), 11–28. handelt es sich (nach einer üblichen Definition) um
Mill, John Stuart: Prinzipien der Politischen Ökonomie. In: den ständigen und bewussten Willen, im Einklang mit
Ders.: Ausgewählte Werke, Bd. III.2: Wirtschaft und Staat.
schon gegebenen Gerechtigkeitskriterien zu handeln.
Hg. von Michael Schefczyk und Christoph Schmidt-Petri.
Hamburg 2015, 65–466 (engl. 1848). Ein solcher Wille wird zu einem wichtigen Aspekt in-
Miller, David: Holding nations responsible. In: Ethics 114/2 dividuellen Charakters, der es erlauben sollte, dessen
(2004), 240–268. Träger als gerechtes Individuum zu bezeichnen
Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia [1974]. Oxford (s. Kap. III.29). Im Fall b) handelt es sich um die Ten-
1999. denz, gerechte Handlungen durchzuführen oder (be-
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
1975 (engl. 1971).
sonders im Fall von Richtern jeder Art) gerechte Ur-
–: Das Recht der Völker. Berlin 2002 (engl. 1999). teile zu fällen. Aus dieser Perspektive wird das Prädi-
Schefczyk, Michael: Let bygones be bygones? On the tempo- kat ›gerecht‹ in erster Linie den jeweiligen Normen
ral bounds of reparative justice. In: Roland Bluhm/Chris- und Urteilen und nur sekundär den sie durchführen-
tian Nimtz (Hg.): Ausgewählte Beiträge zu den Sektionen den bzw. fällenden Individuen zugesprochen – und
der GAP.5. Paderborn 2004a, 617–623.
zwar nur unter der Bedingung, dass es sich dabei nicht
–: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung
des Bonum Commune. In: Jean-Michel Bonvin/Georg um etwas Einmaliges, sondern um einen regelmäßi-
Kohler/Beat Sitter-Liver (Hg.): Bonum Commune/Bien gen Habitus handelt. Gemäß dieser Definition schei-
commun. Ein kritisches Plädoyer. Fribourg 2004b, 403– nen sich beide Auffassungen kaum voneinander zu
441. unterscheiden, denn entscheidend ist in beiden Fällen
–: Verantwortung für historisches Unrecht. Eine philosophi- die wiederholte und bewusste Durchführung gerech-
sche Untersuchung. Berlin 2012.
ter Handlungen, die nicht deswegen als gerecht gelten,
Thompson, Janna: Taking Responsibility for the Past. Repara-
tion and Historical Injustice. Cambridge 2002. weil sie von einem als gerecht geltenden Individuum
Torpey, John: Making Whole What Has Been Smashed. On durchgeführt werden, sondern weil sie bestimmten
Reparation Politics. Cambridge MA 2006. objektiven Kriterien der Gerechtigkeit entsprechen.
Valentini, Laura: Ideal vs. non-ideal theory: a conceptual
map. In: Philosophical Compass 7/9 (2012), 654–664.
Waldron, Jeremy: Superseding historic injustice. In: Ethics
103/1 (1992), 4–28. Personale Gerechtigkeit in der Antike
Walker, Margaret U.: Moral Repair. Reconstructing Moral
Relations after Wrongdoing. Cambridge 2006. Traditionell gehört Gerechtigkeit zu den Haupt- oder
Kardinaltugenden (die anderen sind: Weisheit, Beson-
Michael Schefczyk
nenheit und Tapferkeit). Als solche wird sie in der
Antike fast ausschließlich als personale Gerechtigkeit,
d. h. als individuelle Haltung bzw. Charaktereinstel-
lung betrachtet und als »die moralisch-soziale Tugend
schlechthin« (Horn/Scarano 2002, 17) dargestellt. In-
sofern gilt sie als die höchste Tugend, die alle anderen
einschließt und bündelt, um aus deren Träger einen
›guten‹ bzw. ›gerechten‹ Menschen zu machen.
Gerechtigkeit tritt als personale Einstellung vor al-
lem bei Platon auf, der in Der Staat Sokrates behaup-
ten lässt, Gerechtigkeit sei, »wenn man das Seine tut«
(Pol. IV, 433b); sie sei die Haltung, die anderen Tugen-
den wie Besonnenheit, Tapferkeit und Klugheit »die
Kraft verliehen hat, sich zu bilden« (ebd., 433e). Sie ist
ein Prinzip der seelischen und sozialen Harmonie. Je-
dem Teil der Seele (Vernunft, Tatkraft und Begehren)
24 Personale Gerechtigkeit 155

entspricht eine bestimmte Tugend (jeweils: Weisheit, kommt). In allen diesen Fällen geht es darum, eine an-
Mut und Mäßigung). Die Grundlage, auf der die Men- gemessene Proportion zu bewahren (»das Gerechte ist
schen diese spezifischen Tugenden entwickeln, stellt also etwas Proportionales«, NE 1131a 25–30).
allerdings die Gerechtigkeit dar, die somit als Vermitt- Ein charakteristisches Moment der aristotelischen
lungsinstanz zwischen den Seelenteilen und als Basis Gerechtigkeitsauffassung besteht in der Einführung
für die weiteren Tugenden gilt. So besteht etwa die einer weiteren Art von Gerechtigkeit, nämlich der Bil-
Mäßigung darin, dass jeder Seelenteil die ihm eigene ligkeit (NE 1137a 30). Sie bezeichnet die Fähigkeit,
Aufgabe erfüllt: Der vernünftige Teil herrscht mit Hil- Gesetze (die ihrer Natur nach immer allgemein sind)
fe der Tatkraft über den begehrenden Teil, der sich be- auf besondere Fälle so anzuwenden, dass das Ergebnis
herrschen lässt. Diese innere Harmonie spiegelt sich gerecht ist. Manchmal würde die mechanische An-
in der Gesellschaft wider. Gemäß der platonischen wendung des allgemeinen Gesetzes auf den konkreten
Auffassung gibt es in der polis drei Gruppen von Fall eine Situation hervorbringen, die trotz ihrer Lega-
Staatsbürgern, deren Position im politischen Körper lität doch ungerecht in einem weiteren Sinne ist, ob-
des Gemeinwesens jeweils einem Teil innerhalb der wohl das Gesetz selbst an sich gerecht ist (diese Situa-
Seele gleichkommt: die Regierenden (Vernunft), die tion wird im Lateinischen durch die Sentenz summum
Wächter (Tatkraft) und die Handwerker und Bauern ius summa iniuria wiedergegeben). Die Billigkeit stellt
(Begehrenskraft). Aus der sozialen Perspektive be- somit »eine Berichtigung der Gesetzes-Gerechtigkeit«
zeichnet Gerechtigkeit die Fähigkeit, die Aufgaben zu dar (NE 1137b 10) und ist die typische Tugend von
erfüllen, die einem infolge der eigenen Position inner- Richtern und von all denjenigen, die Gesetze und all-
halb des Gemeinwesens zukommen. Auch in diesem gemeine Regeln anwenden müssen.
Fall geht es also um die Bewahrung der richtigen Pro- Die römische Tradition – beginnend mit Cicero
portion und Harmonie zwischen unterschiedlichen (106–43 v. Chr.) bis in die Institutiones Iustiniani (533
Teilen eines Ganzen. Somit weist die Tugend der Ge- n. Chr.) – identifiziert die personale Gerechtigkeit mit
rechtigkeit einen moralischen und zugleich einen on- einer Reihe von Haltungen, die insgesamt zur Bildung
tologischen Charakter auf. eines gerechten Charakters dadurch beitragen, dass sie
Aristoteles (dessen Gerechtigkeitsauffassung maß- internalisiert und zum Habitus werden. Es geht in ers-
gebend für die weitere Diskussion in der Antike, im ter Linie darum, niemandem ein Unrecht zuzufügen
Mittelalter und in der Neuzeit wurde) bezeichnet in und jedem das zukommen zu lassen, was einem zu-
der Nikomachischen Ethik Gerechtigkeit als jene »Fä- steht (wie es in den klassischen Formeln ausgedrückt
higkeit [...], gerechte Handlungen zu vollziehen[, die] wird, die sich bei Cicero und Ulpian wiederfinden und
ein festes Verlangen nach dem Gerechten« (NE zu gängigen juristischen Redewendungen geworden
1129a–1138b) verursacht. Als solche besteht sie in ers- sind: neminem laede und suum cuique tribue). In Von
ter Linie in der »Achtung vor Gesetz und bürgerlicher den Pflichten (Cic. off. I, 20) behauptet Cicero, dass Ge-
Gleichheit« (ebd.) – was (wie bei Platon) auf ihre so- rechtigkeit dazu verpflichtet, »Gemeingut als Gemein-
ziale und politische Dimension hinweist. gut, Privatbesitz jedoch als persönliches Eigentum« zu
Weiter definiert er als spezielle bzw. partikuläre Ge- behandeln (ebd., 29). Da aber Privateigentum nichts
rechtigkeit den Habitus, Güter adäquat zu verteilen – Natürliches darstellt, sondern erst in Gesellschaft und
was einem bis heute weit verbreiteten Gebrauch des durch Verträge zustande kommt, weist Gerechtigkeit
Terminus gleichkommt. Er unterscheidet dabei zwi- einen sozialen Charakter auf. Dieser besteht – anders
schen 1) austeilender bzw. Verteilungsgerechtigkeit, 2) als bei Platon – in der »Aufrichtigkeit in Worten und
ausgleichender bzw. korrektiver Gerechtigkeit und 3) Vereinbarungen« und in der Verpflichtung, »das Ge-
reziproker Gerechtigkeit. Die erste zeigt sich bei der meinwohl in den Mittelpunkt zu stellen, durch wech-
Verteilung von Gütern, die zweite, wenn es darum selseitige Leistungen, durch Geben und Empfangen,
geht, Gabe mit Gegengabe, Schaden mit Entschädi- durch unsere Fertigkeiten, unsere Mühen und unsere
gung, Verbrechen mit Strafe angemessen zu kompen- Talente das einigende Band zu knüpfen, das Menschen
sieren, die dritte, wenn ungleiche Güter getauscht wer- miteinander verbindet« (ebd., 31).
den (wie z. B. wenn ein Schuster Schuhe gegen Lebens- Nach der klassischen Auffassung kann somit Ge-
mittel oder gegen ein Haus tauschen will: ein Problem, rechtigkeit als eine Tugend definiert werden, die auf
das in der Ökonomie besonders wichtig ist, wo es als Abwägung, Urteilskraft und Angemessenheitssinn
Frage nach dem ›gerechten‹ bzw. angemessenen Preis basiert und deren Hauptmerkmal darin besteht, Har-
von Objekten oder Dienstleistungen zum Vorschein monie und Proportion sowohl im Inneren als auch im
156 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

sozialen Leben herzustellen und zu bewahren. Bei auch das natürliche Recht) und wird von Thomas in
Platon sollen auch politische Institutionen dieses har- der Folge von Ulpian als der beständige und dauerhafte
monische Gleichgewicht aufweisen, aber nur weil sie Wille definiert, einem jeden sein Recht zuzuteilen.
in Analogie mit der menschlichen Seele und deren Thomas übernimmt die aristotelische Unterscheidung
Gliederung gedacht werden. von verteilender und ausgleichender Gerechtigkeit,
meint aber (ebd., q. 61), die erstere solle sich an einem
Prinzip der Würde bzw. der sozialen Position orientie-
Das christliche Mittelalter ren, so dass »in der zuteilenden Gerechtigkeit die Mit-
tehaltung nicht gemäß der Gleichheit von Ding zu
In der Spätantike und im christlichen Denken wird Ding genommen [wird], sondern nach der Verhältnis-
hingegen der Begriff der Gerechtigkeit zunehmend auf gleichheit von Ding zu Person; so daß nämlich, wie die
Institutionen angewandt. Gleichzeitig wird das Indivi- eine Person über die andere hinausgeht, so auch das
duum als Einwohner von zwei unterschiedlichen Wel- Ding, das einer Person gegeben wird, über das Ding hi-
ten angesehen, in denen unterschiedliche Auffassun- nausgeht, das der anderen gegeben wird« (ebd., 284).
gen von Gerechtigkeit herrschen. Dies zeigt sich bei Übersieht man den historischen Kontext einer hierar-
Augustinus (vor allem in Vom Gottesstaat) besonders chisch strukturierten Standesgesellschaft, kann man
deutlich. Als irdisches Wesen und Einwohner des ir- feststellen, dass hier ein Prinzip aufgestellt wird, nach
dischen Staates kann der Mensch die Tugend der Ge- dem Gerechtigkeit fordern kann, dass bei einer Güter-
rechtigkeit nur unvollkommen und nur dank der Gna- verteilung die Empfangenden gemäß ihrer Eigentüm-
de Gottes entwickeln; als Bürger des Gottesstaates ist er lichkeit behandelt werden, so dass am Ende eine nicht
insofern gerecht, als er den göttlichen Geboten folgt. gleiche, jedoch gerechte Verteilung resultiert.
Die wahre Gerechtigkeit ist allerdings nur von Gott zu
erwarten, denn nur er ist vollkommen gerecht.
Bei Anselm von Canterbury wird Gerechtigkeit als Die Neuzeit
›Rechtheit‹ verstanden (Über die Wahrheit, XII). Wie
bei Platon besteht sie in erster Linie darin, dass sich Die Auffassung von Gerechtigkeit als individueller
ein Individuum in der ihm in der kosmischen Ord- Tugend ändert sich im Laufe der Zeit insoweit, als ›ge-
nung zugeteilten Position zurechtfindet. Zu dieser on- recht‹ seit der Neuzeit vor allem als Prädikat von
tologischen Dimension der Gerechtigkeit kommt je- Handlungen, Urteilen, Institutionen, Verfahren und
doch eine weitere, moralische hinzu – denn auch ein Normen bzw. Gesetzen benutzt wird. Diese Änderung
Stein, der von oben nach unten fällt, ›handelt‹ recht erklärt sich auch dadurch, dass sich Gerechtigkeit als
(nämlich gemäß der ihm zugeteilten Position im Kos- individuelle Tugend eher auf zwischenmenschliche
mos), ist aber nicht deswegen gerecht. Das gerecht Beziehungen als auf die Kontrolle der eigenen Leiden-
handelnde Individuum muss wissen, was die Recht- schaften bzw. inneren Impulse bezieht. Sie drückt sich
heit von ihm verlangt, und muss es dann wissentlich daher vor allem in äußeren Handlungen aus, die ihrer-
erfüllen wollen. Gerechtigkeit besteht mit anderen seits das Prädikat ›gerecht‹ oder ›ungerecht‹ bekom-
Worten im wissentlichen Wollen von etwas, das ge- men können. Dies bedeutet allerdings nicht notwen-
sollt ist, und zwar weil es gesollt ist: Sie ist »die um ih- digerweise, dass diese unterschiedlichen Aspekte im-
rer selbst willen bewahrte Rechtheit des Willens« (An- mer strikt voneinander zu trennen sind. Vielmehr
selm von Canterbury 2001, 67). Somit nimmt Anselm wird als gerecht jenes Individuum bezeichnet, das
die neuzeitliche, besonders bei Kant wichtige Auffas- ständig auf gerechte Weise handelt und urteilt; gleich-
sung vorweg, dass die Intention zum moralischen zeitig wird auch erwartet, dass Individuen, die ver-
Charakter einer Handlung wesentlich beiträgt. suchen, immer gerecht zu handeln bzw. zu urteilen,
Thomas von Aquin betont (Summe der Theologie II- letztlich jenen Habitus entwickeln, der als Tugend der
II, q. 57 und 58) die Tatsache, dass sich Gerechtigkeit Gerechtigkeit definiert wird.
– im Unterschied zu den übrigen Tugenden, die nur So definiert z. B. Thomas Hobbes im Leviathan Ge-
auf die innere Vervollkommnung des Menschen abzie- rechtigkeit als die Einhaltung abgeschlossener Verträ-
len – immer auf einen anderen bezieht, und zwar so, ge (Hobbes 1655/1984, 110) – also als eine eher lega-
dass sie einen gewissen Ausgleich bzw. eine gewisse listisch verstandene Handlungsstrategie; andererseits
Gleichheit (aequalitas) herstellt. Sie hat als ihren Ge- bezeichnet er an derselben Stelle Gerechtigkeit als
genstand das Recht (nicht nur das positive, sondern »de[n] ständige[n] Wille[n], einem jeden das Seine zu
24 Personale Gerechtigkeit 157

geben« (ebd.) – also als eine individuelle Haltung, die einfach eine Sache der institutionellen Struktur ist,
einer der traditionellsten Definitionen von Gerechtig- sondern auch von den individuellen Entscheidungen
keit entspricht. im Alltag abhängt. Wie ein altes Schlagwort besagt:
Ähnlich unterscheidet Samuel Pufendorf in Über Das Private ist politisch (Cohen 2000, 122). Gerade
die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Ge- Rawls’ Argument zugunsten des Differenzprinzips
setz der Natur (Pufendorf 1673/1994) zwischen Hand- zeige, wie entscheidend subjektive Einstellungen
lungen, die wegen ihrer äußeren Übereinstimmung (hier: die von talentierten Individuen, die nur dann
mit dem Gesetz als ›gut‹ gelten, und Handlungen, die bereit sind, ihre Talente in den Dienst der gesamten
auch als ›gerecht‹ bezeichnet werden können, weil sie Gesellschaft zu stellen, wenn sie dafür ein wesentlich
1) aus Achtung vor der Person durchgeführt wurden, höheres Einkommen als die anderen Mitglieder erhal-
gegen die sie sich richten, und zwar 2) mit Überlegung ten) für die Wahl von Gerechtigkeitskriterien sind
bzw. mit wissendem Willen. Noch einmal wird Ge- und wie schwer es ist, solche Kriterien ausgehend von
rechtigkeit als eine Haltung bezeichnet, die sich auf der Prämisse zu rechtfertigen, dass sich die Indivi-
andere bezieht (wie bei Thomas), aber unter Einbezie- duen von Egoismus und Selbstinteresse statt von ei-
hung der Motivation (wie bei Anselm). nem gewissen Sinn für Gerechtigkeit und Solidarität
Gegen diese eher traditionellen Auffassungen der leiten lassen.
Gerechtigkeit behauptet David Hume in seiner Unter- Hier kommt ein wichtiger Aspekt zur Geltung, der
suchung über die Prinzipien der Moral, dass sie ihre von manchen tugendethischen Kritikern moderner
ausschließliche Quelle in ihrer Nützlichkeit für die moralischer und politischer Theorien (z. B. Stocker
Gesellschaft besitze – und zwar nur, weil in dieser die 1998) betont wird: Die modernen Autoren haben
Güter immer knapp sind: Sollte es aber »einen so rei- Schwierigkeiten, die Verbindung von Motiven und
chen Überfluss an allen äußeren Bequemlichkeiten« Gründen bzw. Rechtfertigungen zu beleuchten. Zwar
geben, so würde Gerechtigkeit im Unterschied zu den definierten sie Gerechtigkeitsprinzipien bzw. -krite-
anderen sozialen Tugenden nutzlos, »denn welcher rien, anhand derer Handlungen, Normen, Institutio-
Absicht würde die Aufteilung der Güter dienen, wenn nen oder Verfahren als gerecht bezeichnet werden
jeder schon mehr als genug hat?« (Hume 1751/2003, können, seien aber nicht imstande zu erklären, welche
17). Sogar die Institution des Privateigentums würde Haltung man von den Individuen erwarten solle. Ge-
ihren Sinn verlieren (ebd.). Der soziale Charakter von nügt die punktuelle Durchführung von gerechten
personaler Gerechtigkeit bekommt hier eine ganz an- Handlungen, damit jemand als gerechter Mensch gel-
dere Bedeutung als in der Tradition: Er bezieht sich ten kann? Oder muss es dafür eine Übereinstimmung
auf ihre soziale Nützlichkeit. von inneren Motiven und äußeren Gründen geben?
Worin besteht Gerechtigkeit als Tugend? In der Ver-
innerlichung äußerer Gerechtigkeitsgründe, so dass
Die Gegenwart deren Übernahme als Orientierung beim Handeln zu
einer Art zweiten Natur wird? Im dauerhaften und be-
Auch in der gegenwärtigen politisch-philosophischen wussten Willen, gerechte Handlungen durchzuführen
Debatte wird Gerechtigkeit eher als institutionelle Ge- bzw. gerechte Institutionen zu fördern und zu stützen?
rechtigkeit, also als Eigenschaft von Gesellschaften, Oder einfach in der zum Habitus gewordenen Wie-
Normen oder Rechtsordnungen verstanden. So be- derholung von Handlungen, die als gerecht gelten? Ei-
hauptet z. B. John Rawls in seinem einflussreichen ne endgültige Antwort auf diese Fragen hängt von der
Buch Eine Theorie der Gerechtigkeit (1975), dass Ge- Bedeutung ab, die man dem Wort ›Tugend‹ gibt – d. h.
rechtigkeit »die erste Tugend sozialer Institutionen« davon, ob man sie als zweite Natur, als dauerhaften
sei (ebd., 19). Zugleich spricht er den Individuen einer und bewussten Willen oder als einfachen Habitus be-
wohlgeordneten Gesellschaft einen Gerechtigkeits- greift.
sinn zu, der sie dazu motivieren sollte, Gerechtigkeits- Dass die meisten gegenwärtigen Theorien diese Tu-
kriterien anzuwenden, und erteilt ihnen die natürli- gend nicht ins Zentrum ihrer Überlegungen zur Ge-
che Pflicht, nach dem zu handeln, was die Gerechtig- rechtigkeit rücken, bedeutet auf jeden Fall nicht, dass
keit fordert. Keinesfalls will jedoch Rawls die Gerech- sie an praktischer Bedeutung verloren hat. Es ist näm-
tigkeit einer Gesellschaft von der individuellen lich fraglich, ob sich z. B. eine gerechte Gesellschaft er-
Haltung ihrer Mitglieder abhängig machen. Dagegen halten könnte, wenn ihre Mitglieder diese Tugend
behauptet Gerald A. Cohen, dass Gerechtigkeit nicht nicht wenigstens bis zu einem gewissen Grad besäßen,
158 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

nämlich in dem Ausmaß, das nötig ist, um gerechte 25 Das Differenzprinzip


Institutionen, Praktiken, Normen und Verfahren zu
unterstützen. Dass dieser Aspekt nicht bei der Be- Das Differenzprinzip ist Teil von John Rawls’ Theorie
gründung von Gerechtigkeitskriterien, sondern nur der Gerechtigkeit (1971/2000). Mithilfe des Differenz-
bei deren konkreter Anwendung zum Vorschein prinzips lässt sich beurteilen, ob diejenigen Institutio-
kommt, mag erklären, wieso er von vielen Theorien nen einer Gesellschaft gerecht sind, die maßgeblich
vernachlässigt wird. Es ist jedoch zu bezweifeln, dass für die Verteilung der gemeinsam erwirtschafteten so-
eine Theorie der Gerechtigkeit, die solche Fragen un- zioökonomischen Güter verantwortlich sind. Dem
berührt lässt, tatsächlich überzeugend sein kann. Differenzprinzip zufolge sind Ungleichverteilungen
gesellschaftlicher Kooperationsgewinne nur dann ge-
Literatur recht, wenn die Tatsache, dass einige Bürgerinnen
Anselm von Canterbury: Über die Wahrheit. Lat.-dt. Übers., über mehr sozioökonomische Güter verfügen, allen
mit einer Einl. und Anm. hg. von Markus Enders. Ham- Bürgerinnen und insbesondere den am schlechtesten
burg 2001.
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Berlin 101999 [NE].
gestellten nutzt. Das Differenzprinzip sorgt somit für
Augustinus, Aurelius: Vom Gottesstaat. Zürich 1955. Solidarität unter den Bürgerinnen, ohne diesen die
Cicero, Marcus Tullius: Von den Pflichten. Frankfurt a. M. Möglichkeit zu nehmen, als rationale Nutzenmaxi-
1991 [Cic. off.]. mierer ihren individuellen Lebensplan zu verfolgen.
Cohen, Gerald A.: If You’re an Egalitarian, How Come You’re Denn das Differenzprinzip verhindert, dass moralisch
So Rich? Cambridge MA 2000.
irrelevante Faktoren wie soziale Stellung oder natürli-
Hobbes, Thomas: Leviathan. Hg. von Iring Fetscher. Frank-
furt a. M. 1984 (engl. 1655). che Talente zur Gänze bestimmen, wie gut es einer
Horn, Christoph/Scarano, Nico (Hg.): Philosophie der Ge- Bürgerin in sozioökonomischer Hinsicht geht.
rechtigkeit. Frankfurt a. M. 2002.
Hume, David: Eine Untersuchung über die Prinzipien der
Moral. Hamburg 2003 (engl. 1751). Das Differenzprinzip im Rahmen von
Platon: Der Staat. Düsseldorf 2000 [Pol.].
Pufendorf, Samuel: Über die Pflicht des Menschen und des John Rawls’ »Theorie der Gerechtigkeit«
Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Frankfurt a. M. 1994
(lat. 1673). Die Ausgangsfrage einer Theorie der Gerechtigkeit ist
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. nach Rawls: Wie muss die Grundstruktur einer ge-
1975 (engl. 1971). rechten Gesellschaft die Grundgüter verteilen, die ihre
Stocker, Michael: Die Schizophrenie moderner ethischer Mitglieder im Rahmen gesellschaftlicher Kooperation
Theorien. In: Klaus P. Rippe/Peter Schaber (Hg.): Tugend-
ethik. Stuttgart 1998, 19–41. erwirtschaften? Dabei versteht Rawls unter einer Ge-
Thomas von Aquin: Summe der Theologie. Stuttgart 1983. sellschaft eine Kooperationsgemeinschaft, die sowohl
von Interessenharmonie als auch von Konflikt geprägt
Alessandro Pinzani ist (vgl. Rawls 2000, 20), und unter deren Grundstruk-
tur diejenigen Institutionen, die maßgeblich für die
Verteilung der Grundgüter verantwortlich sind (vgl.
ebd., 23). Grundgüter sind (I) Rechte, Freiheiten und
Chancen, (II) Einkommen und Vermögen und (III)
die sozialen Grundlagen für Selbstrespekt – also dieje-
nigen Güter, die man zur Verwirklichung jedes ver-
nünftigen Lebensplans braucht (vgl. ebd., 83). Rawls’
Antwort auf die Frage sozialer Gerechtigkeit lautet:

»(1) Jedermann soll gleiches Recht auf das umfang-


reichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das
mit dem gleichen System für alle anderen verträglich
ist. (2) Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind
so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwar-
ten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b)
sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die je-
dem offen stehen« (ebd., 81).
25 Das Differenzprinzip 159

Dabei wird der zweite Grundsatz später folgenderma- Grundsätzen gängige Theorien sozialer Gerechtigkeit
ßen präzisiert: wie Durchschnittssummen-Utilitarismus oder Intui-
tionismus. Bei ihrer Wahl unterliegen die Personen
»Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu allerdings einer radikalen Informationsbeschrän-
regeln, dass sie sowohl (a) den am wenigsten Begüns- kung, dem so genannten ›Schleier des Nichtwissens‹
tigten die bestmöglichen Aussichten bringen als auch (vgl. ebd., § 24): Niemand kennt »seinen Platz in der
(b) mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die al- Gesellschaft, seine Klasse oder seinen Status; ebenso
len gemäß der fairen Chancengleichheit offen stehen« wenig seine natürlichen Gaben, seine Intelligenz,
(ebd., 104). Körperkraft usw. Ferner kennt niemand seine Vor-
stellung vom Guten, die Einzelheiten seines vernünf-
(1) wird oft als Prinzip gleicher maximaler Freiheiten, tigen Lebensplans, ja nicht einmal die Besonderhei-
(2a) als Differenzprinzip und (2b) als Prinzip fairer ten seiner Psyche [...]« (ebd., 160).
Chancengleichheit bezeichnet. Diese Grundsätze der Stattdessen verfügen die Auswählenden nur über
Gerechtigkeit stehen in einer lexikalischen Ordnung, allgemeines Faktenwissen zu politischen, sozialen und
so dass (1) vor (2b) rangiert und (2b) vor (2a). D. h. so- ökonomischen Zusammenhängen. Bei ihrer Auswahl
zioökonomische Verbesserungen können niemals sollen sie ihren individuellen Nutzen maximal beför-
Verletzungen der gleichen Grundfreiheiten oder Ver- dern und neidfrei vorgehen; d. h. sie sollen diejenigen
minderungen der fairen Chancengleichheit rechtfer- Grundsätze auswählen, die ihnen am meisten Grund-
tigen (vgl. ebd., 82). In späteren Schriften wird Rawls güter zuteilen, und nicht darauf achten, wie sich ihre
diese Vorordnung explizit machen, indem er das Prin- Wahl auf ihre Stellung im Vergleich zu der der ande-
zip fairer Chancengleichheit vor dem Differenzprin- ren auswirkt.
zip anführt (vgl. Rawls 2006, § 13); auch wird er von Unter diesen Umständen würden Rawls zufolge
Anfang an präzisieren, wie soziale und wirtschaftliche seine Grundsätze ausgewählt. Denn nur diese garan-
Ungleichheiten gestaltet werden müssen, damit sie zu tieren, dass die Auswählenden auch dann noch über
jedermanns Vorteil sind (vgl. hierzu den Abschnitt genug Grundgüter verfügen, um ihren vernünftigen
»Herleitung und Präzisierung des Differenzprinzips« Lebensplan zu verfolgen, wenn sich nach Lüftung des
in diesem Artikel). Schleiers herausstellt, dass sie dem am schlechtesten
Während (1) und (2b) regeln, wie Grundgüter der gestellten Gesellschaftssegment angehören. Denn in
Kategorie (I) zu verteilen sind, behandelt das Diffe- einer rawlsianischen Gesellschaft haben alle Bür-
renzprinzip die Verteilung von Grundgütern der Ka- gerinnen die gleichen maximalen Freiheitsrechte;
tegorie (II), d. h. sozioökonomischer Güter. Rawls und auch wenn es Ärmere und Reichere gibt, können
hofft, dass eine gerechte Verteilung der Grundgüter sich die Ärmeren darauf verlassen, dass der Reich-
aus diesen Kategorien auch eine gerechte Verteilung tum der Reicheren nur zulässig ist, solange er zum
der sozialen Grundlagen für Selbstrespekt mit sich Wohl aller und damit insbesondere auch zu ihrem
bringt. Das Differenzprinzip formuliert dabei eine Wohl beiträgt.
»Legitimitätsbedingung der sozioökonomischen Un- Doch warum spricht es für Rawls’ Grundsätze, dass
gleichheit« (Kersting 2000, 96). Denn gemäß dem Dif- sie unter diesen fiktiven Bedingungen gewählt wür-
ferenzprinzip ist es nicht notwendigerweise unge- den? Rawls zufolge stehen der Urzustand und ins-
recht, wenn die Bürgerinnen einer Gesellschaft nicht besondere der Schleier des Nichtwissens in einem
über die gleiche Menge sozioökonomischer Güter Überlegungsgleichgewicht mit wohlüberlegten mora-
verfügen; ungerecht ist eine Ungleichverteilung nur lischen Urteilen zu sozialer Gerechtigkeit; d. h. der Ur-
genau dann, wenn sie nicht zum Wohl aller beiträgt. zustand bringt auf den Punkt, was intuitiv für gerecht
Zur Rechtfertigung seiner Theorie greift Rawls auf gehalten wird, so dass Grundsätze, die in ihm gewählt
das kontraktualistische Paradigma zurück; d. h. nach würden, dem ebenfalls entsprechen. Dabei grenzt
Rawls spricht für seine Grundsätze, dass die Bür- Rawls im Laufe seines Schaffens diesen Anspruch ein:
gerinnen diese unter bestimmten Umständen als Re- In Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971/2000) glaubt er
geln für ihre Gesellschaft auswählen würden. Im Ge- noch, universelle moralische Urteile zu artikulieren, ab
dankenexperiment des Urzustands führt Rawls dies der Veröffentlichung von Politischer Liberalismus
aus (vgl. Rawls 2000, Kap. 3): Man stelle sich vor, Per- (1993/2003) beansprucht er nur noch, die Gerechtig-
sonen sollen Regeln für die Grundstruktur ihrer Ge- keitsvorstellungen westlich geprägter liberaler Bür-
sellschaft festlegen. Zur Auswahl stehen neben Rawls’ gerinnen auszudrücken (vgl. ebd., 15–16). Die mora-
160 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

lische Intuition, die dem Urzustand zugrunde liegt, ist deren Ungleichverteilung zustimmen, könnten sie un-
folgende: Einerseits sollten die Bürgerinnen die Mög- wissentlich gerade dasjenige Gesellschaftssegment be-
lichkeit haben, ihren individuellen Nutzen zu verfol- nachteiligen, dem sie angehören. In einem ersten
gen. Andererseits sollte der Staat dafür sorgen, dass das Schritt legen sich die Auswählenden im Urzustand al-
individuelle Streben nach Nutzen innerhalb der Gren- so auf die vollständige und gleiche Verteilung der Ko-
zen erfolgt, die der wechselseitige Respekt voreinander operationsgewinne unter den Bürgerinnen fest.
als Zwecke an sich vorschreibt (vgl. Rawls 2000, 205). Bezüglich der ersten Grundgutkategorie bleibt die-
Genauer gesagt dürfen die Bürgerinnen ihren indivi- se Gleichverteilung unangetastet. Doch was, wenn
duellen Nutzen nur genau dann verfolgen, wenn dies durch eine Ungleichverteilung der sozioökonomi-
mit dem Respekt vor der Freiheit ihrer Mitbürgerin- schen Güter das Produktionsvolumen insgesamt an-
nen und mit Solidarität diesen gegenüber vereinbar ist. stiege, so dass es möglich wäre, jedem Gesellschafts-
Für Rawls’ Grundsätze der Gerechtigkeit spricht also segment mehr solcher Güter zuzuteilen als im Falle
letztlich, dass sie den wechselseitigen Respekt, Freiheit der vollständigen Gleichverteilung? Unter diesen Um-
und Solidarität sicherstellen. ständen würden die Auswählenden sozioökonomi-
sche Ungleichheit akzeptieren (vgl. ebd., 96–101).
Denn sie entscheiden nutzenmaximierend und neid-
Herleitung und Präzisierung frei, d. h. sie wollen stets lieber mehr als weniger von
des Differenzprinzips einem Gut und interessieren sich nicht für ihre Stel-
lung im Vergleich zu ihren Mitbürgerinnen. Da Un-
Doch inwiefern stellt das Differenzprinzip sicher, dass gleichheit Rawls zufolge tatsächlich zu Wirtschafts-
das individuelle Nutzenstreben der Bürgerinnen we- wachstum führt, werden die Auswählenden im Ur-
der den Respekt vor der Freiheit ihrer Mitbürgerinnen zustand letztlich einer Ungleichverteilung der sozio-
noch die gebotene gesellschaftliche Solidarität ver- ökonomischen Kooperationsgewinne zustimmen,
letzt? Rawls zeigt dies anhand der Ableitung des Diffe- aber nur genau dann, wenn diese zu jedermanns Vor-
renzprinzips aus dem Urzustand: teil ist. Damit entsprechen sie der Forderung des Dif-
Im Urzustand treten die Auswählenden als rationa- ferenzprinzips.
le Nutzenmaximierer auf und sind nur daran interes- Nachdem Rawls gezeigt hat, dass das Differenz-
siert, sich möglichst viel von jedem Grundgut zu si- prinzip im Urzustand ausgewählt würde, präzisiert er
chern. Daher werden sie fordern, dass die Verteilung dessen Formulierung in dreierlei Hinsicht. Die erste
der gesellschaftlichen Kooperationsgewinne Pareto- Präzisierung legt fest, welches Gesellschaftssegment
optimal ist (vgl. Rawls 2000, 87–91). Dies bedeutet, für die Beurteilung einer Verteilung ausschlaggebend
dass sie jede Verteilung zurückweisen werden, zu der ist. Rawls zufolge herrscht zwischen den Gesell-
es eine Alternative gibt, die mindestens eine Bürgerin schaftssegmenten eine Verkettung (vgl. ebd., 101–
besser stellt, ohne dadurch eine andere schlechter zu 104): Verbessert man die Situation derjenigen, die am
stellen. Einfacher ausgedrückt: Sie werden darauf be- schlechtesten gestellt sind, wird sich auch die Situati-
stehen, dass alle Kooperationsgewinne vollständig un- on der am zweitschlechtesten Gestellten verbessern,
ter den Bürgerinnen aufgeteilt werden. Denn warum ebenso wie die der am drittschlechtesten Gestellten
sollten rationale Nutzenmaximierer eine Verteilung etc. Dabei stellen die Grundgüter die Metrik dar, mit
akzeptieren, die Teile des gemeinsam Erwirtschafte- der man die Stellung einer Bürgerin ermittelt: Besser
ten ungenutzt brachliegen lässt? gestellt ist, wer mehr Grundgüter hat. Ausgehend von
Aber die Auswählenden werden sich nicht mit je- der Verkettungshypothese ist eine Ungleichverteilung
der beliebigen Pareto-optimalen Verteilung der Ko- also schon dann zu jedermanns Vorteil, wenn sie zum
operationsgewinne zufriedengeben. Denn jede voll- Vorteil der am schlechtesten Gestellten ist.
ständige Verteilung ist Pareto-optimal, so auch etwa Die zweite Präzisierung buchstabiert aus, wie die
eine, bei der alle Kooperationsgewinne einem ein- Formulierung ›zum Vorteil der am schlechtesten Ge-
zigen Gesellschaftssegment zugesprochen werden. Da stellten‹ zu verstehen ist. Rawls zufolge ist das Diffe-
die Auswählenden aufgrund des Schleiers nicht wis- renzprinzip »ein Maximierungsprinzip« (ebd., 99);
sen, welchem Gesellschaftssegment sie angehören, ist d. h. diejenige Ungleichverteilung ist zum Vorteil der
es daher für sie rational, die (vollständige und damit am schlechtesten Gestellten, die deren Position maxi-
Pareto-optimale) Gleichverteilung der Kooperations- mal befördert. Von den folgenden Verteilungen sollte
gewinne zu fordern (vgl. ebd., 96). Denn würden sie man also C oder D wählen (wobei die Zahlenwerte or-
25 Das Differenzprinzip 161

dinal vergleichbare Bündel sozioökonomischer Güter lisierungszustände der Gerechtigkeit hinweist (vgl.
darstellen, vgl. Koller 1983). Denn obwohl die Vertei- ebd., 99): Vollkommen gerecht ist eine Gesellschaft in
lungen B, C und D zum Vorteil der am schlechtesten sozioökonomischer Hinsicht, wenn die Gütervertei-
Gestellten sind, da diese hier mehr erhalten als in A, lung dem Differenzprinzip entspricht. Durchwegs ge-
wird deren Vorteil nur in C und D maximal befördert: recht ist eine Gesellschaft, wenn die bestehende Un-
gleichheit die Situation der am schlechtesten Gestell-
Verteilung A 50 – 40 – 30 – 20 – 10 – 7 ten zwar nicht maximal befördert, ihnen aber doch
Verteilung B 55 – 45 – 35 – 25 – 15 – 8 nutzt. Ungerecht ist eine Gesellschaft schließlich,
Verteilung C 90 – 50 – 40 – 30 – 20 – 9 wenn die bestehende Ungleichheit nicht zum Wohl
Verteilung D 95 – 55 – 45 – 35 – 25 – 9 der am schlechtesten Gestellten beiträgt. Im Falle ei-
ner ungerechten Gesellschaft ist es Rawls zufolge not-
Die dritte Präzisierung erläutert schließlich, wie zwi- wendig und legitim, die Situation der am schlechtes-
schen C und D zu entscheiden ist, d. h. zwischen zwei ten Gestellten durch Umverteilung zu verbessern,
ungleichen Verteilungen, die beide den Vorteil der am selbst wenn dies nicht Pareto-optimal ist (vgl. ebd.,
schlechtesten Gestellten maximieren. Rawls plädiert 100). Die aus einer solchen Umverteilung resultieren-
für eine lexikographische Auslegung des Differenz- de vollkommen gerechte Situation soll dieses Kriteri-
prinzips (vgl. Rawls 2000, 103; diese Lesart hatte um aber wieder erfüllen.
Amartya Sen bereits 1970 gefordert, vgl. Sen 1970,
138, Anm. 12). Diese Interpretation präzisiert, dass ei-
ne Ungleichverteilung der sozioökonomischen Güter Solidarität im Differenzprinzip
genau dann gerecht ist, wenn sie sowohl die Situation
der am schlechtesten Gestellten maximal befördert als Wie dargestellt sorgt das Differenzprinzip für gesell-
auch die der am zweitschlechtesten Gestellten als auch schaftliche Solidarität. Diese herzustellen und zu be-
die der am drittschlechtesten Gestellten etc. Gemäß fördern ist Rawls zufolge erlaubt und notwendig, weil
der lexikographischen Auslegung des Differenzprin- dadurch verhindert wird, dass moralisch irrelevante
zips sollte man in obigem Beispiel also D wählen, da in Faktoren die Chancen der Bürgerinnen auf erfolgrei-
D nicht nur die Situation des am schlechtesten gestell- che Umsetzung ihres Lebensplanes und also auf ein
ten, sondern auch die der anderen Gesellschaftsseg- gelungenes Leben festlegen (vgl. ebd., 98). Inwiefern
mente maximal befördert wird. Damit stellt die lexi- wirkt das Differenzprinzip den Auswirkungen mora-
kographische Auslegung des Differenzprinzips sicher, lisch irrelevanter Faktoren entgegen?
dass bei der Beförderung der Situation der am schlech- Welche Lebenschancen eine Bürgerin hat, hängt
testen Gestellten die gesamtgesellschaftliche Nutzen- u. a. von ihrer sozioökonomischen Stellung ab. Diese
summe nicht völlig aus den Augen verloren wird. wird wiederum sowohl von sozialen Faktoren beein-
Mit dem Differenzprinzip spricht sich Rawls gegen flusst (etwa welchem Gesellschaftssegment sie ange-
einen strengen Egalitarismus und stattdessen für ge- hört, wie hierarchisch ihre Gesellschaft strukturiert
sellschaftliche Solidarität aus. Denn einerseits wird ist, wie stark ihre Talente gefördert werden, welche
den Bürgerinnen erlaubt, durch eigene Leistung ihre Normen das Verhältnis der Geschlechter zueinander
gesellschaftliche Stellung zu verbessern; aber dies darf regeln etc.) als auch von natürlichen (etwa welchem
andererseits nur geschehen, solange es auch denjeni- Geschlecht sie angehört, wie sie physisch und psy-
gen nutzt, die zu solchen Leistungen nicht in der Lage chisch beschaffen ist, über welche Talente sie verfügt
sind. Doch selbst wenn das Differenzprinzip kein etc.). Rawls zufolge sind all diese Faktoren moralisch
streng egalitäres Prinzip ist, sollte man sein sozialpoli- irrelevant. Denn sie unterliegen nicht der Kontrolle
tisches Potential nicht unterschätzen. Das Differenz- der einzelnen Bürgerin und spiegeln also nicht deren
prinzip gestattet nämlich prinzipiell auch »Änderun- individuelles Streben und eigene Leistung wider; viel-
gen, die die Aussichten einiger Bevorzugter ver- mehr sind sie das Ergebnis der sozialen Lotterie, die
schlechtern können« (Rawls 2000, 100). Prima facie darüber entscheidet, in welches Gesellschaftssegment
scheint dies der Ableitung des Differenzprinzips aus eine Bürgerin hineingeboren wurde, sowie der Lotte-
dem Urzustand zu widersprechen, der zufolge Pareto- rie der Natur, die Geschlecht, natürliche Ausstattung
Optimalität eine notwendige Bedingung gerechter und Talente bestimmt (vgl. ebd., 93). Damit ähnelt
Verteilung ist. Doch diesen vermeintlichen Wider- Rawls’ Auffassung dem Luck Egalitarianism (s. Kap.
spruch löst Rawls auf, indem er auf verschiedene Rea- III.39), für den ebenfalls nur solche Faktoren mora-
162 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

lische Relevanz besitzen, die der Kontrolle des Indivi- Durchschnittssummen-Utilitarismus festlegen wür-
duums unterliegen. Aber anders als der Luck Egalita- den, wonach die Verteilung der Kooperationsgewinne
rianism besteht Rawls nicht auf der vollständigen so zu gestalten ist, dass sie den gesellschaftlichen
Aufhebung aller Effekte moralisch irrelevanter Fak- Durchschnittsnutzen maximiert. Denn Harsanyi zu-
toren und also darauf, dass alle Bürgerinnen die glei- folge sollten die Auswählenden davon ausgehen, dass
chen Chancen auf ein gelungenes Leben haben. Denn die Wahrscheinlichkeit, Mitglied eines der n Gesell-
Rawls fordert nicht für alle Bürgerinnen die gleiche schaftssegmente zu sein, jeweils 1/n und also gleich
Startmenge an sozioökonomischen Grundgütern, hoch ist. In diesem Fall wäre es nicht rational, sondern
sondern nur, dass auch die schlechter Gestellten von übertrieben risikoavers, eine Verteilung zu wählen, die
den Früchten des gesellschaftlichen Wachstums profi- die Situation der am schlechtesten Gestellten maximal
tieren. Damit steuert das Differenzprinzip den verzer- befördert (vgl. Harsanyi 1975). Auch Michael Sandel
renden Effekten der sozialen und natürlichen Lotterie hinterfragt, ob sich reine Nutzenmaximierer auf das
nur teilweise entgegen. Differenzprinzip festlegen würden. Denn warum soll-
Zusammen mit dem Grundsatz gleicher maximaler ten sich »ungebundene Selbste«, die nur ihren eigenen
Freiheiten und dem Prinzip fairer Chancengleichheit Vorteil im Blick haben, für die Situation anderer inte-
bildet die gesellschaftliche Solidarität, die im Diffe- ressieren und sich durch die Wahl des Differenzprin-
renzprinzip zum Ausdruck kommt, das System demo- zips solidarisch verhalten (vgl. Sandel 1993, 29 sowie –
kratischer Gleichheit. Dieses kontrastiert Rawls mit ausführlicher – Sandel 1982, Kap. 1)? Gerald Allan Co-
den Systemen der natürlichen Freiheit und der libera- hen weist dagegen darauf hin, dass das Differenzprin-
len Gleichheit (vgl. ebd., 86 und 92–95). In ersterem zip das so genannte incentive argument voraussetzt.
wird Chancengleichheit nur formal umgesetzt, indem Diesem zufolge muss man akzeptieren, dass einige
alle Bürgerinnen vom Gesetz gleich behandelt wer- Bürgerinnen (traditionellerweise in ausbildungsinten-
den. Doch selbst wenn keiner Bevölkerungsgruppe siven Berufen wie etwa dem der Ärztin oder der Juris-
durch diskriminierende Gesetze der Zugang zu ande- tin) mehr Lohn für ihre Arbeit bekommen, weil sie an-
ren Gesellschaftssegmenten verwehrt wird, haben die derenfalls keinen Anreiz hätten, diese Tätigkeiten aus-
Bürgerinnen in diesem System sehr unterschiedliche zuführen. Sozioökonomische Ungleichheit ist also
Chancen darauf, ihren Lebensplan zu verwirklichen. schlicht der Preis, den eine Gesellschaft dafür zahlen
Denn »die Anfangsverteilung der Aktiva [wird] jeder- muss, dass bestimmte Berufe ausgeübt werden, und
zeit stark von natürlichen und gesellschaftlichen Zu- das Differenzprinzip stellt sicher, dass sich diese
fälligkeiten beeinflußt« (ebd., 92). Das System libera- scheinbar unvermeidbare Ungleichheit zumindest
ler Freiheit will zumindest den Einfluss der sozialen zum Wohle der am schlechtesten Gestellten und mit-
Lotterie ausgleichen und sicherstellen, dass »[d]ie hin aller auswirkt. Doch Cohen wirft die Frage auf, wa-
Aussichten von Menschen mit gleichen Fähigkeiten rum man eigentlich akzeptieren sollte, dass einige für
und Motiven [...] nicht von ihrer sozialen Schicht ab- ihre Arbeit den Anreiz besserer Bezahlung fordern.
hängen« (ebd., 93). Doch auch dieses System geht in Dies wäre nur dann gerechtfertigt, wenn man zudem
Rawls’ Augen nicht weit genug, da es die moralisch ir- annimmt, dass Personen einen Anspruch auf die
relevanten Faktoren der natürlichen Lotterie weiter- Früchte ihrer natürlichen Talente haben, die es ihnen
hin wirksam werden lässt. erlauben, ausbildungsintensive Berufe auszuüben – ei-
ne Annahme, die Rawls eigentlich ablehnen muss, da
natürliche Talente ihm zufolge moralisch irrelevant
Kritik sind (vgl. Cohen 2008, Kap. 1 und konziser in Cohen
2000, 123–133).
Die Veröffentlichung der Theorie der Gerechtigkeit und Auf Harsanyis Einwand lässt sich erwidern, dass
insbesondere das Differenzprinzip haben eine Flut von Rawls die Entscheidungssituation im Urzustand als ei-
neuen Debatten um soziale Gerechtigkeit (s. Kap. ne unter Unwissenheit interpretiert; d. h. die Auswäh-
II.18) ausgelöst. Einerseits wurde – im Stile interner lenden haben Rawls zufolge keinerlei Anhaltspunkte
Kritik – bezweifelt, dass das Differenzprinzip dasjenige dafür, den möglichen Weltzuständen Wahrscheinlich-
Prinzip sozioökonomischer Verteilung sei, auf das sich keiten zuzuordnen. Daher sollten sie diejenige Vertei-
die Auswählenden im Urzustand festlegen würden. lung akzeptieren, die die Position der am schlechtes-
John C. Harsanyi behauptet etwa, dass sich rationale ten Gestellten im Vergleich zu allen anderen mögli-
Nutzenmaximierer stattdessen auf eine Variante des chen Verteilungen maximal befördert. Dies tut nur ei-
25 Das Differenzprinzip 163

ne Verteilung, die dem Differenzprinzip entspricht. sichtigen. Rawls’ Theorie sei eine »transcendental so-
Sandel lässt dagegen außer Acht, dass gesellschaftliche lution« (Sen 2009, 70) für das Problem der Gerechtig-
Solidarität für die Parteien im Urzustand durchaus ra- keit, aber keine für die reale Welt.
tional ist, da sie aufgrund des Schleiers des Nichtwis- Auf Nozicks Einwand könnte Rawls entgegnen,
sens nicht ausschließen können, selbst diejenigen zu dass Nozick fälschlicherweise davon ausgeht, dass sich
sein, die auf diese angewiesen sein werden. Cohen die Bürgerinnen nur wechselseitig in ihrer Freiheit
schließlich berücksichtigt nicht ausreichend, dass das respektieren und nicht auch miteinander solidarisch
Differenzprinzip ein Grundsatz zur Bewertung der sein müssten. Denn nach Rawls sind Freiheit und So-
Grundstruktur und nicht individueller Handlungen lidarität gleichermaßen geboten. Dworkins Kritik
oder Präferenzen wie Gehaltsvorstellungen ist. muss Rawls dagegen akzeptieren. Doch er könnte da-
Andererseits wurde im Stile externer Kritik bezwei- rauf hinweisen, dass Verteilungsmodelle, die auch am-
felt, dass es gerecht ist, dem Einfluss von sozialen und bition-sensitive sein wollen (wie Dworkins eigenes
natürlichen Faktoren bei der Verteilung sozioöko- Modell, vgl. Dworkin 1981), nur schwer umzusetzen
nomischer Güter so entgegenzuwirken, wie Rawls sind. Denn dafür bräuchte der Staat detailliertes Wis-
dies mit dem Differenzprinzip tut. Dem Libertären sen über die Motivationslage seiner Bürgerinnen, was
Robert Nozick zufolge ist dies nur möglich, indem nicht immer mit dem Respekt vor deren Freiheit zu
man gegen Freiheitsrechte, insbesondere gegen das vereinbaren sein wird. Sen gegenüber würde Rawls
Recht auf Eigentum, verstößt. Tut der Staat dies und schließlich darauf insistieren, dass eine Theorie der
veranlasst eine Umverteilung des Besitzes bzw. Inves- Gerechtigkeit sowohl realistisch als auch utopisch sein
titionen zugunsten der am schlechtesten Gestellten, muss (vgl. Rawls 2006, § 1.4) und dass Sen das Gleich-
behandelt er seine Bürgerinnen so, als seien ihre Ta- gewicht zwischen diesen beiden Polen zugunsten der
lente und deren Früchte nicht ihr eigener, sondern all- Anwendbarkeit zu verschieben droht.
gemeiner Besitz. Dies ist Nozick zufolge illiberal und
daher ungerecht (vgl. Nozick 1976, insbesondere Literatur
Kap. 7). Gemäß Ronald Dworkin, einem Anhänger Cohen, Gerald A.: If You’re an Egalitarian, How Come You’re
des Luck Egalitarianism, missversteht Rawls dagegen, So Rich? Cambridge MA 2000.
–: Rescuing Justice and Equality. Cambridge MA 2008.
was es heißt, dem Einfluss moralisch irrelevanter Fak- Dworkin, Gerald: What is equality? Part 2: Equality of re-
toren auf die Lebenschancen der Bürgerinnen ent- sources. In: Philosophy and Public Affairs 10/4 (1981),
gegenzuwirken. Denn während alle Faktoren, die 283–345.
nicht der Kontrolle des Individuums unterliegen, als Harsanyi, John C.: Can the maximin principle serve as a ba-
moralisch irrelevant angesehen und ihre Effekte aus- sis for morality? In: American Political Science Review 59
(1975), 594–606.
geglichen werden sollten, sollten die Bürgerinnen für
Kersting, Wolfgang: Theorien der sozialen Gerechtigkeit.
ihre eigenen Entscheidungen und deren Folgen Stuttgart 2000.
durchaus verantwortlich gemacht werden. Der Staat Koller, Peter: Rawls’ Differenzprinzip und seine Deutungen.
sollte zwar endowment-insensitive, aber ambition-sen- In: Erkenntnis 20/1 (1983), 1–25.
sitive sein, d. h. er sollte ihrer natürlichen Ausstattung Nozick, Robert: Anarchie, Staat, Utopie. München 1976
keine Rechnung tragen, wohl aber ihrem Fleiß und (engl. 1974).
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
persönlichen Einsatz (vgl. Dworkin 1981, 331). Letz-
2000 (engl. 1971).
teres trifft auf das Differenzprinzip nicht zu. Denn –: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 2003 (engl. 1993).
dem Differenzprinzip zufolge muss man die Situation –: Gerechtigkeit als Fairness – Ein Neuentwurf. Frankfurt
der am schlechtesten Gestellten maximal befördern – a. M. 2006 (engl. 2001).
selbst dann, wenn die am schlechtesten Gestellten auf- Sandel, Michael: Liberalism and the Limits of Justice. Cam-
grund ihrer eigenen Entscheidungen in diese Situati- bridge MA 1982.
–: Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene
on geraten sind. Amartya Sen bezweifelt dagegen Selbst. In: Rainer Forst (Hg.): Kommunitarismus. Eine De-
grundsätzlich den Wert einer Theorie, deren fun- batte über die moralischen Grundlagen moderner Gesell-
damentale Inhalte aus abstrakten Gedankenexpe- schaften. Frankfurt a. M. 1993, 18–35.
rimenten wie dem Urzustand folgen. Um anwendbar Sen, Amartya: Collective Choice and Social Welfare. San
zu sein, müssten Gerechtigkeitstheorien ihre Umset- Francisco 1970.
–: The Idea of Justice. Cambridge 2009.
zungsbedingungen – wie etwa das konkrete Verhalten
von Personen und die Auswirkungen, die institutio- Christine Bratu
nelle Arrangements auf dieses haben – stärker berück-
164 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

26 Chancengleichheit Arbeitgeber etwa in seinem Unternehmen systema-


tisch keine Mitglieder bestimmter Bevölkerungsgrup-
Forderungen nach Chancengleichheit gehen in der pen einstellt, weil er ihnen gegenüber Vorurteile hegt,
Regel davon aus, dass es in einer Gesellschaft unter- dann liegt ein Verstoß gegen die Forderung nach for-
schiedlich attraktive soziale Positionen gibt. Chancen- maler Chancengleichheit vor. Diese Forderung lässt
gleichheit wird dann im Hinblick auf den Zugang zu sich somit als ein Diskriminierungsverbot verstehen.
diesen Positionen gefordert. Alle sollten die gleichen Sie impliziert zum einen, dass niemandem rechtlich
Chancen darauf haben, diese Positionen zu besetzen. der Zugang zu bestimmten Positionen verwehrt sein
Diese Forderung ist klärungsbedürftig. So impli- soll. Darüber hinaus kann sie als ein moralisches Ver-
ziert die Forderung nach formaler Chancengleichheit, bot der Diskriminierung verstanden werden. Ein sol-
dass die Vergabe bestimmter Positionen (z. B. auf dem ches Diskriminierungsverbot schließt z. B. eine Be-
Arbeitsmarkt) allein von der Qualifikation abhängen vorzugung aufgrund des Geschlechts oder der Haut-
sollte, nicht jedoch von Merkmalen, die für den Auf- farbe aus. Stärker ist die Forderung, dass jedes andere
gabenbereich der Position nicht relevant sind (wie et- Kriterium als das der Befähigung für die zu besetzen-
wa dem Geschlecht). Hier wird also ein Diskriminie- de Stelle unzulässig ist, etwa die Bevorzugung von Fa-
rungsverbot formuliert. Darüber hinaus wird betont, milienmitgliedern (Gosepath 2004, 437 f.).
dass schon das Qualifikationsverfahren der Forde- Umstritten ist, ob affirmative action mit der Forde-
rung nach Chancengleichheit genügen müsse. Dies sei rung nach formaler Chancengleichheit vereinbar ist.
der Fall, wenn jeder eine faire Chance hatte, sich zu Ein Beispiel für affirmative action sind Quotenrege-
qualifizieren. Eine solche Forderung nach fairer Chan- lungen. So wurden etwa für deutsche Hochschulen
cengleichheit findet sich etwa bei John Rawls (1979). Quoten für Studierende mit Migrationshintergrund
Diese Forderung ist insofern eingeschränkt, als es gefordert und für Führungspositionen in der Wirt-
lediglich um gleiche Chancen für gleich begabte und schaft Frauenquoten. Angenommen, eine derartige
gleich motivierte Individuen geht. Noch weiter gehen- Regelung führt dazu, dass sich ein Arbeitgeber in ei-
de Gerechtigkeitsforderungen geben diese Einschrän- nem konkreten Fall gezwungen sieht, eine vergleichs-
kungen auf. Dies wird damit begründet, dass natürli- weise schlechter qualifizierte Person vorzuziehen.
che Begabungen nicht in den Verantwortungsbereich Würde dies gegen die Forderung nach formaler Chan-
der Individuen fallen und daher keine Unterschiede in cengleichheit verstoßen? Die Antwort auf diese Frage
den Lebensaussichten nach sich ziehen sollten. Die hängt davon ab, ob sich diese Forderung auf die Chan-
Forderung nach Chancengleichheit wird dabei z. B. cen von Individuen und somit auf den Einzelfall oder
als eine nach gleichen Chancen auf Wohlergehen for- eher auf eine gesellschaftliche Praxis richtet. Elizabeth
muliert (Arneson 1989). Darüber hinaus wird kriti- Anderson (2002) betont zugunsten von affirmative ac-
siert, dass auch die Motivation und die individuellen tion an amerikanischen Universitäten, dass es letztlich
Entscheidungen in Forderungen nach Chancen- um die Integration benachteiligter Gruppen in die Ge-
gleichheit, und allgemeiner im so genannten ›Luck sellschaft gehe (vgl. dazu auch Jacobs 2004, 124–142).
Egalitarianism‹ (s. Kap. III.39), gerechtigkeitstheo- Falls man sich allerdings stark auf Individuen und de-
retisch falsch akzentuiert werden (Anderson 1999). ren Chancen bezieht, stellt sich die Frage, ob man es
für vertretbar hält, einzelnen Individuen schlechtere
Chancen zuzuteilen, um dadurch auf lange Sicht einer
Formale Chancengleichheit weit größeren Zahl anderer Individuen formale Chan-
cengleichheit zu ermöglichen.
Das Prinzip der formalen Chancengleichheit verlangt, Onora O’Neill (1977, 182) räumt durchaus ein, dass
dass attraktive Positionen allen dafür qualifizierten Quotenregelungen gegen die Forderung nach forma-
Bewerbern offenstehen sollen. Die Attraktivität der ler Chancengleichheit verstoßen. Allerdings ließen sie
Position kann sich aus ihrer Wirkungsmacht ergeben sich unter Verweis auf die Forderung nach substan-
(etwa politische Ämter), aus dem hohen Einkommen, tieller Chancengleichheit rechtfertigen. Damit negiert
welches die Position verspricht, oder (allgemeiner) O’Neill explizit den Fokus auf formale Chancengleich-
aus dem individuellen Wohlergehen, welches sie ge- heit und schlägt eine weitere Interpretation des Prin-
währt (etwa ein erfüllender Beruf). Formale Chan- zips der Chancengleichheit vor. Dieses Prinzip wird in
cengleichheit erlegt denjenigen, die diese Positionen der Literatur unter dem Namen substantielle Chan-
zu vergeben haben, Beschränkungen auf. Wenn ein cengleichheit diskutiert. Der formalen Chancen-
26 Chancengleichheit 165

gleichheit ist Genüge geleistet, wenn von den gleich (s. Kap. V.58). So wird etwa gefordert, für eine größere
qualifizierten Bewerbern niemand von der Bewer- soziale Durchmischung innerhalb des staatlichen
bung um eine attraktive Position ausgeschlossen ist. Schulsystems zu sorgen, und zwar sowohl auf der Ebe-
Forderungen nach substantieller Chancengleichheit ne der Grund- wie auch der weiterführenden Schulen.
gehen darüber hinaus und beziehen sich auf die Chan- Allerdings ist zu erwarten, dass manche Eltern ihren
cen dafür, sich überhaupt zu qualifizieren. Die in der Kindern dennoch Wettbewerbsvorteile verschaffen,
Literatur wohl meistdiskutierte Variante einer solchen etwa dadurch, dass sie ihre Kinder auf eine elitäre Pri-
Forderung nach substantieller Chancengleichheit ist vatschule oder in den Ferien auf Sprachreisen schi-
Rawls’ Prinzip der fairen Chancengleichheit. cken. Darüber hinaus profitieren Kinder gänzlich un-
abhängig von diesen ökonomischen Möglichkeiten
von dem Bildungshintergrund ihrer Eltern. Forderun-
Faire Chancengleichheit gen nach Chancengleichheit sind daher in ihrer Ein-
lösung mit erheblichen Problemen konfrontiert. Fi-
Auch Rawls geht in seiner Theorie der Gerechtigkeit nanzielle Nachteile lassen sich in einem bestimmten
über die Forderung nach formaler Chancengleichheit Rahmen ausgleichen, bei den Unterschieden in den
hinaus und fordert faire Chancengleichheit. In sei- nicht-monetären Bildungsinvestitionen ist dies je-
nem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz betont er, so- doch nicht umfänglich zu realisieren. Maßnahmen,
ziale und ökonomische Ungleichheiten sollten so ar- die zumindest für mehr Chancengleichheit sorgen
rangiert werden, dass die am schlechtesten gestellten würden, schränken zudem oftmals Freiheiten ein (et-
Bürger möglichst gut dastehen (Differenzprinzip, wa hinsichtlich der Wahl der Schule für die eigenen
s. Kap. II.25). Zudem fordert er, dass allen Bürgern die Kinder). Dies diskreditiert die Forderung nach Chan-
attraktiven Positionen unter den Bedingungen der cengleichheit zwar nicht als solche, zeigt aber mögli-
fairen Chancengleichheit offenstehen müssen (Rawls che Wertkonflikte auf.
1979, 105–110). Danach sollten nicht nur gleich Qua- Jenseits der Problematik, dass der Einlösung der
lifizierte die gleichen Chancen haben, sondern alle Forderung nach substantieller Chancengleichheit an-
sollten die gleichen Chancen haben, sich zu qualifi- dere Werte entgegenstehen, gibt es in der Literatur da-
zieren. rüber hinaus grundsätzlichere Kritikpunkte an dieser
Kinder armer oder weniger gebildeter Eltern haben Forderung. Eine solche Kritik wird von Seiten der Li-
oftmals nicht die gleichen Aussichten darauf, be- bertarier formuliert, welche die Einlösung dieser For-
stimmte gesellschaftliche Positionen zu besetzen. Es derung für prinzipiell unvereinbar mit bestimmten
ist unwahrscheinlicher, dass sie in diese Positionen Rechten halten (Nozick 1974; s. Kap. III.32). Eine wei-
kommen, denn sie haben dabei größere Hindernisse tere grundsätzliche Kritik richtet sich dagegen, dass
zu überwinden. Die Forderung nach einer Gleichheit das Prinzip der substantiellen bzw. fairen Chancen-
der Chancen wird daher einerseits so interpretiert, gleichheit Gerechtigkeitsüberlegungen zu stark daran
dass für alle die gleiche Wahrscheinlichkeit bestehen orientiert, wofür die einzelnen Individuen vermeint-
sollte, bestimmte Ziele zu erreichen (z. B. O’Neill lich selbst verantwortlich sind. Dieser zweiten Kritik
1977, 184). Andererseits wird sie so analysiert, dass es soll nun näher nachgegangen werden.
um die Abwesenheit bestimmter Hindernisse beim
Erreichen dieser Ziele geht (Westen 1985). Beide In-
terpretationen sind kompatibel, wenn statistische Zu- Kritik an der Forderung nach Chancen-
sammenhänge als Indizien für das Vorliegen von Hin- gleichheit
dernissen angesehen werden. So ist empirisch fest-
zustellen, dass der Bildungserfolg sehr stark mit dem Faire Chancengleichheit liegt vor, wenn soziale Fak-
sozialen Hintergrund korreliert, und zur Erklärung toren für den Bildungserfolg und für die Aussichten
lässt sich auf bestimmte Hindernisse verweisen, wie auf das Erreichen attraktiver Positionen keine Rolle
z. B. auf mangelnde monetäre Ressourcen zur Finan- spielen. Menschen mit gleichen Fähigkeiten und Be-
zierung von Nachhilfeunterricht. gabungen und gleicher Bereitschaft, diese einzuset-
Da Forderungen nach Chancengleichheit den Zu- zen, sollten auch die gleichen Erfolgsaussichten ha-
gang zu attraktiven Positionen im Blick haben, liegt es ben. Rawls betont zwar ausdrücklich, dass man seinen
nahe, dem Bildungssystem eine besonders große Rolle Platz in der Verteilung der natürlichen Begabungen
bei der Einlösung dieser Forderungen zuzuschreiben ebenso wenig verdient hat wie die eigene Ausgangs-
166 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

position in der Gesellschaft. Dem soll aber durch das individuelle Verantwortlichkeiten, der für den Luck
Differenzprinzip Rechnung getragen werden, welches Egalitarianism (s. Kap. III.39) charakteristisch sei.
die Lebensaussichten der am wenigsten Begünstigten Glücksegalitaristen behaupten, dass Handelnde die
in den Blick nimmt. Das Prinzip der fairen Chancen- Konsequenzen ihrer freien Entscheidungen selbst tra-
gleichheit ist dem Differenzprinzip lexikalisch vor- gen sollten und Ungleichheiten, die durch solche frei-
geordnet (Rawls 1979, 110). Da aber schwer zu sehen en Entscheidungen entstehen, nicht ausgeglichen wer-
ist, warum die am wenigsten Begünstigten auf Chan- den müssen. Alle sollten zwar gleiche Startbedingun-
cengleichheit beharren sollten, wenn sie hinsichtlich gen haben, aber wenn das gewährleistet ist, müssten
der Güterverteilung besser dastehen könnten, wurde Ungleichheiten, die z. B. aus leichtsinnigem Verhalten
dieser lexikalische Vorrang oftmals kritisiert (z. B. von entstehen, nicht beseitigt werden. Anderson wendet
Pogge 1994, 99–103 und Arneson 1999). gegen den Glücksegalitarismus unter anderem ein,
Wenn also die natürlichen Begabungen gerechtig- dass jemand bekommen sollte, was er braucht, und
keitstheoretisch auf einer Ebene mit der sozialen Her- zwar auch dann, wenn er es nur deshalb braucht, weil
kunft liegen, könnte man das Prinzip der Chancen- er zuvor extrem unklug gehandelt hat.
gleichheit so formulieren, dass es dem Rechnung Allerdings kann auch ein Glücksegalitarist behaup-
trägt. Es würden dann nicht lediglich gleiche Chancen ten, dass man sein Anrecht auf Güter, die man unbe-
für gleich begabte Individuen, sondern gleiche Chan- dingt braucht (wie etwa medizinische Versorgung),
cen für alle Individuen gefordert. Diese Chancen be- nicht verspielen kann. Zudem könnte man weitere
ziehen sich jedoch nicht auf den Bildungserfolg (je- Gerechtigkeitsprinzipien formulieren (wie etwa bei
denfalls nicht unter der Voraussetzung, dass dieser Rawls das Differenzprinzip), die einer meritokrati-
notwendig von bestimmten natürlichen Begabungen schen Gesellschaft entgegenwirken. Gegen das Prin-
abhängt). Vielmehr müsste das Ziel, hinsichtlich des- zip der Chancengleichheit ist aber eingewendet wor-
sen die Chancen gleich sein sollen, allgemeiner for- den, dass es derartige Gerechtigkeitsforderungen kon-
muliert werden. Eine solche Zielformulierung findet terkariert. Es führe dazu, dass die Mitglieder einer Ge-
sich z. B. in Arnesons Forderung nach gleichen Chan- sellschaft unsolidarisch werden gegenüber denen, die
cen auf Wohlergehen (Arneson 1989). Jenseits der es nicht geschafft haben, die begehrten Positionen zu
Frage nach der gerechtigkeitstheoretischen Relevanz erreichen. Das Prinzip der Chancengleichheit werde
von Begabungen ist zudem die zu unkritische Rede also von einem kompetitiven statt von einem tatsäch-
von den ›natürlichen‹ Begabungen und Talenten zu lich an Gerechtigkeit orientierten Geist getragen (so
monieren, da das Potential zu künftigen Leistungen in bereits Schaar 1967).
einem höheren Ausmaß von sozialen Bedingungen Mit Blick auf das Prinzip der Chancengleichheit
abhängt als mit dieser Rede oftmals unterstellt wird. stellt sich daher die Frage, warum die individuelle An-
Auch der Rekurs auf die gerechtigkeitstheoretische strengung und Motivation so in den Vordergrund ge-
Relevanz der Motivation ist umstritten. Rawls fordert rückt werden sollte, wie es dieses Prinzip vorsieht.
ja, dass Menschen mit gleichen Begabungen und glei- Oftmals scheint dahinter die Annahme zu stehen, dass
cher Bereitschaft, diese einzusetzen, die gleichen Er- insgesamt weniger erwirtschaftet wird, wenn man der
folgsaussichten haben sollten. Allerdings scheint die individuellen Anstrengung in Forderungen der Ge-
soziale Herkunft einen starken Einfluss auf die so ver- rechtigkeit kein großes Gewicht beimisst. Wenn weni-
standene Motivation zu haben. Zudem hängt die Be- ger erwirtschaftet wird, kann insgesamt weniger ver-
reitschaft, die eigenen Begabungen einzusetzen, stark teilt werden, und dies sei auch den weniger begünstig-
damit zusammen, was man sich überhaupt zutraut ten Individuen letztlich abträglich. Gegen diese Über-
(Sher 2012). Daher lässt sich nicht nur die gerechtig- legung lässt sich jedoch einwenden, dass sie dem
keitstheoretische Relevanz (vermeintlich natürlicher) Prinzip der Chancengleichheit allenfalls einen instru-
Begabungen bestreiten, sondern auch die Relevanz ei- mentellen Wert beimisst. Dieses würde sich dann
gener Entscheidungen. Dies dürfte insbesondere im letztlich aus anderen Gerechtigkeitsforderungen er-
Bildungsbereich einschlägig sein, weil hier hin- geben (etwa aus dem Differenzprinzip) oder aber aus
zukommt, dass man Kinder für ihre Entscheidungen einer konsequentialistischen Argumentation (Cava-
nicht umfänglich verantwortlich erklären kann (z. B. nagh 2002).
wenn sie darauf verzichten, sich um einen guten Eine weitere Erklärung dafür, dass es nicht um eine
Schulabschluss zu bemühen). Gleichverteilung von Gütern, sondern von Chancen
Anderson (1999) kritisiert allgemein den Fokus auf gehen muss, besteht darin, dass man in bestimmten
26 Chancengleichheit 167

Bereichen allenfalls Angebote machen kann. Der Bil- O’Neill, Onora: How do we know when opportunities are
dungsbereich ist dafür ein Beispiel. So ist etwa der Er- equal? In: Mary Vetterling-Braggin/Frederick Elliston
werb bestimmter Bildungszertifikate oder ein Hoch- (Hg.): Feminism and Philosophy. Totowa NJ 1977, 177–
189.
schulstudium ein Angebot, welches man wahrneh- Pogge, Thomas W.: John Rawls. München 1994.
men, aber auch ausschlagen kann. Allerdings ist an Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
dieser Stelle einzuwenden, dass Kinder nicht umfäng- 1979 (engl. 1971).
lich für ihre Entscheidungen verantwortlich gemacht Sachs, Benjamin: The limits of fair equality of opportunity.
werden können. Wenn sie etwa nicht ausreichend mo- In: Philosophical Studies 160/2 (2012), 323–343.
Schaar, John H.: Equality of opportunity, and beyond. In: J.
tiviert sind, das zu leisten, was für den Erwerb be-
Roland Pennock/John W.Chapman (Hg.): Equality. New
stimmter Bildungszertifikate nötig ist, dann sollten sie York 1967, 228–249.
zusätzlich motiviert werden, statt retrospektiv darauf Sher, George: Talents and choices. In: Nous 46/3 (2012),
zu verweisen, dass sie ja immerhin eine Chance hatten 400–417.
und nun selbst dafür verantwortlich sind, diese nicht Westen, Peter: The concept of equal opportunity. In: Ethics
genutzt zu haben. Dies trifft insbesondere auf den Er- 95/4 (1985), 837–850.
werb sehr grundlegender Fähigkeiten zu. Alle Kinder Kirsten Meyer
sollten lesen lernen und nicht lediglich die Chance da-
rauf haben, lesen zu lernen.
Einwänden dieser Art lässt sich jedoch dadurch be-
gegnen, dass man die Forderung nach Chancengleich-
heit auf einen späteren Zeitpunkt verlegt. Sie ist dann
so zu verstehen, dass mit dem Eintritt ins Erwachse-
nenalter alle die gleichen Chancen haben sollen, sich
um bestimmte vorteilhafte Positionen zu bemühen
(Sachs 2012). Auch diese Forderung rückt jedoch die
Einrichtung des Bildungssystems in den Blick. Sie im-
pliziert nämlich, dass dieses so ausgerichtet sein sollte,
dass die soziale Herkunft keinen oder zumindest ei-
nen weniger starken Einfluss auf die Bildungsaussich-
ten hat als bisher. Der Bildungsbereich ist damit tat-
sächlich ein gutes Beispiel für eine Anwendung der
Forderung nach Chancengleichheit. Ein anderes Bei-
spiel wäre die Erbschaftssteuer (s. Kap. V.75). Auch sie
ließe sich unter Rekurs auf die Forderung nach Chan-
cengleichheit rechtfertigen, denn auch hier geht es da-
rum, dass die Erfolgsaussichten in dem Bemühen um
vorteilhafte Positionen nicht von der sozialen Her-
kunft abhängen sollten.

Literatur
Anderson, Elizabeth S.: What is the point of equality? In:
Ethics 109/2 (1999), 287–337.
–: Integration, affirmative action, and strict scrutiny. In: New
York University Law Review 77 (2002), 1195–1271.
Arneson, Richard J.: Equality of opportunity for welfare. In:
Philosophical Studies 56/1 (1989), 77–93.
–: Against Rawlsian equality of opportunity. In: Philosophi-
cal Studies 93/1 (1999), 77–112.
Cavanagh, Matt: Against Equal Opportunity. Oxford 2002.
Gosepath, Stefan: Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines
liberalen Egalitarismus. Frankfurt a. M. 2004.
Jacobs, Lesley A.: Pursuing Equal Opportunities: The Theory
and Practice of Egalitarian Justice. New York 2004.
Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. New York 1974.
168 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

27 Fairness lungsergebnisse Anwendung finden kann, sollen an-


hand eines Zitats von T. M. Scanlon erläutert werden:
Die Kritik, etwas sei ›unfair‹, ist im Alltagsleben sowie »Wir haben Grund gegen Prinzipien einfach deshalb
in öffentlichen und politischen Debatten häufig zu hö- Einspruch zu erheben, weil sie willkürlich die Ansprü-
ren. Empirische Studien zeigen, dass die meisten che einiger gegenüber anderen bevorzugen: das soll
Menschen starke moralische Intuitionen haben, wenn heißen, weil sie unfair sind« (Scanlon 1998, 216; eige-
es darum geht, bestimmte Situationen als ›unfair‹ ein- ne Übers.). Als unfair wird also eine willkürliche Be-
zuschätzen, und dass sie sich in dieser Einschätzung vorzugung einiger (bzw. ihrer Ansprüche) gegenüber
oft einig sind (vgl. Finkel 2001). Die meisten Autoren anderen angesehen: Entscheidend im Hinblick auf die
verwenden den Begriff, ohne ihn zu definieren, offen- Fairness komparativer Bevorzugungen und Benach-
bar in der Annahme, dass er vom Common Sense ver- teiligungen ist, ob moralisch rechtfertigbare Gründe
standen wird. Nichtsdestotrotz ist der genaue Gehalt dafür vorliegen oder nicht, in welchem Fall sie eben
des Fairness-Konzepts schwierig zu erfassen. Zu ›Fair- willkürlich sind. Welche Gründe dabei für die Bevor-
ness‹ selbst gibt es im Gegensatz zum Konzept der Ge- zugung einiger Personen bei einer bestimmten Vertei-
rechtigkeit nur wenig Literatur und kaum ausgearbei- lung von Vor- und Nachteilen moralisch rechtfertig-
tete Theorien (v. a. Broome 1990; Carr 2000; Hooker bar sind, hängt davon ab, welche Anspruchsgrund-
2005). Aus diesem Grund liegt der Fokus dieses Kapi- lagen dabei als relevant angesehen werden. Es ist ›Fair-
tels auf verschiedenen möglichen Explikationen des ness‹ im Sinne dieses Ausschaltens willkürlicher
Fairness-Begriffs. Da ›Fairness‹ in einigen der promi- Bevorzugungen und Benachteiligungen, die in den
nentesten Gerechtigkeitstheorien, z. B. bei Rawls 1998 Gerechtigkeitstheorien von John Rawls und Amartya
und Sen 2010, eine wichtige Rolle spielt, werden wir Sen eine wichtige Rolle spielt.
uns weiter unten mit der Bedeutung von ›Fairness‹ für
diese Theorien befassen. Beginnen wollen wir unsere
Auseinandersetzung mit ›Fairness‹ nun mit der Frage Kontexte und Objekte von Fairness-Urteilen
nach dem Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und
Fairness und derjenigen nach den Kontexten und Ob- Die Kontexte von Urteilen über Unfairness sind sehr
jekten von Fairness-Urteilen. vielfältig: Wettkämpfe, Wettbewerbe, Spiele, Lotte-
Wie das Verhältnis zwischen Fairness und Gerech- rien, Verteilungen, Anstehen, Gerichtsprozesse, Wah-
tigkeit genau zu verstehen ist, hängt von substanziel- len, Verhandlungen, Arbeitsverhältnisse, Handelsver-
len Vorannahmen zur Explikation der beiden Begriffe hältnisse etc. Ihnen gemeinsam ist, dass sie »contested
ab und fällt entsprechend verschieden aus. Einige Au- contexts« sind, die unweigerlich komparative Bevor-
toren verwenden Fairness im Sinne von prozeduraler zugungen und Benachteiligungen beinhalten, d. h.
Gerechtigkeit, während Gerechtigkeit als mit Ergeb- Unterscheidungen, die einigen zugutekommen, wäh-
nis-Gerechtigkeit, d. h. als mit der Erfüllung substan- rend sie die Situation anderer verschlechtern oder un-
zieller Ansprüche befasst verstanden wird (z. B. Carr verändert lassen (Carr 2000, 14). Entsprechend kann
2000); andere verstehen ›Fairness‹ im Sinne formaler in ihnen versucht werden, komparative Vorteile oder
Gerechtigkeit und ›Gerechtigkeit‹ im Sinne materialer die Vermeidung komparativer Nachteile auf mora-
Gerechtigkeit (Klosko 1992); einige Autoren wiede- lisch problematische Weise auf Kosten anderer zu er-
rum benutzen ›Fairness‹ weitgehend synonym mit so- reichen (vgl. ebd.).
zialer Gerechtigkeit (z. B. Miller 2008; Hooker 2005). Die Objekte, auf die sich Fairness-Urteile richten,
Daneben gibt es verschiedene weitere mögliche Un- lassen sich in drei Ebenen unterteilen: Auf einer ersten
terscheidungen, die auf unterschiedlichen Explikatio- Ebene werden individuelle Handlungen im Hinblick
nen der beiden Begriffe beruhen. auf ihre Fairness beurteilt. So wird beispielsweise ab-
Eine nach Ansicht der Autorin plausible Unter- sichtliches Foulen oder Doping eines Athleten, Beste-
scheidung geht dahin, dass Fairness-Urteile sich im chung bei Wettbewerben, ›Schummeln‹ bei Spielen,
Gegensatz zu Gerechtigkeitsurteilen auf komparative Vordrängeln in einer Schlange etc. als unfair ver-
Bevorzugungen und Benachteiligungen bzw. die Vertei- urteilt. Die Handlungen von individuellen Akteuren,
lung von relativen Vor- und Nachteilen richten (vgl. die mit der Umsetzung von Regeln und Gesetzen be-
Carr 1981, 214 f.). Die Grundzüge eines so verstande- traut sind (Schiedsrichter, Richter, Zuständige in Aus-
nen Fairness-Begriffs, der sowohl auf Hintergrund- wahlverfahren etc.) stehen oft speziell im Fokus von
bedingungen und Prozeduren als auch auf Vertei- Fairness-Kritiken.
27 Fairness 169

Auf einer zweiten, übergeordneten Ebene können substanziellen Gerechtigkeitsgrundsätze beschlossen


soziale Praktiken und ihre Regeln selbst als fair oder werden, wird dazu mithilfe des ›Schleiers des Nicht-
unfair beurteilt werden. So könnte beispielsweise eine wissens‹ so strukturiert, dass er die Unparteilichkeit
Wettkampfregel, die Kämpfe zwischen Boxern mit des Entscheidungsprozesses sicherstellt und so dafür
großem Gewichtsunterschied zulässt, als unfair ange- sorgt, dass nur moralisch relevante Gründe zur un-
sehen werden (Barry 1965, 98 f.), ebenso eine soziale terschiedlichen Behandlung von Personen berück-
Praktik, die es Wirten erlaubt, Ausländern den Zutritt sichtigt werden (Rawls 1998). Fairness besteht gemäß
zu ihrem Lokal zu verwehren, oder eine Regel im Aus- Rawls also darin, ungerechtfertigte Bevorzugungen
wahlprozess für ein Stipendium, die tätowierte Bewer- und Benachteiligungen zu vermeiden. In diesem
ber benachteiligt. Sinn liegt Fairness auch dem Rawlsschen Prinzip der
Auf einer dritten Ebene sind Institutionen, Gesetze, ›fairen Chancengleichheit‹ zugrunde, dem zweiten
institutionelle Regeln und gesellschaftliche Hinter- Teil seines zweiten Gerechtigkeitsprinzips, welches
grundbedingungen (die basic structure von Gesell- verlangt, dass eine Gesellschaft während der prägen-
schaften) Gegenstand von Fairness-Urteilen. So wür- den Kinder- und Jugendjahre ihrer Mitglieder tut,
den z. B. ein Gesetz, das Frauen das Autofahren ver- was sie kann, um deren Lebenschancen auszuglei-
bietet, ein Gesetz, das alleinerziehenden Müttern eine chen und damit ungerechtfertigten Bevorzugungen
größere Steuerlast auferlegt als der übrigen Bevölke- und Benachteiligungen entgegenzuwirken. Fairness
rung, oder eine gesellschaftliche Hintergrundbedin- taucht bei Rawls außerdem im ›Principle of Fairness‹
gung, die dazu führt, dass Menschen aus niedrigen auf, das besagt, dass man nicht von den kooperativen
Einkommensschichten viel schlechtere Chancen auf Anstrengungen anderer profitieren darf, ohne selbst
eine höhere Ausbildung haben als die übrige Bevöl- seinen fairen Anteil beizutragen (ebd.,133; mehr da-
kerung, als unfair beurteilt. Auf dieser Ebene wer- zu s. u.).
den als Objekt von ›Fairness‹-Betrachtungen auch oft Amartya Sen übernimmt von Rawls die Idee, dass
die Kriterien sozialer Verteilungsgerechtigkeit ange- Fairness im Sinne von Unparteilichkeit einen zentra-
sehen, d. h. es wird die Frage gestellt, was das ›faire‹ len, impliziten Aspekt von Gerechtigkeit bildet (z. B.
(angemessene, gerechte) Kriterium der Verteilungs- Sen 2010). Sens Idee von Fairness als Unparteilich-
gerechtigkeit darstelle. keit ist dabei als ›unparteilich begründbar‹ zu verste-
Eine solche enge Verknüpfung von ›Fairness‹ und hen und ist angelehnt an die Vorstellung eines unpar-
den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit ist auch in den teilichen Beobachters im Sinne von Adam Smiths
Gerechtigkeitstheorien von Rawls und Sen zu be- Theorie der ethischen Gefühle (Smith 1759/2004, Teil
obachten. Wie ›Fairness‹ dort genau verstanden wird III, Kap. 1). Bezüglich der Methodik zum Erreichen
und welche Rolle sie in den entsprechenden Gerech- von Unparteilichkeit setzt Sen im Gegensatz zu Rawls
tigkeitstheorien spielt, soll im Folgenden erläutert auf einen unparteilichen öffentlichen Diskurs über
werden. alle Landesgrenzen hinaus, in dem Begründungen
von allen vorgebracht und die Interessen aller be-
rücksichtigt werden. An Rawls’ Ansatz kritisiert Sen
Fairness und Gerechtigkeit bei Rawls in Equality of What? (1980) genauso wie Martha
und Sen Nussbaum (2010) und Will Kymlicka (1997), dass
Rawls’ Prinzipien im Fall von behinderten Menschen
In John Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit (TdG) gerade keine faire Behandlung sicherstellen, da
wird Fairness als Teilaspekt der Gerechtigkeit angese- Rawls’ Einheit zum Vergleich von Vor- und Nachtei-
hen. Die zentrale Idee der TdG, deren Untertitel im len in sozialen Primärgütern besteht, während natür-
Original »Gerechtigkeit als Fairness« (»justice as fair- liche Primärgüter wie die Fähigkeit zu gehen, zu hö-
ness«) lautet, besteht darin, dass die Züge einer ge- ren etc. nicht berücksichtigt werden. Entsprechend
rechten gesellschaftlichen Grundstruktur mit Hilfe berechtigen Nachteile behinderter Menschen diese
eines fairen Prozesses ermittelt werden sollen. Wäh- nicht zum Bezug von Ressourcen, welche diese aus-
rend Rawls Gerechtigkeit also als Eigenschaft von In- gleichen (außer auf Grundlage des Differenzprinzips,
stitutionen versteht, wird Fairness in erster Linie im s. Kap. II.25), was tatsächlich in einer unfairen Be-
Sinne der Unparteilichkeit von Prozessen konzeptuali- nachteiligung derselben resultiert. Dieses Problem
siert (mehr zur Explikation von Fairness als Unpar- soll der Capability-Ansatz von Sen und Nussbaum
teilichkeit weiter unten). Der Urzustand, in dem die vermeiden (s. Kap. IV.43).
170 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

Verschiedene Fairness-Explikationen jemand benachteiligt oder jemand oder etwas aus-


genutzt wird, gehören zu den intuitiv eindeutigsten
Im Folgenden werden einige der plausibelsten Vor- Beispielen unfairen Verhaltens. Dies überrascht nicht,
schläge von Fairness-Explikationen vorgestellt und zu denn wie wir sagten sind Fairness-Überlegungen gera-
den vorangehenden Ausführungen in Beziehung ge- de in umstrittenen Situationen relevant, in denen ver-
setzt. Es gibt daneben viele weitere Explikationsvor- sucht werden kann, komparative Vorteile auf Kosten
schläge, die unplausibel erscheinen und auf die hier anderer zu erlangen. Auf der anderen Seite ist offenbar
nicht eingegangen wird, u. a. Fairness als Respekt vor nicht jedes Ausnutzen und jede komparative Benach-
Personen, Regelbefolgung, formale Gerechtigkeit, Re- teiligung unfair. Wenn ein Tennisspieler die schwache
ziprozität, konsequenzialistische moralische Richtig- Rückhand seines Gegners ausnutzt, um sich einen
keit, etc. Vorteil zu verschaffen, oder wenn ein Marktteilneh-
mer einen Konkurrenten benachteiligt, indem er ein
Geschäft gründet, dessen Erfolg die erste Firma
Fairness als Unparteilichkeit
schließlich vom Markt verdrängt, ist dies nicht per se
Eine weitverbreitete Explikation von Fairness versteht unfair. Die Frage ist also, was genau bestimmte Formen
diese als Unparteilichkeit (z. B. Rawls 1998; Sen 2010; von Ausnutzen und Benachteiligen unfair macht oder,
Cullity 2008; Gert 2005). Unparteilichkeit ist ein pro- in anderen Worten, was das zusätzliche Kriterium da-
zeduraler Fairness-Standard, der selbst komplex und für ist, dass eine bestimmte Art von Benachteiligung
interpretationsbedürftig ist (vgl. Jollimore 2014). Sie unfair ist. Dieses Kriterium hängt jeweils vom spezi-
ist eng mit der Vorstellung eines neutralen moral point fischen Kontext ab, der Bevorzugung und Benachtei-
of view verbunden (z. B. Smith 1759/2004) sowie mit ligung auf bestimmten Grundlagen erlaubt und andere
der Idee der Gleichheit, denn die moralische Wichtig- verbietet: Auf der einen Seite lassen sich die Grund-
keit von Unparteilichkeit besteht darin, dass jeder lagen für legitimes Benachteiligen im Kontext von
grundsätzlich als Gleicher behandelt wird (Dworkin spezifischen sozialen Praktiken (Wettkämpfen, Wett-
1990), d. h. dass seine Ansprüche gleichermaßen be- bewerben, Wahlen, Anstehen etc.) plausibel aus den
rücksichtigt werden. Unparteilichkeit impliziert die Zielen bzw. zugrundeliegenden Prinzipien der Prakti-
Vermeidung von ungerechtfertigten Bevorzugungen ken selbst begründen (s. u.). Auf der anderen Seite ist
und Benachteiligungen und ist eng mit der Forderung die entscheidende Frage bei klassischen Verteilungs-
nach Chancengleichheit (s. Kap. II.26) verbunden. fragen und gerade auch im Bereich sozialer Gerechtig-
Die Explikation von Fairness als Unparteilichkeit keit (also in Bezug auf die institutionelle dritte Ebene)
ist vor allem in Bezug auf institutionelle Kontexte (in die Frage nach den grundlegenden Anspruchsgrund-
einem weiten Sinn) plausibel, und zwar sowohl bezüg- lagen, für die es verschiedene Kandidaten gibt: Ver-
lich ihrer Regeln als auch bezüglich deren Anwen- dienste, Bedürfnisse, Priorität der am schlechtesten
dung bzw. der Handlungen derjenigen Akteure, die Gestellten, etc. Abhängig von der akzeptierten An-
damit betraut sind, die Regeln umzusetzen (z. B. Rich- spruchsgrundlage werden verschiedene Verteilungen
ter oder Schiedsrichter). Sie ist jedoch grundsätzlich als fair oder unfair angesehen, woraus sich verschiede-
ergänzungsbedürftig in Bezug auf die Anspruchs- ne Positionen zur Fairness von bestimmten policies etc.
grundlagen, die im jeweiligen Kontext eine Ungleich- ergeben. So verstanden ist Fairness primär ein proze-
behandlung rechtfertigen können oder sogar fordern. duraler Standard, dessen Anforderungen mit dem spe-
In Bezug auf die Handlungen der übrigen individuel- zifischen Kontext variieren, aber immer an einem
len Akteure ergibt diese Explikation jedoch oft keinen grundlegenden moralischen Ideal der Gleichwertig-
Sinn – so ist es z. B. nicht unfair, wenn Sportler gewin- keit aller Menschen und am Ideal der Chancengleich-
nen wollen und somit ›parteilich‹ sich selbst gegen- heit gemessen werden. Letzteres bedeutet, dass Fair-
über sind (Carr 2000, 18). ness sensitiv ist (oder zumindest sein kann) für beste-
hende Nachteile einiger Teilnehmer in den Hinter-
grundbedingungen der Praktik. So könnte bei einem
Fairness als Nicht-Benachteiligen oder Nicht-Aus-
Essay-Wettbewerb z. B. der zusätzliche Gesichtspunkt
nutzen (not taking advantage)
des Alters der Teilnehmer mit einbezogen werden, so
Fairness wird oft als ›nicht unrechtmäßig benachtei- dass einem sehr jungen Autor (sagen wir, einem
ligen oder ausnutzen‹ (not taking undue advantage, 12-Jährigen) ein Bonus aufgrund des Nachteils seiner
z. B. Hackett Fisher 2012) expliziert. Fälle, in denen Jugend eingeräumt wird. Fairness kann auf dieser
27 Fairness 171

Grundlage also auch heißen, dass Nachteile in den nehmen, um die ihr zugrundeliegenden Prinzipien zu
Hintergrundbedingungen einer Praktik (hypothe- eruieren (vgl. James 2014, 185), und dabei möglichst
tisch) korrigiert werden, um die gleichberechtigte Teil- unkontroverse Annahmen zu machen. Darüber hi-
nahme der benachteiligten Parteien an der Praktik zu naus kann und muss natürlich auch der moralische
gewährleisten. Was in jedem Fall als extrem unfair an- Wert von bestehenden sozialen Praktiken als solcher
gesehen wird, ist eine Benachteiligung von bereits be- hinterfragt werden. Das Hauptkriterium in dieser
nachteiligten Personen (z. B. eine höhere Besteuerung Hinsicht ist die grundlegende moralische Gleichheit
von alleinerziehenden Eltern). aller Menschen, welche eine Praktik nicht verletzen
darf, wenn sie legitim sein soll. Eine moralisch illegiti-
me soziale Praktik kann ihrerseits keine Fairness-
Fairness als Ausrichtung auf das ›Ziel‹ bzw. die
Pflichten generieren.
zugrunde liegenden Prinzipien sozialer Praktiken
Die Explikation von Fairness als Ausrichtung auf
Craig Carr (2000) hat eine Explikation von Fairness die Ziele sozialer Praktiken ist grundsätzlich auf der
vorgeschlagen, welche das Konzept als inhärent in so- ersten und zweiten Ebene plausibel, auf der es um so-
ziale Praktiken eingebettet versteht. Carr argumen- ziale Praktiken, ihre Regeln und die individuellen
tiert dafür, Fairness als Ausrichtung auf das ›Ziel‹ oder Handlungen in ihrem Kontext geht. Für die dritte Ebe-
telos einer assoziativen sozialen Praktik bzw. die ihr ne, diejenige von gesamtgesellschaftlichen Verteilun-
zugrunde liegenden Prinzipien (englisch: rationale) gen und Hintergrundbedingungen, ergibt diese Expli-
zu verstehen – und zwar sowohl die Fairness der prä- kation keinen Sinn, da es dabei, wie bereits gesagt, un-
skriptiven Regeln, die eine bestimmte Praktik regeln, abhängig von konkreten Praktiken um grundlegende
als auch die der Handlungen der Teilnehmer an der Anspruchsgrundlagen wie Verdienste, Bedürfnisse
Praxis. Was Fairness verlangt, hängt entsprechend da- oder die Priorität der am schlechtesten Gestellten geht.
von ab, ob und wie bestimmte Regeln oder Handlun-
gen den Prinzipien bzw. dem telos dienen, welche der
Fairness als proportionale Erfüllung stringenter
Praktik zugrunde liegen und sie inspirieren, oder an-
moralischer Ansprüche
ders ausgedrückt: Regeln, Handlungen etc. sind in
dem Maße ›fair‹, wie sie das ›richtige Resultat‹ der Eine prominente Explikation von Fairness stammt
Praktik gemäß ihres Ziels fördern (vgl. ebd., 47). Dies von John Broome (1990), der Fairness als proportio-
bedeutet, dass das Ziel der Praktik die Anspruchsbasis nale Erfüllung stringenter Ansprüche im Kontext der
(bzw. die Kriterien) definiert, aufgrund derer die Vor- Verteilung von Gütern versteht (ebd., 95). Er unter-
und Nachteile fairerweise verteilt werden. So wird scheidet Fairness-Ansprüche bzw. -Gründe von zwei
z. B. beim erwähnten Essay-Wettbewerb das Ziel da- weiteren Klassen von Gründen, nämlich einerseits ag-
rin bestehen, den besten Essay zu eruieren, und die gregierbaren benefit-Gründen und andererseits abso-
angemessenen Kriterien zu diesem Zweck werden luten side-constraints (ebd.). Während sich gemäß
z. B. Stil, Konzeption, Originalität etc. sein. Fließen für Broome Fairness nur mit der Unterklasse der Fair-
das Ziel der Praktik irrelevante Kriterien in die Bewer- ness-Ansprüche befasst, ist Gerechtigkeit mit allen
tung mit ein (z. B. Geschlecht, Verwandtschaft mit ei- Ansprüchen befasst (ebd., 96).
nem Juror etc.), ist dies entsprechend unfair. Gemäß Broome gelten als Grundlagen für mora-
Gemäß dieser Explikation erfordert die Bestim- lische Ansprüche der Fairness-relevanten Klasse Ver-
mung dessen, was Fairness fordert, eine Reflexion auf dienste, Bedürfnisse und Verträge. Wenn jemand auf
die ›Ziele‹ der betreffenden sozialen Praktik – was na- der Grundlage von Verträgen einer Person A 100 Ein-
türlich problematisch ist, da diese sich daraus ergeben, heiten Mais schuldet und einer zweiten Person B 200
wie die Praktik sich historisch konkret entwickelt hat, Einheiten, verlangt die Fairness, dass er ihnen entwe-
und es folglich zweifellos kontrovers ist, was man als der diese Mengen liefert (vorausgesetzt, es sind keine
solche ›Ziele‹ ansehen soll. Wenn Fairness aber tat- Ansprüche auf die Güter auf der Basis von Bedürfnis-
sächlich inhärent in soziale Praktiken eingebettet ist, sen oder Verdiensten vorhanden) oder aber, wenn er
ist dies kein Argument gegen die vorgeschlagene Ex- dazu nicht genügend Einheiten Mais hat, Person B
plikation, sondern eine unvermeidliche Schwierig- doppelt so viel wie Person A, da dies ihre Ansprüche
keit, die es zu lösen gilt. In diesem Sinn ist es plausibel, proportional zu ihrer Stärke erfüllt.
eine moralisch informierte konstruktivistische Inter- Broome argumentiert für seine Theorie u. a. auf der
pretation der ›Ziele‹ der betreffenden Praktik vorzu- Grundlage, dass sie am besten erklären kann, weshalb
172 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

Lotterien ein faires Mittel sind, um unteilbare Güter nen der Grundstruktur definieren die »Gerechtig-
zu verteilen, auf die mehrere Leute rivalisierende mo- keitsgrundsätze, was ein fairer Anteil ist« (ebd.). Bei
ralische Ansprüche haben. Dies ist plausibel in Situa- isolierten sozialen Praktiken hingegen wird oft ein
tionen, in denen unteilbare Güter unter Leuten mit proportionales Verhältnis von Nutzen und Lasten als
demselben Anspruch verteilt werden, und in solchen, fair angesehen.
wo teilbare Güter verteilt werden (ebd.). Sein Konzept Das ›Fairness-Prinzip‹ richtet sich in erster Linie
ist jedoch nicht überzeugend, wenn die Ansprüche gegen Trittbrettfahren in Bezug auf non-excludable
sehr unterschiedlich stark sind (vgl. Hooker 2005), goods, d. h. Güter, von denen alle profitieren, wenn sie
und lässt sich auf viele Kontexte nicht anwenden, in einmal existieren, und bei denen keine Möglichkeit
denen wir gemeinhin von Fairness sprechen (z. B. in besteht, einige Individuen von ihren Vorteilen aus-
Bezug auf das Verhalten von Sportlern). zuschließen (z. B. Landesverteidigung, öffentlicher
Verkehr; vgl. Rawls 1998; Carr 2000, 26).
Das Fairness-Prinzip ist kontrovers und wurde ex-
Fairness als faires oder proportionales Teilen von
tensiv diskutiert (wichtige Beiträge sind u. a. Hart
Kosten und Nutzen
1955; Lyons 1965; Rawls 1998; Nozick 1976; Arneson
In Bezug auf Kooperationszusammenhänge schließ- 1982; Greenwalt 1987; Simmons 1979; Klosko 1992).
lich wird Fairness oft so verstanden, dass sie eine nor- Akzeptiert man es grundsätzlich, lautet eine zentrale
mative Relation zwischen einem Beitrag zu und ei- Frage im Hinblick auf diesen Fairness-Standard, wo
nem Profitieren von kooperativ produzierten (ge- genau er zur Anwendung kommt. So wird er z. B. im-
meinsamen oder öffentlichen) Gütern impliziert. plizit angewendet, wenn beanstandet wird, dass in
Dieser ergebnisorientierte Fairness-Standard, der auf globalen Wertschöpfungsketten die primären Produ-
der grundlegenden Norm der Reziprozität basiert, zenten in Entwicklungsländern im Verhältnis zu ih-
geht in beide Richtungen: Wenn Menschen koope- rem Beitrag einen zu kleinen Anteil am Gewinn der
rativ produzierte Güter nutzen, sollten sie einen fai- Endprodukte erhalten. Da in der philosophischen
ren oder proportionalen Anteil der mit ihrer Produk- Diskussion üblicherweise angenommen wird, dass
tion verbundenen Kosten oder Lasten übernehmen der Fairness-Standard nur für Kooperationszusam-
(vgl. z. B. Lyons 1965), und wenn sie helfen, solche menhänge gilt, muss die Anwendbarkeit des Stan-
Güter kooperativ zu produzieren, sollten sie auch ei- dards geprüft werden, indem geklärt wird, wann etwas
nen fairen oder proportionalen Anteil an diesen Gü- als ›Kooperation‹ im relevanten Sinn zählt und ob die-
tern bekommen. se Kriterien im vorliegenden Fall erfüllt sind (vgl.
Die vielleicht bekannteste Formulierung der ersten Dänzer 2013).
Form dieser Idee ist das durch John Rawls berühmt
gewordene so genannte ›Fairness-Prinzip‹ (adaptiert Literatur
von Hart 1955, 185 f. und Broad 1916, 388): »Der Arneson, Richard: The principle of fairness and free-rider
Grundgedanke [des Fairness-Prinzips] ist: Wenn sich problems. In: Ethics 92/4 (1982), 616–633.
Barry, Brian: Political Argument. London 1965.
mehrere Menschen nach Regeln zu gegenseitig nutz- Broad, C. D.: On the function of false hypothesis in ethics.
bringender Zusammenarbeit vereinigen und damit In: International Journal of Ethics 26 (1916), 377–397.
ihre Freiheit zum Vorteil aller beschränken müssen, Broome, John: Fairness. In: Proceedings of the Aristotelian
dann haben diejenigen, die sich diesen Beschränkun- Society 91 (1990), 87–102.
gen unterwerfen, ein Recht darauf, dass das auch die Carr, Craig L.: The concept of formal justice. In: Philosophi-
cal Studies 39/3 (1981), 211–226.
anderen tun, die Vorteil davon haben« (Rawls 1998,
–: On Fairness. Aldershot 2000.
133; vgl. auch Rawls 1958, 179). Für Rawls bildet das Cullity, Garret: Public goods and fairness. In: Australasian
Fairness-Prinzip damit die Grundlage aller Verpflich- Journal of Philosophy 86/1 (2008), 1–21.
tungen gegenüber dem Gemeinwesen und den Mit- Dänzer, Sonja: What is ›Fair Trade‹? An Investigation into the
bürgern, da es sich dabei um eine umfassende Zusam- Ethical Foundations of a Multifaceted Debate. Diss. Uni-
menarbeit bzw. Kooperation zum gegenseitigen Vor- versität Zürich 2013, unpubliziert.
Dworkin, Ronald: Bürgerrechte ernstgenommen. Frankfurt
teil handelt. Er fährt fort: »Man darf bei der Zusam-
a. M. 1990.
menarbeit nicht die Früchte fremder Anstrengung in Finkel, Norman J.: Not Fair! A Typology of Commonsense
Anspruch nehmen, ohne selbst seinen fairen Teil bei- Unfairness. Washington DC 2001.
zutragen« (Rawls 1998, 133). Was ein »fairer Teil« ist, Gert, Bernard: Morality. Its Nature and Justification. Oxford
hängt von der spezifischen Praktik ab. Bei Institutio- 2005.
28 Gleichheit 173

Greenwalt, Kent: Conflicts of Law and Morality. Oxford 28 Gleichheit


1987.
Hackett Fisher, David: Fairness and Freedom. A Comparison Zu den Begriffen
of two Open Societies. New Zealand and the United States.
Oxford 2012.
Hart, Herbert L. A.: Are there any natural rights? In: Philoso- ›Gleichheit‹ – griech. isotês, lat. aequitas, aequalitas,
phical Review 64/2 (1955), 175–191. frz. égalité, engl. equality – kann in zwei Bedeutungen
Hooker, Brad: Fairness. In: Ethical Theory and Moral Practice verwendet werden: erstens im Sinn qualitativer Über-
8/4 (2005), 329–352. einstimmung, zweitens im Sinn numerischer Iden-
James, Aaron: A theory of fairness in trade. In: Moral Phi-
tität. In der ersten Bedeutung bezieht man sich mit
losophy and Politics 1/2 (2014), 177–200.
Jollimore, Troy: Impartiality. In: Edward N. Zalta (Hg.): The ›gleich‹ auf mehrere unterschiedliche Gegenstände,
Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2014 Edition), die in mindestens einer, aber nicht allen Hinsichten
http://plato.stanford.edu/archives/spr2014/entries/impar- gleiche Eigenschaften haben. Die zweite Bedeutung
tiality/ (5.2.2016). bezieht sich auf ein und denselben mit sich selbst in
Klosko, George: The Principle of Fairness and Political Ob- allen Merkmalen übereinstimmenden Gegenstand,
ligation. Lanham MD 1992.
Kymlicka, Will: Politische Philosophie heute. Eine Einfüh-
auf den ggf. mittels verschiedener singulärer Termini
rung. Frankfurt a. M. 1997. bzw. Eigennamen oder Beschreibungen Bezug ge-
Lyons, David: Forms and Limits of Utilitarianism. Oxford nommen wird. Dieses Kapitel behandelt qualitative
1965, 161–177. Gleichheit als soziale und politische Gleichheit, die
Miller, David: Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Frankfurt gegenwärtig die kontroverseste unten den großen so-
a. M. 2008.
zialen Idealen ist. ›Gleichheit‹ kann sowohl deskriptiv
Nozick, Robert: Anarchie, Staat, Utopia. München 1976.
Nussbaum, Martha C.: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behin- als auch präskriptiv benutzt werden. ›Gleichheit‹ ist
derung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin 2010. in der präskriptiven Verwendungsweise ein aufgela-
Rawls, John: Justice as fairness. In: Philosophical Review 67/2 dener Terminus. Wegen seiner normalerweise positi-
(1958), 164–194. ven Konnotation hat er eine rhetorische Kraft (Wes-
–: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1998 (engl. ten 1990), die den Begriff zum politischen Slogan ge-
1971).
Scanlon, T. M.: What We Owe to Each Other. Cambridge MA
eignet sein lässt.
1998. ›Gleichheit‹ bedeutet Übereinstimmung einer
Sen, Amartya: Equality of What? In: The Tanner Lectures on Mehrzahl von Gegenständen, Personen oder Sachver-
Human Values 1 (1980), 195–220. halten in einem bestimmten Merkmal, bei Verschie-
–: Die Idee der Gerechtigkeit. München 2010. denheit in anderen Merkmalen. ›Gleichheit‹ ist damit
Simmons, A. John: The Principle of Fair Play. In: Philosophy
sowohl von ›Identität‹ als auch von ›Ähnlichkeit‹, dem
and Public Affairs 8/4 (1979), 307–337.
Smith, Adam: Theorie der ethischen Gefühle [1759]. Ham- Begriff für nur annähernde Übereinstimmung, zu un-
burg 2004. terscheiden (Dann 1975, 997; Menne 1962; Westen
1990, 39, 120).
Sonja Dänzer ›Gleichheit‹ bzw. ›gleich‹ ist ein unvollständiges
Prädikat und muss immer die Frage nach sich ziehen:
Gleich in welcher Hinsicht? Gleichheit besteht im We-
sentlichen in einer dreistelligen Relation zwischen
zwei (oder mehreren) Gegenständen oder Personen
und einer (oder mehreren) Eigenschaften. »Zwei Ge-
genstände a und b sind gleich hinsichtlich des Prädi-
kationsspielraums P, wenn sie, was diesen Spielraum
betrifft, unter denselben generellen Terminus fallen«
(Tugendhat/Wolf 1983, 169). ›Gleichheit‹ bezeichnet
das Verhältnis zwischen den verglichenen Objekten.
Jeder Vergleich setzt ein tertium comparationis voraus,
ein konkretes Merkmal, in dem die Gleichheit gelten
soll. Gleichheit bezieht sich auf den gemeinsamen An-
teil an dem vergleichsentscheidenden Merkmal. Die-
ser relevante Vergleichsstandard stellt eine jeweils zu
spezifizierende ›Variable‹ (oder ›Index‹, ›Bewertungs-
174 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

spielraum‹ u. ä.) des Gleichheitsbegriffs dar (Westen Zur Begriffs- und Problemgeschichte
1990, 10), die zu verschiedenen Konzeptionen der
Gleichheit führt, wenn es sich bei den Standards um Gleichheit gilt von der Antike an (Benn 1967, 39 f.; Al-
unterschiedliche moralische Normen handelt. Der bernethy 1959; Lakoff 1964; Thomson 1949) als ein
Unterschied zwischen einem allgemeinen Begriff und konstitutives Merkmal der Gerechtigkeit. Wenn zwei
spezifischen Konzeptionen (Rawls 1975, 21 f.) der Personen in mindestens einer relevanten Hinsicht als
Gleichheit mag erklären, warum ›Gleichheit‹ man- gleich gelten, müssen diese Personen in dieser Hin-
chen Autoren zufolge keine einheitliche Bedeutung zu sicht gleich behandelt werden. Ansonsten wird eine
haben oder sogar ein leerer Begriff zu sein scheint ungerecht behandelt. Dies ist das allgemein akzeptier-
(Rae 1981, 127 f., 132 f.). te formale Gleichheitsprinzip, das Aristoteles in Rück-
Im Unterschied zu numerischer Identität setzt ein griff auf Platon formulierte: Gleiche(s) gleich behan-
Gleichheitsurteil die Verschiedenheit des Vergliche- deln (NE V.3, 1131a10–b15; Pol. III.9, 1280a8–15,
nen voraus. ›Völlige‹ oder ›absolute‹ Gleichheit sind III.12, 1282b18–23). Einige sehen dieses formale Prin-
nach dieser Definition in sich widersprüchliche Aus- zip der Gleichheit als eine spezifische Anwendung ei-
sagen. Zwei nicht-identische Objekte gleichen sich ner Rationalitätsregel. Es sei irrational, weil inkonsis-
nie vollständig; sie unterscheiden sich zumindest in tent, ohne hinreichenden Grund gleiche Fälle un-
ihrer Raum-Zeit-Stelle. Einige Autoren hingegen gleich zu behandeln (Berlin 1955/56). Stattdessen be-
möchten absolute qualitative Gleichheit nicht defini- tonen die meisten, dass es sich hier um ein moralisches
torisch ausschließen, sondern als Grenzbegriff zulas- Prinzip der Gerechtigkeit handelt, das im Wesentli-
sen (ebd., 170). chen der Universalisierbarkeit moralischer Urteile
Von zentraler Bedeutung ist es, wie der Maßstab entspricht. Das formale Postulat bleibt allerdings so
des Vergleichs bei deskriptiver wie präskriptiver lange leer, wie unklar ist, was hier ›gleiche Fälle‹ und
Gleichheit bestimmt wird. Bei deskriptiver Gleichheit was ›gleich behandeln‹ meint. Alle Debatten über die
ist der gemeinsame Maßstab selbst ein deskriptiver: richtige Auffassung von Gerechtigkeit, d. h. darüber,
Zwei Menschen wiegen z. B. gleich viel. Präskriptive wem was zukommt – so bemerkte schon Aristoteles –,
Gleichheit liegt vor, wenn ein präskriptiver Maßstab, können als Kontroversen über die Frage aufgefasst
d. h. eine Norm oder Regel verwendet wird, z. B. werden, welche Fälle gleich und welche ungleich sind
Gleichheit vor dem Gesetz. Die Maßstäbe, die prä- (NE 1282b22). Jeder normative Disput kann als Wi-
skriptiven Gleichheitsbehauptungen zugrunde lie- derstreit einer vorgeschlagenen Norm mit einer ande-
gen, enthalten zumindest zwei Komponenten: einer- ren dargestellt werden, d. h. als Widerstreit zwischen
seits eine deskriptive Komponente, da sie deskriptive einer Konzeption von Gleichheit mit einer anderen.
Kriterien enthalten müssen, um diejenigen Personen Deshalb ist es richtig, wenn Gleichheitstheoretiker
zu identifizieren, auf die sich die Regel bezieht; diese (Nagel 1994; Rae 1981; Sen 1992, 13) betonen, dass es
deskriptiven Kriterien unterscheiden diejenigen, die fast nie um die Frage geht, ob überhaupt Gleichheit
unter die Norm fallen, von denen, die außerhalb des geboten ist, sondern (nur) um die Frage nach der Art
Geltungsbereichs der Norm stehen. Andererseits ent- der Gleichheit. Eigentlich jede normative Theorie
halten die Vergleichsstandards etwas Normatives, ei- stellt sich als eine Gleichheitsposition dar. Egalitaris-
ne moralische oder rechtliche Regel, die angibt, wie ten müssen also, um ihre Position zu skizzieren, eine
die Menschen, die als unter die Norm fallend iden- spezifischere (egalitärere) Konzeption von Gleichheit
tifiziert wurden, behandelt werden sollen. Diese in Anschlag bringen.
Norm macht die Präskription aus (Westen 1990, Platon und Aristoteles vertreten ein Prinzip propor-
Kap. 3). tionaler Gleichheit (Nom. 757b–c; NE 1130b–1132b):
Soziologische und ökonomische Analysen von Wenn Faktoren für eine Ungleichverteilung sprechen,
(Un-)Gleichheit untersuchen deskriptiv, 1) wie (Un-) weil die Personen in relevanten Hinsichten ungleich
Gleichheit bestimmt und gemessen werden kann und sind, ist diejenige Verteilung gerecht, die proportional
2) was ihre Ursachen und Wirkungen im gesellschaft- zu diesen Faktoren ist. Ungleiche Verteilungsansprü-
lichen und wirtschaftlichen Gefüge sind (Berger/ che müssen proportional berücksichtigt werden; das ist
Schmidt 2004). Die Moral-, Sozial- und politische die Voraussetzung dafür, dass die Personen gleich be-
Philosophie beschäftigt sich hingegen mit (Un-) rücksichtigt werden. Beide verstehen gleiche Berück-
Gleichheit hauptsächlich in ihrer präskriptiven Ver- sichtigung im Sinne der Formel des Ulpian: »Suum cui-
wendung. que tribuere«, also: »Gerecht ist eine Handlung, wenn
28 Gleichheit 175

sie jedem das gibt, was ihm zukommt« (Polit. 331e, und Brüderlichkeit wurde Gleichheit in der Französi-
332b–c; Ulpianus 1854, 1,1,10). Diese Definition ist schen Revolution Grundlage der Déclaration des droits
ganz formal, denn offen ist noch, wem was zukommt. de l’ homme et du citoyen von 1789 (Barbeuf 1796). Das
Ungleiche Berücksichtigung der Rechte verschiedener Prinzip der gleichen Würde und Achtung (Vlastos
Personen heißt demnach, dass nicht jedem zugeteilt 1962), das heute von allen Hauptströmungen der mo-
wird, was ihm zusteht. Die zugrundeliegenden voraus- dernen westlichen Kultur als Minimalstandard akzep-
gesetzten Rechte können dabei aber ungleich sein – tiert wird (Kymlicka 1996), schreibt in einer üblichen
und sind es für Platon und Aristoteles auch. Unterscheidung vor, Personen als Gleiche zu behan-
Gegen Platon und Aristoteles hat die Ulpianische deln (treating persons as equals), nicht aber das in vie-
Formel im Laufe der Geschichte den inhaltlich ega- len Fällen unplausible Prinzip, Personen genau gleich
litären Sinn angenommen, dass jedem die gleiche zu behandeln (treating persons equally; Dworkin 1990,
Würde (Menschenwürde) und jedem gleiche Achtung 370). Seit dem 19. Jahrhundert liegt der politische und
gebührt. Dies ist die heute weitgehend geteilte Auffas- philosophische Schwerpunkt neben der Sicherung
sung substantieller universalistischer Gleichheit. Sie gleicher Freiheitsrechte und gleicher politischer Par-
entwickelte sich in der Stoa, die die natürliche Gleich- tizipationsrechte verstärkt in der Auseinandersetzung
heit aller rationalen Wesen betonte, und im frühen um ökonomische und soziale Ungleichheit (Marshall
Christentum des Neuen Testaments, das die Gleich- 1992). Dabei ist die Idee der Gleichheit seitens sozia-
heit der Menschen vor Gott zu einem Prinzip erhob, listischer und marxistischer Kreise durchaus kritisiert
das die christliche Kirche später allerdings nicht im- worden (Marx 1875/1978; vgl. Kymlicka 1996, Kap. 5).
mer konsequent vertrat. In der Neuzeit, vom 17. Jahr- So lehnt Marx den Gedanken der Rechtsgleichheit ab,
hundert an, wurde die Idee natürlicher Gleichheit in weil sie sich erstens ungleich auswirke, da sie nur eine
der Tradition des Naturrechts und der Vertragstheorie begrenzte Zahl moralisch relevanter Gesichtspunkte
(Gesellschaftsvertrag) dominant. Hobbes ging davon heranziehe und andere vernachlässige; zweitens kon-
aus, dass die Menschen im Naturzustand gleiche zentrierten sich Theorien der Gerechtigkeit zu sehr
Rechte haben, weil sie über die Zeit hinweg die gleiche auf die Verteilung statt auf die grundlegenden Fragen
Fähigkeit haben, einander zu schaden (Hobbes der Produktion; drittens brauche die kommunistische
1651/1976). Locke vertrat die Auffassung, dass alle Gesellschaft kein Recht und keine Gerechtigkeit, weil
Menschen gleiche natürliche Rechte auf Freiheit und in ihr die gesellschaftlichen Konflikte aufgelöst sein
Eigentum besitzen (Locke 1690/1974). Rousseau er- würden.
klärte soziale Ungleichheit durch einen nahezu ur-
geschichtlichen Verfall der Menschengattung von ei-
ner natürlichen Gleichheit im harmonischen Natur- Gegenwärtige Debatten
zustand, hervorgerufen durch den Drang der Men-
schen zur Vervollkommnung, wodurch Eigentum Da in zeitgenössischen Theorien ›Behandlung als
und Besitz wirkmächtig wurden. Die dadurch ent- Gleiche‹ der moralisch geteilte Standard ist, beziehen
standene Ungleichheit und Herrschaft der Gewalt sich die heutigen Debatten darauf, welche Art von Be-
könne nur durch die Einbindung der freigesetzten handlung normativ gefordert ist, wenn wir uns wech-
Subjektivität in einer gemeinsamen Bürgerexistenz selseitig als Personen mit gleicher Würde achten. Da-
und Volkssouveränität überwunden werden (Rous- bei geht es um zweierlei: erstens ob überhaupt Gleich-
seau 1755/1971; 1762/1974). heit, und zweitens, wenn ja, welche Art von Gleichheit
In Kants Moralphilosophie formuliert der kategori- gefordert ist.
sche Imperativ das Gleichheitspostulat der gleichen 1) Nach non-egalitärer Meinung impliziert gleiche
universellen Achtung (AA IV). Die transzendental- Würde gar keine Gleichheit, weil sich aus der Achtung
philosophische Reflexion des Gedankens der Auto- der Würde überhaupt keine komparativen (also ver-
nomie und Selbstgesetzgebung führt zur Anerken- gleichenden) Prinzipien der Gleichheit ergeben. Viel-
nung der gleichen Freiheit aller Vernunftwesen, die mehr kann man nach non-egalitärer Auffassung ohne
Kant auch zum einzigen Rechtsprinzip erklärt (AA Vergleich wissen, was moralisch zu tun ist (Krebs
VI, 230). Die aufklärerischen Ideen stimulierten die 2000). Egalitäre Auffassungen hingegen bestreiten,
großen sozialen Bewegungen und Revolutionen und dass sich die moralische Begründung und Bestim-
schlugen sich in den modernen Verfassungen und mung des Gesollten ohne vergleichende Berücksichti-
Menschenrechtserklärungen nieder. Neben Freiheit gung dessen, was anderen in gleicher Lage zusteht, be-
176 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

urteilen lassen. Dabei wird Gleichheit nicht um ihrer langt. Ein Zustand ist pareto-optimal oder pareto-effi-
selbst willen angestrebt, sondern weil erst sie soziale zient, wenn es nicht möglich ist, in einen anderen so-
Gerechtigkeit realisiert bzw. konstituiert. zialen Zustand überzugehen, der mindestens von ei-
2) Eine Minimalposition vertritt der Libertarismus ner Person als besser und von keiner als schlechter be-
(s. Kap. III.32) und Wirtschaftsliberalismus, der, auf urteilt wird. Diese Beurteilung ist jedoch immer
Locke zurückgehend, gleiche ursprüngliche Freiheits- relativ zu einem gegebenen Ausgangszustand, der un-
und Besitzrechte postuliert und damit gegen Umver- gleich und ungerecht sein kann. Deshalb mag es zur
teilung und soziale Rechte und für den freien Markt Herstellung von Gerechtigkeit nötig sein, Pareto-Op-
argumentiert (Nozick 1974; Hayek 1960). Es wird ein timalität zu verletzen. Zumindest darf Gleichheit in
Gegensatz von Gleichheit und Freiheit behauptet. Da- den Augen der Kritiker nicht dazu führen, dass man-
gegen wird eingewandt, dass gerade wenn das eigene che auf Güter verzichten müssen, obwohl dadurch
freie Verdienst zählen soll, der eigene Erfolg nicht so kein Schlechtergestellter besser gestellt würde. Vier-
sehr von Glück, natürlicher Ausstattung, ererbtem Be- tens gibt es moralische Einwände: Strikte und mecha-
sitz und Status abhängen darf. Es bedarf mindestens nische Gleichbehandlung aller Beteiligten nimmt die
noch der Chancengleichheit (s. Kap. II.26), die dafür Unterschiede zwischen den Individuen und ihren Si-
sorgt, dass das Schicksal der Menschen von ihren Ent- tuationen nicht ernst. Eine Kranke hat intuitiv andere
scheidungen und nicht von ihren sozialen Lebens- Ansprüche als ein Gesunder; ihr das Gleiche zuzutei-
umständen bestimmt wird, die sie nicht zu verantwor- len wäre falsch. Bei einfacher Gleichheit wird die Frei-
ten haben. Der Egalitarismus will jedoch mehr. Für ihn heit der Individuen unzulässig beschränkt und die je
ist eine Welt moralisch besser, wenn in ihr Gleichheit individuelle Besonderheit der Person nicht hinrei-
der Lebensbedingungen herrscht. Dies ist ein amorphes chend berücksichtigt; insofern wird sie eben nicht
Ideal, das Klärung verlangt. Warum ist Gleichheit der gleich berücksichtigt. Moralisch besteht nicht nur ein
Lebensbedingungen ein Ideal, und Gleichheit von was Recht auf die Berücksichtigung besonderer Bedürf-
genau? (Cohen 1989; Arneson 1993) nisse, sondern auch ein Recht auf die Früchte der ei-
3) Eine Maximalposition stellt strikte Gleichheit genen Arbeit, darauf, dass die eigene Leistung, das
dar, die allen ein gleiches materielles Level an Gütern Verdienst auch zählt. Zu guter Letzt besteht die Ge-
und Leistungen gewähren will. Sie wird allgemein als fahr, dass strikte Gleichheit zu Gleichmacherei, Uni-
unplausibel verworfen. Sie scheitert an Problemen, die formität und Einebnung führt, statt Differenz und
allgemein gegen Gleichheit eingewandt werden und Pluralität zu respektieren (Walzer 1992; Young 1990).
die jede plausible Gleichheitsauffassung lösen muss. Als Desideratum kann man insofern festhalten:
Erstens müssen angemessene Indizes für die Messung Statt einfacher Gleichheit bedarf es einer Konzeption
der Gleichheit der zu verteilenden Güter angegeben komplexerer Gleichheit, der es durch Unterscheidung
werden. In Begriffen von was soll Gleichheit bzw. Un- von verschiedenen Güterklassen, getrennten Sphären
gleichheit hier verstanden werden? So kann Gleich- (Walzer 1983) und differenzierteren Kriterien gelingt,
heit materieller Güter zu ungleicher Zufriedenheit auf diese Problemlagen zu antworten.
führen. Als üblicher, wenn auch bekanntermaßen un- 4) Gleichheit der Wohlfahrt motiviert sich durch die
zulänglicher Index wird das Geld benutzt, wobei of- Intuition, dass es das Wohlergehen der Individuen ist,
fensichtlich mindestens Gleichheit der Chancen an- um das es in der politischen Moral geht. Das Wohl-
ders erfasst werden muss. Zweitens muss angegeben fahrtsniveau auszugleichen, müsse daher das relevan-
werden, in welchem Zeitraum das angestrebte gleiche te Gerechtigkeitskriterium sein. Auch diese Auffas-
Verteilungsmuster realisiert sein muss. Strikte Gleich- sung ist jedoch mit erheblichen Schwierigkeiten kon-
heit fordert Gleichheit innerhalb kürzerer Zeitabstän- frontiert (Dworkin 1981a). Es scheint unplausibel, alle
de. Dies scheint jedoch die Verfügungsgewalt von Per- Präferenzen der Personen (gleichermaßen) zu zählen;
sonen über ihren Anteil unzulässig einzuschränken. einige Präferenzen sind aus Gerechtigkeitsgründen
Drittens verzerrt strikte Gleichheit ökonomische Leis- unzulässig. Zufriedenheit bei der Erfüllung der Wün-
tungsanreize und führt zu einem Mangel an Effizienz, sche kann kein Maßstab sein, weil Personen mehr
weil bei der Umverteilung Schwund an Gütern durch wollen als Glücksgefühle. Als Maßstab für Wohl-
administrative Kosten auftritt (Okun 1975). Gleich- fahrtsvergleiche kann also nur die Beurteilung des Er-
heit und Effizienz müssen in ein ausgewogenes Ver- folgs bei der Erfüllung der Präferenzen fungieren. Sie
hältnis gesetzt werden. Oft wird, hauptsächlich von darf jedoch nicht nur auf einem subjektiven Urteil ba-
Ökonomen, diesbezüglich Pareto-Optimalität ver- sieren. Für eine gerechtfertigte Beurteilung bedarf es
28 Gleichheit 177

eines Standards, der angibt, was hätte erreicht werden sicherstellt, dass man nicht im freien Markt durch die
sollen oder können. Dieser setzt wiederum schon eine Maschen fällt und dass es allen besser geht als in einer
Annahme über eine gerechte Verteilung voraus, ist al- Situation totaler Gleichverteilung, deren Level man-
so kein unabhängiges Gerechtigkeitskriterium. Ein gels Effizienz unter dem des im Differenzprinzip
weiteres beträchtliches Problem jeder an Wohlfahrt Schlechtestgestellten liegt.
ausgerichteten Konzeption von Gleichheit ist, dass Dworkin beansprucht mit seiner Theorie, noch ›ab-
Personen mit teurem Geschmack nach dieser Kon- sichtssensitiver‹ und ›ausstattungsinsensitiver‹ als die
zeption mehr Ressourcen beanspruchen dürfen; dies Rawlssche Theorie zu sein (Dworkin 1981b). Er schlägt
verletzt eindeutig moralische Intuitionen, weil der eine hypothetische Auktion vor, auf der sich jeder bei
teure Geschmack kultiviert ist. Zudem kann Gleich- gleichen Zahlungsmitteln Güterbündel so zusammen-
heit der Wohlfahrt für den Aspekt des Verdienstes stellen kann, dass er am Ende niemand anderen um
(Feinberg 1970) nicht aufkommen. sein Güterbündel beneidet. Auf dem freien Markt
5) Solche Probleme vermeidet die vor allem von hängt es dann von den Ambitionen der Individuen ab,
Rawls und Dworkin vertretene Gleichheit der Ressour- wie sich die Verteilung entwickelt. Die ungerechtfer-
cen (Rawls 1975; Dworkin 1981b). Die Argumentation tigten Ungleichheiten aufgrund unterschiedlicher na-
geht davon aus, dass Individuen für ihre Entscheidun- türlicher Ausstattung, Begabung und Glück sollen
gen und Handlungen, nicht jedoch für die Umstände durch ein differenziertes fiktives Versicherungssystem
ihrer Situation verantwortlich sind. Das, was man kompensiert werden, dessen Prämien hinter einem
nicht zu verantworten hat, darf kein Verteilungskrite- ›Schleier des Nichtwissens‹ ermittelt werden, um dann
rium sein. Rasse, Geschlecht, Hautfarbe, Intelligenz, im echten Leben auf alle umgelegt und per Steuer ein-
soziale Stellung sind als irrelevante Ausnahmegründe getrieben zu werden. So soll ein fairer Ausgleich für die
ausgeschlossen. Stattdessen sind ungleiche Anteile an natürliche Lotterie erfolgen, der eine ›Versklavung‹ der
sozialen Gütern dann fair (s. Kap. II.27), wenn sie sich talentierten Erfolgreichen durch zu hohe Abgaben ver-
aus den Entscheidungen und absichtlichen Handlun- hindert (s. auch Kap. III.39).
gen der Betreffenden ergeben. Chancengleichheit ist 6) Theorien wie die eben genannten, die sich darauf
nicht ausreichend, weil ungleiche natürliche Ausstat- beschränken, grundlegende Mittel gleich zu verteilen,
tung dadurch nicht kompensiert wird. Was für soziale in der Hoffnung, sie könnten den verschiedenen Zwe-
Umstände gilt, soll auch für natürliche Gaben gelten. cken aller Menschen gerecht werden, werden von Sen
Natürliche Begabungen und soziale Umstände sind kritisiert (Sen 1992). Wie wertvoll die Güter für je-
reine Glückssache und müssen ausgeglichen werden. manden sind, hängt von den Möglichkeiten, der natür-
Damit wird das gängige Verdienstkriterium berück- lichen Umgebung und den individuellen Fähigkeiten
sichtigt, aber deutlich relativiert. Die Menschen sollen ab. Sen schlägt stattdessen vor, sich an grundlegenden
eine anfängliche gleiche Ausstattung an Grundgütern menschlichen Möglichkeiten (capabilities) zur Aus-
als allgemein dienliche Mittel (Rawls) oder Ressourcen übung bestimmter relevanter Seinsweisen und Tätig-
(Dworkin) bekommen und können später aufgrund keiten (functionings) bei der Verteilung zu orientieren
ihres eigenen ökonomischen Handelns durchaus un- (s. Kap. IV.43). Die Bewertung des individuellen Wohl-
terschiedliche Mengen an Gütern besitzen. Soziale ergehens muss sich an basalen Funktionsweisen wie
und ökonomische Ungleichheiten sind nach Rawls bei Ernährung, Gesundheit, Abwesenheit von Gefahren
vorrangiger Sicherung gleicher Grundfreiheiten und für das Leben usw. festmachen. Wichtig ist aber auch
-rechte gerecht, wenn sie zwei Bedingungen erfüllen: der Freiheitsaspekt, der in der Möglichkeit, die Art
»[E]rstens müssen sie mit Ämtern und Positionen ver- und Weise der Verwirklichung der Funktionsweisen
bunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chan- selbst zu wählen, enthalten ist. Capabilities sind daher
cengleichheit offenstehen, und zweitens [– das ›Diffe- nach Sen das Maß für die angestrebte Gleichheit der
renzprinzip‹, s. Kap. II.25 –] müssen sie sich zum Möglichkeiten des Menschen, sein Leben zu führen.
größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begüns- 7) Eine andere Konzeption der Gleichheit, die be-
tigten Gesellschaftsmitglieder auswirken« (Rawls ansprucht, das Desideratum komplexerer Gleichheit
1998, 69; 1975, 336). Ansonsten muss umverteilt wer- zu erfüllen, arbeitet prozedural mittels einer Präsum-
den. Hinter dem für die ursprüngliche Situation der tion der Gleichheit, d. h. eines Prima-facie-Gleichver-
Entscheidung über Prinzipien einer gerechten Gesell- teilungsprinzips für alle politisch zur Verteilung an-
schaft unterstellten ›Schleier des Nichtwissens‹ würde stehenden Güter (Gosepath 2004, Kap. II.8; Hinsch
man nach Rawls das Differenzprinzip wählen, weil es 2002; Tugendhat 1997, Kap. III; Williams 1973; Bedau
178 II Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs

1967, 19): Alle Betroffenen sind ungeachtet ihrer em- veau entfernt ist, desto dringlicher ist (in der Regel)
pirischen Unterschiede gleich zu behandeln, es sei sein Anspruch auf Hilfe. Zum dritten wird von mehre-
denn, bestimmte (Typen von) Unterschiede(n) sind in ren gegenwärtigen Philosoph_innen gegen Gleichheit
der anstehenden Hinsicht relevant und rechtfertigen als Gleichverteilung von etwas zu Verteilendem ein-
durch allgemein annehmbare Gründe eine ungleiche gewandt, dass es bei der Idee der Gleichheit vielmehr
Behandlung oder ungleiche Verteilung. Wenn alle ein um eine nicht-hierarchische, nicht beherrschende Be-
Interesse an den zu verteilenden Gütern haben, so ziehung zwischen Personen gehe. Diese Position ist als
zählt die Befriedigung der Präferenzen aller prima fa- sozialer oder relationaler Egalitarianismus bekannt
cie (in Abwesenheit besonderer Rechtfertigungsgrün- (Anderson 2000, Fourie/Schuppert/Wallimann-Hel-
de) gleich viel, weil die Personen gleich viel zählen. mer 2015), dem es um die Sicherung und Anerken-
Wer mehr will, schuldet den anderen eine angemesse- nung des gleichen Status von Personen geht.
ne allgemeine und reziproke Rechtfertigung. Wenn es 9) Ist Gleichheit ein Wert an sich? (Raz 1986;
keinen Grund für eine Ungleichverteilung gibt, den Frankfurt 1987; Scanlon 2003) Viele Egalitaristen sind
alle im Prinzip anerkennen können, dann ist Gleich- heute bereit zuzugestehen, dass Gleichheit im Sinne
verteilung die einzige legitime Verteilung. Gleichver- von Gleichheit der Lebensumstände keinen starken
teilung ist damit nicht eine unter vielen Alternativen, Wert an sich hat, sondern ihre Bedeutung im Rahmen
sondern die unvermeidliche Ausgangsposition, sofern liberaler Gerechtigkeitskonzeptionen im Zuge der
man die Rechtfertigungsansprüche aller als gleichbe- Verfolgung anderer Ideale erhält – wie Freiheit für al-
rechtigt ernst nimmt. Diese Präsumtion der Gleich- le, volle Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten
heit gibt ein elegantes Verfahren für die Konstruktion und der Persönlichkeit, die Beseitigung von Leid, Do-
einer Theorie der Verteilungsgerechtigkeit ab. minanz und Stigmatisierung, stabiler Zusammenhalt
Folgende Fragen müssten allerdings beantwortet moderner freiheitlich verfasster Gesellschaften etc.
werden, um zu einem inhaltlich gefüllten Gerechtig- Dies öffnet die Tür für die kritische Anfrage, ob nicht
keitsprinzip zu kommen: Welche Güter und Lasten ein anderer Gesichtspunkt als Gleichheit der Lebens-
stehen zur Verteilung (bzw. sollten zur Verteilung ste- umstände (auch für Egalitaristen) das Kriterium der
hen)? Was sind die sozialen Güter, die den Gegen- Verteilungsgerechtigkeit ist.
stand gerechter Gleichverteilung abgeben? An wen
soll verteilt werden? Wer hat prima facie einen An- Literatur
spruch auf einen fairen Anteil? Was sind die gerecht- Albernethy, George L. (Hg.): The Idea of Equality. Richmond
fertigten Ungleichheiten je nach Sphäre oder Güter- 1959.
Anderson, Elizabeth: Warum eigentlich Gleichheit? [1999]
klasse? Dabei werden viele Aspekte der zuvor genann-
In: Angelika Krebs (Hg.): Gerechtigkeit oder Gleichheit.
ten Theorien egalitärer distributiver Gerechtigkeit ei- Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt a. M. 2000,
ne wesentliche Rolle spielen. 117–172.
8) Als Alternativen zu distributiver Gleichheit von Aristoteles: Nikomachische Ethik. Zürich 1967 [NE].
etwas aus der möglichen Menge der equalisanda wer- –: Politik. Zürich 1971 [Pol.].
Arneson, Richard J.: Equality. In: Robert E. Goodin/Philip
den zum einen ein Suffitarianismus vertreten. So ist
Pettit (Hg.): A Companion to Contemporary Political Phi-
nach Harry Frankfurts Prinzip der Hinlänglichkeit losophy. Oxford 1993, 489–507.
(doctrine of sufficiency; Frankfurt 1987) ein hinrei- Babeuf, François Noël: Das Manifest der Gleichen [1795/6].
chend gutes Auskommen für jeden zu sichern. Eine In: François Noël Babeuf: Verschwörung für die Gleichheit.
zweite populäre Alternative stellt der Prioritanismus Hg. von John A. Scott. Hamburg 1988, 103–108.
dar. So fordert Parfits Vorrangprinzip (priority view; Bedau, Hugo A.: Egalitarianism and the idea of equality. In:
J. Roland Pennock/John W. Chapman (Hg.): Equality.
Parfit 1997) die vorrangige Verbesserung der Situation
New York 1967, 3–27.
der Schlechtergestellten. Gemäß dem Vorrangprinzip Benn, Stanley I.: Equality. In: Encyclopedia of Philosophy.
ist es nicht schlecht oder ungerecht, dass einige New York 1967, 38–42.
schlechter gestellt sind als andere. Stattdessen gelte es Berger, Peter A./Schmidt, Volker H.: Welche Gleichheit, wel-
nur, den Schlechtergestellten zu helfen, und zwar umso che Ungleichheit? Grundlagen der Ungleichheitsforschung.
mehr, je schlechter sie gestellt sind. Auch in Mangelsi- Wiesbaden 2004.
Berlin, Isaiah: Equality. In: Proceedings of the Aristotelian
tuationen, in denen nicht allen ein menschenwürdiges Society 56 (1955/56), 301–326.
Leben ermöglicht werden kann, geben die absoluten Cohen, Gerald A.: On the currency of egalitarian justice. In:
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weiter ein Mensch von dem eigentlich gebotenen Ni-
28 Gleichheit 179

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III Gerechtigkeits-
konzeptionen

A. Goppel et al. (Hrsg.), Handbuch Gerechtigkeit, DOI 10.1007/978-3-476-05345-9_3,


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29 Gerechtigkeit als Tugend en, hat sich eine divergierende Entwicklung ergeben:
Universalisten haben Onora O’Neill zufolge eine Ten-
Eine spezielle Perspektive denz, die Tugend zu vernachlässigen, weil sie ihrer An-
sicht nach im Kern darin besteht, universalistischen
Gerechtigkeit als Tugend in den Blick zu nehmen be- Prinzipien zu folgen; Partikularisten hingegen fokus-
deutet, eine spezielle Perspektive auf die Gerechtig- sieren lokal interpretierte Tugenden unter systemati-
keit einzunehmen. Um die systematische Besonder- scher Vernachlässigung universeller Moralprinzipien.
heit dieser Perspektive zu erfassen, muss zum einen Die Fragen nach universalistischen Gerechtigkeits-
das Konzept der Tugend, also die Frage, was eine Tu- prinzipien einerseits und nach einer inhaltlichen Be-
gend eigentlich ist, näherungsweise geklärt sein; zum stimmung der Tugend der Gerechtigkeit andererseits
anderen muss man verstehen, welcher Stellenwert Tu- wurden O’Neill zufolge also zunehmend unabhängig
genden in den unterschiedlichen Moraltheorien zu- voneinander beantwortet (O’Neill 1996). Auch die Po-
kommt. sitionierung in dieser Kontroverse ist mithin von er-
Die präzise Bestimmung des Begriffs ›Tugend‹ ist heblicher Bedeutung für den systematischen Stellen-
umstritten (vgl. u. a. Halbig 2013). ›Tugend‹ ist die wert und die inhaltliche Bestimmung der Tugend der
deutsche Übersetzung des griechischen Begriffs aretê, Gerechtigkeit.
der in etwa Exzellenz oder ›Bestheit‹ bedeutet, also die Entscheidend für das Verständnis dessen, was je-
höchste Qualität, die man in einem Kontext erreichen weils unter Gerechtigkeit als Tugend gefasst wird, ist
kann. Im Allgemeinen ist damit eine hervorragende weiterhin, welche Rolle den Tugenden in der moral-
Charaktereigenschaft oder auch eine vorbildliche Hal- theoretischen Konzeption zukommt, in deren Kontext
tung gemeint. Im Deutschen spricht man von der Tu- die Tugend der Gerechtigkeit aufgeführt wird. Chris-
gend und dem Laster, aber auch von verschiedenen toph Halbig trifft hier eine hilfreiche Unterscheidung
spezifischen Tugenden oder Lastern. Dabei unter- zwischen Tugendethik, Tugendlehre und einer Ethik der
scheidet man zwischen moralischen (›primären‹) und Tugenden (Halbig 2013, 11). In der Tugendethik gelten
nicht-moralischen (›sekundären‹) Tugenden sowie ›aretaische Kategorien‹, mithin die Tugenden bzw. Tu-
zwischen jenen, die auf das praktische Handeln bezo- gendbegriffe als fundamental. Dem Anspruch dieser
gen sind (ethische Tugenden), und denjenigen, die auf Tugendethik zufolge lassen sich alle anderen (deonti-
die Tätigkeit des Verstandes bezogen sind (intellek- schen oder evaluativen) Konzepte auf Tugendbegriffe
tuelle Tugenden). Die ethischen Tugenden befähigen reduzieren und sind diesen nachgeordnet. Demgegen-
dazu, das sittlich Gute anzustreben. über spielen Tugenden in den so genannten Regelethi-
Die Gerechtigkeit gilt seit der Antike als eine der ken eine sekundäre Rolle: Tugenden allgemein (und
zentralen ethischen Tugenden. Erstmals bei Aischylos damit auch der Tugend der Gerechtigkeit) kommt hier
(525/4–456/5 v. Chr.) als eine von vier Grundtugen- ein abgeleiteter, derivativer Status zu. Sie gelten im We-
den aufgeführt, wird sie seit dem Mittelalter als Kardi- sentlichen als individuelle Dispositionen, moralisches
naltugend bezeichnet (von lat. cardo, Türangel, Dreh- Handeln an den von den jeweiligen Moraltheorien als
und Angelpunkt), weil sie grundlegend und wichtig einschlägig ausgewiesenen Prinzipien und Normen zu
für das individuelle Wohlergehen und für das Zusam- orientieren und in diesem Sinne zuverlässig moralisch
menleben in einer Gemeinschaft ist. Die Perspektive zu sein. Aus der Perspektive deontologischer oder kon-
der Gerechtigkeit als Tugend meint entweder die Hal- sequentialistischer Regelethiken geht es somit in Be-
tung bzw. charakterliche Eigenschaft eines Individu- zug auf die Tugend der Gerechtigkeit darum, deren
ums, das Gerechtigkeit anstrebt und zuverlässig ge- Stellenwert im Kontext einer Ethik der Tugenden zu be-
recht handelt, oder auch die Qualität einer Institution stimmen. Die Tugendlehre schließlich zielt Halbig zu-
oder einer Gesellschaft, die sich durch ein hohes Maß folge »auf ein Verständnis dessen, was Tugenden sind:
an Gerechtigkeit auszeichnet. ihrer Ontologie, Epistemologie sowie ihrer handlungs-
Aufgrund kontroverser Einschätzungen in der Fra- theoretischen Bedeutung« (Halbig 2013, 11). Auch in
ge, wie die Gerechtigkeitsmaßstäbe zu begründen sei- diesem Kontext kann die Tugend der Gerechtigkeit
29 Gerechtigkeit als Tugend 183

thematisiert und inhaltlich bestimmt werden. Was die Vorgang, eine bestimmte Tugend anzustreben, ist in
Tugend der Gerechtigkeit ausmacht, muss also vor der Regel mit positiven Gefühlen (der Wertschätzung
dem Hintergrund einer sorgfältigen Kenntnisnahme des Inhalts dieser Tugend) verbunden. Ein gerechter
des konzeptionellen Rahmens interpretiert werden, in Mensch, den wir als exzellent und damit auch als mo-
dem jeweils argumentiert wird. ralisches Vorbild akzeptieren, strebt danach, gerecht
Während Gerechtigkeit als Tugend in der Antike zu handeln und sich gerecht zu verhalten. Er ist in
(u. a. bei Platon und Aristoteles) und im Mittelalter dieser Hinsicht zuverlässig. Halbig spricht von Tu-
(u. a. bei Thomas von Aquin) im Kontext tugendethi- genden als »robusten Charaktermerkmalen in dem
scher Konzeptionen diskutiert wird, verliert diese Per- Sinn, dass wir etwa von einem ehrlichen Menschen
spektive nach dem Mittelalter zugunsten deontologi- erwarten, dass er sich nicht nur in einem bestimmten
scher und konsequentialistischer Spielarten einer Re- Typ von Situationen ehrlich verhält, sondern dies si-
gelethik zunehmend an Bedeutung. In der gegenwär- tuationsübergreifend tut« (Halbig 2013, 19).
tigen Ethik finden sich Ausführungen zur Tugend der Eine wesentliche Komponente der Tugendhaftig-
Gerechtigkeit sowohl in konsequentialistischen und keit besteht darin, dass der Gerechte weiß, was jeweils
deontologischen Ethiken der Tugenden als auch in ex- der angemessene Maßstab ist und was im jeweiligen
plizit tugendethischen Konzeptionen (u. a. bei Martha Kontext gerecht ist. Während Platon als Universalist
Nussbaum, Philippa Foot, Alasdair MacIntyre oder aufgefasst wird, besteht bezüglich Aristoteles Un-
John McDowell). Ob und inwiefern Autoren wie Pla- einigkeit darüber, welchen Standpunkt er bei der Fra-
ton, Aristoteles u. a. jedoch als Tugendethiker im oben ge nach einem kontext- und perspektivenunabhängi-
definierten Sinne gelten können, ist heute umstritten gen Gerechtigkeitskriterium vertritt.
(vgl. u. a. Halbig 2013 und O’Neill 1996). Nicht nur in In Platons Dialogen finden sich bereits viele der
der Moraltheorie, auch in der politischen Theorie heute diskutierten Theorien zur Gerechtigkeit zumin-
wird die Tugend der Gerechtigkeit thematisiert: So dest in ihren Grundzügen wieder: Während nach So-
finden sich Ausführungen zur Gerechtigkeit als Bür- krates’ Darstellung in Politeia (Pol II, 358a) die Ge-
gertugend u. a. im politischen Liberalismus, im Kom- rechtigkeit zu dem Schönsten gehört, »was sowohl um
munitarismus und im Republikanismus. seiner selbst willen als wegen dessen, was daraus er-
folgt, dem, der glückselig sein will, wünschenswert
ist«, stellt z. B. Thrasymachos die Gerechtigkeit als ein
Konzepte und Konzeptionen Instrument der Mächtigen dar, durch das sie die Re-
geln im Staat festlegen und ihre Interessen durchset-
In fast allen antiken Ethiken gilt Gerechtigkeit (di- zen (Pol I, 338c–339b, ebenso 343b–344c), und Glau-
kaiosynê) als die moralisch-soziale Tugend schlecht- kon formuliert den Grundgedanken des Kontraktua-
hin. Dikaiosynê kommt eine herausragende Bedeu- lismus (Pol II, 358e–359b). Platon selbst versteht Ge-
tung zu, und zwar nicht nur in den Sinnbedeutungen rechtigkeit als eine Haltung, die darin besteht, dass
von Gerechtigkeit, die uns heute geläufig sind, son- »jeder das Eigene und Seinige hat und tut« (Pol IV, 434
dern auch als Vorzüglichkeit eines Menschen oder St.). Ungerechtigkeit besteht in »eine[r] Sucht, alles
Staates verstanden. Mit Rückgriff auf die klassische Mögliche zu betreiben und sich in die Geschäfte ande-
Tugendethik der Antike lässt sich eine Bestimmung rer zu mischen« (Pol IV, 444 St.). Die Formel ›Jedem
von Gerechtigkeit als Tugend vornehmen, die auch das Seine‹ bedeutete bei den Griechen, »dass man sich
für die gegenwärtige Diskussion derselben noch ein- seiner Stellung oder Rolle im Ganzen, die sich aus den
schlägig ist. Aristoteles definiert Tugend als hexis pro- eigenen Fähigkeiten ergibt, bewusst ist, sie akzeptiert
hairetikê, eine auf eine Überlegung begründete, auf und nicht über die von ihr definierten Grenzen hi-
einer Entscheidung beruhende Haltung (Aristoteles, nauszugehen versucht, nicht mehr an Ämtern und
NE 1106b–1107a). Diese Definition beinhaltet einige Machtmitteln an sich zu reißen versucht, als zu dieser
Elemente, die auch in unserem modernen Verständ- Funktion gehören« (Wolf 2002, 107). Für die indivi-
nis eine zentrale Rolle spielen: eine kognitive Kom- duelle Tugend der Gerechtigkeit heißt das, dass jeder
ponente, denn eine Haltung erwirbt man bewusst, Seelenteil das Seinige tut, indem der vernünftige See-
man entscheidet sich für sie aus bestimmten Grün- lenteil über den mut- und zornhaften sowie über den
den; eine volitive Komponente, denn man will diese begehrlichen Teil herrscht: Gerechtigkeit ist eine in-
Haltung entwickeln, sie entspringt einem Willensakt; nere Einstellung, der gemäß die drei Seelenteile des
und schließlich eine affektive Komponente, denn der Menschen im richtigen Verhältnis zueinander stehen
184 III Gerechtigkeitskonzeptionen

(Pol IV, 443d–444a). Gerechtigkeit ist laut Platon schen »das Gerechte tun, das heißt auf gerechte Weise
nicht nur eine individuelle Tugend, sondern auch un- handeln und Gerechtes wünschen« (NE V, 1129a).
verzichtbares Konstitutionsprinzip einer wohlgeord-
neten Polis. Er stellt den gerechten Aufbau eines Staa- »Und zwar ist die Gerechtigkeit diejenige Disposition,
tes als parallel zu einer wohlgeordneten Seele vor: Je- kraft deren der Gerechte als jemand bezeichnet wird,
der Teil hat und tut das Seine. Analog zu den drei See- der das Gerechte mit Vorsatz (prohairesis) tut und der,
lenteilen des Menschen finden sich in einer solchen wo es um das Verteilen geht, für sich in Bezug auf ei-
Polis drei Stände, deren Akteure (Herrscher, Wächter, nen anderen und für einen anderen in Bezug auf einen
Gewerbetreibende) jeweils das Ihrige tun und sich Dritten nicht so vorgeht, dass er vom Wählenswerten
über ihre Fähigkeiten, Funktionen und Befugnisse sich selbst mehr und dem Nächsten weniger gibt, vom
nicht hinwegsetzen. Platon zufolge spielt die Tugend Schädlichen aber umgekehrt, sondern so, dass er das
der Gerechtigkeit für den gerechten Staat eine heraus- proportional Gleiche gibt, und ebenso bei der Vertei-
ragende Rolle, da sie allein es ermöglicht, dass die an- lung zwischen zwei anderen Personen« (NE V, 1133b).
deren Tugenden (Besonnenheit, Tapferkeit, Einsicht)
in ihm ausgebildet werden – wobei der Staat in der Aus dem Moment der »Würdigkeit« (axia; NE V,
Antike noch als zuständig galt für die Erziehung der 1131a) ergibt sich, dass die gerechte Zuteilung bei der
Bürgerinnen und Bürger im Sinne der Tugenden. Verteilungsgerechtigkeit darin liegt, dass jeder propor-
Aristoteles unterscheidet die Gerechtigkeit als Cha- tional das erhält, was er verdient (geometrische Pro-
rakterhaltung im Sinne einer speziellen Tugend aus- portionalität). Die dabei einschlägige Würdigkeit des
drücklich von einer umfassenden Gerechtigkeit, die Einzelnen wird Aristoteles zufolge unterschiedlich be-
mit der gesamten Tugend gleichzusetzen sei. In letzte- stimmt: »[N]icht alle [nennen] dieselbe Art von Wür-
rem Sinne ist Gerechtigkeit (dikaiosynê) »die Aus- digkeit, sondern die Demokraten nennen den Status
übung der vollkommenen Gutheit« (NE V, 1129b): des freien Menschen, die Oligarchen den Reichtum,
»Vollkommen aber ist sie, weil der, der sie besitzt, die manche auch die adlige Abstammung, die Aristokra-
Tugenden auch in Bezug auf den anderen Menschen ten die Gutheit des Charakters« (ebd.). Bei der ausglei-
gebrauchen kann, und nicht nur für sich selbst« (ebd.). chenden Gerechtigkeit geht es um die Zuteilung nach
In diesem Sinne ist Gerechtigkeit nicht ein Teil der Tu- der arithmetischen Proportionalität: Ohne Ansehung
gend, sondern die ganze Tugend. Gerechtigkeit als in- der Person versucht der gerechte Richter das Unglei-
dividueller Haltung kommt unter den Tugenden bei che auszugleichen, indem er das Zuviel an Gewinn
Aristoteles eine prominente Rolle zu, der Gerechtig- wegnimmt. Das gerechte Handeln ist die Mitte zwi-
keit im allgemeinen Sinne erst recht: Sie gilt »häufig als schen dem Unrechttun und dem Unrechtleiden – wo-
die wichtigste der Tugenden, und weder der Abend- bei das Unrechttun schlechter ist als das Unrechtleiden
stern noch der Morgenstern ist so wunderbar« (ebd.). (vgl. NE V, 1138a). Nur wenn man absichtlich (d. h.
Die Gerechtigkeit im speziellen Sinn, die partiku- wissentlich und willentlich) ungerecht handelt, wird
lare Gerechtigkeit, gehört zu den ethischen Tugen- man als Unrechttuender zu einem Ungerechten; ge-
den und kann die Art der Zuteilung von Gütern wie recht ist ein Mensch, »wenn er mit Vorsatz gerecht
Ehre und Geld betreffen (Verteilungsgerechtigkeit, handelt« (NE V, 1136a). Das Motiv für Ungerechtigkeit
dianemetikê) oder als ausgleichende Gerechtigkeit ist Aristoteles zufolge das Handeln »des Gewinnes we-
(diorthôtikê/epanorthôtikê; s. Kap. II.12) die vertrag- gen« (NE V, 1130a): Ungerecht im Sinne der speziellen
lichen Beziehungen zwischen den Menschen regeln. Ungerechtigkeit ist eine Person aufgrund der Lust am
Die ausgleichende Gerechtigkeit hat wiederum min- Gewinn, des Mehrhabenwollens (pleonexia). Dazu be-
destens zwei Unterformen, da zu unterscheiden ist merkt Ursula Wolf kritisch: »Der Versuch, alle speziel-
zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Rechtsver- len Gerechtigkeitsfragen an einer Charaktereinstel-
kehr (und entsprechend zwischen kommutativer lung zum Affekt des Mehrhabenwollens festzuma-
und korrektiver Gerechtigkeit). Ob die reziproke Ge- chen, kann angesichts der Verschiedenartigkeit dieser
rechtigkeit (antipeponthos) als eine weitere eigen- Kontexte kaum zum Erfolg führen« (Wolf 2002, 114).
ständige Unterart zu betrachten ist, ist strittig (Wolf Bernard Williams führt aus, dass ungerechte Handlun-
2002, 94). gen auch aus Untugenden wie Angst, Eifersucht, Ra-
Die Gerechtigkeit im speziellen Sinn ist wie jede an- chegelüsten etc. resultieren können. Somit kann Unge-
dere Tugend eine Haltung (hexis). Sie ist eine Tätigkeit rechtigkeit nicht essentiell mit pleonexia verbunden
der Seele gemäß der Vernunft, aufgrund derer Men- werden, bei manchen ungerechten Handlungen ist
29 Gerechtigkeit als Tugend 185

pleonexia sogar überhaupt nicht Motiv (wie z. B. bei poniert ist, gerechte Verteilungen zu fördern, sie zu
Aristoteles’ drittem teilbarem Gut, der Sicherheit; Wil- suchen, ihnen wohlwollend gegenüberzustehen usw.,
liams 1984, 102 f.). Williams betont, dass zu den Moti- weil das das ist, was sie sind« (ebd., 101). Eine gerechte
ven für Ungerechtigkeit auch solche wie Faulheit oder Person widersetzt sich ungerechten Verteilungen und
Leichtfertigkeit gehören, während die wenigsten Un- hat die Fähigkeit, sich den Motiven zu ungerechtem
gerechten gerade deshalb etwas Ungerechtes reizvoll Verhalten zu widersetzen; dazu bedarf sie auch ande-
fänden, weil es Ungerechtigkeit aufweist. Eher muss rer Tugenden wie des Mutes und der Selbstkontrolle
der Ungerechte als derjenige betrachtet werden, der (vgl. ebd.).
keinen Gerechtigkeitssinn hat und für den Gerechtig- Eine weitere an das aristotelische Verständnis der
keitserwägungen keine Rolle spielen. Tugend der Gerechtigkeit anschließende Problematik
Es stellt sich die Frage, wie zu bestimmen ist, wem ist die des Zusammenhangs zwischen dieser Tugend
was zukommt, wenn sich die tugendhafte Haltung ei- und der individuellen Glückseligkeit. Die Tugend der
ner gerechten Person darin zeigt, dass sie sich selbst Gerechtigkeit ist eine ethische Tugend und zugleich ei-
und jedem anderen weder ein Zuviel noch ein Zuwe- ne, die im Unterschied zu Tugenden, die in erster Linie
nig zuteilt. William K. Frankena und andere kritisie- dem Tugendhaften selbst nützen (wie z. B. Fleiß oder
ren Aristoteles’ Ansatz als zirkulär, da die Tugendhaf- Disziplin), auf andere abzielt und zunächst einmal an-
tigkeit des Individuums ausschlaggebend dafür sei, deren nützt. Wer zuverlässig gerecht handelt, nützt je-
wie viel ihm zusteht, sich die Tugendhaftigkeit aber nen, die unmittelbar mit ihm zu tun haben, und gege-
u. a. gerade in der Fähigkeit des Individuums zeigt, zu benenfalls auch der Gemeinschaft, in der der Gerechte
wissen, wie viel er und andere erhalten sollten (vgl. lebt. Offen bleibt, welche positiven Effekte die Tugend
Frankena 1963). der Gerechtigkeit für den Tugendhaften selbst hat. Ge-
Nicht ganz einig ist man sich über Aristoteles’ Po- recht zu handeln kann bedeuten, selbst unter Umstän-
sition bezüglich der Frage, was letztlich der Maßstab den massive persönliche Nachteile in Kauf nehmen
für Gerechtigkeit ist. Einerseits findet sich bei ihm die und große Opfer bringen zu müssen. Auch in Hinblick
Argumentation, die Gesetze gäben vor, alle Tugenden auf die Gesellschaft ist die Einschätzung nicht eindeu-
handelnd zu realisieren, und Gerechtigkeit im all- tig: Gerechte Entscheidungen müssen nicht notwendi-
gemeinen Sinn sei die Gesamtheit aller ethischen Tu- gerweise das Gemeinwohl vermehren, sie können aus
genden, also sei »klar, dass alles, was den Gesetzen dieser Perspektive höchst umstritten sein. Dieser
entspricht, in gewisser Weise gerecht ist [...]. Denn Punkt steht in engem Zusammenhang mit der Frage
was von der Gesetzgebung festgelegt wird, ist gesetz- nach dem guten Leben (s. Kap. IV.42).
lich, und jede einzelne gesetzliche Bestimmung nen- Das antike Verständnis von Gerechtigkeit wird in
nen wir gerecht« (NE V, 1129b). Andererseits unter- Spätantike und Mittelalter um christliche Werte und
scheidet er bessere Gesetze und schlechtere Gesetze: Konzepte erweitert und erfährt eine entsprechende
»Es befiehlt das eine, verbietet das andere, das richtige Modifizierung. In den Schriften der Bibel spielt Ge-
Gesetz in der richtigen Weise, das improvisierte Ge- rechtigkeit in unterschiedlichen Hinsichten eine ge-
setz in schlechterer Weise« (ebd.). Dies impliziert ei- wichtige Rolle, so auch bei der Frage nach Vergebung
nen Maßstab der Gerechtigkeit, der unabhängig von und der damit verbundenen Verkündigung eines
gesetztem Recht ist – also eine Vorstellung von Ge- Jüngsten Gerichts, bei dem Gerechtigkeit entspre-
rechtigkeit, die in den Gesetzen mehr oder minder gut chend der Rechtfertigung der Sünder wiederher-
realisiert sein kann, weshalb die Billigkeit als Tugend gestellt wird (vgl. Mt 12,31–37). Der Begriff der Sünde
hier eine fundamentale Rolle spielt. führt zu einer Unterscheidung von Ungerechtigkeit
In Auseinandersetzung mit der aristotelischen gegenüber anderen Menschen und Ungerechtigkeit
Konzeption stellt Williams fest, dass bezüglich der wider Gott: Fortan stellt sich die zusätzliche Frage, wie
Frage, auf welche Objekte die Ausdrücke ›gerecht‹ und der Mensch ›gerecht vor Gott‹ sein kann.
›ungerecht‹ angewandt werden können, zumindest im Bei den mittelalterlichen Positionen zur Tugend
Fall der distributiven Gerechtigkeit drei Elemente un- der Gerechtigkeit lassen sich drei Hauptstränge unter-
terschieden werden können: die Person, die Methode scheiden: Neben einer neuplatonischen Konzeption
und das Ergebnis (vgl. Williams 1984, 98). Williams der Gerechtigkeit, wie sie sich z. B. bei Augustinus mit
vertritt die Ansicht, der Gedanke einer gerechten Ver- seiner Unterteilung in irdische und himmlische Ge-
teilung gehe dem einer gerechten Person voraus, da ei- rechtigkeit findet, sind Konzepte wie die von Anselm
ne gerechte Person eine solche sei, »die dafür dis- von Canterbury und Petrus Abaelard zu verzeichnen,
186 III Gerechtigkeitskonzeptionen

die noch vor der Übersetzung der Nikomachischen zustand tut, worauf man sich vertragstheoretisch ge-
Ethik und also davon unabhängig entworfen wurden, einigt hat.
sowie solche, die in Auseinandersetzung mit der aris- Gerechtigkeit als Tugend findet sich in unter-
totelischen Schrift entstanden (s. Kap. I.2). schiedlicher Weise verstanden in zwei grob unter-
Als Tugend tritt Gerechtigkeit bei Anselm von scheidbaren Theoriefamilien wieder: In den Gefühls-
Canterbury auf, der sie Christoph Horn und Nico Sca- ethiken der so genannten Moral-Sense-Ethiker do-
rano zufolge als »die um ihrer selbst willen bewahrte miniert das Verständnis von Gerechtigkeit als Hal-
Rechtheit des Willens« definiert (Horn/Scarano 2002, tung eines allgemeinen Wohlwollens bzw. einer
97). Augustinus schreibt von Gerechtigkeit als einer allgemeinen Menschenliebe; innerhalb von Konzep-
personalen Tugend und von Gerechtigkeit als einer ten der Pflichtethik besteht Tugend darin, dasjenige
Eigenschaft Gottes, wobei die menschliche Tugend Richtige tun zu wollen, das als Pflicht erkannt wird.
immer nur unvollkommen und vorläufig sein kann. Francis Hutcheson entwirft eine Ethik, die auf
Thomas von Aquin stellt in seiner Summa Theologiae Wohlwollen und Liebe basiert, wobei der Mensch sei-
explizit die Frage, ob Gerechtigkeit eine Tugend sei, ner Ansicht nach diese Anlagen zur Moral von Natur
und beantwortet sie mit Rückgriff auf Aristoteles beja- aus besitzt. Die individuelle Tugend der Gerechtigkeit
hend: Tugend sei das, was Handlungen und was Men- besteht darin, durch universelles Wohlwollen moti-
schen gut mache – und »das kommt der Gerechtigkeit viert zu sein. Gerechtigkeit ist gleichbedeutend mit der
zu« (Summa Theologiae, Questio 58, Artikel 3, zit. Beachtung einer strikten Gleichheit, wobei sie als eine
nach Horn/Scarano 2002). Eigenschaft eines vernünftigen Wesens zu betrachten
In seinen Ausführungen zur Tugend der Gerechtig- ist, das den Blick auf das Wohl der gesamten Mensch-
keit nimmt Baruch de Spinoza als Vertragstheoretiker heit richtet. Wenn das Wohl der gesamten Menschheit
eine Zwischenposition zwischen christlicher Tugend- dabei nicht berücksichtigt würde, würden wir seiner
lehre, neuzeitlicher Moralphilosophie und politischer Ansicht nach nicht von Gerechtigkeit als einer Tugend
Philosophie in liberaler Tradition ein. Er bestimmt sprechen. Gerechtigkeit zählt zu den Kardinaltugen-
Gerechtigkeit als den beharrlichen Willen, jedem das den, »weil [diese] als Dispositionen zur Förderung des
Seine zu geben; das, was jedem zukommt, entspricht Gemeinwohls allgemein notwendig sind und Affekte
dem, was ihm »nach dem bürgerlichen Recht zu- gegenüber vernünftigen Wesen bezeichnen« (Hutche-
kommt« (Spinoza 1670/1870, 355). Im Zuge seiner son 1725/1986, 33). Alle Tugend entspringt aus un-
Auseinandersetzung mit der Bibel und dem christli- eigennützigen Affekten, es gibt »eine gewisse Veranla-
chen Glauben argumentiert er, die durch Christus ge- gung unserer Natur, das Wohl anderer zu erstreben«
botene Gerechtigkeit und Liebe könne nur durch den (ebd., 55), doch »die höchste Vollendung der Tugend
Staat durchgesetzt werden und solle durch Recht und ist ein universales ruhiges Wohlwollen für alle emp-
Gesetz Kraft erlangen – wobei »[j]edem seine Mei- findsamen Wesen« (ebd., 73) – womit Gerechtigkeit zu
nung frei zu lassen« sei (ebd., 412). den höchsten Tugenden zu zählen wäre.
Mit Beginn der Neuzeit treten tugendethische Auch David Hume zufolge ist Gerechtigkeit eine
Konzeptionen in den Hintergrund, während vorwie- notwendige Bedingung für ein gutes Zusammenleben:
gend konsequentialistische und deontologische Mo- Angesichts der Bedingungen, unter denen die Men-
raltheorien und kontraktualistische sowie vernunft- schen leben, müssen sie sich zu einer Gemeinschaft zu-
rechtliche Moralbegründungen diskutiert werden sammentun, der einzelne Mensch ist schwach und be-
(s. Kap. I.3). In seinem Leviathan nennt Thomas dürftig. Nur durch die Gesellschaft wird seine Schwä-
Hobbes die Gerechtigkeit im vorstaatlichen Zustand che ausgeglichen, und durch die »Vermehrung von
eine Tugend: Ihm zufolge sind sich alle Menschen ei- Kraft, Geschicklichkeit und Sicherheit wird die Gesell-
nig darüber, dass Frieden ein Gut ist und damit auch schaft nützlich« (Hume 1739/2007, 49). Wenn alle be-
alle moralischen Tugenden gut sind, die dazu beitra- nötigten Güter unbegrenzt zur Verfügung stünden, gä-
gen – unter anderem eben die Gerechtigkeit (vgl. be es weder Eigentum noch Gerechtigkeit. Die Einfüh-
z. B. Hobbes 1651/1996, Kap. XV). Auf diese Weise rung der künstlichen Tugend der Gerechtigkeit ist
verstanden, lassen sich die Gerechtigkeit als Tugend dementsprechend durch das Selbstinteresse der Men-
und eine kontraktualistische Konzeption miteinan- schen motiviert, wobei die Gerechtigkeit dem Einzel-
der verbinden, wobei die Tugend der Gerechtigkeit nen, aber immer auch den Anderen und dem Gemein-
nicht inhaltlich bestimmt ist, sondern Bedingung der wohl dient: »So ist Eigennutz das ursprüngliche Motiv
Möglichkeit dafür ist, dass man im Gesellschafts- zur Festsetzung der Rechtsordnung, aber Sympathie
29 Gerechtigkeit als Tugend 187

für das Allgemeinwohl ist die Quelle der moralischen den wird, die prinzipielle Zustimmung der Bürgerin-
Anerkennung, die dieser Tugend gezollt wird« (ebd., nen und Bürger zu den gesellschaftlichen Institutio-
66). Sympathie mit dem Gemeinwohl ist Grundlage nen gewährleisten. Die Tugend der Gerechtigkeit
der Tugend der Gerechtigkeit, wobei Hume diese Tu- taucht darüber hinaus inhaltlich in dem auf, was
gend als eine nicht-natürliche Tugend bezeichnet, da- Rawls als ›Gerechtigkeitssinn‹ bezeichnet. Er geht da-
bei allerdings ausdrücklich betont, dass er ›natürlich‹ von aus, dass die Mitglieder einer Gesellschaft eine in-
hier lediglich in Abgrenzung zu ›künstlich‹ verstanden tuitive Vorstellung von gerechten Zuständen und Ver-
wissen möchte: So wie kein Prinzip des menschlichen fahren haben und zugleich ein intensives, durchaus
Geistes natürlicher sei als sein Sinn für Tugend, so sei mit einer Gefühlskomponente versehenes Bedürfnis,
keine Tugend natürlicher als diejenige der Gerechtig- nach Grundsätzen der Gerechtigkeit zu handeln. Die-
keit (ebd., 47). Sie ist insofern künstlich, als ihre Exis- se ›Grundtendenz zum Gerecht-sein-Wollen‹ könnte
tenz von zwischenmenschlichen Vereinbarungen ab- man als inhaltlichen Kern einer Gerechtigkeit als Tu-
hängt, die aufgrund ihrer Nützlichkeit getroffen wer- gend, verstanden als bürgerliche Tugend, interpretie-
den. Die Tugend der Gerechtigkeit kann nicht voll- ren. »[Als] Haupttugenden für das menschliche Han-
ständig in Begriffen natürlicher Motive gefasst werden, deln dulden Wahrheit und Gerechtigkeit keine Kom-
da in größeren Gemeinschaften unter den Bedingun- promisse« (ebd., 20).
gen von Anonymität und Komplexität unsere natürli- Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit ist in den Kontext
chen Motive nicht ausreichen: »[D]as Gefühl für Recht des politischen Liberalismus einzuordnen: Mit seiner
und Rechtswidrigkeit [ist] [...] künstlich, wenn auch Theorie der Grundgüter stellt er ein Konzept vor, an-
notwendigerweise, durch die Erziehung und mensch- hand dessen gesichert werden soll, dass die basalen In-
liche Übereinkunft erzeugt« (ebd., 46). stitutionen einer Gesellschaft es jedem Individuum
Nach Immanuel Kant ist die Tugend generell als gleichermaßen ermöglichen, seinem eigenen Entwurf
moralische Stärke des Willens eines Menschen in Be- eines guten Lebens nachzugehen. Dabei meint der po-
folgung seiner Pflicht zu definieren (vgl. Kant 1797, litische Liberalismus, wie u. a. Wolfgang Kersting aus-
XIV) und erhält damit ihren sekundären Status. In sei- führt, aus verschiedenen Gründen auf die Tugenden
ner Tugendlehre konzipiert Kant ein Verständnis von im Allgemeinen sowie auf die Tugend der Gerechtig-
Tugend, dem zufolge derjenige als tugendhaft gilt, der keit im Besonderen systematisch verzichten zu kön-
moralische Normen um ihrer Richtigkeit willen be- nen (Kersting 1997, 436 f.): Liberalen Konzeptionen
folgt und einen entsprechenden Charakter ausbildet. zufolge sollten Überlegungen zum guten Leben in ei-
Der Gerechtigkeitsbegriff selbst spielt in Kants Moral- nem gerechten Staat nur insofern eine Rolle spielen,
philosophie keine herausragende Rolle – und doch fin- als jeder den Raum gewährt bekommen soll, den er
den sich in Anlehnung an Kants Moral- und Rechts- braucht, um seine eigene Vorstellung eines guten Le-
philosophie Konzepte von Gerechtigkeit als Tugend, bens zu bestimmen und zu verwirklichen. Es besteht
die ausdrücklich als kantisch bezeichnet werden. u. a. die Sorge, der Staat mische sich in die private
So bestimmt John Rawls in Anlehnung an Kant die Sphäre seiner Bürger ein. Um die (Gerechtigkeits-)
individuelle Tugend der Gerechtigkeit als das Akzep- Prinzipien einer liberalen Gesellschaft zu bestimmen,
tieren und Befolgen von tugendunabhängigen mora- aber auch, um die Einsicht in ihren Zweck und damit
lischen und politischen Prinzipien. Gerechtigkeit als in ihre Verbindlichkeit zu gewährleisten, sind auf-
Tugend lässt sich bei ihm in zweierlei Hinsicht aus- geklärtes Eigeninteresse und hinreichende Rationali-
machen: Zum einen bezeichnet er die Gerechtigkeit tät der Individuen erforderlich, nicht aber Tugenden.
als »die erste Tugend sozialer Institutionen« (Rawls Um den Fortbestand liberaler Gesellschaften zu si-
1975, 19). Eine funktionierende Gesellschaft braucht chern, genügt prinzipiell die Einsicht in die Vernunft-
als Basis von allen akzeptierte Gerechtigkeitsgrund- mäßigkeit ihrer Prinzipien und Strukturen: »Der dog-
sätze und daran orientierte Institutionen. Die Bür- matische Liberalismus glaubt an die konstruktive
gerinnen und Bürger können sich somit darauf verlas- Kraft des reflektierten Interesses, an die produktive
sen, dass Verteilungsprobleme transparent und fair List des sich selbst bindenden Egoismus; er ist davon
gelöst werden. In der von ihm entwickelten vertrags- überzeugt, dass er keiner Tugend bedarf« (ebd., 448).
theoretischen Konzeption soll der Umstand, dass hin- In kritischer Auseinandersetzung mit der liberalen
ter einem so genannten ›Schleier des Nichtwissens‹ Tradition und Rawls entwickelt sich als Gegenpositi-
über die gerechten Verteilungsprinzipien der zu ei- on zum politischen Liberalismus der Kommunitaris-
nem guten Leben notwendigen Grundgüter entschie- mus (s. Kap. III.36), vertreten u. a. durch Alasdair Ma-
188 III Gerechtigkeitskonzeptionen

cIntyre, Michael Walzer und Charles Taylor. Diese Pauer-Studer 2002) und eine Rückbesinnung auf jene
Denker schreiben gemeinsamen, im kollektiven Den- bürgerlichen Tugenden empfehlen, ohne die auch eine
ken und Handeln verankerten Vorstellungen von Ge- liberale Gesellschaft nicht bestehen kann (u. a. Gals-
rechtigkeit und einem guten Leben eine konstitutive ton 1991; Macedo 1990; Forst 2000). Zu diesen bür-
Rolle für eine gut funktionierende Gesellschaft zu: gerlichen Tugenden gehört dann in zentraler Weise
Kommunitaristen zufolge lässt sich über einen ge- die Tugend der Gerechtigkeit, die insbesondere bei
rechten Staat und eine gerechte Gemeinschaft erst O’Neill ausführlich thematisiert wird. Während viele
dann nachdenken, wenn zuvor Einigkeit darüber neuere Arbeiten die Relevanz der Tugenden in der
herrscht, was unter Gerechtigkeit und einem guten Moralphilosophie und politischen Philosophie Kants
Leben zu verstehen ist. Denn erst auf Grundlage einer aufzeigen, ohne speziell auf die Tugend der Gerechtig-
gemeinsamen Vorstellung und Diskussion von Wer- keit einzugehen (u. a. Sherman 1997; Grenberg 2005;
ten, Tugenden und dem guten Leben lasse sich ent- Betzler 2007; Sensen 2011), möchte O’Neill darlegen,
scheiden, wie welches Gut zu realisieren bzw. zu ver- wie sich das Interesse an einem universalistischen Ge-
teilen sei. So schreibt MacIntyre zur Tugend von Ge- rechtigkeitsprinzip konzeptionell stimmig mit der in-
sellschaften: »Vorstellungen von Gerechtigkeit und tensiven Hinwendung zu der einschlägigen Tugend
die Treue gegenüber solchen Vorstellungen konstitu- der Gerechtigkeit verbinden lässt (O’Neill 1996; vgl.
ieren zum Teil das Leben von sozialen Gruppen, und auch Van Hooft 2006).
wirtschaftliche Interessen werden oft zum Teil mit In kritischer Auseinandersetzung mit der neuzeitli-
Hilfe solcher Vorstellungen definiert und nicht umge- chen Moralphilosophie und deren Vernachlässigung
kehrt« (MacIntyre 1997, 336). Tugenden insgesamt der Tugenden hat die vornehmlich neoaristotelische
und damit auch die Gerechtigkeit als Tugend sind für moderne Tugendethik mit Arbeiten von Elizabeth
ihn unverzichtbar, um jene inhärenten Güter zu erlan- Anscombe, Philippa Foot und Martha C. Nussbaum
gen, um derentwillen wir die Teilhabe an einer Praxis einen erneuten Aufschwung erlebt, in dessen Kontext
anstreben (sollten). So brauchen wir als Vorgesetzter sich auch inhaltlich gehaltvolle Ausführungen zur Tu-
oder als Lehrperson Gerechtigkeit als Tugend, weil gend der Gerechtigkeit finden. Den Auftakt zum
wir ohne sie nicht in der Lage wären, wirklich gute neoaristotelischen Revival in den 1960er Jahren des
Vorgesetzte oder Lehrer zu sein. 20. Jahrhunderts macht Anscombe mit ihrem Aufsatz
Michael Sandel hat in neuerer Zeit die Notwendig- »Modern Moral Philosophy« (1958). Dort stellt sie die
keit des Nachdenkens über Tugend für die Einrich- These auf, dass wir – um zu verstehen, inwiefern ein
tung einer gerechten Gesellschaft wieder in den Fokus ungerechter Mensch ein schlechter Mensch ist – eine
gestellt: Seiner Ansicht nach gehört es zur Gerechtig- positive Darstellung der Gerechtigkeit als Tugend
keit, Tugend zu kultivieren und über das Gemeinwohl brauchen, die wiederum die Rückkehr zur Tugend-
nachzudenken (vgl. Sandel 2013). ethik (bzw. zur Tugendlehre im Sinne Halbigs) als Teil
In Auseinandersetzung mit der kommunitaristi- einer Handlungstheorie moralischen Handelns erfor-
schen Kritik hat auch der politische Liberalismus zu dern würde. Anscombe zufolge ist diejenige Person
einem Interesse an den Tugenden gefunden, speziell gerecht, die sich habituell weigert, ungerecht zu han-
an der Tugend der Gerechtigkeit als einer zentralen deln (Anscombe 1958, 16).
Bürgertugend. Foot bezeichnet die Gerechtigkeit (wie auch andere
Tugenden) als Korrektive, die wir brauchen, weil die
»Insofern sich der Liberalismus wie jede normative Menschen von Natur aus eine Tendenz haben, die be-
Theorie um Verwirklichung bemüht, muss er sich auch rechtigten Ansprüche anderer auszublenden und zu
in der Sprache der Tugenden und Werte artikulieren übergehen (Foot 1978, 116 f.). Nur durch die wissent-
und von seinen Bürgern eine gemeinsame aktive Un- lich und willentlich erworbene Haltung des Gerecht-
terstützung der liberalen Kultur und einen von libera- sein-Wollens könne diese natürliche Tendenz aus-
len Werten geleiteten Gemeinsinn verlangen« (Kers- geglichen werden.
ting 1997, 456). Eine derzeit viel diskutierte Konzeption des guten
Lebens und der Gerechtigkeit ist Nussbaums Fähig-
Vor diesem Hintergrund sind jene Publikationen zu keiten-Ansatz, der sich unter Rekurs auf eine aristote-
sehen, die Rawls und Kant auf neue Weise interpretie- lische Tugendethik an der Schnittstelle zwischen Mo-
ren und eine Verbindung in ihren Werken zwischen ralphilosophie und Politischer Philosophie, zwischen
Perfektionismus und Liberalismus aufzeigen (u. a. Tugendethik und Liberalismus bewegt (vgl. u. a. Nuss-
29 Gerechtigkeit als Tugend 189

baum 1993; 1999). Zentral für ihre Ausführungen ist gen, welchen systematischen Ort die Tugend der Ge-
dabei die Grundannahme, dass eine adäquate Theorie rechtigkeit jeweils hat und warum es systematisch und
der Gerechtigkeit eine umfassende Theorie des guten inhaltlich geboten wäre, sich ausführlich mit ihr zu
Lebens als Fundament benötigt. Ihre Liste der für ein beschäftigen. Diese Überlegungen sind in ihren in-
gutes Leben unabdingbaren menschlichen Fähigkei- haltlichen Ausführungen eher knapp (Van Hooft
ten versteht sich explizit als tugendethisch inspirierte 2006; Banks/Gallagher 2009; Swanton 2015). Eine
Theorie der Gerechtigkeit. Ebenso wie Annette C. Bai- umfassende systematische Analyse dieser Tugend
er (1995) sieht auch sie den Begriff der Tugend als eine steht sowohl in der politischen Theorie als auch in der
Möglichkeit, einen Brückenschlag herzustellen zwi- Moraltheorie der Gegenwart noch aus.
schen einem abstrakten und allgemeinen Gerechtig- Wer über Gerechtigkeit nachdenkt, wird nicht um-
keitsprinzip einerseits und einer emotionalen indivi- hinkommen, auch die Gerechtigkeit als Tugend in den
duellen Haltung jenen Wesen gegenüber, die der Ge- Blick zu nehmen. Sowohl in Hinblick auf die Begrün-
rechtigkeit bedürfen, andererseits, im Sinne einer Ein- dung von Gerechtigkeitsprinzipien in unterschied-
stellung der Fürsorge, wie sie Carol Gilligan beschreibt lichen Kontexten als auch in Bezug auf Fragen der Im-
(1982). plementierung von Gerechtigkeitsnormen wird diese
Die zeitgenössische Diskussion um die Tugenden Perspektive nahezu unverzichtbar sein. Dabei sind
weist heute eine große inhaltliche und konzeptionelle viele Fragen offen – nach dem Wesen der Tugend,
Bandbreite im Spannungsfeld zwischen einer nicht nach ihrer Beziehung zum guten Leben und natürlich
länger neoaristotelisch dominierten Tugendethik, ei- auch, warum man eigentlich danach streben sollte, ex-
ner Tugendlehre und einer Ethik der Tugenden auf zellent in Hinblick auf gerechte Entscheidungen und
(vgl. Halbig 2013). Aber auch im Bereich der Tugend- Handlungen zu sein, und worin sich ein diesbezüg-
lehre sowie innerhalb der vielschichtigen Ethik der liches Gelingen konkret zeigt. Aus der Perspektive der
Tugenden steht die Tugend der Gerechtigkeit bisher Gerechtigkeit als Tugend ergeben sich Aspekte, ohne
bis auf die oben genannten Ausnahmen nicht im Fo- die eine Konzeption der Gerechtigkeit unvollständig
kus (vgl. u. a. Russell 2013; Swanton 2003; 2015; Batta- bleiben muss.
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190 III Gerechtigkeitskonzeptionen

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30 Kontraktualistische Gerechtigkeit 191

30 Kontraktualistische traktualistischen Positionen verwendet, die die Prinzi-


Gerechtigkeit pien der Moral auf einen – wie auch immer motivier-
ten – Akt der Zustimmung zurückführen. In einem en-
geren (die Positionen von Rawls und Scanlon umfas-
Die Kernidee des Kontraktualismus besteht in der An- senden) Sinn des Wortes zählt der Kontraktualismus
nahme, dass die Forderungen der Gerechtigkeit ein – wie sein Kontrahent, der Utilitarismus (s. Kap.
Resultat der Selbstbestimmung von Personen sind III.34), aber im Gegensatz zum Kontraktarianismus –
und somit als Ausdruck unserer Natur als freie und zu den unparteilichen Theorien; wie eine gleiche Be-
gleiche Vernunftwesen verstanden werden können. rücksichtigung der Interessen aller Personen dann ge-
Verschiedene Spielarten des Kontraktualismus beant- nauer verstanden werden soll, bleibt zwischen den
worten unterschiedliche Fragen: Während der legiti- Kontrahenten allerdings umstritten. So macht Rawls
mationstheoretische oder politische Kontraktualis- (1975, 217) auf die für den Utilitarismus typische und
mus die Autorität des Staates und die damit einher- folgenschwere Deutung der Idee der Unparteilichkeit
gehende Gehorsamsverpflichtung auf ein Verspre- als Forderung nach Unpersönlichkeit aufmerksam:
chen oder eine Zustimmung des Bürgers gründet, »Der Fehler des Utilitarismus ist die Verwechslung von
nimmt der gerechtigkeitstheoretische oder mora- Unparteilichkeit [impartiality] mit Nicht-Person-Sein
lische Kontraktualismus eine unparteiliche Rechtfer- [impersonality].«
tigung von Moralprinzipien durch eine (hypotheti-
sche) Einwilligung von freien und gleichen Personen
vor. Mit ›Gerechtigkeit‹ wird dabei meist der Teil- Zur Geschichte der Idee
bereich der Moral bezeichnet, der es mit den Rechten des Kontraktualismus
und Pflichten von Personen (und dann auch der Ge-
stalt sozialer Institutionen) zu tun hat und in erster Li- Während man Elemente einer auf das rationale Inte-
nie dem Schutz besonders wichtiger Interessen dienen resse von Individuen zurückzuführenden Gerechtig-
soll. Zur Rechtfertigung ihrer Forderungen ist der keit bereits bei den griechischen Sophisten und bei
Kontraktualismus daher besonders geeignet; für an- Epikur antrifft (vgl. etwa Stemmer 2000, 84; 2013, 2),
dere moralische Verpflichtungen (etwa zur Dankbar- sehen sich fast alle Kontraktualisten heute in der von
keit) wird man daneben andere Grundlagen anneh- Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant begrün-
men können oder sogar müssen. deten Tradition der Idee eines Gesellschaftsvertrags
In der jüngeren Debatte wird das Wort ›Kontrak- zwischen freien und gleichen Personen. Bei Rousseau
tualismus‹ unterschiedlich verwendet: Im deutschen ist die Frage nach den Grundlagen der Gerechtigkeit
Sprachraum (Stemmer 2000, 84; 2013, 1–19 und 166– allerdings noch eng mit der Frage nach der Legitimität
189; Leist 2003) wird darunter die Begründung der von staatlicher Herrschaft verknüpft. Seiner Auffas-
Moral im rationalen Eigeninteresse von Individuen sung zufolge kann der Mensch nur als Bürger einer
verstanden; für diesen Ansatz hat sich inzwischen auch staatlichen Gemeinschaft moralisch handeln. Trotz
der Titel ›Kontraktarianismus‹ (contractarianism) ein- seiner Identifizierung des positiven Rechts (eines ge-
gebürgert (vgl. Darwall 2003). Im angelsächsischen rechten Staates) mit den Forderungen der Gerechtig-
Sprachraum versteht man unter ›Kontraktualismus‹ keit wird in Rousseaus Theorie des Gesellschaftsver-
heute dagegen eine Theorie, die moralische Prinzipien trags auch die Grundidee des moralischen Kontrak-
auf einen Akt der (hypothetischen) Einwilligung zu- tualismus sichtbar (vgl. Rawls 2012, 337–363): Inso-
rückführt – wobei dieser Akt seinerseits ein Ideal der weit wir uns selbst als freie und gleiche Personen
vernünftigen Reziprozität und der gegenseitigen An- verstehen, können wir nur die Forderungen als mora-
erkennung von Personen zum Ausdruck bringt und lisch bzw. gerecht gelten lassen, die uns der Gemein-
nicht nur durch das rationale Interesse des Individu- wille – und darunter versteht Rousseau den vernünfti-
ums motiviert ist. In einem sehr engen Sinn (vgl. gen Willen aller Mitglieder einer Gemeinschaft – vor-
Ashford/Mulgan 2013) dient ›Kontraktualismus‹ zur schreibt. Frei und gleich sind wir mit anderen Worten
Bezeichnung der speziellen Position, die Thomas nur dann, wenn wir die Forderungen sowohl des Staa-
Scanlon in seinem Buch What We Owe to Each Other tes als auch der Gerechtigkeit als Ausfluss unseres ei-
(1998) entwickelt hat. In einem sehr weiten Sinn (vgl. genen Willens verstehen können. Wenn wir also ge-
Southwood 2010) wird das Wort auch als Oberbegriff rechte Gesetze befolgen, gehorchen wir doch nur uns
zur Bezeichnung von kontraktarianistischen und kon- selbst und bleiben so frei und gleich wie zuvor.
192 III Gerechtigkeitskonzeptionen

Obwohl er sehr viel klarer zwischen der Legitimität zeichnet die Positionen Rawls’ und Scanlons daher
des Staates und der Rechtfertigung der Moral trennt, auch als ›Kantischen Kontraktualismus‹ und unter-
greift Kant genau diese Idee der Autonomie auf und scheidet sie von einem (kontraktarianistischen) ›Hob-
verwendet sie zur Rechtfertigung moralischer Nor- besschen Kontraktualismus‹ (ebd., 25).
men. (Seine Rechts- und Staatsphilosophie steht dabei
wieder auf einem anderen Blatt.) Als freie und gleiche
Personen können wir uns seiner Auffassung zufolge John Rawls über die Gerechtigkeit
nur dann verstehen, wenn die Forderungen der Moral als Fairness
das Ergebnis eines vernünftigen Verfahrens – der Pro-
zedur des Kategorischen Imperativs – sind. Über die Die wichtigsten Impulse gingen von John Rawls’ Theo-
Interpretation dieses Verfahrens gibt es bis heute hef- rie der Gerechtigkeit aus. Die Idee einer allgemeinen
tige Kontroversen (vgl. z. B. Parfit 2011, Bd. I, 177– Zustimmung dient dort zur Begründung zweier Prin-
300). Als unstrittig darf indessen die Annahme gelten, zipien der Gerechtigkeit, die die Freiheiten von Per-
dass Kant die Forderungen der Moral nicht als von sonen sowie eine egalitäre Verteilung von Chancen
Gott oder der Natur vorgegebene Normen versteht, und materiellen Gütern zum Gegenstand haben.
sondern sie in den Fähigkeiten zur vernünftigen Rawls’ Hauptmotiv ist die Ausarbeitung einer Alter-
Selbstgesetzgebung und zur fairen Kooperation freier native zum im angelsächsischen Sprachraum lange
und gleicher Personen verankert (vgl. Rawls 1975, Zeit dominierenden Paradigma des Utilitarismus, der
283–290). die Gerechtigkeit als Mittel zum Zweck der Vermeh-
Weder Thomas Hobbes noch John Locke kommt in rung des Gesamtnutzens versteht. Rawls weiß, was er
der jüngeren systematischen Debatte eine größere Be- der Tradition der politischen Philosophie der Moder-
deutung zu (zu ihrer Interpretation vgl. Rawls 2012, ne schuldet: Er habe versucht, »die herkömmliche
53–162 und 163–240). Zum einen liegt das daran, dass Theorie des Gesellschaftsvertrags von Locke, Rous-
sie sich des Gesellschaftsvertrags in erster Linie zur seau und Kant zu verallgemeinern und auf eine höhe-
Begründung der Legitimität des Staates und der Ge- re Abstraktionsstufe zu stellen« (1975, 12). Während
horsamsverpflichtung seiner Bürger bedienen; und die herkömmliche Theorie einer Begründung der Le-
während Hobbes die Geltung der Gerechtigkeit dann gitimität des Staates galt, so wird die Idee des Vertrags
zwar von den Sanktionen des allmächtigen Leviathans von Rawls für die Konstruktion einer Konzeption der
abhängig macht, geht Locke davon aus, dass den mo- Gerechtigkeit in den Dienst genommen.
ralischen Forderungen bereits im Naturzustand Folge Worin besteht das Problem, und wie lässt sich sein
zu leisten sei. Zum anderen wird man dies darauf zu- Lösungsvorschlag beschreiben? Moderne Gesell-
rückführen können, dass beide Autoren lediglich das schaften lassen sich als kooperative Unternehmungen
am eigenen Vorteil orientierte Individuum zum Dreh- freier und gleicher Personen verstehen, die sehr unter-
und Angelpunkt ihrer Argumentation machen. schiedliche Vorstellungen über die Inhalte eines gu-
ten, gelingenden Lebens verfolgen. In diesen Gesell-
schaften entstehen deshalb auch Konflikte über die
Die aktuelle Debatte Art und Weise der Verteilung der Vorteile und Lasten
der sozialen Kooperation. Rawls stellt sich nun die
In der aktuellen Debatte zum Kontraktualismus sind Aufgabe, eine Konzeption der Gerechtigkeit für die
vor allem Rousseau und Kant nach wie vor präsent: wichtigsten sozialen Institutionen – die Grundstruk-
Rawls weist darauf hin, dass »Rousseaus Ideen nach tur (1975, 23; 2006, 92) – einer pluralistischen Ge-
meiner Überzeugung tief und konsequent sind« sellschaft zu bestimmen und zu begründen. Die mo-
(2012, 286), und nimmt außerdem eine »Kantische ralischen Pflichten von Einzelmenschen (1975, 368–
Deutung« (1975, 283–290) seiner Theorie vor. Auch 414), die Beziehungen zwischen verschiedenen Ge-
Scanlon (1998, 5 f.) betont Ähnlichkeiten seiner Posi- sellschaften (ebd., 415–420) und verschiedenen Ge-
tion sowohl mit Rousseaus Lehre vom Gesellschafts- nerationen (ebd., 319–327) spielen in der Theorie der
vertrag als auch mit Kants Kategorischem Imperativ, Gerechtigkeit noch eine untergeordnete Rolle.
weist aber auch auf einige Unterschiede (ebd., 189 f.; Der Kern seines Vorschlags ist der Urzustand (1975,
2011) hin. Die Forderungen der Gerechtigkeit bringen 140–220; 2006, 132–210), der das Ideal der Autonomie
diesem Ansatz zufolge ein Ideal der gegenseitigen des Bürgers einer Demokratie repräsentieren und eine
Achtung zum Ausdruck. Southwood (2010, 51) be- gemeinsame Entscheidung der Betroffenen über eine
30 Kontraktualistische Gerechtigkeit 193

faire Verteilung von Gütern ermöglichen soll. Diese dieser Interessen besonderer Individuen. Sie sollen
Konstruktion ist ein Gedankenexperiment, dessen vielmehr allen Bürgern gleichermaßen nützen und ih-
Plausibilität sich aus Intuitionen herleiten lässt, die die nen die Möglichkeit bieten, sich darin als freie und
Praxis unseres moralischen Urteilens ohnehin immer gleiche Personen wiederzuerkennen. Rawls versucht
anleiten: Die Gerechtigkeit sozialer Institutionen soll also weder, die Gerechtigkeit aus einem moralfreien
einzelne Personen nicht aufgrund irrelevanter Charak- Eigeninteresse der Individuen hervorzuzaubern, noch
teristika benachteiligen. Rawls fordert uns mit diesem sich auf eine anspruchsvolle, umstrittene Interpretati-
Experiment dazu auf, uns hinter den so genannten on der Vernunft zu stützen, um daraus eine apriori-
›Schleier des Nichtwissens‹ (1975, 159–166) zu be- sche Konzeption der Gerechtigkeit zu entwickeln.
geben: Stellen wir uns also vor, wir wüssten nicht, mit Rawls (1975, 290) sagt vielmehr, er wolle die kantische
welchen besonderen Talenten und Eigenschaften wir Vorstellung von Moral »im Rahmen einer empiri-
ausgestattet sind, und stellen wir uns weiterhin vor, wir schen Theorie« neu formulieren.
wüssten nicht, welche Ziele wir im Leben verfolgten Im Anschluss an seine Theorie der Gerechtigkeit hat
bzw. welche Werte wir für unsere Identität als maßgeb- Rawls zahlreiche Änderungen und Erweiterungen
lich ansähen. Von diesem unparteilichen Standpunkt vorgenommen: Er bezeichnet seine Rechtfertigungs-
aus könnten wir sehr gut beurteilen, welche Gestalt ei- theorie jetzt als ›politischen Konstruktivismus‹ (2003,
ne gerechte Gesellschaft annehmen sollte. Denn wüss- 169–216) und schränkt die Reichweite seiner Konzep-
ten wir nur, dass wir moralische Personen sind, die tion auf die politische Gerechtigkeit westlicher Demo-
»über die beiden Vermögen moralischer Personalität kratien ein (ebd., 169). Die liberale Konzeption der
verfügen: die Anlage zu einem Gerechtigkeitssinn und Gerechtigkeit ist nur noch ein vernünftiger Vorschlag
die Befähigung zu einer Konzeption des Guten« (Rawls neben anderen Möglichkeiten; und insbesondere für
2003, 104), wären wir in einer solchen Situation darum die internationale und die intergenerationelle Gerech-
bemüht, allen Personen möglichst gleiche Freiheits- tigkeit bedürfe es spezieller Antworten. Dennoch, und
rechte, gleiche Chancen und eine grundlegende mate- das wird oft übersehen, hält Rawls an seiner ursprüng-
rielle Sicherheit zu gewährleisten. Sicher würden wir lichen Idee fest: Richtig verstanden und interpretiert
nicht das Risiko eingehen wollen, etwa zum Zwecke ei- kann die Methode des Urzustands nach wie vor als
ner Vermehrung eines möglichst großen gesamtgesell- Mittel zur Begründung von Gerechtigkeitsgrundsät-
schaftlichen Nutzens unzumutbar hohe Opfer zu brin- zen für die Grundstruktur einer Gesellschaft angese-
gen. Wir würden von sozialen Institutionen vielmehr hen werden (vgl. Rawls 2006, 38–44). Entsprechend
fordern wollen, dass sie uns eine Wertschätzung unse- modifiziert mag sie auch wertvolle Dienste für die
rer beiden grundlegenden Vermögen als moralische Rechtfertigung von Prinzipien der internationalen
Personen entgegenbringen. und intergenerationellen Gerechtigkeit leisten.
Zum Verständnis seines Arguments ist folgender
Punkt wichtig: Rawls gründet die Gerechtigkeit sozia-
ler Institutionen nicht im Eigeninteresse real existie- Thomas Scanlon über das Ideal
render Individuen. Der Schleier des Nichtwissens soll der Begründbarkeit von Moral
gerade dazu dienen, den Vertragsparteien das Wissen
ihrer Identität und ihrer Interessen teilweise zu entzie- Während John Rawls als der Neubegründer der Ver-
hen. Er leitet die Prinzipien der Gerechtigkeit aber tragstheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-
auch nicht wie Kant von einer formalen, empiriefreien derts gilt, wird man Thomas Scanlon als wichtigsten
Idee der Vernunft oder wie Habermas von einem von Kontraktualisten in der Gegenwart bezeichnen kön-
allen strategischen Interessen befreiten Ideal der herr- nen: Die Grundidee seiner Position hat er bereits in
schaftsfreien Kommunikation ab. Die Parteien im Ur- seinem frühen Aufsatz »Contractualism and Utilita-
zustand haben sicherlich ein großes Interesse an den rianism« vorgelegt; allerdings hängt die Rechtferti-
so genannten ›Grund- oder Primärgütern‹ (Rawls gung moralischer Normen dort noch von einem (em-
1975, 111–115) als Voraussetzung zur Verfolgung ei- pirischen) Wunsch (desire) ab, seine Handlungen ge-
nes breiten Spektrums verschiedener Konzeptionen genüber anderen Personen zu rechtfertigen (Scanlon
eines guten Lebens; und es ist auch legitim, sich von 1982, 111 und 117). In What We Owe to Each Other
gerechten Institutionen einen Schutz bei der Verfol- geht Scanlon zusätzlich davon aus, »dass Personen gu-
gung dieser Interessen zu erwarten. Dennoch stehen te Gründe dafür haben, sich zu wünschen, auf eine Art
diese Institutionen nicht im Dienste der Verfolgung und Weise zu handeln, die sie anderen Personen ge-
194 III Gerechtigkeitskonzeptionen

genüber rechtfertigen könnten« (1998, 154; eigene scheint sich von derjenigen etwa von Prinzipien der
Übers.). Dreh- und Angelpunkt seiner kontraktualis- Logik stark zu unterscheiden« (ebd. 151).
tischen Position ist neben der Idee der Rechtfertigung Bereits bei Rawls spielt die Idee der Vernünftigkeit
nun vielmehr eine bestimmte Auslegung der Idee der (vgl. v. a. Rawls 2006, 27) eine wichtige Rolle, doch
›Vernünftigkeit‹ (reasonableness). Auf den Punkt ge- hinter dem Schleier des Nichtwissens entscheiden die
bracht lautet die Kernidee: Eine Handlung ist dann Parteien nur nach rationalen Gesichtspunkten. Bei
unrecht, wenn ihre Ausführung nicht von einer Klasse Scanlon kommt der (hypothetischen) Zustimmung
von Prinzipien zur Verhaltensregulierung erlaubt der Parteien dagegen gar keine entscheidende Rolle
werden würde, die niemand vernünftigerweise zu- mehr zu, denn es geht nur mehr darum, welche Prin-
rückweisen könnte (Scanlon 1998, 153 und 197). Die zipien andere Personen eventuell mit guten Gründen
Möglichkeit einer allgemeinen Akzeptanz eines be- zurückweisen könnten. Außerdem werden die ›Ver-
stimmten Prinzips reicht dieser Formulierung zufolge tragsparteien‹ nicht hinter einen Schleier des Nicht-
nicht aus; denn sicher wäre es von einem altruisti- wissens verfrachtet, um ihnen bestimmte Informatio-
schen Standpunkt aus gesehen nicht unvernünftig, nen unzugänglich zu machen (Scanlon 1982, 122;
sehr hohe individuelle Kosten für einen größeren so- 1998, 242–246). Ihr eigenes Interesse werden die Par-
zialen Nutzen zu akzeptieren (Scanlon 1982, 111; vgl. teien sicher nicht vollständig verleugnen wollen, aber
auch 1998, 154 f.). Mit seiner Formel einer vernünfti- sie haben alle Vorschläge immer nur im Lichte ihrer
gen Ablehnung eines Prinzips macht Scanlon darauf ›Vernünftigkeit‹ zu beurteilen. Nicht zuletzt geht es
aufmerksam, dass es unter Umständen gute Gründe Scanlon primär nicht wie Rawls um die Grundstruk-
für die Zurückweisung eines Prinzips geben mag, das tur und die Gerechtigkeit sozialer Institutionen, son-
gleichwohl das Resultat eines vernünftigen Konsenses dern zunächst nur um das Tun und Lassen von Indivi-
sein könnte. Anders formuliert: Das Zurückweisungs- duen (Scanlon 1998, 244). Doch obwohl Scanlon das
kriterium kann zum Ausschluss konsensfähiger Prin- Wort ›Gerechtigkeit‹ in seinem Hauptwerk kaum ver-
zipien führen und legt die Latte der Begründbarkeit wendet, darf man davon ausgehen, dass mit den Din-
damit ein Stückchen höher. gen, die wir einander schulden (»we owe to each ot-
Von allen rivalisierenden Auslegungen der Unpar- her«), ein Kernaspekt dessen angesprochen ist, was
teilichkeit unterscheidet sich Scanlons Kontraktualis- wir unter ›Gerechtigkeit‹ in einem sehr weiten Sinne
mus durch den zentralen Stellenwert der Idee der verstehen. Der Kontraktualismus könne zwar einen
›Vernünftigkeit‹ (Scanlon 1998, 189–191). Die Ver- zentralen Teil des Territoriums der Moral abdecken,
tragstheorien sowohl David Gauthiers (1986) als auch aber er »schließt nicht alles ein, auf das dieser Begriff
John Rawls’, die Diskurstheorie Habermas’ und die korrekt angewandt wird« (Scanlon 1998, 173).
utilitaristische Theorie Hares bedienen sich jeweils ei- Was versteht Scanlon nun genau unter ›Vernünftig-
ner besonderen Auffassung der ›Rationalität‹ bzw. der keit‹ (reasonableness), und was versteht er unter der
rationalen Motivation der Person. Für manche Empi- Idee der ›Rechtfertigung‹ bzw. genauer der ›Nichtver-
riker (wie Gauthier sowie mit Einschränkungen werfbarkeit‹? Mit der Idee der Vernünftigkeit verweist
Rawls) beschränkt sich Rationalität dabei auf die Ver- Scanlon auf den Begriff des Grundes (reason), den er
folgung des Eigeninteresses; und für Ansätze, die in in einem irreduzibel normativen Sinn verstanden wis-
der rationalistisch-formalistischen Tradition Kants sen will und von den motivierenden Gründen eines
stehen, verwickelt sich die unmoralisch handelnde Individuums unterscheidet (Scanlon 1998, 19). Ein
Person in Widersprüche und begeht gleichsam einen normativer Grund ist also immer auch ein guter
logischen Fehler. Scanlon zufolge sind die Vertrags- Grund, eine Erwägung, die tatsächlich für eine Hand-
parteien nicht nur durch ein Interesse am eigenen lung spricht. Motivierende Gründe – insbesondere
Wohlergehen (und nicht durch die Furcht vor Wider- psychologische Zustände wie Überzeugungen und
sprüchen) motiviert; sie verfolgen vielmehr das Ziel, Wünsche eines Individuums – sind dagegen nicht per
Prinzipien zu finden, die andere Personen mit den se auch immer gute Gründe. Scanlon weist die Positi-
gleichen Motivationen vernünftigerweise nicht zu- on zurück, dass Wünschen eine besondere normative
rückweisen könnten. Das Selbstinteresse sei nicht Bedeutung zukommt. Natürlich hängen viele Hand-
»der Typ eines Grundes, durch den eine moralische lungsgründe von Wünschen ab, aber allein die Tatsa-
Person unserem Verständnis nach zuerst und haupt- che, dass wir uns etwas wünschen, ist fast niemals ein
sächlich motiviert sein könnte« (Scanlon 1998, 150); guter Grund zur Verfolgung dieses Gegenstands. Die
und »die spezifische Kraft moralischer Forderungen Gründe unseres Handelns haben vielmehr mit den Ei-
30 Kontraktualistische Gerechtigkeit 195

genschaften von Dingen zu tun, die sie gut oder wert- Bereits bei Rawls’ Konstruktion des Urzustands
voll machen. Gründe entspringen zuletzt also be- gibt es für diesen Vorwurf einige Anhaltspunkte. Der
stimmten Werten: »Wenn wir einen Gegenstand wert- Urzustand wird schließlich ausgehend von bestimm-
schätzen, so nehmen wir an, dass wir Gründe für be- ten wohlüberlegten moralischen Urteilen modelliert.
stimmte positive Einstellungen ihm gegenüber und Rawls (1975, 165) selbst räumt unumwunden ein:
für bestimmte Handlungen in Bezug auf ihn haben« »Wir wollen den Urzustand so bestimmen, daß die
(Scanlon 1998, 95). Der Begriff des ›Grundes‹ selbst gewünschte Lösung herauskommt.« Doch welche Be-
lasse sich dann nicht weiter erklären; er bedürfe auch deutung kommt dem Urzustand – und mit ihm na-
gar keiner Erklärung (ebd., 154), bilde vielmehr eine türlich der ganzen kontraktualistischen Prozedur –
unhintergehbare Voraussetzung und führe nur zur dann überhaupt noch zu? Auch Scanlons Theorie ist
Idee einer »Erwägung, die für etwas spricht« (ebd., 17; einem ähnlichen Vorwurf ausgesetzt: Wenn nämlich
vgl. kritisch Stemmer 2013, 139–165). nur die Prinzipien als gerechtfertigt angesehen wer-
Wenn wir also bestimmte Prinzipien vernünftiger- den dürfen, die keine der Vertragsparteien mit ver-
weise nicht zurückweisen können, dann ist nach nünftigen Gründen zurückweisen kann, so fragt man
Scanlon von dieser Art von praktischen Gründen die sich, welches Gewicht die Vertragsprozedur neben
Rede, die sich von bloßen Wünschen fundamental den Gründen, auf die sich die Parteien ja ohnehin be-
unterscheiden. Und es sind genau diese normativen rufen können, überhaupt noch hat. Mit anderen Wor-
Gründe, die auch für Scanlons Idee der Rechtferti- ten: Steht das Resultat – die Antwort auf die Frage
gung bzw. Ablehnung bestimmter Prinzipien Ver- nach moralischem Recht und Unrecht – nicht bereits
wendung finden. Scanlon stellt zunächst fest, dass die von vornherein fest? Ist der ganze Aufwand nicht zu-
Idee der Rechtfertigung in verschiedenen Moraltheo- letzt überflüssig?
rien auftaucht. Auch Utilitaristen sind an einer Recht- Eine Antwort auf diesen Einwand wird verschiede-
fertigung bestimmter moralischer Prinzipien interes- ne Überlegungen berücksichtigen müssen: Zum einen
siert (Scanlon 1998, 189); und vor allem auch Kon- stellt sich die Frage, ob die Zirkularität einer Theorie
traktarianisten möchten natürlich die Moral rechtfer- tatsächlich unbedingt ein tödlicher Einwand sein
tigen. In Scanlons Version des Kontraktualismus muss; zum anderen muss es nicht als ausgemacht gel-
spielt diese Idee in zweifacher Hinsicht eine grund- ten, dass der Kontraktualismus nicht zumindest die
legende Rolle: Sie bildet zum einen die normative problematische Spielart einer zirkulären Argumenta-
Grundlage der Moral, zum anderen ermöglicht sie tionsstruktur vermeiden kann.
auch die allgemeinste Charakterisierung von deren Kommt der Nachweis einer zirkulären Argumenta-
Inhalten. tion immer einem Knock-out gleich? Sowohl Rawls
als auch Scanlon lehnen diesen Schluss ab, denn sie
nehmen nicht für sich in Anspruch, von Vorausset-
Einwände zungen auszugehen, die überhaupt keine moralischen
Annahmen machen. Rawls (1975, 66) schreibt, man
Die wichtigsten Einwände, die in der Debatte gegen könne sich »eine Theorie der Gerechtigkeit als Be-
den Kontraktualismus vorgebracht werden, sind der schreibung unseres Gerechtigkeitssinnes vorstellen«;
Zirkularitätseinwand, das Aggregationsproblem und und der Urzustand dient ihm letztlich nur als Mittel
das Problem der eventuell unzumutbar hohen An- zur Realisierung eines ›Überlegungsgleichgewichts‹
sprüche. (ebd., 68). Auch Scanlon (1982, 122; 1998, 148) meint,
Der gravierendste Einwand ist sicherlich der Zirku- er wolle die Idee der Vernünftigkeit nur beschreiben.
laritäts- bzw. Redundanzeinwand (vgl. Southwood Insofern ist die Verwendung bestimmter moralischer
2010, 61–70; Ashford/Mulgan 2013, Kap. 5), der die Voraussetzungen kein triftiger Einwand gegen eine
grundsätzliche Eignung des Kontraktualismus zur Lö- bescheidene Spielart des Kontraktualismus ohne Ab-
sung des Problems der Rechtfertigung von mora- sicht einer Letztbegründung (vgl. auch Scanlon 1998,
lischen Prinzipien in Frage stellt: Auf den Punkt ge- 213–218). Außerdem bedeutet ›Zirkularität‹ noch
bracht läuft dieser Einwand auf den Vorwurf einer pe- nicht, dass man sich nur im Kreis dreht und nicht
titio principii hinaus; eine kontraktualistische Theorie mehr vom Fleck kommt. John Rawls versucht durch
der Rechtfertigung unserer Pflichten setze – zu einem seine Konstruktion des Urzustands nämlich nicht nur
gewissen Teil – immer bereits voraus, was sie eigent- unseren wohlüberlegten Urteilen eine kohärente
lich erst beweisen wolle. Struktur zu geben, sondern darüber hinaus auch eine
196 III Gerechtigkeitskonzeptionen

klare Hierarchie unserer moralischen Intuitionen zu möglichen Vor- und Nachteile Tür und Tor zu öffnen.
etablieren. Und auch Scanlons Konzeption des prakti- Kann er sich aus dieser Zwickmühle befreien, an der
schen Grundes nimmt das Ergebnis der kontraktualis- individualistischen Basis seiner Auffassung festhalten,
tischen Prozedur noch nicht vorweg. Wir sind viel- dennoch aber einigen aggregativen Überlegungen
mehr darauf angewiesen, in unterschiedlichen Situa- Raum verschaffen (vgl. Scanlon 1998, 229–241)?
tionen immer wieder aufs Neue die Möglichkeit der Scanlon zufolge kann ein Prinzip P1, das dem Retter
vernünftigen Zurückweisung eines Vorschlags an- erlaubt, entweder die Person A oder die Personen B
hand der möglichen Erwägungen, die für oder gegen und C zu retten, mit guten Gründen zurückgewiesen
ihn ins Feld geführt werden können, zu überprüfen. werden. Es könnte nicht mit diesen Gründen zurück-
Ein weiterer Einwand gegen den Kontraktualismus gewiesen wären, stünde der Retter nur vor der Ent-
geht auf ein Problem zurück, das mit der (manchmal scheidung, entweder die Person A oder die Person B
unvermeidbaren) Verrechnung von Vor- und Nach- zu retten. Die Existenz der Person C ist aber von mo-
teilen zwischen Personen zu tun hat. Der Kontraktua- ralischer Bedeutung, und C könnte sich mit guten
lismus bezieht einen nicht geringen Teil seiner intuiti- Gründen darüber beschweren, dass P1 diese Existenz
ven Attraktivität gegenüber vielen Varianten des Kon- nicht hinreichend berücksichtige. Die Tatsache also,
sequentialismus aus dem strikten Verbot jeglicher Ag- dass es in unserem Beispiel eine weitere Person C gibt,
gregation. Rawls (1975, 45) wirft dem klassischen sollte eine Rolle bei der Frage der moralischen Pflich-
Utilitarismus etwa vor, die »Verschiedenheit der ein- ten des Retters spielen. Das bedeutet, dass dann auch
zelnen Menschen« nicht ernst zu nehmen, und meint A keine guten Gründe mehr gegen ein Prinzip P2 vor-
damit, dass eine höhere gesamtgesellschaftliche Nut- bringen kann, das den Retter zur Rettung der Per-
zensumme keine Opfer einzelner Personen erlaube sonen B und C verpflichtet. Wenn es nur eine Ent-
und die Vor- und Nachteile verschiedener Personen scheidung zwischen der Rettung von A oder B gibt,
nicht einfach in einer Gesamtsumme gegeneinander stehen wir vor einer Pattsituation, aber die Existenz ei-
verrechnet werden dürften. Scanlon (1998, 234) ner zusätzlichen Person C führt zu einem moralischen
schreibt ähnlich, der Kontraktualismus habe im Ge- Unterschied (zur Debatte vgl. Ashford/Mulgan 2013,
gensatz zum Utilitarismus »eine individualistische Kap. 7). Auf diese Weise kann der Kontraktualist eini-
Basis« und artikuliere ein Ideal der gegenseitigen An- gen aggregativen Überlegungen ein Gewicht geben,
erkennung von Personen. ohne dabei seine individualistische Basis radikal in
In manchen Fällen kann allerdings die Anzahl der Frage zu stellen. (Weitere Argumente gegen die so ge-
Personen (und damit die Summe des Nutzens) tat- nannte ›individualistische Restriktion‹ der kontrak-
sächlich eine moralische Bedeutsamkeit erhalten. Ein tualistischen Position Scanlons und für die Möglich-
striktes Aggregationsverbot erscheint dann höchst keit einer Konvergenz von kontraktualistischen und
unplausibel (vgl. Scanlon 1998, 230). Angenommen, konsequentialistischen Ansätzen hat jüngst Parfit
wir könnten in einer bestimmten Situation entweder 2011, Bd. II, 191–212 in die Debatte eingeführt.)
eine Person A oder zwei Personen B und C vor dem Ein dritter Einwand, der gegen alle Varianten un-
sicheren Tod retten. Wenn für die Rettung einer dieser parteiischer Ansätze vorgebracht wird, besteht im Hin-
Person nun keine besonderen Gründe sprechen, wird weis auf eventuell unzumutbar hohe Ansprüche der
wohl eher die Rettung der Personen B und C geboten Moral (vgl. Ashford/Mulgan 2013, Kap. 8). Eine wohl-
sein. Wie lässt sich diese Intuition mit der individua- habende Person, die in einer der reichen Industrie-
listischen Basis des Kontraktualismus vereinbaren? nationen lebt, kann wohl nicht vernünftigerweise ein
Kann die Person A nicht mit guten Gründen ein Prin- Prinzip zurückweisen, das ihr größere finanzielle Op-
zip verwerfen, das uns zur Rettung der beiden Per- fer für die Abschaffung von Hunger und Armut in der
sonen B und C – und zwar allein aus dem Grund, weil Dritten Welt abverlangt (gehen wir dabei von der –
es eben zwei Personen sind – auffordert? Sollte der höchst fraglichen – Annahme auf, es gebe ein Patent-
Kontraktualismus nicht jeden Versuch blockieren, die rezept zur Abschaffung von Hunger und Armut, das
Vor- und Nachteile verschiedener Personen gegen- bisher nur an der mangelnden Finanzierung scheite-
einander aufzurechnen? re). Die offene Frage ist nur, ob eine solche Forderung
Scanlon möchte nicht einfach eine Intuition ver- mit der Wertschätzung der Autonomie einer Person
werfen, die in diesem Fall für eine Berücksichtigung vereinbar sein kann. Verletzt die Idee der Unpartei-
der schieren Anzahl der Personen spricht, möchte lichkeit also nicht etwa unser moralisches Recht auf die
aber dennoch vermeiden, einer Aggregation aller Bestimmung und Verfolgung einer bestimmten Kon-
30 Kontraktualistische Gerechtigkeit 197

zeption des guten Lebens? Im Gegensatz zum Utilita- eines jeden Betroffenen liegen müssen« (ebd., 84), zum
risten kann der Kontraktualist immerhin für sich in allgemeinverbindlichen Ideal zu machen. Auch gegen
Anspruch nehmen, diese besondere Erwägung im die exklusive Orientierung am individuellen Interesse
Rahmen seiner Rechtfertigungstheorie zumindest zu mag es vernünftige Einwände geben.
berücksichtigen, ohne ihr doch immer das letzte Wort Stemmer versucht dagegen, ohne diese Vorausset-
zu geben. In vielen utilitaristischen Deutungen der zung auszukommen, um selbst noch den Amoralisten
Idee der Unparteilichkeit kommt dem Wert der Auto- von den Vorteilen der Moral zu überzeugen. Und dies
nomie von Personen dagegen überhaupt keine eigen- sei vor allem dann möglich, wenn die Moral »ihre Ba-
ständige Bedeutung zu. sis allein in den Interessen der Betroffenen« habe
(Stemmer 2013, 172). Diese Interessen müssen nun
durchaus nicht notwendig selbstbezogen-egoistische
Kontraktarianismus Interessen sein: Manche Menschen haben z. B. auch
ein altruistisches Interesse am Wohlergehen ihrer
Bei meiner Präsentation des Kontraktualismus habe Freunde oder an der Verhinderung von Tierquälerei.
ich mich an den einschlägigen angelsächsischen De- Da solche Interessen aber auch ausbleiben können,
batten orientiert. Eingangs habe ich jedoch darauf eignen sie sich nicht zur Rechtfertigung moralischer
hingewiesen, dass ›Kontraktualismus‹ im deutschen Forderungen. Auf der sicheren Seite steht man des-
Sprachraum zur Bezeichnung einer Position verwen- halb mit der Annahme bestimmter elementarer Inte-
det wird, die nur wenige Gemeinsamkeiten mit dem ressen, die allen Menschen gemeinsam sind.
Kontraktualismus von Rawls und Scanlon aufweist. Thomas Scanlon (1998, 148) zweifelt ausdrücklich
Zwar ist beiden Ansätzen ein individualistisches Pa- daran, dass eine solche Begründung der Moral mithil-
radigma gemeinsam; hinsichtlich ihrer Ausgangs- fe von Annahmen, die wie etwa das rationale Eigen-
annahmen weichen sie jedoch stark voneinander ab. interesse der Individuen eben keine moralischen In-
Rawls und Scanlon setzen sich lediglich die Klärung halte haben, geleistet werden könne. Der Kontrakta-
unseres Gerechtigkeitssinnes zum Ziel; eine Antwort rianist kann angesichts der anspruchsvollen Voran-
auf die Frage, warum wir überhaupt gerecht handeln nahmen des Kontraktualisten tatsächlich auf eine
sollten, zählen sie nicht zu ihren Aufgaben. Kontrak- gewisse Anfälligkeit dieser Theorie für Zirkularitäts-
tarianisten wie Gauthier oder Stemmer suchen da- probleme hinweisen und die berechtigte Frage auf-
gegen nach einer voraussetzungsfreien Grundlage werfen, was mit einer ›Begründung‹ von Gerechtig-
der Gerechtigkeit im rationalen Interesse des Indivi- keit gewonnen sei, wenn Individuen bereits ein Inte-
duums. resse an der Gerechtigkeit unterstellt werde. Umge-
Peter Stemmer zufolge bleiben Kontraktualisten kehrt wird ein Kontraktualist wie Scanlon (1998, 150)
wie Rawls oder Scanlon die Antwort auf die entschei- Zweifel daran anmelden, dass mit einer rationalen Be-
denden Fragen schuldig: gründung der Moral tatsächlich die richtige Art von
Gründen angegeben ist, die eine moralische Person
»Rawls fragt nicht, wie von einer vormoralischen Basis zum moralischen Handeln veranlassen wird. Man
aus rationalerweise eine moralische Welt entsteht, er kann also darüber streiten, ob der Kontraktarianist
setzt von vorneherein einen moralischen Standpunkt überhaupt die richtige Frage stellt.
im Sinne der Unparteilichkeit voraus und fragt ledig-
lich, wie die Moral inhaltlich auszugestalten ist, spe-
ziell welche Konzeption der Gerechtigkeit die richtige Anwendungsfragen
ist« (Stemmer 2000, 85).
Der Kontraktualismus nimmt für sich in Anspruch,
Auch Scanlons Ideal der Begründbarkeit (justifiability) eine Grundlage für unsere Fragen nach den Inhalten
leide an einer solchen Schwäche; denn »solange nicht von Moral und Gerechtigkeit zu liefern, ohne uns
alle dieses Ideal teilen«, so Stemmer (2013, 178), wäre doch in jeder Situation eine klare, eindeutige Hand-
es nicht gerechtfertigt, »es für alle verbindlich zu ma- lungsanweisung geben zu können. Die betroffenen
chen, dadurch, dass man es zur Grundlage moralischer Personen sind vielmehr selbst dazu aufgefordert, eine
Normen macht«. Offen bleibt allerdings die Frage, ob allseits akzeptable Lösung ihrer Konflikte in verschie-
es gerechtfertigt ist, Stemmers höherstufige Norm, denen Kontexten zu finden.
»die vorschreibt, dass moralische Normen im Interesse Vielleicht können wir drei Anwendungskontexte
198 III Gerechtigkeitskonzeptionen

unterscheiden: erstens die Beziehungen zwischen in- unsere Handlungen nicht auch gegenüber Personen
dividuellen Personen, zweitens das Zusammenleben rechtfertigten sollten, die keine Mitglieder unserer Ge-
in politischen Gemeinschaften und drittens die Be- meinschaften sind. Selbst gegenüber zukünftigen Per-
ziehungen zwischen verschiedenen Gemeinschaften sonen kann die Idee einer vernünftigen Zustimmung
(und darüber hinaus auch verschiedenen Generatio- eine sinnvolle Verwendung finden. Sicher können wir
nen). In der Literatur wird nun kontrovers diskutiert, auch zukünftigen Personen ein Unrecht zufügen, denn
zu welchen Resultaten der Kontraktualismus in die- sicherlich können wir uns fragen, ob sie vernünftige
sen Kontexten führt: Sind Hilfspflichten schwieriger Gründe zur Ablehnung der Prinzipien haben, die un-
zu rechtfertigen als negative Pflichten, die von Per- ser Handeln in der Gegenwart anleiten (vgl. Scanlon
sonen allein die Unterlassung von schädlichen Hand- 1998, 187; zur Diskussion vgl. Parfit 2011, Bd. II, 231–
lungen verlangen (so Stemmer 2000, 200)? Welches 243). Der Kontraktualismus kann also zur Begrün-
Ideal der Legitimation von politischer Autorität und dung von Prinzipien Verwendung finden, die unsere
welche Ausgestaltung sozialer Institutionen legt eine Beziehungen zu räumlich und zeitlich entfernten Per-
kontraktualistische Gerechtigkeitstheorie nahe (vgl. sonen regulieren.
v. a. Rawls 2003)? Und zu welchen Ergebnissen führt
der Kontraktualismus für die internationale und in-
tergenerationelle Gerechtigkeit (vgl. Ashford/Mulgan Fazit
2013, Kap. 10)?
Ein besonderes Anwendungsproblem betrifft da- Die jüngere Debatte kann eine neue Grundlegung der
neben auch die Frage nach der Reichweite einer kon- alten Idee der Gerechtigkeit vornehmen und zur Klä-
traktualistischen Theorie der Gerechtigkeit: Allen rung einiger wichtiger Punkte beitragen: Der Kon-
kontraktualistischen (und kontraktarianistischen) traktualismus setzt sich eine Rechtfertigung der Ge-
Ansätzen in der Moraltheorie ist das Problem gemein- rechtigkeit zum Ziel, die sowohl die komplexe Struk-
sam, dass sie sich nur auf die Beziehungen zwischen tur als auch die politische Dynamik der praktischen
Personen mit der Fähigkeit zur Artikulation ihres Vernunft angemessen widerspiegelt. Die Gründe für
Willens anwenden lassen. Wenn alle moralischen Ver- die Gerechtigkeit, so die Kernidee, entspringen einer
pflichtungen nun aber auf eine Vereinbarung zwi- freien Entscheidung von gleichen Personen: Sie lassen
schen den Vertragsparteien zurückzuführen sind, so sich nicht auf den rationalen Vorteil von Individuen
würde das bedeuten, dass wir keine Verpflichtungen (Kontraktarianismus) oder Kollektiven (Utilitaris-
etwa gegenüber Tieren und eventuell auch gegenüber mus) reduzieren, obgleich solche Erwägungen be-
zukünftigen Personen oder Personen haben, die Mit- rücksichtigt werden müssen. Aber sie leiten sich auch
glieder anderer Gemeinschaften sind. nicht aus der Analyse moralischer Begriffe bzw. einem
Wie kann der Kontraktualismus also der plausiblen sanften Zwang zur Beachtung der Gesetze der Logik
Intuition Rechnung tragen, dass Tierquälerei unmo- oder eines Ideals der rationalen Kommunikation ab.
ralisch ist? Zum einen kann der Kontraktualist die Diese Grundhaltung macht den Kontraktualismus
Reichweite seiner Theorie begrenzen: Scanlon (1998, attraktiv und zugleich angreifbar. Das wichtigste For-
178) weist darauf hin, dass der Kontraktualismus nur schungsdesiderat besteht meines Erachtens nicht vor-
der Grundlegung dessen gelte, was wir als Personen rangig in einer Antwort auf die Frage, welche Position
einander schulden, und nicht den ganzen Bereich der den Streit um die Grundlage der Gerechtigkeit für sich
Moral charakterisiere. Stemmer (2013, 86) schreibt, entscheiden kann. Der Teufel steckt eher im Detail,
der Umgang mit Tieren liege »außerhalb des Kern- und die Klärung von Einzelproblemen scheint heute
bereichs der Moral« (vgl. ebd., 173 f. sowie Stemmer deshalb sehr viel lohnender.
2000, 257). Zum anderen könnte der Kontraktualist Zunächst sollten wir die Deutung der Vertragsidee
dieser Intuition aber im Rahmen seiner Theorie durch im Auge behalten: Gibt es einen unversöhnlichen
die Einführung einer Idee der Treuhänderschaft Rech- Konflikt zwischen den Anhängern von Hobbes und
nung tragen, um damit den Kreis der Wesen zu erwei- denjenigen von Rousseau und Kant? Oder zeichnet
tern, denen wir eine Rechtfertigung unseres Handelns sich am Horizont die Möglichkeit einer ›deliberativen‹
schulden. Variante des Kontraktualismus ab (Southwood 2010),
Im Vergleich dazu gestaltet sich die Einbeziehung die die beiden alten Kontrahenten miteinander ver-
räumlich und zeitlich entfernter Personen sehr viel söhnen könnte? Die entscheidende Frage für weitere
einfacher. So gibt es keinen guten Grund, warum wir Forschungen lautet dann aber: Verfügt der Kontrak-
31 Liberale Gerechtigkeit 199

tualismus über die theoretischen Ressourcen, um den 31 Liberale Gerechtigkeit


philosophischen und vor allem auch praktisch-politi-
schen Herausforderungen der Gegenwart und der Zu- Unter liberaler Gerechtigkeit versteht man in der Tra-
kunft begegnen zu können? Oder müssen wir uns eher dition des Liberalismus stehende egalitaristische (so-
seiner Grenzen bewusst bleiben, um uns für neue Fra- zialliberale) Theorien der politischen, sozialen und
gen wappnen und uns nach Alternativen umsehen zu ökonomischen Gerechtigkeit für demokratische Ge-
können? Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir beide sellschaften. Häufig bezieht man sich auf sie mit dem
Fragen positiv beantworten sollten. Begriff ›egalitärer Liberalismus‹. Die wichtigsten kon-
kurrierenden Gerechtigkeitskonzeptionen sind liber-
Literatur täre (Robert Nozick; s. Kap. III.32), sozialistische (Ge-
Ashford, Elizabeth/Mulgan, Thomas: Contractualism. In: rald A. Cohen, John E. Roemer; s. Kap. III.33), utilita-
Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Phi- ristische (John C. Harsanyi; s. Kap. III.34) und kom-
losophy (Fall 2012 Edition), http://plato.stanford.edu/en-
tries/contractualism/ (8.8.2013).
munitaristische (Michael Sandel, Michael Walzer;
Darwall, Stephen: Introduction. In: Ders. (Hg.): Contracta- s. Kap. III.36) Gerechtigkeitskonzeptionen. Einfluss-
rianism/Contractualism. Malden 2003, 1–8. reichster Vertreter liberaler Gerechtigkeit ist John
Gauthier, David: Morals by Agreement. Oxford 1986. Rawls. Seine 1971 veröffentlichte Theorie der ›Gerech-
Leist, Anton (Hg.): Moral als Vertrag? Beiträge zum mora- tigkeit als Fairness‹ ist die Referenztheorie liberaler
lischen Kontraktualismus. Berlin 2003.
Gerechtigkeit, zu der sich alle, die sich zur liberalen
Parfit, Derek: On What Matters. 2 Bde. Oxford 2011.
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. (und allgemein zur politisch-sozialen) Gerechtigkeit
1975 (engl. 1971). äußern, positionieren müssen. Weitere prominente
–: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 2003 (engl. 1993). Vertreter liberaler Gerechtigkeit sind vor allem Ro-
–: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. nald Dworkin sowie Richard Arneson, Brian Barry,
2006 (engl. 2001). Thomas Nagel, Martha Nussbaum (in ihren neueren
–: Geschichte der politischen Philosophie. Frankfurt a. M.
Schriften), Samuel Scheffler und Amartya Sen.
2012 (engl. 2007).
Scanlon, Thomas M.: Contractualism and Utilitarianism. In:
Amartya Sen/Bernard Williams (Hg.): Utilitarianism and
Beyond. Cambridge 1982, 103–128. Typische Merkmale liberaler Gerechtigkeit
–: What We Owe to Each Other. Cambridge MA 1998.
–: How I am not a Kantian. In: Derek Parfit: On What Mat- Liberale Gerechtigkeitstheorien suchen als Theorien
ters, Bd. II. Oxford 2011, 116–139.
Southwood, Nicholas: Contractualism and the Foundations der distributiven und sozialen Gerechtigkeit (s. Kap.
of Morality. Oxford 2010. II.12, 18) nach Prinzipien für eine gerechte Einrich-
Stemmer, Peter: Handeln zugunsten anderer. Eine moralphi- tung der wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen
losophische Untersuchung. Berlin 2000. in demokratischen Staaten.
–: Begründen, Rechtfertigen und das Unterdrückungsverbot. Oberster Wert in liberalen Gerechtigkeitstheorien
Berlin 2013.
ist die Achtung der Freiheit und Gleichheit aller Per-
Peter Rinderle sonen. Freiheit wird nicht als positive Freiheit ver-
standen, wonach man nur frei handelt, wenn man frei
von inneren Zwängen ist und selbstbestimmt, ver-
nünftig, rational, gemäß dem moralischen Gesetz
oder gemäß seinem wahren Selbst handelt. Freiheit
wird vielmehr verstanden entweder als negative Frei-
heit, also als Abwesenheit von äußeren Zwängen, die
eine Handlung verhindern oder erzwingen, oder als
triadische Relation, wonach eine Person frei ist, wenn
sie frei von Zwängen ist, um bestimmte Handlungen
auszuführen. An diese Interpretation anknüpfend
wird nicht die Freiheit an sich als besonders wertvoll
verteidigt, sondern bestimmte Freiheiten, dieses oder
jenes zu tun, da nicht die Freiheit an sich und auch
nicht jede Freiheit wertvoll ist, sondern nur bestimm-
te Freiheiten (von denen die wichtigsten als Grund-
200 III Gerechtigkeitskonzeptionen

freiheiten bezeichnet werden) wertvoll und schüt- noch substanzielleren Sinn erfordert: 1) Die Grund-
zenswert sind. freiheiten dürfen nicht nur formal gleich sein, son-
Im Gegensatz zu (ultra-liberalen) libertären Ge- dern alle Personen müssen die gleichen Chancen und
rechtigkeitstheorien, für die Gerechtigkeit sich im Möglichkeiten haben, sie zu nutzen. 2) Auch Einkom-
Schutz von Eigentum, Freiheit und Leben erschöpft men und Wohlstand sollten grundsätzlich gleich ver-
und jegliche staatliche, etwa steuerliche Umverteilung teilt sein, und eine ungleiche Verteilung bedarf einer
als Diebstahl und Freiheitseinschränkung gilt, erken- besonderen Begründung. Erst diese Forderung nach
nen liberale Gerechtigkeitstheorien kein natürliches substanzieller Gleichheit, die eine Forderung nach so-
Recht auf Eigentum (mit der Freiheit, auf beliebige zialer Gerechtigkeit ist, macht liberale Gerechtigkeits-
Weise darüber zu verfügen) an. theorien zu egalitären Gerechtigkeitstheorien. Diese
Eine besondere Freiheit in liberalen Gerechtigkeits- substanzielle Gleichheit soll zu einer Gesellschaft füh-
theorien ist die Freiheit jeder Person, das eigene Leben ren, in der sich alle Personen unabhängig von ihrer so-
gemäß den eigenen Vorstellungen vom Guten und zialen Stellung als gleiche und gleich geachtete Bürger
vom guten Leben (s. Kap. IV.42) zu führen, solange betrachten können.
man nicht die Freiheiten und Rechte anderer Personen Ein weiteres zentrales Element liberaler Gerechtig-
verletzt. Diese Freiheit darf durch keine vom Staat be- keit ist die Auffassung, dass Personen selbst für ihre
vorzugte Vorstellung des Guten eingeschränkt werden. Entscheidungen und ihre Lebensführung verant-
Neben der Freiheit ist die Gleichheit (s. Kap. II.28) wortlich sind und die Folgen ihrer Entscheidungen
der zweite Eckpfeiler liberaler Gerechtigkeitstheorien. tragen müssen, sie aber nicht für unverschuldete, un-
Manche Vertreter liberaler Gerechtigkeit (z. B. Dwor- verdiente, zufällige Umstände (wie Begabungen, Her-
kin 1986) behaupten sogar, dass nicht Freiheit, son- kunft, Glück und Pech) verantwortlich sind und es
dern Gleichheit der zentrale Wert des Liberalismus deshalb ein Gebot der Gerechtigkeit ist, aus solchen
sei. Die Gleichheit aller Personen wird zunächst in Umständen resultierende Ungleichheiten auszuglei-
dem von niemandem bestrittenen Sinn verstanden, chen bzw. abzumildern. Um diesem Gebot gerecht
dass alle Personen Anspruch auf gleiche Achtung und werden zu können, benötigen liberale Gerechtigkeits-
Berücksichtigung haben und deshalb alle Personen theorien eine tragfähige Unterscheidung zwischen
die gleichen Grundfreiheiten und Grundrechte Folgen aus zurechenbaren Entscheidungen und Fol-
(s. Kap. IV.45) besitzen. gen aus nicht zurechenbaren Umständen (Cohen
Zudem (und nicht so unbestritten) wird die Gleich- 1989; Dworkin 2000).
heit aller Personen in dem stärkeren Sinn interpre- Charakteristisch für liberale Gerechtigkeitstheo-
tiert, dass alle Personen einen Anspruch auf bestimm- rien ist ferner, dass sie beanspruchen, von allen ver-
te unverletzliche Grundfreiheiten und Grundrechte nünftigen Personen akzeptiert werden zu können,
besitzen, die nicht in einer Nutzenkalkulation auf- und deshalb oft kontraktualistisch begründet werden,
gerechnet und zugunsten der Nutzenmaximierung wobei die vertragliche Vereinbarung das Ergebnis ei-
bzw. des Gemeinwohls eingeschränkt oder verletzt nes fairen Verfahrens sein muss, in dem alle Personen
werden dürfen. Gleichheit in diesem stärkeren Sinn gleichgestellt sind und es keine ungleichen Verhand-
verlangt nach Rawls, dass wir Personen und die ›Ge- lungspositionen gibt (Barry 1989; 1995).
trenntheit der Personen‹ (Rawls 1975, 45) ernst neh- Schließlich gilt der Vorrang des Rechten vor dem
men und nicht nur Interessen gegeneinander aufrech- Guten als typisch für liberale Gerechtigkeit (Freeman
nen. Da der Utilitarismus einigen Personen Opfer zu- 2007; Rawls 1998; Sandel 1998), wobei mit diesem po-
gunsten des größeren Nutzens anderer zumutet, ist er pulären Slogan unterschiedliche Behauptungen ver-
mit dieser Auffassung unvereinbar. Daher präsentiert knüpft werden: 1) Gerechtigkeitsprinzipien setzen in
Rawls seine Gerechtigkeitstheorie explizit als Alterna- ihrer Begründung und Formulierung keine umfassen-
tive zum Utilitarismus, und obwohl der Utilitarismus de Vorstellung des Guten voraus. Die in Anspruch ge-
eine bedeutende historische Wurzel des Liberalismus nommenen Ideen des Guten sind politische Ideen, die
ist, verstehen sich Theorien liberaler Gerechtigkeit als zur öffentlichen politischen Kultur einer demokrati-
dezidiert anti-utilitaristisch. schen Gesellschaft gehören und von freien und glei-
Schließlich (noch kontroverser und in Opposition chen Bürgern geteilt werden können. 2) Gerechtig-
zum Libertarismus) sind Vertreter liberaler Gerech- keitsprinzipien schließen Vorstellungen des Guten, die
tigkeit der Auffassung, dass die Gleichheit der Per- mit den Gerechtigkeitsprinzipien nicht vereinbar sind,
sonen bzw. die Gerechtigkeit Gleichheit in einem als unzulässig aus. 3) Grundfreiheiten und Grund-
31 Liberale Gerechtigkeit 201

rechte dürfen nicht zugunsten der Maximierung des teilen übereinstimmen. Dennoch ist die Wahl der Ge-
Guten verletzt werden. 4) Gerechtigkeitsprinzipien rechtigkeitsprinzipien im Urzustand wichtig, weil sie
dürfen nicht zur Durchsetzung einer Vorstellung des die Idee ausdrückt, dass Gerechtigkeitsprinzipien gut
Guten in der Gesellschaft verletzt werden. 5) Gerech- begründet sind, wenn diejenigen, die ihnen unter-
tigkeit ist die erste Tugend gesellschaftlicher Institutio- worfen sind, sie unter fairen Bedingungen wählen
nen: Die Gerechtigkeit einer Gesellschaft hat Vorrang würden.
vor der ökonomischen Wohlfahrt der Gesellschaft. Rawls geht von bestimmten grundlegenden Über-
zeugungen über Personen, Fairness, Gerechtigkeit und
eine gerechte Gesellschaft aus und charakterisiert den
John Rawls’ Gerechtigkeit als Fairness Urzustand so, dass er einerseits unseren Vorstellungen
von einer fairen Entscheidungssituation entspricht
Das Paradigma einer Theorie liberaler Gerechtigkeit und andererseits gewährleistet ist, dass die Personen
ist John Rawls’ zuerst in A Theory of Justice (Rawls im Urzustand Gerechtigkeitsprinzipien wählen, die
1971/1975) veröffentlichte Theorie der ›Gerechtigkeit mit diesen grundlegenden Überzeugungen vereinbar
als Fairness‹. Rawls entwickelt seine sozialliberale Ge- sind. Ist dies gelungen, sind nach Rawls die Gerechtig-
rechtigkeitstheorie als Antwort auf folgende Frage, keitsprinzipien gut begründet. Die grundlegenden
die er für eine der Grundfragen der politischen Ge- Überzeugungen sind:
rechtigkeit in einer demokratischen Gesellschaft hält: • Eine liberale demokratische Gesellschaft ist ein
»Welches ist die angemessenste Gerechtigkeitskon- faires System der sozialen Kooperation zwischen
zeption, um faire Bedingungen einer Generationen freien und gleichen Personen, das für alle mit Vor-
übergreifenden sozialen Kooperation unter Bürgern teilen und Lasten sowie Rechten und Pflichten
zu formulieren, die als freie und gleiche und lebens- verbunden ist.
lang kooperative Gesellschaftsmitglieder betrachtet • Die Verteilung dieser Vorteile, Lasten, Rechte und
werden?« (Rawls 1998, 67). Diese Gerechtigkeitskon- Pflichten wird wesentlich durch die Grundstruk-
zeption soll als Leitlinie dafür dienen, grundlegende tur der Gesellschaft, d. h. durch die wichtigsten
politische und soziale Institutionen so einzurichten, politischen, sozialen und ökonomischen Institu-
dass die Werte der Freiheit und Gleichheit in der Ge- tionen (wie die Verfassung und das Rechtssystem,
sellschaft verwirklicht werden können. Ebenso wich- die Familie, das Wirtschaftssystem) bestimmt. Da
tig und kontrovers wie ihr Inhalt ist Rawls’ Begrün- diese Verteilung auf tiefgreifende Weise das Leben
dung seiner Gerechtigkeitstheorie. Rawls verbindet und die Lebensaussichten der Personen bestimmt
zwei Begründungsmethoden: erstens ein die Traditi- und deshalb die Gerechtigkeit oder Ungerechtig-
on des Liberalismus (von Locke, Kant und Rousseau) keit einer Gesellschaft von ihrer Grundstruktur
aufgreifendes vertragstheoretisches Argument, in abhängt, ist die Grundstruktur der Hauptgegen-
dem Gerechtigkeitsprinzipien in einer fairen Ent- stand der Gerechtigkeitsprinzipien.
scheidungssituation, dem so genannten Urzustand, • Alle Personen haben als freie und gleiche Wesen
gewählt werden, und zweitens die Methode des Über- den gleichen Wert. Gleich sind alle Personen, weil
legungsgleichgewichts, wonach Gerechtigkeitsprinzi- sie zwei ›moralische Vermögen‹ (in einem ausrei-
pien nur dann gut begründet sind, wenn sie mit unse- chenden Mindestmaß) teilen: a) Sie verfügen über
ren wohlüberlegten Urteilen über Personen, Fairness, einen Gerechtigkeitssinn, der in der Fähigkeit be-
Gerechtigkeit und eine gerechte Gesellschaft überein- steht, Gerechtigkeitsprinzipien zu verstehen, an-
stimmen. Zur Herstellung dieser Übereinstimmung zuwenden und nach ihnen zu handeln. Diese Fä-
können sowohl die Gerechtigkeitsprinzipien im Licht higkeit zeichnet Personen als vernünftig aus. b) Sie
unserer wohlüberlegten Urteile als auch unsere wohl- haben die Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom
überlegten Urteile im Licht der Gerechtigkeitsprinzi- Guten (von dem, was sie für wertvoll und für ein
pien modifiziert werden, bis keine weitere Anpassung gutes Leben halten) zu machen und sie im Laufe
mehr nötig und ein Gleichgewicht zwischen wohl- ihres Lebens zu verfolgen und zu revidieren. Diese
überlegten Urteilen und Gerechtigkeitsprinzipien Fähigkeit zeichnet Personen als rational aus.
hergestellt ist. Ob wir vorgeschlagene Gerechtigkeits- • Freie und gleiche Personen besitzen eine Unver-
prinzipien akzeptieren, hängt letzten Endes nicht da- letzlichkeit und einen Anspruch auf gleiche Ach-
von ab, dass sie im Urzustand gewählt werden, son- tung und Berücksichtigung ihrer Interessen, die
dern davon, dass sie mit unseren wohlüberlegten Ur- Vorrang vor dem Gemeinwohl haben: Ihre Grund-
202 III Gerechtigkeitskonzeptionen

freiheiten und Grundrechte sind nicht gegen das benspläne haben und dass sie für deren Verwirk-
Gemeinwohl aufrechenbar. lichung möglichst viele Grundgüter (s. Kap. IV.43) be-
• Alle Personen sollen eine gleiche faire Chance zur nötigen. Rawls unterscheidet fünf Kategorien von
Verwirklichung ihrer Lebenspläne und Vorstel- Grundgütern: 1) Grundrechte und Grundfreiheiten,
lungen des Guten haben. Ihre Lebensaussichten 2) Freizügigkeit und freie Berufswahl vor dem Hinter-
sollten von ihren freien Entscheidungen abhängen grund vielfältiger Möglichkeiten, 3) Befugnisse und
und nicht von unverdienten Zufallsumständen Zugangsrechte zu Ämtern und Positionen innerhalb
wie natürlichen Begabungen, sozialer Herkunft der politischen und ökonomischen Institutionen der
und Glück und Pech (z. B. Krankheiten) im Laufe Grundstruktur, 4) Einkommen und Besitz, 5) die so-
des Lebens. zialen Grundlagen der Selbstachtung (Rawls 1998,
• Aufgrund der Gleichheit der Personen sollen Ein- 275). Grundgüter erfüllen zwei Funktionen in Rawls’
kommen und Besitz gleich verteilt werden, es sei Theorie: Erstens schaffen sie im Urzustand die Grund-
denn, eine ungleiche Verteilung bringt Vorteile für lage für die rationale Entscheidung der Personen.
alle und insbesondere für die am schlechtesten ge- Zweitens ermöglichen sie in der Gesellschaft, für die
stellte Personengruppe. Diese Bedingung für er- die Gerechtigkeitsprinzipien gewählt werden, inter-
laubte Ungleichheiten ist Ausdruck einer Vorstel- personelle Vergleiche der für die Beurteilung der Ge-
lung der Reziprozität, wonach die aus unverdien- rechtigkeit relevanten Bedürfnisse der Bürger.
ten Zufallsumständen resultierenden Vorteile als Die Personen im Urzustand charakterisiert Rawls
Gemeingut betrachtet werden und die (aufgrund als rationale und vernünftige, neidfreie und gegensei-
unverdienter Faktoren) besser Gestellten ihre Vor- tig desinteressierte Personen, die bei der Wahl der Ge-
teile nur in Anspruch nehmen dürfen, wenn auch rechtigkeitsprinzipien von folgenden Überlegungen
die schlechter Gestellten davon profitieren. Die geleitet werden: Sie wollen einen ausreichend großen
besser Gestellten dürfen nicht auf Kosten der (aber nicht unbedingt den größtmöglichen) Anteil an
schlechter Gestellten von Vorteilen profitieren. Grundgütern; sie wollen auf keinen Fall riskieren, dass
• Gerechtigkeitsprinzipien sind fair, wenn freie und die Verletzung ihrer Grundfreiheiten und Grundrech-
gleiche Personen sich in einer fairen Entschei- te erlaubt ist – was bei utilitaristischen Gerechtigkeits-
dungssituation auf sie einigen. prinzipien der Fall wäre; sie dürfen nur Prinzipien
Welche Gerechtigkeitsprinzipien im Urzustand ge- wählen, von denen sie überzeugt sind, dass sie sich un-
wählt werden, hängt von der Charakterisierung des ter allen Umständen an sie halten können – was bei
Urzustands ab, die wiederum von unseren wohlüber- utilitaristischen Gerechtigkeitsprinzipien nicht der
legten Urteilen über angemessene Bedingungen einer Fall wäre; sie wollen keine Prinzipien wählen, die zu
solchen fairen Entscheidungssituation abhängt. Zu sozialen Verhältnissen führen können, die ihre Selbst-
den angemessenen Bedingungen des Urzustands zäh- achtung als freie und gleiche Bürger untergraben –
len Annahmen über die Rationalität, Vernünftigkeit was utilitaristische Gerechtigkeitsprinzipien nicht ga-
und Motivation der Menschen im Urzustand sowie rantieren können.
Annahmen über faire Bedingungen im Urzustand. Diese Überlegungen schließen nach Rawls aus,
Fair ist der Urzustand, wenn die völlige Unparteilich- dass die Personen utilitaristische Gerechtigkeitsprin-
keit der Personen garantiert ist. Um diese Unpartei- zipien (aus einer vorgegebenen Liste von Prinzipien)
lichkeit zu garantieren, führt Rawls den ›Schleier des wählen. Stattdessen wählen sie die beiden folgenden
Nichtwissens‹ ein, der den Personen jegliches indivi- Gerechtigkeitsprinzipien:
duelle Wissen über sich und ihre Lebensumstände
nimmt und es dadurch unmöglich macht, unfaire, die » (a) Jede Person hat den gleichen Anspruch auf ein völ-
eigene Person begünstigende Gerechtigkeitsprinzi- lig adäquates System gleicher Grundrechte und Frei-
pien vorzuschlagen. Hinter dem Schleier des Nicht- heiten, das mit demselben System für alle vereinbar
wissens haben die Personen kein Wissen über ihre ist, und innerhalb dieses Systems wird der faire Wert
persönlichen Eigenschaften und Lebensumstände, die der gleichen politischen (und nur der politischen) Frei-
Merkmale der Gesellschaft, in der sie leben, sowie heiten garantiert.
über ihre Vorstellungen des Guten und des guten Le- (b) Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen
bens. Sie wissen, neben ihrer Kenntnis allgemeiner zwei Bedingungen erfüllen: Erstens müssen sie mit
sozialwissenschaftlicher Zusammenhänge, lediglich, Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen unter
dass sie Vorstellungen vom Guten und rationale Le- Bedingungen fairer Chancengleichheit offenstehen,
31 Liberale Gerechtigkeit 203

und zweitens müssen sie sich zum größtmöglichen rer Chancengleichheit auf bessere Positionen sowie
Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesell- durch den Gedanken der Reziprozität, wonach keine
schaftsmitglieder auswirken« (Rawls 1998, 69 f.). ökonomischen Vorteile erlaubt sind, die nicht zum
größtmöglichen Vorteil der am schlechtesten gestell-
Diese Prinzipien sind lexikalisch geordnet: Das erste ten Personengruppe führen, das Selbstverständnis der
Prinzip – das Freiheitsprinzip – hat Vorrang vor dem Personen der am schlechtesten gestellten Gruppe als
zweiten Prinzip und innerhalb des zweiten Prinzips freie und gleiche Personen nicht beeinträchtigt.
hat das erste Teilprinzip – das Prinzip der fairen Chan- In Rawls’ eigenen Worten sind die beiden Gerech-
cengleichheit – Vorrang vor dem zweiten Teilprinzip, tigkeitsprinzipien aufgrund folgender Merkmale Aus-
dem Differenzprinzip (s. Kap. II.25). druck eines Liberalismus:
Zu den Grundfreiheiten zählen Gedanken- und
Gewissensfreiheit, die politischen Freiheiten (z. B. »Erstens werden bestimmte Grundrechte, Freiheiten
Wahlrecht, politische Redefreiheit, Recht zur Partei- und Chancen festgelegt, wie sie aus demokratischen
gründung und -mitgliedschaft, Recht zur Bekleidung Verfassungsstaaten vertraut sind; zweitens wird die-
öffentlicher Ämter), Versammlungsfreiheit, die Frei- sen Rechten, Freiheiten und Chancen ein Vorrang ins-
heiten, welche durch die Freiheit und Integrität der besondere gegenüber den Forderungen des allgemei-
Person festgelegt werden (z. B. Freiheit von Verskla- nen Wohls und gegenüber perfektionistischen Werten
vung, Freiheit von Misshandlungen, eingeschränktes zugesprochen; und drittens wird allen Bürgern ein an-
Recht auf Privateigentum, insofern dies für die Selbst- gemessener Anteil an allgemein dienlichen Mitteln zu-
achtung und die persönliche Unabhängigkeit zur Aus- gesichert, so daß sie ihre Freiheiten und Chancen wirk-
übung anderer Grundfreiheiten sowie zum Verfolgen sam nutzen können« (Rawls 1998, 70).
von Lebensplänen notwendig ist), und schließlich die
von der Rechtsstaatlichkeit abgedeckten Rechte und Ausdruck eines egalitären Liberalismus sind sie auf-
Freiheiten (z. B. unparteiische Anwendung der Geset- grund folgender Merkmale:
ze, Freiheit von willkürlicher Verhaftung, faire Ge-
richtsverfahren). Eine Sonderstellung wird den politi- »(a) die Garantie des fairen Werts der politischen Frei-
schen Grundfreiheiten eingeräumt, da nur für sie eine heiten, so daß diese nicht nur formal bleiben; (b) die
faire Chancengleichheit zu ihrer Ausübung gefordert faire (und wiederum nicht nur formale) Chancen-
wird (so dass z. B. gleich Begabte die gleiche Chance gleichheit; und schließlich (c) das sogenannte Diffe-
zur Erlangung eines öffentlichen Amtes haben). Der renzprinzip, dem zufolge die mit Ämtern und Positio-
Vorrang des Freiheitsprinzips vor dem zweiten Ge- nen verbundenen sozialen und ökonomischen Un-
rechtigkeitsprinzip garantiert den Vorrang der gleichheiten so eingerichtet sein müssen, daß sie, wie
Grundfreiheiten vor ökonomischen Vorteilen: Keine groß oder klein sie auch sein mögen, zum größtmögli-
noch so großen ökonomischen Vorteile können die chen Vorteil der am wenigsten begünstigten Gesell-
Einschränkung oder Verletzung der Grundfreiheiten schaftsmitglieder wirken« (Rawls 1998, 70 f.).
rechtfertigen. Grundfreiheiten können nur zugunsten
anderer Grundfreiheiten eingeschränkt werden. Der In Politischer Liberalismus (1998) hat Rawls seine Ge-
Vorrang der Grundfreiheiten ist Ausdruck der libera- rechtigkeitstheorie als politische Gerechtigkeitskon-
len Grundeinstellung, dass der Freiheit und Gleich- zeption interpretiert, als eine ›freistehende Auffas-
heit der Personen der höchste Wert zukommt, und er sung‹ (ebd., 78), die keine umfassenden, auf alle Le-
schützt das Selbstverständnis der Personen, als freie bensbereiche anwendbaren weltanschaulichen, phi-
und gleiche Personen geachtet zu werden. Während losophischen oder religiösen Lehren voraussetzt und
eine Verletzung der Grundfreiheiten und ungleiche selbst keine solche umfassende Lehre ist, sondern eine
Grundfreiheiten unmittelbar dieses Selbstverständnis Gerechtigkeitskonzeption für die Grundstruktur ei-
treffen würden, gilt dies nicht für die ökonomischen ner demokratischen Gesellschaft. Diese Interpretation
Ungleichheiten, die das Differenzprinzip zulässt. Das trägt dem Faktum eines vernünftigen Pluralismus
Differenzprinzip garantiert der am schlechtesten ge- Rechnung: In modernen Gesellschaften besteht ein
stellten Personengruppe den größtmöglichen öko- unvermeidlicher, nicht überwindbarer Pluralismus
nomischen Vorteil (der größer ist als bei einer Gleich- vernünftiger, miteinander unvereinbarer und konkur-
verteilung). Dabei wird trotz ungleicher Einkom- rierender Weltanschauungen sowie Vorstellungen des
mensverteilung durch die vorrangige Gewährung fai- Guten und des guten Lebens. Da dennoch Gerechtig-
204 III Gerechtigkeitskonzeptionen

keitsprinzipien gegenüber allen (vernünftigen) Per- rechtigkeit für Tiere mit einzubeziehen. Von besonde-
sonen, die ihnen unterworfen sind, begründbar sein rer Bedeutung ist hierbei die Frage, ob eine solche
müssen, muss eine Gerechtigkeitskonzeption ein über- Erweiterung im Rahmen des kontraktualistischen
greifender Konsens aller vernünftigen Weltanschau- Begründungsmodells möglich ist. Schließlich wird
ungen sein: Die Gerechtigkeitskonzeption muss in je- fünftens die Frage nach dem Stellenwert und der Trag-
de vernünftige Weltanschauung eingefügt und von ihr fähigkeit der Unterscheidung zwischen Folgen aus ei-
unterstützt werden, ohne selbst eine solche Welt- genen Entscheidungen und Folgen aus unverschulde-
anschauung zu sein oder vorauszusetzen. ten Umständen diskutiert, verbunden mit der Frage
nach der gerechten Berücksichtigung dieser Unter-
scheidung. Dworkin (2000; 2011) hat gegen das Diffe-
Nach Rawls renzprinzip eingewandt, dass es dieser Unterschei-
dung in zweierlei Hinsicht nicht gerecht wird: Es ist zu
Die aktuelle Debatte um liberale Gerechtigkeit verbin- ausstattungssensitiv, da es nur soziale und keine na-
det vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Ge- türlichen Grundgüter berücksichtigt, also z. B. nicht
rechtigkeitstheorie von Rawls folgende Aspekte: ers- berücksichtigt, dass Behinderte mehr Ressourcen be-
tens die Diskussion von Detailproblemen der Rawls- nötigen als Nichtbehinderte, und daraus resultierende
schen Theorie sowie Fragen ihrer korrekten Interpre- Ungleichheiten in den Lebensaussichten nicht aus-
tation (Freeman 2002; Mandle/Reidy 2014), zweitens gleicht. Es ist andererseits zu absichtsinsensitiv, da es
Einwände gegen Rawls’ Theorie und Verbesserungs- die unterschiedlichen Ambitionen und Präferenzen
vorschläge bzw. Weiterführungen aus dem liberalen der Personen nicht berücksichtigt und einen Aus-
Lager, die zu mehr oder weniger stark von Rawls’ gleich von Ungleichheiten fordert, die aus eigenen
Theorie abweichenden alternativen liberalen Gerech- Entscheidungen (z. B. für teure Hobbies) resultieren.
tigkeitstheorien führen (Dworkin 2000; Nussbaum Dworkin versuchte diesen Mangel zu beheben durch
2010; Sen 2010), und drittens grundsätzliche Kritik an eine möglichst ausstattungsinsensitive und ambiti-
der Konzeption liberaler Gerechtigkeit vom externen onssensitive glücksegalitaristische (s. Kap. III.39)
Standpunkt der konkurrierenden libertären, sozialis- Theorie der Ressourcengleichheit. Durch die daran
tischen, utilitaristischen und kommunitaristischen anschließende Diskussion verlagerte sich ein großer
Gerechtigkeitskonzeptionen (Richardson 1999). Teil der Debatte um liberale Gerechtigkeit in die
Die wichtigsten Themen, die in der aktuellen Dis- Debatte um die Frage, in welcher Hinsicht Per-
kussion um liberale Gerechtigkeit diskutiert werden, sonen gleich behandelt bzw. gleichgestellt werden sol-
sind: erstens die Frage, welche Entscheidungsstrategie len, die unter dem Stichwort ›Gleichheit von was?‹
im Urzustand rational ist und ob rationale Personen (z. B. Chancen [s. Kap. II.26], Fähigkeiten [capabilities,
tatsächlich das Differenzprinzip wählen würden; s. Kap. IV.43], Wohlbefinden oder Chancen auf Wohl-
zweitens der vielfach erhobene Einwand, dass das Dif- befinden) geführt wird.
ferenzprinzip nicht plausibel und mit unseren intuiti-
ven Gerechtigkeitsvorstellungen unvereinbar ist; drit- Literatur
tens die Frage, ob der Gegenstand einer liberalen Ge- Barry, Brian: A Treatise on Social Justice, Bd. 1: Theories of
rechtigkeitstheorie nur die Grundstruktur der Gesell- Justice. Berkeley 1989.
–: A Treatise on Social Justice, Bd. 2: Justice as Impartiality.
schaft sein sollte oder ob, wie Gerald A. Cohen (2000) Oxford 1995.
eingewandt hat, das Differenzprinzip auch für das in- Cohen, Gerald A.: On the currency of egalitarian justice. In:
dividuelle Handeln der Personen gelten sollte; vier- Ethics 99 (1989), 906–944.
tens der Einwand (z. B. von Martha Nussbaum 2010), –: If You’re an Egalitarian, How Come You’re So Rich? Cam-
dass Rawls’ Gerechtigkeitstheorie wesentliche An- bridge MA 2000.
Dworkin, Ronald: Liberalism [1978]. In: Ders.: A Matter of
wendungsbereiche der Gerechtigkeit außer Acht lässt,
Principle. Oxford 1986, 181–204.
verbunden mit der Frage, ob und wie liberale Gerech- –: Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality.
tigkeitstheorien erweitert werden können, um Ge- Cambridge MA 2000.
rechtigkeit zwischen den Geschlechtern, Gerechtig- –: Was ist Gleichheit? Frankfurt a. M. 2011.
keit in der Familie, Gerechtigkeit für geistig und Freeman, Samuel: Utilitarianism, deontology, and the prio-
körperlich behinderte Menschen, Gerechtigkeit für rity of right [1994]. In: Ders. (Hg.): Justice and the Social
Contract. Essays on Rawlsian Political Philosophy. Oxford
Menschen in ärmeren Nationen (da der Geburtsort
2007, 45–74.
ebenfalls ein unverdienter Umstand ist) sowie Ge-
32 Libertäre Gerechtigkeit 205

– (Hg.): The Cambridge Companion to Rawls. Cambridge 32 Libertäre Gerechtigkeit


2002.
Mandle, Jon/Reidy, David A. (Hg.): A Companion to Rawls. Wie die meisten philosophisch-politischen Strömun-
Chichester 2014.
Nussbaum, Martha C.: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behin- gen hat auch der Libertarismus (libertarianism) viele
derung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Frankfurt Gesichter. Was Libertäre jedoch eint, ist die Überzeu-
a. M. 2010 (engl. 2006). gung vom normativen Primat des Individuums, die
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. starke Betonung von negativer Freiheit und Eigen-
1975 (engl. 1971). tumsrechten, das Eintreten für Tauschfreiheit, freie
–: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989.
Märkte und Gleichheit vor dem Gesetz sowie eine aus-
Hg. von Wilfried Hinsch. Frankfurt a. M. 1992.
–: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). geprägte Skepsis gegenüber Staaten und staatlicher
–: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. Umverteilung.
2003 (engl. 2001). Der an philosophischen Seminaren bekannteste li-
Richardson, Henry S. (Hg.): Opponents and Implications of a bertäre Philosoph ist Robert Nozick, dessen Buch An-
Theory of Justice. New York 1999. archie, Staat und Utopia im Jahr 1974 Furore machte.
Sandel, Michael: Liberalism and the Limits of Justice. Cam-
bridge 21998.
Doch gibt es heute eine Vielzahl weiterer Philosophen,
Sen, Amartya: Die Idee der Gerechtigkeit. München 2010 die dem Libertarismus zuzuordnen sind. Der Begriff
(engl. 2009). ›libertär‹, wie er heute verwendet wird, entstand in
den 1950er Jahren in den USA, nachdem der Begriff
Jörg Schroth
›liberal‹ spätestens seit dem New Deal einen Bedeu-
tungswandel vollzogen hatte (new liberalism). Der
›klassische Liberalismus‹ (classical liberalism), den Li-
bertäre oft noch weiter radikalisieren, hatte sich seit
dem 18. Jahrhundert entwickelt. Der wohl wichtigste
historische Vordenker ist John Locke mit seiner Zwei-
ten Abhandlung über die Regierung von 1689. Obwohl
heute oft zwischen radikaleren ›Libertären‹ und ge-
mäßigteren ›Klassisch-Liberalen‹ unterschieden wird,
wird im Folgenden der Begriff ›libertär‹ in einem wei-
ten Sinne verwendet, der auch klassisch-liberale Posi-
tionen umfasst.

Libertäre Gerechtigkeit: Selbsteigentum


und die Aneignung äußerer Güter

Im Libertarismus werden alle Gerechtigkeitsnormen


in der Kategorie moralischer Rechte (s. Kap. IV.44)
formuliert. Moralische Rechte werden von den meis-
ten Libertären als ›Naturrechte‹ begriffen, insofern sie
nicht-konventionell sind und jeder Person qua Per-
sonsein zukommen. Libertäre Gerechtigkeit besteht
im Achten dieser Rechte.
Das grundlegendste moralische Recht ist aus liber-
tärer Perspektive das Selbsteigentum (self-ownership).
Die Selbsteigentumsthese geht auf Locke zurück (Lo-
cke 1689/1977, Kap. 5 § 27): Personen haben demnach
Eigentumsrechte an ihren Körpern, ihren Talenten
und ihrem ›Geist‹, so wie sie (z. B.) Eigentumsrechte
an ihren Büchern oder ihrem Land haben. Da Rechte
mit Pflichten korrelieren, hat natürlich jede Person
auch die entsprechende Pflicht, das Selbsteigentum
206 III Gerechtigkeitskonzeptionen

anderer zu achten und deren Körper nicht ohne ihr sos können Links-Libertäre wie Steiner und Otsuka
Einverständnis anzutasten. deswegen massive Umverteilung im Namen wieder-
Wenn man Personen als Selbsteigentümer sieht, herstellender Gerechtigkeit fordern. Links-Libertäre
liegt es nahe, ihnen auch die Möglichkeit zuzugestehen, sind allerdings nur ›Startschuss-Egalitaristen‹: Wenn
sich Teile der äußeren Welt anzueignen. Selbsteigentü- etwas rechtmäßig angeeignet ist, darf es frei getauscht
mer müssen auch über die ›Früchte ihrer Arbeit‹ ver- und verschenkt werden; diese Tausch- und Schen-
fügen können. Nach Locke können Personen sich äu- kungshandlungen können durchaus Ungleichheiten
ßere Gegenstände aneignen, indem sie ihre Arbeits- in der Verteilung äußerer Güter generieren.
kraft mit ihnen ›mischen‹, also z. B. Äpfel ernten oder Zwischen dem egalitären Proviso der Links-Liber-
eine Hütte bauen (ebd., §§ 27 f.). Die Idee der ›Mi- tären und den schwachen Provisos von Nozick und
schung‹ sollte man jedoch nicht allzu wörtlich nehmen: Mack kann man sich weitere Varianten denken: Bei-
Wenn man seine Dose Tomatensaft ins Meer gießt, spielsweise könnte ein moderates Lockesches Proviso
dann scheint man sich durch die Vermischung nicht fordern, dass bei einer Aneignung für alle anderen ein
das Meer angeeignet zu haben (Nozick 2006, 233). Eric (z. B. gemäß einem Suffizienzstandard) ›fairer‹, wenn
Mack ist deshalb der Auffassung, dass Arbeitsmischung auch nicht gleicher Anteil übrig gelassen werden muss
keine entscheidende argumentative Rolle in der liber- (vgl. Simmons 1992, 292–294; Wendt 2016).
tären Theorie der Gerechtigkeit spielen sollte: Wenn Libertäre Gerechtigkeit löst sich also in die Achtung
man Personen als Selbsteigentümer sieht, sollte man von Eigentumsrechten auf. Eigentumsrechte kreieren
ihnen vielmehr auch das moralische Recht zuschrei- Freiheitssphären, d. h. Sphären der Nicht-Intervention
ben, sich gemäß verschiedensten Konventionen äußere (vgl. Kant 1793/1992, 20 f.; Steiner 1994, 216–221;
Güter anzueignen (Mack 2009, 130–133). Wendt 2009, 111–122, 19–31). Dies erklärt den Namen
Nach Locke darf man sich allerdings nur dann äu- ›libertär‹ (von lat. liber: frei). Eigentumsrechte sind ne-
ßere Güter aneignen, wenn man »genug und ebenso gative Rechte, d. h. sie korrelieren mit bloßen Unterlas-
gutes« für andere übrig lässt (Locke 1689/1977, Kap. 5 sungspflichten, insbesondere natürlich mit der Pflicht,
§§ 27, 33, 36). Manche Libertäre lehnen ein solches das Eigentum anderer nicht anzutasten. Dies hat weit-
›Lockesches Proviso‹ ab (Narveson 1988, 84 f.). Ande- reichende Folgen: Eingriffe in die Freiheit bzw. das Ei-
re akzeptieren es, wenn auch in neuen Formulierun- gentum einer Person zu ihrem eigenen Wohl (›Pater-
gen: Nach Nozick darf eine Aneignung niemanden im nalismus‹) stellen eine Verletzung moralischer Rechte
Vergleich zum Zustand ohne die Aneignung schlech- dar und sind deswegen aus libertärer Perspektive un-
ter stellen (Nozick 2006, 234–237). Nach Mack gibt es gerecht. So ist aus libertärer Perspektive z. B. klar, dass
zwar keine moralische Grenze legitimen Eigentums- der Konsum von Drogen nicht zu verbieten ist und
erwerbs, aber ein so genanntes ›Selbsteigentums-Pro- dass der Verkauf von Nieren als Ausübung von Eigen-
viso‹ (self-ownership proviso), nach dem man seine Ei- tumsrechten am eigenen Körper erlaubt sein muss.
gentumsrechte nicht auf eine Weise ausüben darf, die Auch gibt es aus libertärer Perspektive keine positiven
es anderen Personen unmöglich macht, ihre ›welt- Gerechtigkeitspflichten wie z. B. Hilfspflichten. Da Ge-
bezogenen Kräfte‹ (world-interactive powers) zu be- rechtigkeit natürlich nicht mit der Gesamtheit der Mo-
tätigen (Mack 2009, 133 f.). Sowohl Nozick als auch ral zu identifizieren ist, mag es zwar in einem weiche-
Mack denken jedoch, dass ihre Provisos nur in Aus- ren Sinn moralisch kritikwürdig sein, anderen nicht zu
nahmefällen relevant werden (Nozick 2006, 242; helfen, doch ist dies aus libertärer Perspektive keine
Mack 2009, 134). Frage der Gerechtigkeit. Obwohl eher als populäre
So genannte ›Links-Libertäre‹ (left-libertarians) da- Formel tauglich, kann man die libertäre Gerechtig-
gegen akzeptieren eine folgenreiche egalitäre Variante keitstheorie in Murray Rothbards ›Nicht-Aggressions-
des Lockeschen Provisos. Nach Hillel Steiner hat jede Axiom‹ zusammenfassen: Niemand darf initiativ phy-
Person ein moralisches Recht auf einen gleichen An- sische Gewalt gegen die Person oder das Eigentum an-
teil äußerer Güter. Entsprechend darf man sich nur so derer ausüben (Rothbard 1978, 22).
viel aneignen, bis man diesen gleichen Anteil hat Manche Libertäre versuchen jedoch, die libertäre
(Steiner 1994, 235). Nach Michael Otsuka darf man Gerechtigkeitskonzeption etwas abzuschwächen, um
sich nur so viel aneignen, wie mit Chancengleichheit allzu kontraintuitive Implikationen zu vermeiden.
(s. Kap. II.26) auf Wohlergehen kompatibel ist (Otsu- Beispielsweise sollte eine adäquate Gerechtigkeits-
ka 2003, 24–27). Wer zu viel aneignet, verletzt die theorie zulassen, dass es moralisch erlaubt ist, ein
Rechte aller anderen. Im Namen des egalitären Provi- fremdes Grundstück zu durchqueren, wenn dies not-
32 Libertäre Gerechtigkeit 207

wendig ist, um ein Menschenleben zu retten. So kön- von Tugenden. Das Argument für libertäre Rechte ist
nen (und sollten wohl) Libertäre zugestehen, dass li- sodann, dass durch sie die individuelle Selbststeue-
bertäre Rechte unter bestimmten Umständen von an- rung geschützt wird (ebd., 86–96, 268–283).
deren moralischen Erwägungen übertrumpft werden Steiner argumentiert, dass nur Eigentumsrechte ein
können (vgl. z. B. Nozick 2006, 55; Otsuka 2003, 15). System von miteinander vereinbarten (compossible)
Manche ›gemäßigte‹ Libertäre akzeptieren sogar po- Rechten ergeben können, d. h. ein System von Rech-
sitive Rechte und Pflichten und erweitern damit die li- ten, das keine kollidierenden Pflichten generieren
bertäre Gerechtigkeitstheorie erheblich (vgl. etwa Lo- kann (Steiner 1994, 86–101). Eigentumsrechte vertei-
masky 1987, 126–128). len Freiheit – und nach Steiner ist selbstverständlich,
dass Freiheit gleichverteilt sein sollte (ebd., 229, 235;
vgl. Steinvorth 1999). So kommt er zu seiner links-li-
Begründung libertärer Gerechtigkeit bertären Gerechtigkeitstheorie, in der alle Personen
Selbsteigentümer sind und ein moralisches Recht auf
Obwohl die Annahme von Selbsteigentum sicherlich einen gleichen Anteil äußerer Güter haben.
intuitiv einige Attraktivität hat (vgl. jedoch z. B. Co- Jan Narveson will die libertären Rechte in einem
hen 1995, 229–244), müssen Libertäre Selbsteigentum von Hobbes inspirierten Kontraktualismus (s. Kap.
nicht als selbstevidentes Grundprinzip akzeptieren. III.30) begründen: Eine Moral negativer libertärer
Nozick z. B., der übrigens überraschend selten wört- Rechte ist im Lichte der Interessen aller Personen bes-
lich von ›Selbsteigentum‹ spricht, deutet zumindest ser als ein moralfreier Naturzustand, da durch liber-
an, libertäre Rechte in der kantischen Idee der Ach- täre Rechte Kooperation zum Vorteil aller möglich
tung von Personen gründen zu wollen (Nozick 2006, wird (vgl. Narveson 1988, 175). Umgekehrt sind po-
56–59, 81). sitive Rechte nicht im (Eigen-)Interesse aller, mögli-
Elaborierter ist Macks in zahlreichen Aufsätzen cherweise mit Ausnahme eines positiven Rechts auf
entwickelte Begründung libertärer Rechte (zusam- Hilfeleistung in der Not (Narveson 1988, 243; Stem-
mengefasst u. a. in Mack 2009). Grundlegend ist bei mer 2000, 200).
Mack die metaethische These, dass es keine ›akteur- Loren Lomasky entwickelt in einem zu wenig be-
neutralen‹ Werte gibt, sondern nur ›akteurrelative‹ achteten Buch eine andere kontraktualistische Be-
Werte: Nichts ist gut an sich, sondern immer nur gut gründung libertärer Rechte. Ausgangspunkt ist bei
für jemanden. Zu betonen ist dabei, dass auch die Er- ihm die These, dass das Verfolgen eigener ›Projekte‹
füllung von altruistischen Anliegen gut für die Person zentral für das Leben von Personen ist (Lomasky 1987,
mit dem altruistischen Anliegen ist. In einem nächs- 16–55). In einem vormoralischen Naturzustand, der
ten Schritt verteidigt Mack eine individualistische bei Lomasky allerdings mit durchaus empathischen
Ethik, nach der jede Person ihren je eigenen akteurre- Akteuren bevölkert ist, würden deshalb alle zur wech-
lativen Werten nachgehen dürfen sollte. Niemand soll selseitigen Anerkennung basaler negativer Rechte ge-
sich für die Werte anderer Personen oder (vermeintli- langen, die es ihnen ermöglichen, ihre Projekte zu ver-
che) akteurneutrale Werte ›opfern‹ müssen. Deswe- folgen (ebd., 69–83, 120–121). Sie würden sich jedoch
gen, so Mack, müssen Personen durch libertäre Rech- auch einige bescheidene positive Wohlfahrtsrechte
te geschützt werden, die ihnen den Raum geben, ihren (welfare rights) zugestehen, die die Minimalbedingun-
akteurrelativen Werten nachzugehen. gen für die Möglichkeit des Verfolgens von Projekten
Douglas Rasmussen und Douglas Den Uyl, deren sicherstellen (ebd., 94–100, 126–128). Lomasky ver-
Position stark von der für die libertäre Bewegung in tritt insofern einen ›gemäßigten‹ Libertarismus.
den USA äußerst wichtigen Schriftstellerin und (au- Andere Klassisch-Liberale und Libertäre wiede-
ßerakademischen) Philosophin Ayn Rand beeinflusst rum, wie z. B. Milton Friedman oder auch Ludwig von
ist, wollen libertäre Rechte in einer aristotelisch-per- Mises (wenn man ihm überhaupt normative Thesen
fektionistischen Ethik begründen (Rasmussen/Den zuschreiben will), sind zumindest implizit Utilitaristen
Uyl 2005, 127–152). Menschliches Gedeihen (flouris- (oder Regelutilitaristen) (s. Kap. III.34). Sie verweisen
hing) ist das teleologisch verstandene Ziel für jeden auf die Effizienz und Wohlfahrtssteigerung, die durch
Menschen. Es kann nicht von außen, durch den Staat Privateigentum voraussetzende freie Märkte ermög-
oder andere Menschen, erreicht werden, sondern nur licht wird (vgl. Friedman 2004; Mises 2006). Doch die
durch die ›selbstgesteuerte‹ (self-directed) Aktivität der Details der utilitaristischen Moraltheorie bleiben bei
Individuen selbst, unter anderem durch die Ausübung diesen in erster Linie als Ökonomen auftretenden Au-
208 III Gerechtigkeitskonzeptionen

toren unausgearbeitet. Die Idee der Gerechtigkeit bemerken, dass man eine analoge Geschichte nicht
spielt in ihren Schriften ohnehin eine untergeordnete bezüglich anderer möglicher Staatsaufgaben erzählen
Rolle. Eine explizit utilitaristische Begründung einer kann, da z. B. private Krankenversicherungen kein Ri-
klassisch-liberalen Ordnung liefert allerdings Richard siko der Verletzung libertärer Rechte in sich bergen.
Epstein (1998, 9–39). Es sollte betont werden, dass Dennoch hat Nozicks Argument wenig Anhänger ge-
›Selbsteigentum‹ bei vielen utilitaristisch (und auch funden, unter anderem aus dem Grund, dass unklar
kontraktualistisch) orientierten Klassisch-Liberalen ist, welche Relevanz seine Geschichte für real existie-
eine deutlich weniger zentrale Bedeutung hat als bei rende Staaten hat, deren Entstehungsgeschichte mo-
anderen Libertären. ralisch deutlich problematischer sein dürfte. Auch ist
der für Nozicks Argument entscheidende Entschädi-
gungsgrundsatz umstritten.
Libertäre Gerechtigkeit und der Staat Ein anderer Weg zu einem aus libertärer Perspektive
gerechtfertigten Staat führt direkt über abgeschwächte
Da libertäre Gerechtigkeit in der Achtung von Eigen- libertäre Rechte: Wenn libertäre Rechte übertrumpft
tumsrechten besteht, scheint sie kaum moralischen werden können, zumindest wenn dies im Interesse der
Platz für Staaten zu lassen. Steuern, so ein libertäres weitaus meisten Rechtsträger ist, dann könnte ein
Diktum, sind Diebstahl und somit eine Verletzung li- Staat, der eben diese Rechte schützt und insofern für
bertärer Rechte (Rothbard 1978, 25). Doch selbst wenn Sicherheit sorgt, gerechtfertigt sein, wenn man glaubt,
Staaten anders finanzierbar wären (vgl. Otsuka 2003, dass ohne den Staat weitaus mehr und schlimmere
49 f.), würde ihr Anspruch auf ein Gewaltmonopol li- Rechtsverletzungen geschehen würden. Wenn man al-
bertäre Rechte verletzen. Tatsächlich sind deshalb die lerdings diesen Weg der Staatsrechtfertigung ein-
radikalsten Libertären ›Markt-Anarchisten‹ oder ›An- schlägt, wird man womöglich nicht bei einem Mini-
archo-Kapitalisten‹, die jeden Staat ablehnen. Natür- malstaat stehenbleiben können. Man wird vielmehr
lich glauben diese Libertären nicht nur, dass Staaten wahrscheinlich auch einige weitere Staatsaufgaben als
ungerecht sind. Sie versuchen auch plausibel zu ma- legitim anerkennen müssen, in erster Linie die staatli-
chen, dass selbst Sicherheit und Rechtsprechung effi- che Bereitstellung weiterer öffentlicher Güter (jenseits
zienter von konkurrierenden privaten Schutzfirmen des öffentlichen Guts ›Sicherheit‹) und eines sozialen
und Gerichten bereitgestellt werden können als vom Netzes. Eher konsequentialistisch orientierte Denker
Staat (Rothbard 1978, 219–246; Huemer 2013, Kap. wie Friedrich Hayek akzeptieren diese Staatsaufgaben
10–12). (vgl. z. B. Hayek 2003, 348 f., 361 f., 367 f.).
Andere möchten dagegen zumindest einen Mini- Aus kontraktualistischer Perspektive können Staats-
malstaat rechtfertigen, der die libertären Rechte aufgaben auf die gleiche Weise gerechtfertigt werden
schützt. Nozick erzählt zu diesem Zweck eine Ge- wie die libertären Rechte selbst, nämlich als im Eigen-
schichte, in der aus einem vorstaatlichen Natur- interesse aller liegend. James Buchanan spricht zu-
zustand durch eine ›unsichtbare Hand‹ und ohne die nächst von einem Verfassungsvertrag, mit dem zu-
Verletzung libertärer Rechte ein Staat entsteht. Zu- gleich Eigentumsrechte und ein für ihren Schutz sor-
nächst, so Nozick, würde sich in einem Naturzustand gender Staat (protective state) etabliert werden. Dem
in abgegrenzten geographischen Gebieten eine jeweils folgt bei Buchanan ein postkonstitutioneller Vertrag,
dominierende Schutzvereinigung herausbilden, da es mit dem die staatliche Produktion weiterer öffentlicher
bei der Bereitstellung von Sicherheitsdienstleistungen Güter gerechtfertigt wird (productive state) (Buchanan
eine Tendenz zum Monopol gibt (Nozick 2006, 40). 2009, 97 f.; vgl. auch Lomasky 1987, 149–151).
Eine solche dominierende Schutzvereinigung, so No-
zick weiter, dürfte die Privatjustiz von Nicht-Mitglie-
dern verbieten, da Privatjustiz ein hohes Risiko der Libertäre Gerechtigkeit versus soziale
Verletzung libertärer Rechte in sich birgt (ebd., 127, Gerechtigkeit
143–152). Sie darf Privatjustiz aber nur verbieten,
wenn sie den ›Unabhängigen‹ dafür eine Entschädi- Die meisten Libertären sind skeptisch gegenüber den
gung bietet – und diese Entschädigung besteht, so No- Ideen der ›Verteilungsgerechtigkeit‹ (s. Kap. II.12)
zick, plausiblerweise darin, dass sie auch ihnen Schutz und der ›sozialen Gerechtigkeit‹ (s. Kap. II.18). So
bietet (ebd., 155, 121). Eine dominierende Schutzver- heißt der zweite Band von Hayeks Recht, Gesetz und
einigung, die das tut, wäre ein Minimalstaat. Es ist zu Freiheit »Das Trugbild sozialer Gerechtigkeit«. Ha-
32 Libertäre Gerechtigkeit 209

yeks Skepsis bezüglich sozialer Gerechtigkeit rührt Da für Libertäre alle Ungerechtigkeit in der Verlet-
daher, dass die Idee sozialer Gerechtigkeit inkompati- zung von Rechten besteht, kann man die Gerechtig-
bel mit der ›spontanen Ordnung‹ ist, die sich durch keit einer Güterverteilung nicht an der Verteilungs-
freiwillige Kooperation von Personen in Märkten ein- struktur ablesen. Es gibt keine ›Ergebnisgerechtigkeit‹
stellt (Hayek 2003, 218–221). Märkte haben den gro- (s. Kap. II.22). Es kommt allein darauf an, wie die Ver-
ßen Vorteil, dass sich in den auf ihnen gebildeten Prei- teilung zustande gekommen ist. Aus diesem Grund ist
sen wertvolle Informationen über die Präferenzen von ›historische Gerechtigkeit‹ (s. Kap. II.23) für Libertäre
Personen und die Knappheit von Gütern widerspie- von zentraler Bedeutung. Die schwierige Frage, wie
geln, die komplexe gesellschaftliche Koordination er- mit bis heute folgenreichem Unrecht in der Vergan-
möglichen. Diese Informationen können keinem zen- genheit, wie z. B. der Sklaverei in Amerika, umzuge-
tralen Planer zur Verfügung stehen (Hayek 2003, 50– hen ist, stellt sich aber natürlich nicht nur aus libertä-
54). Recht soll nach Hayek nur einen stabilen Rahmen rer Perspektive (vgl. z. B. Nozick 2006, 205 f., 304 f.;
schaffen, innerhalb dessen sich durch freiwillige Ko- Schmidtz 2006, 208–215).
operation auf Märkten spontane Ordnungen heraus-
bilden können. Da es also keine zentrale Verteilung
von Gütern gibt (bzw. geben sollte), gibt es auch keine Libertäre politische Philosophie
Verteilungsgerechtigkeit oder soziale Gerechtigkeit ohne libertäre Gerechtigkeit
(vgl. auch Nozick 2006, 201, 214).
Ein sehr einfaches und wichtiges Argument gegen Zwei interessante neuere Ansätze libertärer politi-
Verteilungsgerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit ist scher Philosophie radikalisieren in gewisser Weise die
Nozicks Wilt-Chamberlain-Argument (Nozick 2006, Skepsis gegenüber sozialer Gerechtigkeit: Sie übertra-
215 f.). Es richtet sich gegen alle ›strukturellen‹ Ge- gen sie auf libertäre Gerechtigkeit selbst.
rechtigkeitsprinzipien, also Prinzipien, die behaupten, Chandran Kukathas entwickelt die Vision der Ge-
dass eine Verteilung von Gütern (oder anderem) eine sellschaft als eines Archipels von Inseln, die alle nach
bestimmte Struktur haben muss, um als gerecht gelten ihren je eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen leben
zu können. Ein Beispiel für ein strukturelles Gerech- können. Die Aufgabe des Staates besteht in diesem Ar-
tigkeitsprinzip ist z. B. der Grundsatz ›Jedem nach sei- chipel allein darin, den Frieden zwischen den Inseln
nen Bedürfnissen‹, aber auch komplexere Grundsätze zu sichern (Kukathas 2003, 252 f.). Im Hintergrund
wie John Rawls’ ›Differenzprinzip‹ (s. Kap. II.25) fal- steht bei Kukathas dabei eine Anthropologie, nach der
len darunter. Nozick lädt den Leser zunächst ein, sich es das zentrale menschliche Grundinteresse ist, nach
eine Gesellschaft vorzustellen, in der des Lesers bevor- dem eigenen Gewissen (inklusive der eigenen Gerech-
zugter struktureller Gerechtigkeitsgrundsatz verwirk- tigkeitsvorstellung) leben zu können (ebd., 55). Eine
licht ist. Sodann kommt der Basketballspieler Wilt Gesellschaft, die ermöglichen will, dass alle nach ih-
Chamberlain in die Stadt und unterzeichnet einen rem Gewissen leben können, sollte nach Kukathas in
Vertrag beim örtlichen Basketballverein, dem gemäß erster Linie Toleranz und Vereinigungsfreiheit hoch-
er für jedes verkaufte Heimspielticket 25 Cent be- halten, aber nicht in interne Angelegenheiten von
kommt. Die Leute strömen zu den Spielen und Wilt durch Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen geein-
Chamberlain wird reich. Das wenig überraschende ten Gemeinschaften eingreifen (ebd., 119 f.). Sie ist
Ergebnis ist, dass wir eine neue Struktur vor uns ha- nicht selbst durch eine gemeinsame Gerechtigkeits-
ben: Freiwillige Tauschhandlungen haben die gemäß vorstellung geeint (ebd., 76). Anders als libertäre Phi-
dem strukturellen Gerechtigkeitsgrundsatz des Lesers losophen von Nozick über Mack bis Steiner entwickelt
geordnete Struktur ›gesprengt‹. Strukturelle Gerech- Kukathas somit keine spezifisch libertäre Theorie der
tigkeitsgrundsätze könnten somit, so Nozick, nur Gerechtigkeit. Man könnte bei ihm von einem ›kom-
durch ständige gewaltsame Eingriffe in die Tausch- munitaristischen Libertarismus‹ sprechen.
freiheit von Personen aufrechterhalten werden. Eine Nach Gerald Gaus, dessen politische Philosophie
– in ihrer Schlagkraft umstrittene – Entgegnung ist, im Kern vom späten Rawls geprägt ist, müssen die Au-
dass zumindest Rawls’ Differenzprinzip nur die toritätsansprüche staatlicher Gesetze, aber auch die
›Grundstruktur‹ der Gesellschaft betreffen soll, nicht Regeln der ›Sozialmoral‹, öffentlich rechtfertigbar sein.
›einzelne‹ Verteilungen (vgl. dazu Schmidtz 2006, Staatliche Gesetze und Regeln sind öffentlich gerecht-
199–202; vgl. für eine kritische Diskussion des Wilt- fertigt, wenn alle vor dem Hintergrund ihrer je eige-
Chamberlain-Arguments auch Cohen 1995, 19–37). nen Überzeugungen, Wert- und Gerechtigkeitsvor-
210 III Gerechtigkeitskonzeptionen

stellungen hinreichenden Grund haben, sie zu akzep- prinzip unterstützt nach Tomasi (und nach David
tieren (Gaus 2011, 263). Da Gaus den tiefgreifenden Schmidtz) marktfreundliche Institutionensysteme, da
Pluralismus unserer Gesellschaften, der bis zu Ge- in ihnen ein Wohlstand produziert wird, von dem
rechtigkeitsfragen reicht, ernst nimmt, glaubt er nicht, auch die Schwächsten profitieren (ebd., 230–236;
dass es Bereiche gibt, in denen genau ein Gesetz oder Schmidtz 2006, 193 f., 57, 167). Tomasi vertritt jedoch,
eine moralische Regel den Test öffentlicher Rechtfer- wie z. B. auch Hayek, Buchanan, Lomasky und Gaus,
tigbarkeit übersteht (ebd., 305). Vielmehr wird es einen über den Minimalstaat hinausgehenden Staat,
meist eine größere Menge von für alle akzeptablen Ge- der auch öffentliche Güter und ein soziales Netz be-
setzen und moralischen Regeln geben. Diese Menge reitstellt (z. B. Tomasi 2012, 92, 230).
zeichnet sich dadurch aus, dass alle sie besser finden
als die Alternative, für den Bereich gar keine Gesetze
oder Regeln zu haben. Die öffentlich gerechtfertigten Zusammenfassung
moralischen Regeln und staatlichen Gesetze, die im-
plementiert sind oder implementiert werden, werden Libertäre Gerechtigkeit besteht in der Achtung von
deshalb aus der Perspektive der meisten Personen Eigentumsrechten, sowohl an der eigenen Person als
nicht ideal gerecht sein. Gaus versucht zu zeigen, dass auch an (auf gerechte Weise erworbenen) äußeren
sein Ansatz klassisch-liberale Implikationen hat: Ein Gütern. Die Begründungsstrategien für die libertäre
ausgreifender egalitärer Wohlfahrtsstaat ist nach Gaus Gerechtigkeitstheorie spiegeln die gesamte Bandbrei-
nicht öffentlich rechtfertigbar, da manche Personen te ethischer Theorien von Kantianismus über Tugend-
vernünftige klassisch-liberale oder libertäre Überzeu- ethik und Kontraktualismus bis Utilitarismus wider.
gungen haben. Diese Personen können geltend ma- Eine offene Frage unter Libertären ist, ob sich vor dem
chen, dass sie ab einem bestimmten Ausmaß von Hintergrund libertärer Rechte gar kein Staat, ein Mi-
Zwang einen Zustand ohne Gesetze stark umvertei- nimalstaat oder sogar ein darüber hinausgehender
lenden Gesetzen vorziehen würden. Vorschläge über Staat rechtfertigen lässt. Libertäre sind meist skeptisch
stark umverteilende Gesetze fallen deswegen aus der gegenüber Konzeptionen der sozialen Gerechtigkeit,
Menge der für alle akzeptablen Gesetze heraus (ebd., wie sie von liberalen Egalitaristen wie z. B. Rawls ent-
501, 521 f.). Sie sind nicht öffentlich rechtfertigbar. wickelt wurden. Doch gibt es einige Entwicklungen in
der libertären Theoriebildung, die interessante Brü-
ckenschläge zu nicht-libertären Gerechtigkeitskon-
Bleeding Heart Libertarianism zeptionen ermöglichen und so neue Diskussionsfelder
eröffnen: Links-Libertäre verknüpfen Selbsteigentum
In jüngster Zeit verteidigen so genannte ›Bleeding mit einer egalitären Theorie bezüglich äußerer Güter,
Heart Libertarians‹ gegen Hayek, Nozick, Kukathas Kukathas entwickelt multikulturalistische Themen in
und Gaus explizit die Idee sozialer Gerechtigkeit als eine libertäre Richtung, Gaus knüpft an die auch von
zentralen Bewertungsstandard für Institutionen. John Rawls entwickelte Idee öffentlicher Rechtfertigung an
Tomasi entwickelt eine stark von Rawls inspirierte und Tomasi versucht sogar, eine libertäre Theorie so-
Theorie sozialer Gerechtigkeit: Einem lexikalisch vor- zialer Gerechtigkeit zu entwickeln.
geordneten Freiheitsgrundsatz, der für alle Bürger
gleiche Rechte und Grundfreiheiten fordert, folgt ein Literatur
Grundsatz fairer Chancengleichheit sowie ein Diffe- Buchanan, James: Die Grenzen der Freiheit. Tübingen 22009
renzprinzip, das – in einer allgemeinen Formulierung (engl. 1975).
Cohen, Gerald A.: Self-Ownership, Freedom, and Equality.
– verlangt, dass die Vorteile der gesellschaftlichen Zu- Cambridge 1995.
sammenarbeit allen, insbesondere den Schwächsten, Epstein, Richard: Principles for a Free Society. New York
zugutekommen müssen. Doch bekommt diese Ge- 1998.
rechtigkeitstheorie bei Tomasi eine marktfreundliche Friedman, Milton: Kapitalismus und Freiheit. München
82004 (engl. 1962).
Interpretation. Am deutlichsten wird dies im Frei-
Gaus, Gerald: The Order of Public Reason. New York 2011.
heitsgrundsatz: Nach Tomasi müssen auch weitgehen-
Hayek, Friedrich: Recht, Gesetz und Freiheit. Tübingen 2003
de wirtschaftliche Freiheiten im Freiheitsgrundsatz (engl. 1973).
verankert sein (Tomasi 2012, xv, 121), weil diese eben- Huemer, Michael: The Problem of Political Authority. Basing-
so entscheidend für ›Selbstautorenschaft‹ (self-author- stoke 2013.
ship) sind wie andere Freiheiten. Auch das Differenz- Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch: Das mag in der
33 Sozialistische Gerechtigkeit 211

Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis [1793]. 33 Sozialistische Gerechtigkeit
Hamburg 1992.
Kukathas, Chandran: The Liberal Archipelago. Oxford 2003. Gerechtigkeit aus einer sozialistischen Sicht unter-
Locke, John: Zweite Abhandlung über die Regierung. In: Zwei
Abhandlungen über die Regierung. Frankfurt a. M. 1977 scheidet sich durch zwei Merkmale von anderen, von
(engl. 1689). Sozialisten als ›bürgerlich‹ klassifizierten Ansätzen:
Lomasky, Loren: Persons, Rights, and the Moral Community. Erstens orientiert sich diese Tradition stärker an der
Oxford 1987. ursprünglichen Gleichheitssemantik der Gerechtig-
Mack, Eric: Individualism and libertarian rights. In: John keit. Bereits Aristoteles bestimmte die Gerechtigkeit
Christman/Thomas Christiano (Hg.): Contemporary De-
als eine proportionale Gleichheit (Pol 1301a 26), eine
bates in Political Philosophy. Oxford 2009, 121–136.
Mises, Ludwig: Liberalismus [1927]. Sankt Augustin 42006. »Gleichheit für Gleiche« (Pol 1280a 11; vgl. NE V.6),
Narveson, Jan: The Libertarian Idea. Philadelphia 1988. und machte von der Wahrung dieser Gleichheit,
Nozick, Robert: Anarchie, Staat und Utopia. München 2006 obzwar sie noch qualifiziert werden muss, das Glück
(engl. 1974). des Gemeinwesens abhängig. Er meint damit nicht nur
Otsuka, Michael: Libertarianism without Inequality. Oxford die Summe des Glücks Einzelner, sondern auch das
2003.
Rasmussen, Douglas/Den Uyl, Douglas: Norms of Liberty.
Gelingen der Gemeinschaft als solcher: »Nun ist des
University Park PA 2005. Staates Gut das Gerechte und das Gerechte das, was
Rothbard, Murray: For a New Liberty. New York 21978. dem gemeinen Wesen frommt. Das Gerechte scheint
Schmidtz, David: Elements of Justice. Cambridge 2006. aber allen ein Gleiches zu sein« (Aristoteles, Pol 1282b
Simmons, A. John: The Lockean Theory of Rights. Princeton 16). Ein Zusammenhang von sozialer Gleichheit und
NJ 1992.
glückender Gemeinschaft wird, zumindest über den
Steiner, Hillel: An Essay on Rights. Oxford 1994.
Steinvorth, Ulrich: Gleiche Freiheit. Berlin 1999. Umweg von Ungleichheit und Unglück, noch heute
Stemmer, Peter: Handeln zugunsten anderer. Berlin 2000. diskutiert (Wilkinson/Pickett 2009).
Tomasi, John: Free Market Fairness. Princeton NJ 2012. Zweitens wird Gleichheit im sozialistischen Zu-
Wendt, Fabian: Libertäre politische Philosophie. Paderborn sammenhang weniger rechtlich oder politisch aus-
2009. buchstabiert, sondern stärker ökonomisch verstan-
Wendt, Fabian: The sufficiency proviso: a case for moderate
den. Ökonomische Gleichheit gilt dabei allerdings zu-
libertarianism. In: Jason Brennan/Bas van der Vossen/
David Schmidtz (Hg.): The Routledge Handbook of Liber- gleich als Ermöglichungsbedingung rechtlicher und
tarianism. London (im Erscheinen). politischer Gleichheit. Sozialisten geht es vor allem
um eine größere Gleichheit hinsichtlich der Teilhabe
Fabian Wendt am gesellschaftlichen Reichtum. Doch dies lässt sich
nicht konsumistisch verkürzen (wie u. a. Max Weber
dem Sozialismus vorwarf, vgl. Weber 1918/1988),
denn zugleich ist eine gleichberechtigte Teilnahme an
und eine Mitbestimmung über wirtschaftliche Ange-
legenheiten angezielt. Das kann auf verschiedene Wei-
se umgesetzt werden, und daher gibt es nicht nur ei-
nen, sondern verschiedene ›Sozialismen‹. Die Orien-
tierung an einer gesellschaftlichen Gütergemeinschaft
erlaubt jedoch eine hinreichende Unterscheidung zu
anderen Gerechtigkeitsvorstellungen, insbesondere
zu den so genannten liberalen Konzeptionen von
Friedrich August Hayek bis John Rawls (s. Kap. III.31).
Eine Betrachtung sozialistischer Gerechtigkeit wird
durch zwei Umstände erschwert: Zum einen gibt es
heute kaum noch Gesellschaften, die sich als sozialis-
tisch verstehen (und die Realsozialismen, die es einmal
gab, waren weit von den eigentlichen Idealen entfernt).
Zum anderen definierte sich auch der Sozialismus, den
es einmal gab, weniger über positive Zielvorgaben als
vielmehr über negative Abgrenzungen gegenüber an-
deren, als ungerecht empfundenen Gesellschaftsfor-
212 III Gerechtigkeitskonzeptionen

men. Zumindest in der sozialistischen Programmatik gemeinsam, weil sie wildwachsend von der Natur er-
steht die Kritik an der Ungerechtigkeit gegenüber der zeugt werden; und niemand hat ursprünglich ein per-
Bestimmung positiver Kriterien sozialistischer Ge- sönliches Herrschaftsrecht mit Ausschluß aller übrigen
rechtigkeit im Vordergrund. Bei näherem Hinsehen ist Menschen über irgendetwas« (Locke 1689/1977, 216).
für das sozialistische Denken sogar schon der Begriff
der Gerechtigkeit kritikwürdig, da er allzu sehr in die Auf diese doppelte Tradierung der Idee eines ur-
Ideologien verwoben ist, welche die kapitalistischen sprünglichen Gemeineigentums – aus den sozialkriti-
Gesellschaften rechtfertigen (s. Kap. I.10). Darstellun- schen Elementen der jüdisch-christlichen Religion
gen der positiven Gerechtigkeitsideale des Sozialismus und aus dem revolutionär wirkenden säkularen Natur-
haben deshalb spekulativen Charakter, denn hier wird recht der Neuzeit – konnten sich sozialistische Kriti-
rekonstruiert, was nur selten explizit war. ken an einer ungerechten Verteilung des Reichtums in
Diese Darstellung sozialistischer Gerechtigkeit be- der europäischen Neuzeit stützen. Solche Kritiken tra-
ginnt daher mit einer Analyse der sozialistisch inspi- ten insbesondere in Zeiten des gesellschaftlichen Um-
rierten Kritik an der Ungerechtigkeit bestehender Ge- bruchs hervor, in denen eine Neuordnung der Gesell-
sellschaften sowie der sozialistischen Kritik am Begriff schaft möglich erschien – im deutschen Bauernkrieg
der Gerechtigkeit. Daran schließt sich eine Betrach- etwa bei Thomas Müntzer (1489–1525), im englischen
tung positiver Entwürfe an, soweit es solche gegeben Bürgerkrieg bei Gerrard Winstanley (1609–1676), in
hat. Und schließlich werden in einem Ausblick in der der radikalen Aufklärung des 18. Jahrhunderts etwa
sozialphilosophischen Literatur der Gegenwart wie- bei Thomas Paine (1737–1809), der als Erfinder des
derkehrende sozialistische Motive – ob unter diesem bedingungslosen Grundeinkommens gehandelt wird,
Namen oder nicht – aufgezeigt. und im ›Frühsozialismus‹ des 19. Jahrhunderts bei
Denkern wie William Thompson (1775–1833) oder
Wilhelm Weitling (1808–1871). Im 20. Jahrhundert
Sozialistische Kritik an der realen hatten sozialistische Tendenzen vor allem nach den
Ungerechtigkeit beiden Weltkriegen Konjunktur, denn in diesen Pha-
sen lagen alte politische Institutionen am Boden und
Im Mittelpunkt der sozialistischen Ungerechtigkeits- zugleich gab es große Versorgungsengpässe. Darin sa-
kritik steht die ungleiche Verteilung der Güter (Ein- hen viele Betroffene eine Irrationalität vor allem der
kommen und Vermögen), wie es sie in den meisten kapitalistischen Produktionsweise: »Diese grund-
Gesellschaften seit der neolithischen Revolution gege- legende und letztlich unentrinnbare Irrationalität der
ben hat. Diese Kritik findet sich bereits im Judentum Wirtschaft ist eine der Quellen aller ›sozialen‹ Proble-
und dem frühen Christentum (s. Kap. I.6). Wenn es matik, vor allem: derjenigen des Sozialismus« (Weber
etwa heißt, »[d]ie Erde ist des Herrn« (Psalm 24,1; vgl. 1922/1988, 60).
3. Mose 25,23) oder »wir sind Kinder Gottes« (1. Joh. Dabei ist hervorzuheben, dass als zu kritisierende
3,2), dann folgt daraus in einer radikalen Lesart, dass Ungerechtigkeit nicht nur die ungleiche Verteilung
alle Menschen ein gleiches Recht auf die Natur und die der Einkommen und Gehälter zwischen den gesell-
Aneignung der Früchte der Natur haben. Gerechtig- schaftlichen ›Klassen‹ galt (wie sie bald genannt wur-
keit ist ein Zentralwort des Alten Testaments, und das den), sondern auch die Benachteiligung der Frauen in
führte bereits in Judentum und frühem Christentum Familie, Gesellschaft und Politik; deutlich z. B. bei
zu einer starken sozialkritischen Unterströmung, auf Thompson, daneben etwa bei William Godwin (1756–
die sich egalitaristisch-sozialrevolutionäre Strömun- 1836), Charles Fourier (1772–1837) und August Bebel
gen immer wieder bezogen haben (dazu klassisch Far- (1840–1913; vgl. Bebel 1879/1946). In beiden Fällen
ner 1985, im Überblick auch Leidinger/Moritz 2008). wird Ungerechtigkeit als reale Ungleichheit beschrie-
Diese Idee eines ursprünglichen Gemeineigentums an ben – das eine Mal zwischen den gesellschaftlichen
der Erde wurde über John Lockes Naturrecht auch in Klassen hinsichtlich ihrer ungleichen Ressourcen (zu-
der Neuzeit wirksam. Auch für Locke gehört die Erde nächst zwischen Bauern und adligen Grundeigentü-
ursprünglich allen Menschen: mer, zunehmend dann auch zwischen Arbeitern und
Kapitalisten), und das andere Mal zwischen den Ge-
»Gott [hat] die Welt den Menschen gemeinsam über- schlechtern auch innerhalb dieser Klassen hinsicht-
tragen […]. Alle Früchte, die sie natürlich hervorbringt, lich des eingeschränkten Wirkungsrahmens der Frau-
und alle Tiere, die sie ernährt, gehören den Menschen en. Eine gerechtere Gesellschaft wäre entsprechend ei-
33 Sozialistische Gerechtigkeit 213

ne, in der es mehr rechtliche und ökonomische dianischen Sozialisten (im Anschluss an David Ricar-
Gleichheit zwischen den Menschen gibt, und zwar auf do, 1772–1823), dass dieser Reichtum von den ersten
der Grundlage einer gemeinsamen Bestimmung über beiden Gruppen in weitaus höherem Maße angeeignet
den Reichtum, sowohl was den Verbrauch als auch werde als von der dritten, wesentlich zahlreicheren,
was die Herstellung desselben anging. Sozialismus be- obwohl doch die eigentliche Arbeit von eben dieser
zeichnet also nicht nur das Zusammenleben einer dritten Klasse geleistet werde. Die anderen beiden
Menge ähnlich reicher Individuen, die sonst nicht Klassen haben die Arbeitsmittel zur Verfügung und
weiter verbunden sind (wie es manche Konzeptionen verwandeln die Arbeit damit ebenfalls in ein solches
des liberalen Egalitarismus vorsehen), sondern auch ›bloßes‹ Mittel. Das ruft zugleich Phänomene von Ent-
die Art und Weise der Verbundenheit zwischen ihnen. fremdung und Verdinglichung hervor, die von Sozia-
Lorenz von Stein (1850/1959) sprach daher von einer listen ebenfalls kritisiert wurden.
›sozialen Bewegung‹. Dadurch wird in gewisser Weise Das Stichwort des ›gesellschaftlichen Reichtums‹
auch die fraternité aus der Losung der Französischen markiert nun die grundlegend veränderte Vorstel-
Revolution (liberté, égalité, fraternité) aufgegriffen lung dieses Gerechtigkeitsdenkens gegenüber libera-
und weiterentwickelt. len Modellen, die von einem »possessiven Individua-
Über die Jahrhunderte verändert sich allerdings die lismus« ausgehen (Macpherson 1990). Es wird ein
Gestalt der ›Gleichheitspräsumption‹ (also die Idee, Zweifel artikuliert an der – meist durch das bürger-
dass eine Gleichverteilung der Normalfall sein sollte), liche Recht gestützten und insofern im offiziellen Dis-
an der als ungerecht empfundene Verteilungsverhält- kurs gerechtfertigten – individualistischen Aneig-
nisse gemessen werden. Dieser Übergang ist vermittelt nungsform eines Reichtums, der doch im Grunde
u. a. durch die bereits genannte Theorie von Locke, für von allen gemeinsam produziert wird. Der Reichtum
den ja nur die Früchte der Natur, nicht aber die Früchte gehört allen, und zwar, wie gesehen, erstens deshalb,
der Arbeit allen gehören sollten. Im Rahmen der im weil die Natur, als erste Quelle aller Reichtümer, nie-
18. Jahrhundert entstehenden politischen Ökonomie mandem allein gehören kann (so die ältere Version),
wird die Herkunft des gesellschaftlichen Reichtums und zweitens deshalb, weil der Reichtum von Gesell-
nicht länger nur der Natur zugeschrieben (wie zuletzt schaften durch gesellschaftliche Arbeitsteilung und
noch im System der Physiokraten), sondern vor allem insofern ›sozial‹ – und gerade nicht individuell – pro-
der menschlichen Arbeit. Diese Arbeit ist im Denken duziert wurde.
der Sozialisten allerdings keine, die Individuen in Ab- Damit basiert die Kritik an der individualistischen
sonderung voneinander vollbringen können (wie in Aneignung des Reichtums nicht in erster Linie auf ei-
einer Republik von Kleinbauern, die etwa für den Jef- ner (im Vergleich zum Ideal des homo oeconomicus)
fersonschen Republikanismus noch Pate stand), son- sozialeren Anthropologie – also auf der Vorstellung,
dern eine kooperative gesellschaftliche Arbeit. Diese dass der Mensch sich nur durch die Einbettung in al-
wird zwar arbeitsteilig erbracht, die Bestimmung über lerlei soziale Bindungen überhaupt ausbilden kann
den Arbeitsprozess und die Verteilung der Früchte und daher kein atomistisches Einzelwesen ist. Zwar
vollzieht sich aber im Kapitalismus radikal ungleich – gibt es solche kommunitaristischen Tendenzen im So-
und daher für Sozialisten ungerecht: Kapitaleigentü- zialismus (zum Kommunitarismus s. Kap. III.36); So-
mer haben die Kontrolle über den Produktionsprozess zialismus ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einem
und können sich daher auch den Löwenanteil der ethischen Antiindividualismus. Die Skepsis speist sich
Früchte desselben aneignen. Und zwar geschieht dies vielmehr aus einer anderen Interpretation wirtschaft-
auf eine Weise, die dem geltenden Recht dieser Epoche licher Prozesse. Mit ihr wird die Legitimität von An-
durchaus entspricht. Denn dieses Recht orientierte sprüchen auf eine individuelle Aneignung der ge-
sich seit Locke vor allem an der Sicherung des bürger- meinsamen Produkte bestritten. Da die Kritikfolie
lichen Eigentums als Pfand der Freiheit gegenüber nun weniger in der Natur als vielmehr in der Interpre-
Staatseingriffen. In dieser Situation stützte sich die so- tation der Wirtschaft verortet ist, wird die politische
zialistische Gleichheitspräsumption nicht mehr pri- Ökonomie zur Leitwissenschaft des Sozialismus. Das
mär auf das Gemeineigentum an Naturgütern, son- war nicht erst bei Karl Marx so, sondern bereits bei
dern eher auf die gemeinsame Erwirtschaftung des früheren Sozialisten von Robert Owen (1771–1858)
Reichtums in einer Zusammenarbeit der Klassen: vor bis Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865). Noch heute
allem der Grundbesitzer, Kapitalbesitzer und Arbeits- wird über die Möglichkeit eines Sozialismus vor allem
kraftbesitzer. Es sei ungerecht, meinten nun die ricar- in ökonomischen Kategorien debattiert.
214 III Gerechtigkeitskonzeptionen

Sozialistische Kritik am Gerechtigkeits- Marx eine wirkliche Veränderung der Lage. Das Be-
begriff harren auf einem juristischen Verständnis der Proble-
me, welches sich auch bei Sozialisten und Philanthro-
Nun gibt es unter Rechtsphilosophen eine verbreitete pen finde, lenke die Betrachtung von ihrem Gegen-
Kritik an der philosophischen Gewohnheit, Gerech- stand ab (zur Erläuterung dieser Argumentation Mai-
tigkeitsvorstellungen, die in einer bestimmten Gesell- hofer 1992 und Wood 2004).
schaft entstanden sind und eine Funktion innerhalb Gleichwohl beinhaltet gerade die politökonomi-
derselben haben, von ihren Kontexten zu lösen, um sche Analyse des Kapitalismus den Nachweis einer
sie dann als freischwebendes Ideal einer künftigen ge- Ungerechtigkeit nicht nur hinsichtlich der Verteilung,
rechteren Gesellschaft zu interpretieren – noch Axel sondern bereits auf der Ebene der Eigentumsverhält-
Honneth beispielsweise spricht von einem »Gel- nisse. Diese lassen sich nicht durch eine einmalige
tungsüberhang« (Honneth 2010, 224), der in Gerech- Umverteilung der assets verändern, wie in der ›Stake-
tigkeitsbegriffe eingelassen sei. Zu den Kritikern die- holder-Gesellschaft‹ Bruce Ackermanns, da bereits
ser Dekontextualisierung zählen so unterschiedliche die ›Form‹ dieser assets, also die private Verfügung
Autoren wie der sozialdemokratisch orientierte Hans über gespeicherte gesellschaftlicfhe Arbeit in Form
Kelsen (vgl. Kelsen 1953), der Neoliberale Friedrich des Kapitals, das Problem immer wieder neu hervor-
August Hayek (vgl. Hayek 2004) sowie Karl Marx. bringen würde. Das gilt es kurz zu erläutern: Marx
Marx’ Gerechtigkeitskritik wird im Folgenden nä- zeigt im Geiste Hegels auf, dass das auf der Tauschebe-
her beleuchtet, weil sie bis heute eine der einfluss- ne beruhende abstrakte Vertragsrecht die Menschen
reichsten Kritiken am Gerechtigkeitsbegriff darstellt. bereits als Freie und Gleiche behandelt. Darauf beruht
Nach dem historischen Materialismus, demzufol- der Anschein, man habe es hier mit gerechten Verhält-
ge das gesellschaftliche Sein der Menschen ihr Den- nissen zu tun, da Freiheit und Gleichheit bewahrt, ja
ken bestimmt (und nicht umgekehrt), kann eine ›Idee allererst ›hergestellt‹ werden: »Der Austausch von
der Gerechtigkeit‹ die Zustände, denen sie entspringt, Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller
nicht auf reale Weise transzendieren. Denn würde Gleichheit und Freiheit« (MEW 42, 170). Allerdings
man die durch Abstraktionen von der gegebenen und ist der Gebrauchswert dessen, was die Menschen im
bereits von Gerechtigkeitsvorstellungen durchwirk- ›gerechten‹ Äquivalententausch jeweils erlangen, ra-
ten Wirklichkeit gewonnene höhere, weil philoso- dikal verschieden, je nachdem ob sie Eigentümer von
phisch ausgedrückte Gerechtigkeit gegen diese öko- Produktionsmitteln oder Verkäufer von Arbeitskraft
nomische Wirklichkeit aufbieten, so würde man diese sind. Genau darin kann man nun eine Ungerechtig-
Wirklichkeit lediglich ideell verdoppeln, d. h. theo- keit sehen: »Das Kapital ist die konzentrierte gesell-
retisch verklären und praktisch wiederherstellen. schaftliche Macht, während der Arbeiter nur über sei-
Diesen Verdacht haben Marx und Friedrich Engels ne Arbeitskraft verfügt. Der Kontrakt zwischen Kapi-
bereits im Kommunistischen Manifest (1847) ge- tal und Arbeit kann deshalb niemals auf gerechten Be-
äußert: »Eure Ideen selbst sind Erzeugnisse der bür- dingungen beruhen« (MEW 16, 169; vgl. MEW 23,
gerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, 191, 611).
wie euer Recht nur der zum Gesetz erhobene Wille Marx benutzt diese Sprache jedoch in der Regel
eurer Klasse ist« (MEW 4, 477). Es macht für Marx nicht, weil gerade in diesem Sprachgebrauch das
wenig Sinn, mit Begriffen der Gerechtigkeit gegen ge- Recht, aus welchem die Gerechtigkeitssemantik ja
sellschaftliche Missstände wie die von den Sozialisten stammt, nicht hinterfragt werde. Für Marx ist das bür-
beklagte ökonomische Ungleichheit zwischen gesell- gerliche Recht nicht Teil der Lösung, sondern Teil des
schaftlichen Klassen angehen zu wollen, weil die Ver- Problems. Er bestimmt das Recht als eine aus ver-
treter der bürgerlichen Ordnung die ›Gerechtigkeit‹ schiedenen Diskursen bestehende eigene Sphäre, die
im Zweifelsfall auf ihrer Seite hätten. Zwar kann auf- jedoch in letzter Instanz von der Ökonomie abhängig
grund der Deutungsoffenheit solcher Begriffe jede ist. Es reagiert auf Veränderungen in der ökonomi-
Seite einer Auseinandersetzung sich als diejenige be- schen Sphäre ebenso wie auf Entwicklungen in ande-
zeichnen, der Ungerechtigkeit widerfahre; doch diese ren Sphären (der Kultur, der Politik etc.). Nur müssen
Auseinandersetzung wird auch mithilfe einer Deu- diese Teilbereiche jeweils in ihrer eigenen Verwiesen-
tungshoheit über die Begriffe einer Zeit geführt, wel- heit auf die ökonomische Sphäre verstanden werden.
che nun einmal die bürgerliche Klasse innehabe. Ein- Sie seien selbst schon von der kapitalistischen Produk-
zig die Überwindung dieses Zustandes verspricht für tionsweise beeinflusst. Ökonomie sei die ›Quelle‹ oder
33 Sozialistische Gerechtigkeit 215

der ›Boden‹ des Rechts, gerade wie der Boden die ›Ba- haben – eine Verdienstgerechtigkeit im buchstäbli-
sis‹ für einen Baum ist. Und wenn man diesen Boden chen Sinne. Marx korrigiert zwar, dass diese Vertei-
umgraben will, sollte man – diesem Bild zufolge – lung der Früchte erst nach Abzug der zur gesellschaft-
nicht mit den Blüten beginnen. lichen Reproduktion nötigen Investitionen (er nennt
Interessanterweise haben die wichtigsten Kritiken Verwaltungskosten, Schulen, Gesundheitsvorrichtun-
an dieser radikalen Position selten Gerechtigkeits- gen etc.) und auch nicht mehr im Medium des geldver-
argumente bemüht, sondern eher die Effizienz proble- mittelten ›Tausches‹ stattfinden könne. Doch schließt
matisiert. Eine nicht länger auf Privateigentum beru- er sich dieser Position für eine erste Phase an: »Demge-
hende Wirtschaftsform würde zwar die ›Kuchenstü- mäß erhält der einzelne Produzent – nach den Abzü-
cke‹, die jedem Gesellschaftsmitglied zustünden, glei- gen – exakt das zurück, was er ihr [der Gesellschaft]
cher machen, doch würde dadurch der Kuchen gibt« (MEW 19, 19; vgl. MEW 25, 883). Gerecht daran
insgesamt kleiner, so dass eine solche alternative Wirt- ist, dass niemand aufgrund von bloßem Kapitalbesitz
schaftsweise für die Gesellschaft insgesamt (und, so oder aufgrund von Marktzufällen ein Vielfaches mehr
fügte Rawls an, auch für die am schlechtesten Gestell- erhalten könne als andere. Wie August Bebel erläutert
ten innerhalb derselben) von Nachteil sei. Es gelte da- hat, ist in diesem Prinzip bereits vorausgesetzt, dass die
her, an der alten kapitalistischen Gerechtigkeit fest- notwendige Gesamtarbeit auf alle arbeitsfähigen Men-
zuhalten, die besagt: »To each according to what he schen gleich verteilt wird, wodurch sich die Arbeitszeit
and the instruments he owns produces« (Friedman radikal verkürzen würde, nämlich auf etwa zweiein-
1962, 192; vgl. Hayek 2004). halb Stunden täglich (Bebel 1946, 423).
In verschiedenen Hinsichten kann aber noch dieses
Prinzip als ungerecht erscheinen. Würde im Hinblick
Sozialistische Entwürfe einer ›gerechteren‹ auf eine gleiche Leistung gleich verteilt, dann bekämen
Gesellschaft die Stärkeren mehr als die Schwächeren. Würde aber
im Hinblick auf ein gleiches Bedürfnis gleich verteilt,
Der Sozialismus unterscheidet sich von anderen sozi- könnten die Schwächeren besser dastehen als die Stär-
alreformerischen Bewegungen darin, dass er nicht nur keren – Gerechtigkeit wäre also auch hier nur jeweils
innerhalb des bestehenden Systems gewisse Besserun- partiell verwirklicht. In späteren Begriffen aus-
gen erzielen möchte, sondern beansprucht, die Orga- gedrückt, artikuliert Marx deshalb Bedenken der Be-
nisationsprinzipien der Gesellschaft insgesamt in darfsgerechtigkeit (»einer hat mehr Kinder als der an-
Richtung eines Gemeinbesitzes an Produktionsmit- dre etc.«, MEW 19, 20) sowie des Luck-Egalitarismus
teln sowie an weiteren öffentlichen Gütern wie dem (»natürliche Privilegien« wie eine höhere »Leistungs-
Gesundheits-, Ausbildungs- und Versicherungswesen fähigkeit« würden nach wie vor durchschlagen; MEW
zu verändern. Doch offensichtlich ist es schwierig, ei- 19, 20; s. Kap. III.39). Dennoch setzen noch jüngste
ne sozialistische Gesellschaft in den Begriffen derjeni- Debatten über den Sozialismus dieses vorläufige Prin-
gen Gesellschaft zu beschreiben, welche der Sozialis- zip voraus: Aus der Sicht von Heinz Dieterich etwa
mus gerade zu überwinden trachtet. Dennoch ist es war das bisherige Problem des Sozialismus vor allem,
unvermeidlich, dass eine politische Bewegung wie der dass man die angepeilte Exaktheit in der Umrechnung
Sozialismus sich selbst über ihre grundlegenden Ziele von Arbeitsstunden in Werteinheiten verfehlt habe.
verständigt. Daher gibt es gleichwohl innersozialisti- Diese Relation aber lasse sich nun mithilfe von Com-
sche Diskurse darüber, wie man sich diese Zukunft ei- putern errechnen (Dieterich 2006). Der Gerechtigkeit
gentlich näher auszumalen habe. Der alternde Marx halber ist anzufügen, dass sozialistische Gesellschaf-
hat auf diese Debatten noch Bezug genommen und ten Südamerikas, aus deren Horizont dieser ›neue‹ So-
dabei das Gerechtigkeitsdenken im späteren Sozialis- zialismus entworfen wurde, zugleich auf Modelle des
mus abermals geprägt. In den Randglossen zum Pro- guten Lebens – buen vivir – zurückgreifen (vgl. Gudy-
gramm der deutschen Arbeiterpartei (verfasst 1875, nas 2012; s. Kap. IV.42).
publiziert 1890) unterscheidet er zwei sozialistische Ein zweites, für Marx weitaus erstrebenswerteres
Gerechtigkeiten. Prinzip lautet hingegen: »Jeder nach seinen Fähigkei-
In einer ersten Stufe, die er »das gleiche Recht« ten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (MEW 19, 21,
(MEW 19, 20) nennt, übernimmt Marx die ältere so- zuerst so formuliert von Louis Blanc). Dieses Prinzip
zialistische Grundidee, dass die Menschen lediglich liegt insofern bereits jenseits eines Gerechtigkeitsden-
über das verfügen sollten, was sie tatsächlich erarbeitet kens, als Geben und Nehmen nun entkoppelt sind – es
216 III Gerechtigkeitskonzeptionen

gibt keine Vergleichsrelation mehr, auf deren Grund- gen möglich, weil der sozialstaatliche Aspekt mit
lage sich bestimmen ließe, nach welchen Kriterien zu Rawls’ Gerechtigkeitstheorie bereits hinreichend ab-
verteilen sei (Recht, Leistung, Bedarf oder anderes gehandelt schien. So hat vor allem die angelsächsische
mehr, vgl. Töns 2003). Vielmehr haben nun beide Mo- Debatte lange versucht, egalitäre Ambitionen in Form
mente je eigene Kriterien: Man gibt gern, weil die Ar- von Detailkritiken an Rawls zu formulieren (zur
beit Freude macht, und man nimmt im Modus des Übersicht über diese Debatten vgl. Peffer 1990). Dabei
Miteinander nur das, was man braucht. Gerald A. Co- ist der Unterschied dieser Theorie zu sozialistischen
hen (2009) hat das als Mentalität des nicht auf Dauer Gedanken denkbar groß: Es ist nach dem sozialisti-
zu stellenden »Zeltlagers« beschrieben. Das klassische schen Ansatz kaum möglich, gravierende materielle
Bild für diese Bereitschaft des Teilens war das der Brü- Ungleichheiten, wie sie in den westlichen Staaten die
derlichkeit, also der Familie. Regel sind, durch ein theoretisch ausgezirkeltes Diffe-
Nun mag eine Familiarität Gerechtigkeitsfragen renzprinzip (s. Kap. II.25) als gerecht zu legitimieren.
zwar verändern, doch sie erübrigt sie keineswegs Sozialistisches Denken über Gerechtigkeit unter-
(s. Kap. II.24, V.61). Man denke nur an das Standard- scheidet sich radikal von der von Rawls geprägten phi-
beispiel für die Erläuterung von Gerechtigkeitsfragen: losophischen Diskussion.
nämlich die Größe von Kuchenstücken, die unter- In der heutigen Diskussion gibt es allerdings, nicht
schiedlich großen Geschwistern zukommt. Bekommt zuletzt angestachelt durch die immer weiter zuneh-
der Fleißigste das größere Stück oder der Hungrigste, menden globalen Ungleichheiten, durch ökonomi-
oder bekommen alle gleich viel? Offensichtlich gibt es sche Krisen und ökologische Kollateralschäden riesi-
auch unter Bedingungen der Brüderlichkeit noch Ge- gen Ausmaßes, eine Rückkehr klassisch sozialistischer
rechtigkeitsfragen. Im Realsozialismus gab es daher Themen wie etwa der Kritik der Entfremdung, der
durchaus eine Gerechtigkeitspolitik. Die ökonomi- Verdinglichung und eben der ökonomischen Un-
schen Ungleichheiten zwischen den Menschen waren gleichheit. Nur werden sie heute auch von prominen-
zwar kleiner als heute, dennoch wurden Arbeiten un- ten US-amerikanischen Denkern wie Joseph Stiglitz
terschiedlich entlohnt, um soziale Ränge zu markie- oder Michael Sandel (2012) vorgetragen. Auch im Po-
ren (also: Krankenpfleger von Chefärztinnen abzuhe- sitiven ist, wenn auch selten unter diesem Titel, eine
ben), höhere Qualifizierungen zu ›belohnen‹ und Rückkehr sozialistischer Topoi zu verzeichnen: So
über Prämien innerhalb jeder Tarifgruppe Leistungs- gibt es etwa die Forderung nach einer Entkopplung
anreize zu setzen. Gerechtigkeitsprobleme in sozialis- von Leistung und Einkommen in der internationalen
tischen Staaten betrafen aber weniger diese ökonomi- Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen
sche als vielmehr die rechtliche und politische Di- oder die Forderung nach einer Rücknahme der profit-
mension: So war der Zugang zur Ausbildung bei- getriebenen Privatisierung und einer Stärkung des öf-
spielsweise in der DDR stark politisch reglementiert, fentlichen Sektors (also des Gemeineigentums) in der
während die Politik selbst – obwohl sie mehr zu ent- Debatte um die Commons (vgl. Negri/Hardt 2010).
scheiden hatte als in kapitalistischen Staaten – kaum
mehr demokratisch legitimiert war. Ungerechtigkeit Literatur
in real existierenden sozialistischen Staaten betraf da- Aristoteles: Nikomachische Ethik. In: Ders.: Werke in deut-
her vor allem die mangelnde rechtliche und politische scher Übersetzung. Hg. von Ernst Grumach und Hellmut
Flashar, Bd. 6. Berlin 101999 [NE].
Gleichheit der Bürger in diesen Systemen (s. Kap. –: Politik. In: Ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Hg.
IV.50). von Ernst Grumach u. Hellmut Flashar, Bd. 9 [in 4 Teil-
bänden]. Berlin 1991–2005 [Pol].
Bebel, August: Die Frau und der Sozialismus [1879]. Berlin
551946.
Ausblick auf jüngere Debatten
Cohen, Gerald A.: Sozialismus – warum nicht? München
2010 (engl. 2009).
Während des Zusammenbruchs des Realsozialismus Dieterich, Heinz: Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirt-
hat sich die progressive Linke, auch in der aka- schaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Ka-
demisch-philosophischen Welt, primär mit der politi- pitalismus. Berlin 2006.
schen Gerechtigkeit sowie identitätsbezogenen Fra- Farner, Konrad: Theologie des Kommunismus? Zürich 1985.
gen wie der Sexualität und dem kulturellen Pluralis- Friedman, Milton: Capitalism and Freedom. Chicago 1962.
Gudynas, Eduardo: Das gute Leben jenseits von Entwick-
mus auseinandergesetzt und ökonomische Fragen in
lung und Wachstum. In: Miriam Lang (Hg.): Demokratie,
der Folge eher geringgeschätzt. Dies war auch deswe-
34 Utilitaristische Gerechtigkeit 217

Partizipation, Sozialismus. Lateinamerikanische Wege der 34 Utilitaristische Gerechtigkeit


Partizipation. Berlin 2012, 28–45.
Hayek, Friedrich August: Wissenschaft und Sozialismus. Auf- Der Utilitarismus besteht aus einer Theorie des Guten,
sätze zur Sozialismuskritik. Gesammelte Schriften, Bd. 7.
Tübingen 2004. die dieses Gute als die Menge an Nutzen (z. B. Wohl-
Henning, Christoph: Der wahre Sozialismus (Rezension zu fahrt) bestimmt, und aus einer Theorie des Richtigen,
Axel Honneth: Die Idee des Sozialismus: Versuch einer Ak- die zumindest in ihrer ursprünglichen Form sagt, dass
tualisierung. Berlin 2015). In: Soziopolis (Januar 2016), moralisch richtig genau das ist, was das Gute, also die
http://www.soziopolis.de/lesen/buecher/artikel/der- Menge an Nutzen, maximiert. Da ›Nutzen‹ oft als sy-
wahre-sozialismus.
nonym mit ›Glück‹ verstanden wird, ist ›das größte
Honneth, Axel: Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungs-
theorie. Berlin 2010. Glück der größten Zahl‹ zur Losung dieser Ethik ge-
Kelsen, Hans: Was ist Gerechtigkeit? [1934]. Wien 1953. worden.
Leidinger, Hannes/Moritz, Verena: Sozialismus. Wien 2008.
Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Hg.
und eingel. von Walter Euchner. Frankfurt a. M. 1977 Entwicklung des Utilitarismus
(engl. 1689).
Macpherson, Crawford B.: Theorie des Besitzindividualis-
mus. Frankfurt a. M. 31990 (engl. 1962). Die Losung hat schon Francis Hutcheson ausgegeben,
Maihofer, Andrea: Das Recht bei Marx. Zur dialektischen doch erst Jeremy Bentham baut sie zu einer Ethik aus,
Struktur von Gerechtigkeit, Menschenrechten und Recht. die er ›Utilitarismus‹ nennt. Er schlägt vor, bei allen
Baden-Baden 1992. Entscheidungen für alle möglichen Handlungen zu
Marx, Karl/Engels, Friedrich: Marx-Engels-Werke. 42 Bde.
prüfen, wie viel Nutzen sie den von ihnen betroffenen
Berlin 1956–1990 [MEW].
Negri, Antonio/Hardt, Michael: Common Wealth: Das Ende Individuen bescheren würden, und dann diejenigen
des Eigentums. Frankfurt a. M. 2010 (engl. 2009). Handlungen als richtig zu bezeichnen, die jeweils in
Peffer, Rodney G.: Marxism, Morality, and Social Justice. der Summe den größten Nutzen hervorbringen. Den
Princeton 1990. individuellen Nutzen fasst Bentham als hedonisches
Sandel, Michael: What Money can’t buy. The Moral Limits of Glück, als Lust und die Abwesenheit von Leid, und be-
Markets. New York 2012.
stimmt ihn näher mittels eines Kalküls: Je intensiver, je
Stein, Lorenz von: Geschichte der sozialen Bewegung in
Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage [1850]. 3 Bde. Hil- andauernder und je reiner etwa das hedonische Glück
desheim 1959. sei, desto größer sei tendenziell auch der individuelle
Töns, Katrin: Recht, Leistung, Bedarf. Die Verteilungsprinzi- Nutzen (Bentham 1789/1964, Kap. 4). John Stuart Mill
pien der sozialen Gerechtigkeit am Beispiel der erwerbszen- ist dieser rein an Quantitäten ausgerichtete Kalkül zu
trierten Sozialhilfereform. Münster 2003. schlicht. Er möchte zusätzlich die Qualität des hedo-
Wilkinson, Richard G./Pickett, Kate: Gleichheit ist Glück:
Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Berlin nischen Glücks berücksichtigt wissen und sagen kön-
2009 (engl. 2009). nen, dass es besser sei, ein unzufriedener Sokrates als
Weber, Max: Der Sozialismus [1918]. In: Ders.: Gesammelte ein zufriedener Narr zu sein (Mill 1861/1976, Kap. 2).
Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. Hg. von Marian- Schon Bentham und Mill legen dar, wie sich das
ne Weber. Tübingen 1988, 492–518. Maximierungsprinzip mit anderen, auch in der All-
–: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden
tagsmoral verankerten Prinzipien in Einklang bringen
Soziologie [1922]. Tübingen 51988.
Wood, Alan: Karl Marx. New York 2004 (engl. 1980). lässt, u. a. mit Prinzipien materialer Gerechtigkeit
(s. u.). Doch erst Henry Sidgwick unternimmt einen
Christoph Henning systematischen Versuch, die Alltagsmoral mit dem
Utilitarismus auszusöhnen, sie als »einen Mechanis-
mus von Regeln, Gewohnheiten und Empfindungen
[auszuzeichnen], der etwas roh und allgemein [...] auf
das Hervorbringen der größtmöglichen Glückselig-
keit [...] angewendet wird« (Sidgwick 1907/1909, 251).
Von Anfang an konzentrieren sich die Debatten im
und um den Utilitarismus auf die zahlreichen Ein-
wände, die gegen ihn erhoben werden (vgl. etwa Rawls
1971/1975, insb. Abschn. 5; Williams 1973/1979; Rail-
ton 1984): Die Doktrin scheitere schon deshalb, weil
der Nutzen nicht interindividuell vergleichbar sei. Sie
218 III Gerechtigkeitskonzeptionen

behandle uns wie Nutzengefäße und schaue nur da- Nutzen bescheren würden; und dass wir, selbst wo wir
rauf, wie viel Nutzen in den Gefäßen insgesamt sei; um Zeit und Kraft dazu haben, zur Parteilichkeit neigen
die Verteilung des Nutzens auf die Gefäße schere sie und gleiche Verluste, wenn sie uns selbst treffen, für
sich nicht. Sie sei bereit, jeden Nutzenverlust, egal wel- größer halten, als wenn sie andere treffen. Deshalb
cher Größe, durch beliebig kleine Nutzengewinne würden wir, wenn wir außer dem Maximierungsprin-
auszugleichen, wenn es nur hinreichend viele solcher zip nicht noch weitere Prinzipien zur Hand hätten, oft
kleiner Nutzengewinne gibt. Sie verbiete in manchen Gefahr laufen, das utilitaristische Ziel zu verfehlen:
Hinsichten zu wenig, z. B. indem sie die Rechte von Manch ein Kind, das wir hätten retten können, wäre
Individuen ebenso ignoriere wie die Verbindlichkeit längst ertrunken, wenn wir endlich ermittelt haben,
von Versprechen und Verträgen und die besonderen dass wir es retten sollten. Letztlich führt die Strategie
Pflichten, die wir gegenüber unseren Liebsten und zu der Unterscheidung zwischen verschiedenen For-
Nächsten haben. In anderen Hinsichten verlange sie men von indirektem Utilitarismus, darunter Regel-
zu viel, z. B. dass wir unter Umständen sogar unser Le- Utilitarismus und Zwei-Ebenen-Theorien. Beide Ty-
ben für das Leben anderer opfern. Sie verletze unsere pen von Theorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie
moralische Integrität. Sie sei blind für Verdienst und diejenigen sekundären Prinzipien für richtig erklä-
Schuld. ren, deren weitgehende Akzeptanz in den meisten Si-
Die Einwände sind kategorial verschieden, und ka- tuationen unseres Alltags den größten Nutzen hätte –
tegorial verschieden sind auch die Strategien, den Uti- das Prinzip, nicht zu lügen, ist ein heißer Kandidat.
litarismus gegen sie zu verteidigen. Eine Strategie be- Regel-Utilitarismus und Zwei-Ebenen-Theorien un-
steht darin, den individuellen Nutzens anders zu fas- terscheiden sich voneinander im Status, den sie den
sen, als es der hedonische Utilitarismus im Anschluss sekundären Prinzipien geben. Zwei-Ebenen-Theo-
an Bentham tut, also nicht (nur) als Lust und Abwe- rien geben ihnen den Status nur einer die utilitaristi-
senheit von Leid. Diese Strategie ist von der Annahme schen Entscheidungen erleichternden Methode. Uns
geleitet, dass es mehr Dinge gibt, die das ausmachen, an die Prinzipien zu halten, hilft uns oft, das mora-
was gut für Individuen ist – z. B. dass Versprechen, die lisch Richtige zu tun; das moralisch Richtige ist aber
ihnen gegeben wurden, gehalten werden –, und dies stets das, was den Nutzen maximiert. Der Regel-Uti-
auch unabhängig davon, wie sich das auf ihr hedo- litarismus hingegen gibt den sekundären Prinzipien
nisches Glück auswirkt. Unter der Voraussetzung, den Status auch eines die utilitaristischen Entschei-
dass der individuelle Nutzen noch immer subjektivis- dungen bestimmenden Kriteriums. Das moralisch
tisch zu fassen ist, d. h. bestehend nur aus Dingen, de- Richtige ist stets das, was mit den sekundären Prinzi-
ren Positivität im Individuum selbst verankert ist (vgl. pien in Einklang steht, auch wenn es einmal nicht den
Wessels 2011, Kap. 2 und 3), führt die Strategie zum Nutzen maximiert. (Zum Unterschied zwischen
Präferenz-Utilitarismus (vgl. Hare 1981/1992). Der Zwei-Ebenen-Theorien und Regel-Utilitarismus und
Präferenz-Utilitarismus identifiziert den individuel- verschiedenen Ausprägungen beider Typen vgl. Hoo-
len Nutzen mit der Befriedigung von Präferenzen – in ker 2008.)
Kombination teils mit einem für die Zwecke der Ethik Der Einwand, dass der Utilitarismus schon deshalb
maßgeschneiderten Begriff von Präferenzen und teils scheitere, weil der Nutzen nicht interindividuell ver-
mit einem Filter über den Präferenzen, der manche gleichbar sei, trifft, wenn er trifft, nicht allein den Uti-
Präferenzen als moralisch nicht zu berücksichtigen litarismus, sondern jede Theorie, die das Gute mit
außen vor lässt. dem Nutzen assoziiert – unabhängig davon, ob sie es
Eine andere Strategie besteht darin, das Maximie- schlicht als die Menge oder aber als eine andere Ver-
rungsprinzip nicht, wie es der Utilitarismus in seiner teilung desselben bestimmt. Im Kontext von Wohl-
ursprünglichen Form, also der Akt-Utilitarismus will, fahrtstheorien haben sich Philosophen und Öko-
bei allen Entscheidungen in Ansatz zu bringen, son- nomen seit den 1970er Jahren darum bemüht, diesen
dern primär oder sogar nur bei der Entscheidung für Einwand zu entkräften. Viel diskutiert werden, ins-
sekundäre Prinzipien, die dann bei anderen Entschei- besondere in der Ethik, Versuche, interindividuelle
dungen mehr oder weniger strikt anzuwenden sind. Vergleiche in unverdächtige intraindividuelle zu über-
Motiviert ist diese Strategie von der Einsicht, dass wir führen (z. B. Hare 1981/1992, Kap. 5). Wenn ich wün-
oft gar nicht die Zeit oder Kraft haben, für alle uns sche, dass p der Fall ist, während du wünschst, dass p
möglichen Handlungen zu prüfen, welchen der von nicht der Fall ist, dann frage ich mich, was mir lieber
ihnen betroffenen Individuen sie einen wie großen wäre: dass ich in meiner Haut stecke und p der Fall ist
34 Utilitaristische Gerechtigkeit 219

oder dass ich in deiner Haut stecke und p nicht der Fall Prinzipien materialer Gerechtigkeit
ist – und der Ausgang dieses intraindividuellen Ver-
gleichs bestimmt das Gesuchte: den interindividuel- Klassisch ist die Unterscheidung zwischen Prinzipien
len Nutzen. Wäre es mir lieber, dass ich in deiner Haut der austeilenden und der ausgleichenden Gerechtig-
stecke und p nicht der Fall ist, dann ist es mit Blick auf keit. Prinzipien der austeilenden Gerechtigkeit (s. Kap.
unser beider Interessen insgesamt besser, dass p nicht II.12) haben die ideale Verteilung von Gütern und
der Fall ist. Leistungen (sowie deren Gegenstücke, Lasten und Ver-
bindlichkeiten) zum Gegenstand. Sie verlangen, allen
Individuen gleich viel zu geben (Gleichverteilungs-
Forderungen formaler Gerechtigkeit prinzipien) – oder aber verschiedenen Individuen ver-
schieden viel, nämlich in Abhängigkeit z. B. von ihren
Viele der genannten Einwände variieren ein Thema: moralischen Rechten (Prinzipien der Rechte-basierten
Der Utilitarismus berücksichtige Gerechtigkeitserwä- Verteilung), ihren grundlegenden Bedürfnissen (Prin-
gungen nicht oder jedenfalls nicht hinreichend. An- zipien der bedarfsorientierten Verteilung) oder ihren
hänger des Utilitarismus reagieren auf solche Einwän- Verdiensten (Verdienstprinzipien), wobei die Auffas-
de oft, indem sie zunächst darauf hinweisen, dass der sungen darüber, was als ein Verdienst zählt, variieren
Utilitarismus bestimmte Forderungen der Gerechtig- und teils so umfassend sind, dass die Verdienstprinzi-
keit sehr wohl berücksichtigt, ja sogar explizit erhebt. pien andere Prinzipien der Gerechtigkeit einschließen.
Wenn der Utilitarismus uns heißt, den Nutzen zu ma- Prinzipien der ausgleichenden Gerechtigkeit regeln
ximieren, dann heißt er uns, dies ohne Ansehen der u. a., was bei Abweichungen von der idealen Verteilung
Person zu tun; er heißt uns, jedes Individuum als eines geschehen soll, also welche Individuen unter welchen
und keines als mehr denn eines zu zählen; allen jeweils Bedingungen und in welchem Umfang für ihr Handeln
betroffenen Individuen die gleiche Achtung entgegen- zur Rechenschaft zu ziehen sind. Beispielsweise verlan-
zubringen; gleich starken Interessen ein gleich starkes gen sie, dass höchstens diejenigen, die ein Unrecht be-
Gewicht zu geben. Diese Forderungen sind Forderun- gangen haben, für das Unrecht geradestehen müssen
gen formaler Gerechtigkeit. Einer weit verbreiteten und zu bestrafen sind (Verursacherprinzipien). Wenn
Vorstellung zufolge sind sie äquivalent mit dem Uni- Anhänger des Utilitarismus solche Prinzipien materia-
versalisierbarkeitsprinzip, das in einer klassischen ler Gerechtigkeit nicht revisionistisch mit dem Hin-
Formulierung besagt: Situationen, die einander in all weis bescheiden möchten, dass Gerechtigkeit nun ein-
ihren nicht-moralischen Eigenschaften gleichen, glei- mal nichts anderes ist als die Maximierung des Nut-
chen einander auch in ihren moralischen. Auch wenn zens, dann können sie zwei Wege beschreiten: Sie kön-
es bezüglich mancher nicht-moralischen Eigenschaf- nen versuchen zu zeigen, dass innerhalb der reinen
ten strittig ist, ob sie tatsächlich von Belang sind: Dass Lehre bereits Platz für klassische Prinzipien materialer
die schieren Rollenverteilungen in den Situationen Gerechtigkeit ist. Oder sie können versuchen, jenseits
nicht von Belang sind, ist unstrittig. Aus dem Univer- der reinen Lehre, also mit gewissen Abweichungen von
salisierbarkeitsprinzip folgt mithin: ihr, Platz dafür zu schaffen; sie können versuchen, klas-
sische Prinzipien materialer Gerechtigkeit in eine
»Wenn ich jetzt sage, daß ich einer bestimmten Person Theorie zu integrieren, die sich ansonsten kaum vom
gegenüber etwas bestimmtes tun sollte, so habe ich Utilitarismus entfernt und insofern noch als Utilitaris-
mich damit auf die Auffassung festgelegt, daß genau mus in einem weiteren Sinne bezeichnet werden kann.
das gleiche auch mir gegenüber getan werden sollte,
wenn ich genau in ihrer Lage wäre, die gleichen per-
sönlichen Merkmale hätte und mich insbesondere in Prinzipien materialer Gerechtigkeit jenseits
den gleichen motivationalen Zuständen befände« (Ha- der reinen Lehre
re 1981/1992, 168).
Anhänger des Utilitarismus, die es jenseits der reinen
Doch auch wenn der Utilitarismus zentrale Forderun- Lehre versuchen, haben ihrerseits mindestens zwei
gen formaler Gerechtigkeit stellt, so bringt ihn das Optionen. Die eine Option besteht darin, das Maxi-
noch nicht zur Anerkennung von Prinzipien materia- mierungsprinzip durch konkurrierende Prinzipien
ler Gerechtigkeit, und es sind letztlich diese Prinzi- materialer Gerechtigkeit zu puffern. Für diese Option
pien, um die sich die Gerechtigkeitseinwände drehen. macht sich Jon Elster (1995) in Form seines »gestutz-
220 III Gerechtigkeitskonzeptionen

ten Utilitarismus« (»truncated utilitarianism«) stark. wertneutral oder gut. Verdient das Individuum weder
Er schlägt eine Kaskade von vier Prinzipien vor: a) Lust noch Leid, haben Lust und Leid genau den Wert,
Maximiere den Nutzen, b) es sei denn, dadurch fallen den sie an sich haben. Ob ein Individuum Lust bzw.
einige unter ein Minimum. In diesem Fall stelle zu- Leid verdient, soll, außer von seinen moralischen
nächst sicher, dass alle das Minimum erhalten, c) es sei Rechten, vornehmlich von dem abhängen, was in der
denn, einige fallen darunter, weil sie bestimmte Ent- Vergangenheit mit dem oder durch das Individuum
scheidungen getroffen haben (z. B. nicht zu arbeiten). geschehen ist: wie gut oder schlecht es sich gefühlt und
In diesem Fall stelle nicht sicher, dass sie das Mini- wie anständig oder unanständig es sich verhalten hat.
mum erhalten, d) es sei denn, sie haben die Entschei- Die von den Verdiensten unabhängige Verteilung
dungen nur getroffen, weil sie depriviert waren. In des Nutzens berücksichtigt Feldmans Theorie nicht.
diesem Fall stelle sicher, dass sie doch das Minimum Ob alle Individuen ein gleich großes Stück vom Nut-
erhalten. Indem der gestutzte Utilitarismus auf diese zenkuchen bekommen oder manche ein riesiges und
Weise dem Maximierungsprinzip ein seinerseits andere ein winziges, ist, wenn die Individuen weder
durch andere Prinzipien materialer Gerechtigkeit be- Lust noch Leid verdienen, egal, solange die Nutzen-
schränktes Prinzip der Minimalversorgung vorord- summe dieselbe bleibt. Anders der Gerechtigkeitsuti-
net, steht er allerdings anderen Theorien, wie z. B. be- litarismus, wie ihn Rainer Trapp (1988) vorgeschlagen
stimmten Formen des Egalitarismus, näher als dem hat. Er arbeitet nicht nur mit dem Nutzen- und dem
Utilitarismus. Verdienstparameter, sondern auch mit einem Vertei-
Die andere Option jenseits der reinen Lehre besteht lungsparameter und heißt uns, bei allen Entscheidun-
darin, die utilitaristische Theorie des Guten zu modifi- gen eine derjenigen Handlungen zu vollziehen, deren
zieren, also das Gute nicht ausschließlich mit der Men- von diesen drei Parametern bestimmter Wert – Trapp
ge an Nutzen zu identifizieren, sondern mit der auf die nennt ihn den GU-Gesamtwert – maximal ist.
eine oder andere Weise ›gerechtigkeitsadjustierten‹ Angenommen, h sei eine Handlung, deren GU-Ge-
Menge (zu einer generellen Kritik an derartigen Vor- samtwert ermittelt werden soll. Der Nutzenparameter
gehensweisen vgl. Schroth 2006). Für diese Option vo- erfasst den Nutzen von h. Grob gesprochen ergibt er
tiert Fred Feldman (u. a. 1995). Er präsentiert eine sich aus dem Nutzen, den h für alle von ihr betroffe-
Theorie, die uns, wie andere Formen des Akt-Utilita- nen Individuen hat, geteilt durch die Anzahl der Indi-
rismus auch, heißt, bei allen Entscheidungen eine der- viduen. Der Verdienstparameter erfasst den verdien-
jenigen Handlungen zu vollziehen, deren Wert (Feld- ten Nutzen von h. Er ergibt sich, ebenfalls im Durch-
man nennt ihn auch ›universelles Gerechtigkeits-Ni- schnitt, aus dem Nutzen, den h für alle von ihr betrof-
veau‹) maximal ist, wobei sich dieser Wert aus der fenen Individuen hat, jeweils gewichtet mit deren
Summe der Werte ergibt, die die Handlungen für die Verdiensten. Inhaltlich bestimmt Trapp die Verdiens-
jeweils von ihnen betroffenen Individuen haben. Diese te nur vage. Ähnlich wie Feldman schlägt er vor, u. a.
individuellen Werte werden allerdings von zwei Para- die ›Verdienstgeschichten‹ der Individuen zu berück-
metern bestimmt: dem Nutzen, den die Individuen er- sichtigen, d. h. ihren Nutzen in der Vergangenheit und
halten, und dem Nutzen, den sie verdienen. Wie die in- ihr moralisches Kapital. Der Verteilungsparameter er-
dividuellen Werte von diesen beiden Parametern be- fasst in einem bestimmten Sinne die Ungleichvertei-
stimmt werden, umreißt Feldman unter der verein- lung des Nutzens infolge von h. Er ergibt sich aus dem
fachenden Annahme, dass der Nutzen allein durch Nutzenabstand zwischen allen möglichen Paaren von
Lust und die Abwesenheit von Leid konstituiert wird. betroffenen Individuen, geteilt durch die Anzahl der
Lust ist zunächst an sich gut, aber sie ist besser, wenn Individuen im Quadrat und gewichtet mit einem Fak-
das Individuum, das die Lust verspürt, sie auch ver- tor d, mit 0 < d ≤ 1. Der GU-Gesamtwert von h ist
dient, und sie ist weniger gut, wenn das Individuum dann schließlich (anders, als Trapp selbst ursprüng-
statt der Lust Leid verdient; in einigen Fällen, in denen lich angegeben hat: vgl. Gesang 1998, 26) gleich dem
das Individuum statt der Lust Leid verdient, ist die Lust Verdienstparameter plus der Differenz zwischen dem
sogar wertneutral oder schlecht. Leid hingegen ist zu- Nutzen- und dem Verteilungsparameter.
nächst an sich schlecht, aber es ist weniger schlecht, Während der Verdienstparameter allgemein dafür
wenn das Individuum, das das Leid verspürt, es auch sorgt, dass der GU-Gesamtwert einer Handlung umso
verdient, und es ist schlechter, wenn das Individuum größer wird, je größer auch die Verdienste der von ihr
statt des Leids Lust verdient; in einigen Fällen, in de- profitierenden Individuen sind, sorgt der Verteilungs-
nen das Individuum das Leid verdient, ist es sogar parameter dafür, dass der GU-Gesamtwert einer
34 Utilitaristische Gerechtigkeit 221

Handlung umso kleiner wird, je größer die Ungleich- Paar von reellen Zahlen, auch wenn es im Vergleich
heit in der Verteilung ist. Gegeben das Ziel, klassische mit einem anderen eine deutlich höhere zweite reelle
Prinzipien materialer Gerechtigkeit in eine Theorie zu Zahl enthält, geringerwertig als dieses, falls dessen
integrieren, die ansonsten so utilitaristisch wie mög- erste Zahl niedriger ist, weil die Größer-Beziehung le-
lich bleibt, sind diese Effekte willkommen – wie auch xikographisch ist: (x1, y1) > (x2, y2) genau dann, wenn:
manch andere. So soll etwa gelten: »Im Rahmen von x1 > x2 oder x1 = x2 und y1 > y2. Auch ein solcher Akt-
im normalen Leben halbwegs vorstellbaren Umstän- Utilitarismus würde in dem beschriebenen Fall sagen,
den [...] ist ein Antasten von elementaren Individual- dass wir das Individuum nicht quälen sollten.
rechten fast ausnahmslos GU-suboptimal und daher Einschlägige Alternativen zum Akt-Utilitarismus
verboten« (Trapp 1988, 576). sind die beiden schon erwähnten Formen des indirek-
ten Utilitarismus: Regel-Utilitarismus und Zwei-Ebe-
nen-Theorien. In den meisten ihrer Ausprägungen
Prinzipien materialer Gerechtigkeit verbieten sie nicht nur bestimmte Typen von Hand-
innerhalb der reinen Lehre lungen, z. B. das Lügen oder das Brechen von Verspre-
chen (Harsanyi 1985). Sie erkennen auch viele der
Anhänger des Utilitarismus, die zu zeigen versuchen, klassischen Prinzipien materialer Gerechtigkeit an,
dass innerhalb der reinen Lehre bereits Platz für klas- nämlich:
sische Prinzipien materialer Gerechtigkeit ist, verwei- 1. Prinzipien der Rechte-basierten Verteilung. Zu
sen zunächst oft auf unsere einschlägigen Intuitionen. den Rechten gehören zuvörderst generelle, d. h.
Die meisten von uns glauben z. B., dass wir ein Indivi- Rechte, die alle Individuen gegenüber allen ande-
duum nicht quälen sollten – auch dann nicht, wenn ren haben: z. B. das Recht auf körperliche Unver-
wir dadurch, dass wir es quälen, hinreichend viele an- sehrtheit, Meinungsfreiheit oder privates Eigen-
dere Individuen in insgesamt nutzenmaximierender tum (Hare 1981/1992, Kap. 9.5). Zu den Rechten
Weise noch ein bisschen froher machen würden, als gehören aber auch besondere, d. h. Rechte, die be-
sie es ohnehin schon sind. Wenn solche Intuitionen stimmte Individuen gegenüber bestimmten ande-
bzw. die zugehörigen Empfindungen oder Präferen- ren haben, aufgrund der Beziehungen etwa, in de-
zen vorliegen, finden sie im Utilitarismus Berücksich- nen sie zueinander stehen: z. B. das Recht von Kin-
tigung (zu dem Wie vgl. Fehige/Frank 2010, Abschn. 3 dern auf Fürsorge seitens ihrer Eltern. Und so wie
und 4 sowie die dort angegebenen Quellen) – und dies den generellen Rechten generelle Pflichten korres-
unter Umständen mit dem Ergebnis, dass wir auch pondieren, korrespondieren den besonderen
dem Utilitarismus zufolge in dem beschriebenen Fall Rechten besondere Pflichten, z. B. dem Recht von
das Individuum nicht quälen sollten. Wenn allerdings, Kindern auf Fürsorge seitens ihrer Eltern die
dieser Berücksichtigung zum Trotz, der Nutzen da- Pflicht der Eltern, sich um ihre Kinder zu küm-
durch maximiert wird, dass wir es quälen, sagt zumin- mern (Hooker 2000, Kap. 6.5).
dest der Akt-Utilitarismus: Wir sollten das Individu- 2. Gleichverteilungsprinzipien für viele nutzengene-
um quälen. rierende Güter, paradigmatischerweise für Ein-
Zumindest sagt das der herkömmliche Akt-Utilita- kommen (Brandt 1992b, 380). Im Hintergrund
rismus, der den Nutzen auf einzelne reelle Zahlen ab- steht das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens:
bildet und damit zulässt, dass das kleine zusätzliche Für jedes Individuum gilt, dass der zusätzliche
Glück der großen Zahl bei hinreichend großer Zahl Nutzen, den ihm ein bestimmtes Zusatzeinkom-
das große Unglück der kleinen Zahl aufwiegt. Ein men verschafft, umso geringer ist, je mehr Ein-
Akt-Utilitarismus hingegen, der den Nutzen z. B. auf kommen es schon hat. Aus dem Gesetz folgt, dass
Paare von reellen Zahlen abbildet, könnte sagen (vgl. eine (moderate) Gleichverteilung der Einkommen
Fehige 1995): Die erste reelle Zahl eines Paares erfasst eher als eine (radikale) Ungleichverteilung dazu
den Nutzen, der sich über alle betroffenen Individuen angetan ist, den Gesamtnutzen zu maximieren.
hinweg aus der Befriedigung ihrer grundlegenden Be- (Diese Konsequenz setzen aber auch Anhänger
dürfnisse etwa nach Schmerzfreiheit ergibt; die zweite des herkömmlichen Akt-Utilitarismus für ihre
reelle Zahl erfasst den Nutzen, der sich in gleicher Zwecke ein: vgl. z. B. Smart 1978.)
Weise aus der Erfüllung ihrer ›Luxuspräferenzen‹ er- 3. Verursacherprinzipien. Höchstens diejenigen, die
gibt; und bei der komponentenweise definierten Ad- ein Unrecht begangen haben, sollten dafür bestraft
dition ((x1, y1) + (x2, y2) = (x1 + x2, y1 + y2)) bleibt ein werden, »wenn nicht durch das Gesetz, so doch
222 III Gerechtigkeitskonzeptionen

durch das Urteil [ihrer] Mitmenschen, und wenn Theorien den Vorwurf eingebracht, in den herkömm-
nicht durch dies, so doch durch die Vorhaltungen lichen Akt-Utilitarismus zu kollabieren (Lyons 1965,
[ihres] eigenen Gewissens« (Mill 1861/1976, 84). Kap. 3).
(Ob und, wenn ja, in welchem Umfang die Betref- Ob die Vorwürfe zutreffen, ist jedoch nicht aus-
fenden tatsächlich bestraft werden sollten, wird gemacht. Jedenfalls haben Anhänger der jeweiligen
seinerseits von sekundären Prinzipien bestimmt.) Typen von Theorien versucht, sie zu entkräften. An-
Mit solchen Prinzipien sagen auch Regel-Utilitaris- hänger des Regel-Utilitarismus weisen u. a. darauf hin,
mus und Zwei-Ebenen-Theorien in dem beschriebe- dass der Regel-Utilitarismus auch ein (andere Prinzi-
nen Fall, dass wir das Individuum eher nicht quälen pien zumeist unterordnendes) Prinzip zur Vermei-
sollten. Dito sagen sie: Ein Arzt sollte eher nicht einen dung von dramatischen Nutzenverlusten enthalten
seiner Patienten töten, um mit dessen Organen das wird (Brandt 1988/1992a, 150; Hooker 2000, Kap. 4.2
Leben von fünf anderen zu retten; ein Gläubiger sollte und 6.2 f.), und Anhänger von Zwei-Ebenen-Theorien
eher nicht darauf verzichten, seine Schulden zu beglei- betonen u. a., dass Fälle, in denen Zwei-Ebenen-Theo-
chen, um mit dem Geld eine Hilfsorganisation zu un- rien einen Verstoß gegen die sekundären Prinzipien
terstützen; ein Vater sollte das für eine solide Schul- für moralisch richtig erklären, so gut wie nie vorkom-
ausbildung seiner Tochter nötige Geld eher nicht men (Hare 1981/1992, Kap. 9.7) – nicht zuletzt, weil
spenden, um eine Vielzahl anderer Kinder vor dem diese Prinzipien internalisiert sind und bei einem Ver-
Erblinden zu bewahren; ein Richter sollte eher nicht stoß mit entsprechenden Gefühlen einhergehen: ex
wissentlich einen Unschuldigen verurteilen, um zu ante mit dem Gefühl des Abscheus und ex post mit
verhindern, dass der tobende Mob einen noch größe- dem Gefühl der Schuld (vgl. Fehige/Frank 2010,
ren Schaden anrichtet; etc. Mit den genannten Prinzi- Abschn. 3 und 4 sowie die dort angegebenen Quellen).
pien sind Regel-Utilitarismus und Zwei-Ebenen- Ließen sich die genannten Vorwürfe so oder ähnlich
Theorien also gegen viele Einwände, die gegen den entkräften, hätte das mindestens zwei bemerkenswer-
Utilitarismus erhoben werden, recht gut gewappnet, te Konsequenzen. Erstens würden sich Regel-Utilita-
auch gegen viele Gerechtigkeitseinwände. rismus und Zwei-Ebenen-Theorien zumindest für alle
Es sieht allerdings so aus, als müssten beide Typen praktischen Zwecke kaum noch voneinander unter-
von Theorien dafür ihren je eigenen Preis zahlen. In- scheiden, und zweitens hätten sie gute Aussichten, oft
dem er die sekundären Prinzipien auch zum Kriteri- erhobenen Forderungen der Gerechtigkeit mindes-
um für das moralisch Richtige erhebt, scheint der Re- tens ebenso gut zu entsprechen wie konkurrierende
gel-Utilitarismus einen Verstoß gegen sekundäre Theorien, die sich von vornherein und oft in Abgren-
Prinzipien selbst in den Fällen für moralisch falsch er- zung zum Utilitarismus als Theorien der Gerechtig-
klären zu müssen, in denen ein dramatischer Nutzen- keit verstehen.
verlust nur durch einen Verstoß gegen sekundäre
Prinzipien verhindert werden kann; so z. B. in einem Literatur
Fall, in dem nur dadurch, dass einem Terroristen Ge- Bentham, Jeremy: The Principles of Morals and Legislation
walt angetan wird, verhindert werden kann, dass die [1789]. Indianapolis 1964.
Brandt, Richard B.: Fairness to indirect optimific theories in
von ihm auf einem Bahnhof deponierte Bombe Hun-
ethics [1988]. In: Ders.: Morality, Utilitarianism, and
derte von Menschen tötet. Das hat dem Regel-Utilita- Rights. Cambridge 1992a, 137–157.
rismus den Vorwurf des Regel-Fetischismus ein- –: Utilitarianism and welfare legislation. In: Ders.: Morality,
gebracht (Smart 1956, 349). Zwei-Ebenen-Theorien Utilitarianism, and Rights. Cambridge 1992b, 370–387.
hingegen scheinen, indem sie die sekundären Prinzi- Elster, Jon: The empirical study of justice. In: David Miller/
pien nur als eine Methode begreifen, unter Umstän- Michael Walzer (Hg.): Pluralism, Justice and Equality. Ox-
ford 1995, 81–98.
den auch in Fällen, in denen durch einen Verstoß ge- Fehige, Christoph: Das große Unglück der kleineren Zahl.
gen die sekundären Prinzipien nur ein kleiner Nut- In: Christoph Fehige/Georg Meggle (Hg.): Zum mora-
zengewinn erzielt werden kann, diesen Verstoß für lischen Denken, Bd. 2. Frankfurt a. M. 1995, 139–175.
moralisch richtig erklären zu müssen. So z. B. in dem –/Frank, Robert H.: Feeling our way to the common good.
oben beschriebenen Fall, in dem wir nur dadurch, In: The Monist 93/1 (2010), 141–165.
Feldman, Fred: Adjusting utility for justice. In: Philosophy
dass wir ein Individuum quälen, hinreichend viele an-
and Phenomenological Research 55/3 (1995), 567–585.
dere Individuen in insgesamt nutzenmaximierender Gesang, Bernward: Gerechtigkeitsutilitarismus. In: Ders.
Weise noch ein bisschen froher machen würden, als (Hg.): Gerechtigkeitsutilitarismus. Paderborn 1998, 13–37.
sie es ohnehin schon sind. Dies hat Zwei-Ebenen-
35 Kosmopolitische Gerechtigkeit 223

Harsanyi, John C.: Rule utilitarianism, equality, and justice. 35 Kosmopolitische Gerechtigkeit
In: Social Philosophy and Policy 2/2 (1985), 115–127.
Hare, Richard M.: Moralisches Denken. Frankfurt a. M. 1992 Aus der Sicht kosmopolitischer Gerechtigkeitskon-
(engl. 1981).
Hooker, Brad: Ideal Code, Real World. Oxford 2000. zeptionen sind global alle Personen bei der Bestim-
–: Rule-consequentialism. In: Edward N. Zalta (Hg.): The mung von Gerechtigkeitsprinzipien zu berücksichti-
Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2008 Editi- gen. Dabei gibt es allerdings wesentliche Unterschie-
on), http://plato.stanford.edu/entries/consequentialism- de zwischen den Konzeptionen, da sie den Kosmo-
rule (9.1.2008). politismus bzw. Universalismus nicht auf der gleichen
Lyons, John: Forms and Limits of Utilitarianism. Oxford
Ebene der Begründung von Gerechtigkeitsprinzipien
1965.
Mill, John Stuart: Der Utilitarismus. Stuttgart 1976 (engl. vorsehen: Einige Positionen fordern, dass jedem bei
1861). der Begründung von Gerechtigkeitsprinzipien die
Railton, Peter: Alienation, consequentialism, and the de- gleichen Ansprüche zukommen müssen. Andere ge-
mands of morality. In: Philosophy and Public Affairs 13/2 hen demgegenüber davon aus, dass Gerechtigkeits-
(1984), 134–171. prinzipien jedem gegenüber gerechtfertigt werden
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
1975 (engl. 1971).
(können) müssen. Und wieder für andere liegt der
Schroth, Jörg: Utilitarismus und Verteilungsgerechtigkeit. Kosmopolitismus in einer globalen (politischen)
In: Zeitschrift für philosophische Forschung 60/1 (2006), Struktur, in der sich alle gleichermaßen bei der Be-
37–58. stimmung und Anwendung von Gerechtigkeitsprin-
Sidgwick, Henry: Die Methoden der Ethik. Leipzig 1909 zipien zur Geltung bringen können. In der jüngeren
(engl. 71907).
Diskussion hat sich zur Unterscheidung zwischen der
Smart, John J. C.: Extreme and restricted utilitarianism. In:
Philosophical Quarterly 6/25 (1956), 344–354. ersten und der dritten Sichtweise auch die terminolo-
–: Utilitarianism and justice. In: Journal of Chinese Philoso- gische Differenzierung zwischen ›kosmopolitischen‹
phy 5/3 (1978), 287–299. und ›kosmopolitanen‹ Ansätzen ergeben, wobei die
Trapp, Rainer: »Nicht-klassischer« Utilitarismus. Frankfurt zweite Perspektive je nach der Art der geforderten
a. M. 1988. Rechtfertigung der einen oder anderen Seite zugeord-
Wessels, Ulla: Das Gute. Frankfurt a. M. 2011.
net wird.
Williams, Bernard: Kritik des Utilitarismus. Frankfurt a. M.
1979 (engl. 1973).

Ulla Wessels Geschichte der kosmopolitischen Gerechtig-


keitstheorie

Die Idee eines Weltbürgers (kosmopolites) wird in der


griechischen Antike zunächst dem kynischen Phi-
losophen Diogenes von Sinope zugeschrieben, und
zwar als Ausdruck seiner Unverbundenheit mit einem
spezifischen Gemeinwesen und dessen Moralvorstel-
lungen. Systematisch relevant für die Geschichte des
Kosmopolitismus als einer Gerechtigkeitstheorie ist
aber insbesondere das Denken der Stoa: Ausgehend
von den Schriften ihres Begründers Zenon von Kition
im 4./3. Jahrhundert vor u. Z. bis hin zu den rö-
mischen Stoikern wird das Modell einer kosmischen
politischen Ordnung entwickelt. Diese Ordnung be-
schränkt sich nicht auf ein einzelnes Gemeinwesen,
sondern alle Gemeinwesen werden immer schon als
Teile einer gesetzmäßigen Struktur begriffen, die den
gesamten Kosmos umfasst. Für die Rechtsordnung
bedeutet dies einen grundlegenden Vorrang des Na-
turrechts vor jedem positiven Recht, wobei das Natur-
recht für die zwei Ideen steht, dass jeder das Recht er-
kennen kann und alle auf der fundamentalsten Ebene
224 III Gerechtigkeitskonzeptionen

gleichermaßen dem gleichen Recht unterworfen sind davon aus, dass es ein weltbürgerliches Recht gibt, sich
(Schofield 1999). an beliebigen Stellen der Erde aufzuhalten und sich als
Diese Vorstellung eines Vorrangs des Naturrechts Handels- und Interaktionspartner anzubieten (Bunge/
vor dem positiven Recht führt die christliche Tradition Spindler/Wagner 2011).
politischen Denkens von Augustinus bis ins Mittelalter Immanuel Kant greift diese Überlegungen Vitorias
fort (s. Kap. I.2), geht dabei jedoch nicht mehr von ei- auf, die für das Völkerrecht im 17. und 18. Jahrhun-
ner kosmischen Ordnung aus, an der sich ein ewiges dert und insbesondere auch für die Entwicklung des
Gesetz ablesen ließe. Sie versteht das Naturrecht we- europäischen Kolonialismus wichtig geworden sind,
sentlich als Vernunftrecht, das die basalen Rechtsprin- schränkt sie aber deutlich ein. Sein Weltbürgerrecht
zipien enthält, denen (neu) gesetztes Recht nicht zu- besteht nicht mehr in einem Aufenthaltsrecht, son-
widerlaufen darf. Spätestens im Mittelalter tritt jedoch dern nur noch in einem Besuchsrecht, das von den
das Problem der Rechtsanwendung neben dasjenige ›Besuchten‹ aufgehoben werden kann, wenn es für
der Rechtsbegründung, und damit wird die Positivie- den Abgewiesenen keinen Schaden zur Folge hat, ab-
rungsbedürftigkeit des Rechts und bei einigen Autoren gewiesen zu werden. Stärker als Vitoria betont Kant
(von Wilhelm von Ockham bis hin zu Thomas Hob- jedoch, dass das Weltbürgerrecht wie andere Rechts-
bes) auch die Souveränität als Lösung des Problems bereiche einer Absicherung bedarf und nicht vom
der Unterbestimmtheit eines reinen Vernunft- und Wohlwollen jeweiliger Gemeinwesen abhängen darf
Naturrechts eingeführt. Selbst wenn das Recht weiter- (Kant 1795/1968, 357–360). Mit Kant wird die Idee
hin (auch) Ausdruck allgemeiner Gerechtigkeitsprin- des Kosmopolitismus so in gewisser Weise wieder zu
zipien ist, so hängt seine Geltung doch entscheidend ihrem Ausgangspunkt zurückgeführt: Es soll sich bei
davon ab, dass sich konkrete und distinkte Herr- ihr nicht mehr nur noch um eine Figur der Rechts-
schaftskontexte konstituieren, in denen jeweilige Herr- begründung handeln, sondern sie verweist vielmehr
scher das Recht umsetzen. Die Vorstellung einer ein- auf eine globale öffentliche Rechtsordnung, die zu
zigen politischen Ordnung der Erde verschwindet da- schaffen ist und in der jeder einzelne wenigstens die
her ab der Frühen Neuzeit nahezu vollständig – und Möglichkeit hat, sich an jedem Platz der Erde auf-
das Vernunft- oder Naturrecht wird zu einer Frage der zuhalten, ohne dabei Gefahren ausgesetzt zu sein.
Grundlagen des (jeweils einzelstaatlichen) Rechts bzw. Dieser Gedanke ist zu einer der Inspirationsquellen
auf den Bereich des Völkerrechts beschränkt (Lutz- für die Revolution des Völkerrechts im 20. Jahrhun-
Bachmann/Niederberger/Schink 2010). dert geworden, die ihrerseits zur UN-Charta und zur
Eine wichtige Ausnahme davon bildet Francisco de Allgemeinen Menschenrechtserklärung geführt hat.
Vitoria, der zumindest für die Rechtsbegründung an Zugleich wird Kant damit zum primären Bezugsautor
der Vorstellung einer ursprünglichen globalen Rechts- für die Wiederentdeckung des Kosmopolitismus in
gemeinschaft festhält. In der Klärung der Ansprüche, der politischen Philosophie am Ende des 20. Jahrhun-
die die Spanier gegenüber den indigenen Völkern Mit- derts (Eberl 2008).
tel- und Südamerikas haben, konstatiert Vitoria, dass
die Aufteilung der Welt in einzelne Gemeinwesen nur
das Resultat eines Konsenses der gesamten Mensch- Kosmopolitische Gerechtigkeitsprinzipien
heit sein kann, in distinkten Ordnungen leben zu wol-
len (Vitoria 1997, 460–465). Würde es sich nicht um Wie zu Beginn festgehalten wurde, existieren kosmo-
einen Konsens handeln, dann könnten auch die Spa- politische Gerechtigkeitskonzeptionen in drei wesent-
nier in Europa nicht erwarten, dass andere Gemeinwe- lichen Varianten (wobei es durchaus Konzeptionen
sen ihre Grenzen anerkennen. Daraus ergibt sich nicht gibt, die zwei oder drei Varianten kombinieren oder
nur, dass die Spanier die Ansprüche der indigenen Völ- zentrale Überlegungen verschiedener Varianten in ei-
ker auf eigene Gemeinwesen respektieren müssen. nen Begründungszusammenhang bringen – vgl. als
Sondern es zeigt sich noch viel grundsätzlicher, dass Überblicke über das gesamte Feld Brock/Moellendorf
alle Prinzipien, die zwischen den Gemeinwesen gelten, 2005; Brooks 2014). Die erste Variante besagt, dass
sowie auch diejenigen, die Rechtsregeln innerhalb der (wenigstens die grundlegenden) Gerechtigkeitsprin-
Gemeinwesen zugrunde liegen, die Auswirkungen auf zipien global alle Personen gleichermaßen betreffen
deren Verhältnis zu anderen Gemeinwesen haben, auf bzw. berücksichtigen müssen. Der Kosmopolitismus
den Konsens der Gesamtmenschheit zurückgeführt dieser Ansätze besteht also darin, dass sich die Ge-
werden müssen. Mit dieser Begründung geht Vitoria rechtigkeitsprinzipien auf die Welt insgesamt bezie-
35 Kosmopolitische Gerechtigkeit 225

hen, und Ansprüche, die auf die Geltung der Gerech- hängen und ihren jeweiligen Gerechtigkeitsverständ-
tigkeitsprinzipien zurückgehen, nehmen typischer- nissen, auf die Abhängigkeit jeweiliger Prinzipien von
weise die Form von Menschenrechten an. besonders nachgefragten Gütern oder auf die unter-
Eine der klarsten Argumentationen für eine solche schiedliche Reichweite von Institutionen, die die Be-
kosmopolitische Gerechtigkeitskonzeption präsen- folgung von Prinzipien erzwingen können. Caney be-
tiert Simon Caney: Wenn es (wie auch Gerechtigkeits- ansprucht, mit seinen Argumenten negativ zu zeigen,
konzeptionen behaupten, die sich – vermeintlich – dass eine solche Beschränkung von Gerechtigkeits-
nur auf einzelstaatliche Verhältnisse beziehen) über- prinzipien auf einen jeweiligen partikularen Gel-
haupt Gerechtigkeitsprinzipien gibt, dann hängt die tungskontext und die Behauptung anderer Gerechtig-
Geltung und Anwendung dieser Prinzipien von be- keitsprinzipien für den Bereich jenseits des entspre-
stimmten Eigenschaften ihrer Adressaten ab. Lässt chenden Zusammenhangs inkonsistent ist. Diese Zu-
sich zeigen, dass Personen jenseits des Einzelstaates rückweisung ist noch nicht selbst eine Aussage dazu,
diese Eigenschaften teilen, dann müssen die Prinzi- welche Gerechtigkeitsprinzipien global gelten sollten
pien auch für diese Personen gelten oder die Gerech- und wie eine überzeugende Begründung solcher Prin-
tigkeitstheorie wird inkonsistent (Caney 2005, 35 f.). zipien aussieht – ob sie z. B. allen gegenüber gerecht-
Blickt man auf vorliegende (zunächst nicht kosmo- fertigt werden müssen oder nur in geteilten politi-
politische) Begründungen von Grund- und Bürger- schen Strukturen entwickelt werden können. Caney
rechten oder von Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, so ist überzeugt, dass bereits die Annahme, dass es über-
zeigt sich, dass diese Begründungen mit einer »uni- haupt Gerechtigkeitsprinzipien gibt, einen guten
versalist ›moral personality‹« operieren (ebd., 77). Grund bietet, alternative kosmopolitische Gerechtig-
Denn die entsprechenden Theorien setzen gewöhn- keitskonzeptionen (wie sie in den nächsten beiden
lich keine historischen oder sozialen Bedingungen vo- Abschnitten präsentiert werden) abzulehnen. Denn
raus, die (nur) in einem spezifischen Gemeinwesen wenn eine Gerechtigkeitstheorie beansprucht, Ge-
vorliegen. John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit ist rechtigkeitsprinzipien zu identifizieren, dann muss sie
zwar eventuell hinsichtlich der beanspruchten Recht- ihm zufolge darauf abzielen, dass diese Gerechtig-
fertigungsreichweite, d. h. mit Blick auf den Kreis, der keitsprinzipien auch zur Anwendung kommen. Sie
von der Argumentation überzeugt werden soll, auf ei- muss also eine konsequentialistische Dimension ha-
nen spezifischen Kontext bezogen (s. dazu den nächs- ben und kann ihre eigenen Geltungsansprüche nicht
ten Abschnitt); aber von der Argumentation her, d. h. an die faktische Zustimmung derjenigen binden, de-
hinsichtlich der Punkte, die zur Begründung heran- nen Pflichten auferlegt werden sollen (Caney 2005,
gezogen werden, handelt es sich nicht um eine ›Theo- 71) – was allerdings noch nicht bedeutet, dass Gerech-
rie der Gerechtigkeit in den USA‹. Wenn Theorien tigkeitsprinzipien auch unter allen Umständen durch-
aber auf einen universalistischen Personenbegriff re- gesetzt werden dürfen.
kurrieren, dann können die Eigenschaften, die für die Dieser Konsequentialismus erlaubt es, eine interes-
Geltung und Anwendung der Gerechtigkeitsprinzi- sentheoretisch fundierte Gerechtigkeitstheorie zu
pien relevant sind, nicht derart partikular sein, dass denken, also eine Theorie, die bestimmte Interessen
Personen jenseits des fraglichen Gemeinwesens sie von Personen als Eigenschaften auszeichnet, die stark
nicht teilen (können). Die Theorien können also nicht genug sind, um die Geltung von Gerechtigkeitsprinzi-
ausschließen, dass es sich bei ihnen immer schon um pien zu begründen. Interessentheoretische Argumen-
Theorien der Weltbürgerschaft oder globaler sozialer te (d. h. in diesem Zusammenhang Argumente, dass
Gerechtigkeit handelt. es global von jedem Menschen geteilte Interessen gibt)
David Miller (2007), Rawls (1999), Thomas Nagel finden sich in verschiedenen kosmopolitischen Ge-
(2005) u. a. vertreten Gerechtigkeitstheorien, die un- rechtigkeitstheorien. Eine Fassung bietet Thomas
terschiedliche Gerechtigkeitsprinzipien für die Ver- Pogge: Ihm zufolge haben Menschen grundlegende
hältnisse innerhalb von Staaten und für diejenigen Bedürfnisse, die jeweils zu entsprechenden Men-
zwischen Staaten bzw. zwischen Staaten und den Bür- schenrechten führen. Aufgrund dieser Rechte sind
gern anderer Staaten vorsehen. Die Begründungen für global alle verpflichtet zu verhindern, dass ihre jewei-
solche Unterschiede sind dabei nicht einheitlich: Sie ligen Regierungen sowie die Regierungen anderer
stützen sich auf den Vorrang von Nahbeziehungen Länder sie missachten (Pogge 2002, 58). Aus den In-
bzw. nationalen Gemeinschaften, kontingenterweise teressen bzw. in diesem Fall Bedürfnissen ergeben sich
bestehende Unterschiede in Kooperationszusammen- also unmittelbare Pflichten eines jeden, die von Vor-
226 III Gerechtigkeitskonzeptionen

teil für die je anderen sind, allerdings bestreitet Pogge können. Kosmopolitische Gerechtigkeitsprinzipien
im Gegensatz zu Caney, dass Gerechtigkeitsprinzipien fordern daher negative (das Verfügen über das
direkt handlungsleitend sind, und das heißt vor allem: Handlungsvermögen sichernde) und positive (die
dass sie positive Pflichten umfassen. Ausübung des Handlungsvermögens unterstützende)
Gerechtigkeitstheorien, die über Interessen Prinzi- Menschenrechte.
pien begründen, die unmittelbar zu positiven Hand-
lungsverpflichtungen führen (können), präsentieren
neben Caney prominent Henry Shue oder James Grif- Kosmopolitische Rechtfertigung
fin: Shue geht davon aus, dass Menschen sehr unter-
schiedliche Interessen verfolgen. Allerdings setzt das Die erste Variante einer kosmopolitischen Gerechtig-
Verfolgen dieser vielfältigen Interessen, die sich nicht keitskonzeption besagt, dass sich Prinzipien oder An-
für eine übergreifende Gerechtigkeitstheorie eignen sprüche begründen lassen, die über Einzelstaaten hi-
würden, voraus, dass grundlegende Interessen erfüllt nausreichen oder sogar global jedem zukommen. Die
sind. Diese Interessen, die es ermöglichen, die hetero- zweite Variante richtet sich demgegenüber auf die Be-
genen Interessen zu verfolgen, lassen sich universell gründungsbedürftigkeit der globalen Verhältnisse.
konstatieren, so dass ihre Gewährleistung Gegenstand Hierzu wird die These vorgebracht, dass gemeinsame
einer kosmopolitischen Gerechtigkeitstheorie sein (d. h. die Staaten überschreitende) Handlungskontex-
sollte. Die grundlegenden Interessen, so Shue, sind In- te unter Prinzipien stehen müssen, die die Zustim-
teressen an physischer Sicherheit, Subsistenz und ba- mung aller Betroffenen finden können, und dass aus
saler Freiheit. Und da diese Interessen Voraussetzun- dieser Zustimmungsbedürftigkeit resultiert, dass die
gen sind, um jegliche anderen Interessen verfolgen zu Prinzipien (wenigstens minimale) Forderungen der
können, fordert die Gerechtigkeit, dass die grund- Gerechtigkeit erfüllen müssen (vgl. zum Folgenden
legenden Interessen für alle (und zwar in der Form ausführlicher Niederberger 2013).
von Rechten) zu erfüllen sind, bevor jemand legiti- Entwickelt wird eine solche kosmopolitische Ge-
merweise ein anderes Interesse verfolgen darf (Shue rechtigkeitskonzeption v. a. im Anschluss und als Kri-
1996, 13–87). tik an Rawls’ Gerechtigkeitstheorie und deren Be-
Gegen Shue wird eingewandt, dass der Versuch, hauptung eines wesentlichen Unterschieds zwischen
grundlegende Gerechtigkeitsansprüche aus logischen einzelstaatlicher und globaler Gerechtigkeitstheorie.
Voraussetzungen für andere Ansprüche zu gewinnen, In der Theorie der Gerechtigkeit führt Rawls einen
in zwei Hinsichten nicht überzeugend ist: Einerseits zweiten Urzustand ein, in dem »Abgesandte verschie-
handelt es sich immer noch um konditionale Ansprü- dener Nationen« Prinzipien suchen, die konfligieren-
che (Tötungsakte lassen sich z. B. auf diese Weise de Ansprüche zwischen Staaten regeln können. Hier-
nicht verbieten, weil Tote keine Interessen mehr ver- bei zeigt sich für Rawls, dass Staaten insbesondere ihr
folgen) und andererseits ist nicht offensichtlich, dass Selbstbestimmungsrecht sichern wollen, was zur Fol-
die Voraussetzungen in allen Fällen wirklich notwen- ge hat, dass die Abgesandten umfassendere Prinzipien
dig sind, um weitergehende Interessen zu verfolgen. sozialer Gerechtigkeit jenseits der Staaten zurückwei-
Griffin schlägt dementsprechend eine alternative kos- sen (Rawls 1971, 378–379).
mopolitische Begründung von Gerechtigkeitsprinzi- Gegen eine solche zweistufige Gerechtigkeitstheo-
pien vor, die sich auf den universellen menschlichen rie, die von Rawls (1999) später noch weiter ausgear-
Anspruch auf die Entwicklung und Bewahrung des beitet wird, betonen Charles Beitz, Pogge u. a., dass
eigenen Handlungsvermögens (agency) stützt. Die angesichts der Prämissen der einzelstaatlichen Ge-
Eigenschaften des jeweiligen Handlungsvermögens rechtigkeitstheorie schon der erste Urzustand (d. h.
stehen sicherlich nicht immer im Zentrum der Le- die Ebene, auf der die vermeintlich einzelstaatlichen
bensentwürfe, die Menschen verfolgen. Aber das ei- Gerechtigkeitsprinzipien begründet werden) global
gene Handlungsvermögen ist letztlich die wesentliche alle Menschen umfassen muss. Die Notwendigkeit,
Instanz in Personen, die bei anderen Verpflichtungen nach Prinzipien einer gerechten Grundstruktur zu su-
zu erzeugen vermag (Griffin 2008, 44–48). Mensch- chen, ergibt sich für Rawls aufgrund dauerhafter Ko-
liche Existenz besteht entscheidend darin, über ein operationsverhältnisse, und da zu konstatieren ist,
eigenes Handlungsvermögen zu verfügen und es aus- dass die Welt aktuell einen einzigen Kooperations-
zuüben, so dass Pflichten, die sich nicht aus beson- zusammenhang bildet, muss die geforderte Grund-
deren Beziehungen ergeben, sich darauf beziehen struktur in den Augen von Beitz (1999, 144) den ge-
35 Kosmopolitische Gerechtigkeit 227

samten globalen Raum abdecken. Die kontraktualisti- rechtigkeit abgeschwächt. Statt von Kooperation ist
sche Überlegung hinter dem Rawlsschen Ausgangs- im globalen Raum nur von Interaktion auszugehen,
punkt und seiner globalen Erweiterung ist die d. h. von Handlungen, die in irgendeiner Weise auf-
folgende: Wenn Akteure sich auf Kooperationen ein- einander bezogen sind oder Auswirkungen aufeinan-
lassen (bzw. ihnen nicht entgehen können), dann der haben. Eine relevante Interaktion liegt auch dann
muss für sie unterstellt werden, dass diese Verhältnis- schon vor, wenn einige Staaten anderen Staaten Be-
se von wechselseitigem Vorteil sind bzw. dass Akteure dingungen vorgeben, unter denen letztere sich auf
danach streben werden, sie zu ihrem Vorteil auszuge- dem Weltmarkt bewegen können, selbst wenn erstere
stalten. Würde es einseitig Benachteiligte geben, wäre kein genuines Interesse an einer Kooperation mit
nicht zu verstehen, warum sie die reziproken Erwar- letzteren haben. Denn die bestehenden internatio-
tungen erfüllen sollten, die mit solchen Kooperations- nalen Regelungen haben für die interne Staatsorga-
verhältnissen einhergehen. Wenn solche Erfüllungen nisation – bzw. insbesondere als Anreize innerhalb
aber nicht zu erwarten wären, dann würden die Ko- von Gemeinwesen zur Korruption oder sogar zum
operationen auch für die Begünstigten problematisch Etablieren diktatorischer Verhältnisse – unmittelbare
werden, weil sie nur kontingenterweise gelingen wür- Konsequenzen (Pogge 2002, 112–116). Besonders
den und zu ihrem Vorteil wären. Selbst diejenigen, die deutlich zeigt sich dies am so genannten Ressourcen-
dadurch begünstigt wären, müssten also Vorsorge für privileg, d. h. an den Möglichkeiten, international
den Fall treffen, dass die Kooperationspartner die Er- Rohstoffe zu verkaufen, ohne dass die entsprechen-
wartungen nicht mehr erfüllen. den Akteure über legitime Eigentumstitel an ihnen
Kann also gezeigt werden, dass es globale Koope- verfügen (Wenar 2016). Selbst unter diesen abge-
ration gibt, dann müssen die unterschiedlichen Zu- schwächten Voraussetzungen sind also all diejenigen,
gänge zum Weltmarkt (s. Kap. V.79) und die unter- die an den entsprechenden Interaktionsverhältnissen
schiedlichen Vor- und Nachteile, die sich aus ihm für beteiligt sind (d. h. insbesondere die Vorteilsnehmer
unterschiedliche Staaten und Personen ergeben, ge- dieser Interaktionsverhältnisse), dazu verpflichtet, sie
rechtigkeitstheoretisch thematisiert und die Unge- gerechten Regeln zu unterwerfen, d. h. Prinzipien, de-
rechtigkeit einer entsprechenden Weltordnung erwie- nen alle, die von den Verhältnissen betroffen sind, ih-
sen bzw. die eigentlich gebotenen Prinzipien, die der re Zustimmung geben können.
Grundstruktur zugrunde liegen sollten, allen gegen-
über gerechtfertigt werden. Stabile und akzeptable
Kooperationsverhältnisse liegen erst dann vor, wenn Kosmopolitane Demokratie
sie auf Prinzipien zurückgehen, die von allen geteilt
werden, so dass alle einen Grund haben, den entspre- Die ersten beiden Varianten kosmopolitischer Ge-
chenden Prinzipien gemäß zu handeln. Die Forde- rechtigkeitskonzeptionen bewegen sich wesentlich
rung einer kosmopolitischen Gerechtigkeitskonzepti- im Bereich philosophischer Reflexion. Sie begründen
on resultiert also aus den Bedingungen, unter denen im einen Fall, dass es Gerechtigkeitsprinzipien bzw.
ein gemeinsamer Handlungsraum so geregelt sein -ansprüche mit globaler Reichweite gibt, und im an-
kann, dass dies von allen anerkannt wird. deren Fall, dass Prinzipien für die globalen Interakti-
In der bislang skizzierten Form hängt die Gerech- onsverhältnisse zu suchen sind, denen alle Betroffe-
tigkeitskonzeption, die auf kosmopolitische Rechtfer- nen zustimmen könnten. Gerade im Anschluss an die
tigung ausgerichtet ist, an der Existenz von Koope- zweite Variante stellt sich jedoch die Frage, ob ent-
rationsverhältnissen und -notwendigkeiten. Gegen sprechende Prinzipien allein in philosophischer Re-
eine starke Analogie zwischen staatlicher Kooperati- flexion gefunden werden können oder ob dazu nicht
on und der globalen Situation wird aber bereits früh vielmehr globale politische Verfahren und Strukturen
eingewandt, dass reiche Länder nicht in gleichem erforderlich sind. Über solche Verfahren und Struk-
Maß auf die Länder des globalen Südens angewiesen turen sollte sichergestellt werden, dass tatsächlich alle
bzw. für deren Armut verantwortlich sind, wie dies an der Entscheidung über Prinzipien teilhaben kön-
für die Beziehungen zwischen Reichen und Armen nen, die die globale Koexistenz regulieren. Eine der-
innerhalb einzelner Gemeinwesen gilt. Beitz selbst artige Vorstellung vertritt die dritte Variante einer
und vor allem Pogge haben daher die Bedingung für kosmopolitischen oder genauer: kosmopolitanen Ge-
die Forderung einer global gerechten Grundstruktur rechtigkeitskonzeption, in der die Gerechtigkeit der
und im gleichen Zug auch die Prinzipien globaler Ge- globalen Ordnung an deren demokratische, d. h. in-
228 III Gerechtigkeitskonzeptionen

klusive und legitime Gestaltung gebunden wird (vgl. scher Ebenen verfügen. In einer Weiterentwicklung
zum Folgenden ausführlicher Niederberger 2012). der Theorie hat Daniele Archibugi eine Alternative zu
Den ersten Vorschlag zu einer kosmopolitanen De- einer solchen Kompetenzzuschreibung präsentiert,
mokratie hat David Held vorgelegt. Seiner Auffassung die Gefahr läuft, die Ausübung von Autonomie (und
nach ist Autonomie der entscheidende Maßstab für das heißt vor allem: umfangreichere soziale Gerech-
gerechte Verhältnisse, was sich u. a. auch daran zeigt, tigkeit) in distinkten Kontexten vom Wohlwollen glo-
dass hinter der Forderung nach Prinzipien, die all- bal aller abhängig zu machen. Dieser Alternative zu-
gemeine Zustimmung finden können, die Einsicht folge sollte die kosmopolitane Demokratie in einer
steht, dass die Autonomie global aller den Bezugs- stabilen Kompetenzaufteilung zwischen verschiede-
punkt für die Beurteilung der Zulässigkeit oder Un- nen Ebenen politischen Entscheidens bestehen, die
zulässigkeit von Handlungen, Strukturen etc. abgeben sowohl die Staaten wie auch eine globale Gesetz-
sollte, die sie betreffen. Die Anerkennung der Auto- gebung vorsieht (Archibugi 2008, 109–112). Otfried
nomie hat zwei Implikationen: Einerseits muss es Ver- Höffe hält demgegenüber eine noch weiter reduzier-
fahren und Strukturen geben, in denen die Autonomie te Form einer »komplementären Weltrepublik« für
ausgeübt werden kann, und andererseits müssen die sinnvoll, deren Kompetenzen davon abhängen, dass
Verfahren und Strukturen, aber auch die Möglichkei- sie ihr auch von den Staaten verliehen werden (Höffe
ten von Akteuren so beschränkt sein, dass sie anderen 1999, 308–314) – womit die Staaten, anders als bei
nicht die Möglichkeit zur Ausübung von Autonomie Held und Archibugi, konstitutiv für die Weltrepublik
nehmen können (Held 1995, 147). Beide Implikatio- sind und nicht gleichzeitig begründet werden. Globa-
nen bedeuten, dass eine bloß philosophische Begrün- le Gerechtigkeit beschränkt sich dann aber darauf, ein
dung von Gerechtigkeitsprinzipien nicht ausreichen Korrektiv zum Weltmarkt zu sein, der als solcher un-
kann, da sie weder als Ausübung der Autonomie aller angetastet bleibt. In Abgrenzung von all diesen An-
begriffen werden kann noch sicherstellt, dass eine sätzen schlägt eine Konzeption transnationaler De-
›Umsetzung‹ der Prinzipien nicht unzulässigerweise mokratie eine globale Ordnung vor, in der die beiden
in die Autonomie Betroffener eingreift. Autonomie gewährleistenden Strukturen auseinan-
Held fordert daher eine kosmopolitane Demokra- dertreten, so dass die politischen Ebenen dyna-
tie, die die Autonomie in ihren beiden Dimensionen mischer auf Herausforderungen der Gerechtigkeit
gewährleistet: Als transnationale Struktur soll sie Ver- und der Selbstbestimmung sowie ihre Gefährdung
fahren bereitstellen, in denen mit Blick auf grenzüber- (auch durch politische Kontexte) reagieren können
schreitende Handlungskontexte bindende Regeln ge- (Niederberger 2009).
funden werden können, ohne dabei die bestehenden
politischen Gemeinwesen einfach aufzuheben. Sie soll
es vielmehr erlauben, legitimerweise in distinkten Ge- Desiderate kosmopolitischer Gerechtig-
meinwesen partikulare (vielleicht auch weiter oder keitskonzeptionen
weniger weit reichende) Gerechtigkeitsprinzipien zu
etablieren, indem sie sicherstellt, dass die Entschei- Kants Ansatz führt zwei Aspekte wieder zusammen,
dungen dieser Gemeinwesen nicht auf Kosten anderer die zuvor auseinandergetreten waren, nämlich die
getroffen werden (ebd., 231–238). Zugleich müssen Forderung nach global für jeden geltenden Ansprü-
die übergreifenden Strukturen jedoch in die Lage ver- chen und diejenige nach einer den gesamten Globus
setzt werden, notfalls die Ressourcen zu akquirieren, umspannenden öffentlichen (Rechts-)Ordnung. Der
die erforderlich sind, um Prinzipien sozialer Gerech- Durchgang durch derzeit vertretene kosmopolitische
tigkeit auch umzusetzen, über die gemeinsam befun- Gerechtigkeitskonzeptionen zeigt, dass diese beiden
den wurde (ebd., 275). Aspekte weiterhin nicht notwendig miteinander ein-
Helds Modell operiert mit der Idee, dass die bis- hergehen – und zum Teil sogar als in Spannung zu-
lang v. a. für Einzelstaaten begründete Verbindung einander stehend begriffen werden. Und hierin liegen,
von Gerechtigkeit und Demokratie auf den Globus abgesehen von der Kontroverse innerhalb der einzel-
ausgedehnt wird. Und selbst wenn nicht ausgeschlos- nen Varianten von Gerechtigkeitskonzeptionen über
sen wird, dass bisher existierende politische Kontexte die jeweiligen Prinzipien bzw. Strukturen oder Ver-
weiterbestehen, so kommt der kosmopolitanen De- fahren, die gefordert werden, auch die zwei wichtigs-
mokratie doch die ›Kompetenzkompetenz‹ zu und sie ten Desiderate für die zukünftige Diskussion:
kann jederzeit die Auflösung untergeordneter politi- Erstens ist noch nicht geklärt, wie sich Gerechtig-
35 Kosmopolitische Gerechtigkeit 229

keit und Legitimität zueinander verhalten. Varianten Literatur


kosmopolitischer Konzeptionen, die Gerechtigkeits- Archibugi, Daniele: The Global Commonwealth of Citizens.
prinzipien an Verfahren ihrer Begründung knüpfen, Toward Cosmopolitan Democracy. Princeton 2008.
Beitz, Charles: Political Theory and International Relations.
in die alle einbezogen sind, können – so die Verfah- Princeton 21999.
rensbedingungen eingehalten werden – kaum noch Brock, Gillian/Moellendorf, Darrel (Hg.): Current Debates in
etwas Weitergehendes hinsichtlich der Qualität der Global Justice. Dordrecht 2005.
Resultate fordern. Prinzipien, die sich aus den Verfah- Brooks, Thom (Hg.): The Global Justice Reader. Malden
ren ergeben, müssen als gerecht gelten, selbst wenn sie 2014.
Bunge, Kirstin/Spindler, Anselm/Wagner, Andreas (Hg.):
Ungleichheiten zulassen, Armut nicht bekämpfen etc.
Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria. Stutt-
Die Legitimität des Verfahrens scheint hinreichend gart-Bad Cannstatt 2011.
für die Gerechtigkeit der Ergebnisse zu sein. Das läuft Caney, Simon: Justice Beyond Borders. A Global Political
jedoch vielen Bewertungen von Entscheidungen zu- Theory. Oxford 2005.
wider, die nicht nur hinsichtlich der Einhaltung von Eberl, Oliver: Demokratie und Frieden. Kants Friedensschrift
Verfahrensbedingungen als ungerecht qualifiziert in den Kontroversen der Gegenwart. Baden-Baden 2008.
Griffin, James: On Human Rights. Oxford 2008.
werden. Mit Blick auf das Verhältnis zwischen Ge-
Held, David: Democracy and the Global Order. From the Mo-
rechtigkeit und Legitimität bleibt dementsprechend dern State to Cosmopolitan Governance. Cambridge 1995.
noch zu untersuchen, ob und, wenn ja, wie und mit Höffe, Otfried: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung.
welchen Konsequenzen für den Umgang mit Prinzi- München 1999.
pien die beiden zu unterscheiden sind oder nicht. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden [1795]. In: Königlich
Hinter den Kontroversen über das Verhältnis zwi- Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant’s
gesammelte Schriften [Akademie-Ausgabe], Bd. VIII. Ber-
schen Gerechtigkeit und Legitimität verbirgt sich lin 1968, 341–386.
zweitens aber noch eine tiefergehende Auseinander- Lutz-Bachmann, Matthias/Niederberger, Andreas/Schink,
setzung, die auch in dem terminologischen Vorschlag Philipp (Hg.): Kosmopolitanismus. Zur Geschichte und Zu-
zum Ausdruck kommt, kosmopolitische und kosmo- kunft eines umstrittenen Ideals. Weilerswist 2010.
politane Gerechtigkeitskonzeptionen voneinander Miller, David: National Responsibility and Global Justice. Ox-
ford 2007.
abzuheben. Varianten kosmopolitischer Gerechtig-
Nagel, Thomas: The problem of global justice. In: Philosophy
keitskonzeptionen, die – wie im Fall von Caney – al- and Public Affairs 33 (2005), 113–147.
lein auf die Reichweite der begründeten Prinzipien Niederberger, Andreas: Demokratie unter Bedingungen der
setzen und die Frage weitgehend ausblenden, ob sie Weltgesellschaft? Normative Grundlagen legitimer Herr-
gegenüber Betroffenen gerechtfertigt werden können, schaft in einer globalen politischen Ordnung. Berlin 2009.
betonen den unmittelbar moralischen und hand- –: Jenseits des Staates. Kosmopolitane Demokratietheorie
im Zeitalter der Globalisierung. In: Oliver W. Lembcke/
lungsverpflichtenden Charakter von Gerechtigkeits- Claudia Ritzi/Gary S. Schaal (Hg.): Zeitgenössische Demo-
prinzipien. Aufgrund der Probleme und Gefahren, die kratietheorie, Bd. 1: Normative Demokratietheorien. Wies-
solche Verpflichtungen mit sich bringen (unterkom- baden 2012, 417–444.
plexes Verständnis von Situationen, Notwendigkeit –: Liberales Tolerieren statt globaler Gerechtigkeit. John
koordinierter Handlungen bzw. von Institutionen, Rawls’ Konzeption eines Rechts der Völker. In: Michael
Becker (Hg.): Politischer Liberalismus und wohlgeordnete
Imperialismus etc.), spricht aus Sicht gerade der drit-
Gesellschaften. John Rawls und der Verfassungsstaat. Ba-
ten Variante viel dafür, dass globale Gerechtigkeit nur den-Baden 2013, 131–164.
in einer öffentlichen Ordnung erreichbar ist, die es in Pogge, Thomas: World Poverty and Human Rights. Cam-
gewissem Maß erfordert, von je eigenen moralischen bridge 2002.
Urteilen abzusehen – was auch durch die terminologi- Rawls, John: A Theory of Justice. Oxford 1971.
sche Differenz betont werden soll. Aber eine solche –: The Law of Peoples (with »The Idea of Public Reason Revisi-
ted«). Cambridge MA 1999.
Konzentration auf eine globale Ordnung könnte wie-
Schofield, Malcolm: The Stoic Idea of the City. Chicago 1999.
derum die problematische Konsequenz haben, dass Shue, Henry: Basic Rights. Subsistence, Affluence, and U. S.
Gerechtigkeit aufzuschieben ist, bis adäquate globale Foreign Policy. Princeton 21996.
Verfahren und Strukturen existieren. Dies kann wie- Vitoria, Francisco de: De Indis/Über die Indianer. In: Ders.:
derum kaum gerecht sein, so dass vor diesem Hinter- Vorlesungen II. Völkerrecht, Politik, Kirche. Stuttgart 1997,
grund gut nachzuvollziehen ist, warum in den letzten 370–541.
Wenar, Leif: Blood Oil: Tyrants, Violence, and the Rules That
Jahren die Forschung zu Forderungen der Gerechtig- Run the World. Oxford 2016.
keit unter nicht-idealen Bedingungen in den Mittel-
punkt gerückt ist. Andreas Niederberger
230 III Gerechtigkeitskonzeptionen

36 Kommunitaristische auf die kontingent vorherrschenden Werttraditionen


Gerechtigkeit von konkreten Gemeinschaften zu stützen. Schließ-
lich wird auf Kurskorrekturen in der gesellschaftli-
chen Praxis gedrängt, wobei insbesondere Maßnah-
Der Begriff ›Kommunitarismus‹ bezeichnet eine phi- men zur Förderung von Gemeinsinn und substaatli-
losophische Strömung, die im letzten Drittel des chen Gemeinschaften stärkere Berücksichtigung fin-
20. Jahrhunderts als Kritik an der liberalen (und liber- den sollen. Im Folgenden wird diese vierfache
tären) Theoriebildung entstanden ist (s. Kap. III.31, konstruktive Liberalismuskritik des Kommunitaris-
32). Ziele der Kritik waren insbesondere das 1971 von mus in umgekehrter Reihenfolge erläutert. Die Dar-
John Rawls vorgelegte Werk A Theory of Justice sowie stellung arbeitet sich also von den politischen Veräste-
Robert Nozicks 1974 erschienenes Buch Anarchy, lungen zu den philosophischen Wurzeln vor. Dies ist
State and Utopia. Namensgebend für den Kommuni- sinnvoll, weil gerechtigkeitstheoretische Reflexionen
tarismus war der Umstand, dass die kommunitaristi- im Allgemeinen auf Konsequenzen in der Praxis aus-
schen Kritiker insbesondere die individualistischen gerichtet sind und der Kommunitarismus im Speziel-
Prämissen, auf denen liberale Theorien traditionell len den Anspruch besonderer Anschlussfähigkeit an
aufgebaut sind, aus ontologischer, methodischer oder das alltägliche Leben von Menschen erhebt.
normativer Sicht infrage stellten und eine zentralere
Rolle für die Kategorie des Gemeinwohls in Gerech-
tigkeitstheorien einforderten. Als Hauptvertreter des Gemeinschaftsfördernde Politik
Kommunitarismus gelten Alasdair MacIntyre, Mi-
chael Sandel, Charles Taylor, Michael Walzer sowie Um einen Eindruck der vielfältigen praktischen Forde-
Amitai Etzioni. Die konstitutive Eingebundenheit des rungen zu geben, die von kommunitaristischer Warte
Individuums in gemeinschaftliche Kontexte sowie ei- aus an die Politik gerichtet werden, kann man sich
ne auf das Gemeinwohl ausgerichtete Politik waren nicht auf die vorgeschlagenen Reformen beschränken.
natürlich bereits früher, z. B. bei Aristoteles, Augus- Die praktischen Implikationen der kommunitaristi-
tinus, Thomas von Aquin, Jean-Jacques Rousseau, schen Theoriebildung beziehen sich mindestens eben-
G. W. F. Hegel, Karl Marx oder Stephen MacPherson so sehr auf die Verhinderung von Reformen wie auf
betont worden, ganz zu schweigen von der außerwest- Veränderungsvorschläge selbst. Tatsächlich laufen so-
lichen Gerechtigkeitsphilosophie, so dass eher von der wohl die Veränderungs- wie Nichtveränderungsvor-
Wiederentdeckung einer gemeinschaftszentrierten schläge der Kommunitarier mehrheitlich auf die Auf-
Gerechtigkeitstheorie als von einer Neuerfindung zu rechterhaltung bereits existierender gesellschaftlicher
sprechen ist. Zufällig war der Zeitpunkt dieser Wie- Verhältnisse hinaus, so dass dem Kommunitarismus
derentdeckung aber keineswegs, da der Individualis- eine gewisse ideologische Affinität zum Konservatis-
mus in den Theorien von Rawls und Nozick als he- mus zugesprochen werden kann. Während sich aber
rausragende philosophische Errungenschaft des west- der Konservatismus in den letzten Jahrzehnten in Eu-
lich-neuzeitlichen Denkens bekräftigt und besonders ropa und den USA spürbar an (neo-)liberale Positio-
überzeugend begründet wurde. nen angenähert hat und politisch auf kontrollierte Mo-
Der Beitrag des Kommunitarismus zur philosophi- dernisierung pocht, stehen die Forderungen der Kom-
schen Debatte über Gerechtigkeit lässt sich in viererlei munitarier republikanischen Traditionen näher.
Hinsicht als eine konstruktive Kritik an liberalen An- Im Hinblick auf die Verhinderung von Reformvor-
sätzen fassen. Erstens wird die Existenz von Loyali- haben ist zunächst zu bekräftigen, dass Kommunita-
tätspflichten zu begründen versucht, die Gemein- rier normalerweise nicht an den grundlegenden zivi-
schaftsmitglieder einander, nicht aber Außenstehen- len und politischen Freiheiten bestehender liberaler
den schulden. Damit verbunden wird zweitens hin- Demokratien rütteln. Tatsächlich sollen nach eigenem
sichtlich des allgemeinen Menschenbilds gefordert, Anspruch viele der kommunitaristischen Forderun-
dass Gerechtigkeitstheorien das Individuum nicht als gen an die Politik gerade deren Schutz dienen. Der li-
autonom, sondern als in gemeinschaftliche Kontexte beralen Politik (und mittelbar der liberalen politi-
eingebettet voraussetzen müssen. Drittens wird alter- schen Philosophie) wird dementsprechend vorgewor-
nativ zum Verweis auf ein abstraktes, ahistorisches fen, durch einen einseitigen Fokus auf individuelle
und universalistisches Ideal des moralisch Richtigen Selbstbestimmung den gemeinschaftlichen ›Kitt‹ zu
empfohlen, gerechtigkeitstheoretische Reflexionen zersetzen, der eine liberale und pluralistische Ord-
36 Kommunitaristische Gerechtigkeit 231

nung zusammenhält (z. B. Sandel 1996). Weiter lässt ternehmen oder die Stärkung der Position von regio-
sich häufig ein Bekenntnis zu existierenden Institutio- nalen Arbeitnehmern gegenüber Großfirmeneigentü-
nen finden, die Progressive unter Gerechtigkeits- oder mern durch die Demokratisierung von Management-
Emanzipationsgesichtspunkten als zu restriktiv und strukturen (z. B. Walzer 1983, 291–303).
daher als reformbedürftig betrachten. Befürwortet Die in der kommunitaristischen Literatur auffind-
werden z. B. vorherrschende Immigrations- und Ein- baren Forderungen entsprechen keinem kohärenten
bürgerungsbestimmungen (z. B. Walzer 1983, Kap. 2), Programm. Dies ist kein Zufall. Abgesehen davon,
heterosexuelle und monogame Ehe oder Beschrän- dass die Kommunitarier häufig eher über die jeweilige
kungen der individuellen Selbstbestimmung in bio- Kritik am Liberalismus geeint sind als durch eine po-
ethischen Fragen wie der Abtreibung oder der Sterbe- sitive, konzeptuell unabhängige Gerechtigkeitstheo-
hilfe (siehe Etzioni 2011). Schließlich wird allgemein rie, versperrt auch eine von vielen Kommunitariern
gegen die Ausweitung der ökonomischen Globalisie- geteilte theoretische Grundannahme den Weg zu ei-
rung durch eine Liberalisierung der Märkte ebenso nem einheitlichen Programm. Wie im folgenden Ab-
Position bezogen wie gegen die Forderung, der öko- schnitt über das metaethische Verständnis des Kom-
nomischen Globalisierung müsse die politische Glo- munitarismus deutlich wird, vertreten Kommunita-
balisierung folgen. Viele Kommunitarier halten an der rier die Auffassung, dass es von den kulturellen und
politischen Organisation in Nationalstaaten fest. historischen Kontexten abhänge, welche Forderungen
Im Gegensatz zu verlangten Reformen verfolgen an die Politik gestellt werden sollen.
die Forderungen der Kommunitarier, wie bereits an-
gezeigt, mitunter das Ziel, bestimmte im Gang befind-
liche Entwicklungen aufzuhalten oder gar rückgängig Die kommunitaristische Kritik an uni-
zu machen. Eine dieser Entwicklungen wird in der versalistischen Gerechtigkeitstheorien
fortschreitenden Kommerzialisierung der Gesell-
schaft erkannt. Michael Sandel (2012) und zuvor be- Neben dem Vorwurf, der Liberalismus stütze seine ge-
reits Michael Walzer (1983, 97–107) prangern den rechtigkeitstheoretischen Reflexionen häufig auf eine
Trend an, dass der Logik des Marktes Zugang zu im- ungeeignete Konzeption des Individuums (s. u.), wird
mer mehr Lebensbereichen verschafft werde, in denen die universelle und ahistorische Gültigkeit von Ge-
die Logik des Marktes fehl am Platz sei, weil sie in Aus- rechtigkeitsansprüchen von zahlreichen kommunita-
sicht stelle, mit Geld Dinge kaufen zu können, die man ristischen Kritikern zurückgewiesen. Ein archime-
mit Geld nicht kaufen können sollte (z. B. Liebe, poli- discher – d. h. neutraler und überzeitlicher – Stand-
tische Macht, Freundschaft, Staatsbürgerschaft). Eine punkt zur Klärung von Gerechtigkeitsfragen sei eine
zweite unerwünschte Entwicklung wird in der Detra- Illusion oder könne von Menschen jedenfalls nicht
ditionalisierung der Gesellschaft erkannt. Historisch eingenommen werden. Wenn sich eine Gerechtig-
und lokal verankerte Wertvorstellungen, Einrichtun- keitstheorie nicht in den Dienst eines Kulturimperia-
gen und Bräuche dürften nicht leichtfertig zur Dis- lismus stellen wolle, müsse sie auf lokal vorherrschen-
position gestellt werden. Im Gegenteil gelte es gerade, den Gerechtigkeitsvorstellungen und Werttraditionen
sie zu bewahren. aufbauen und sich somit auf gesellschaftsinterne Kri-
Diejenige politische Forderung aber, die in irgend- tik beschränken. An die Stelle von moralischem Uni-
einer Form von allen Kommunitariern erhoben wird, versalismus müsse moralischer Partikularismus tre-
bezieht sich auf Maßnahmen zum Schutz und zur För- ten. Die so genannte Universalismus-Partikularis-
derung von als wertvoll betrachteten Formen des Ge- mus-Debatte beschränkt sich nicht auf das Streit-
meinschaftslebens. Als wertvoll erachtete Formen des gespräch zwischen Liberalen und Kommunitariern.
Gemeinschaftslebens werden vor allem in Familien, Sie reicht weit zurück in die Vergangenheit und hat
Freundschaften und der Bürgergemeinschaft erkannt; sich im 20. Jahrhundert weit über den westlichen
mitunter werden aber auch berufliche und religiöse Kontext hinaus ausgebreitet, so dass in diesem Kapitel
Assoziationen dazu gezählt. Konkrete Forderungen die Streitpunkte weder vollständig noch besonders
richten sich z. B. auf die (Wieder-)Einführung von tiefgründig rekonstruiert werden können. Es sollen
Bürgerdiensten wie der Wehrpflicht oder dem Zivil- aber zwei Argumente zur Rechtfertigung des mora-
dienst, die ökonomische Besserstellung von Familien lischen Partikularismus skizziert werden, die das
oder familienähnlichen Gemeinschaften, den Schutz Spektrum von Begründungsversuchen aufzeigen.
von regional wirtschaftenden mittelständischen Un- Unter anderem im Anschluss an den linguistic turn
232 III Gerechtigkeitskonzeptionen

in der Philosophie wird argumentiert, dass die mora- schen Theorems Z behauptet. Gemäß Walzer muss da-
lische Urteilsfähigkeit von Menschen von deren jewei- bei nicht erwartet werden, dass eine solche partikula-
liger sprachlicher und kultureller Sozialisation ab- ristische Gerechtigkeitstheorie systematisch den vor-
hängt. Die Suche nach einer universellen Moral sei herrschenden Status quo bekräftigt. In Spheres of Justi-
deshalb nicht minder fruchtlos (wenngleich vielleicht ce versucht er dementsprechend nachzuweisen, dass
minder grausam) als die Suche nach der universellen die allgemeinen Meinungen seiner amerikanischen
Sprache Friedrichs II. von Hohenstaufen, der davon Landsleute mit ihren eigenen tief verwurzelten Über-
ausging, dass ein ohne soziale Kontakte heranwach- zeugungen mitunter im Widerspruch stehen. Während
sendes Kind entweder Hebräisch, Griechisch, Latein man z. B. in den USA allgemein kein Problem damit zu
oder aber Arabisch sprechen müsse. Wenn die mora- haben glaube, dass Firmeneigentümer die Belegschaft
lische Urteilsfähigkeit von Menschen von deren jewei- von der Unternehmenspolitik ausschließen dürfen,
liger Sozialisation abhängt, dann können allgemein würden die tief verwurzelten Überzeugungen der
verbindliche Gerechtigkeitsprinzipien nur in der amerikanischen Bürger bezüglich der gerechten Ver-
Schnittmenge einer Vielzahl von partikulären Moral- teilung von politischen und ökonomischen Rechten
vorstellungen bestehen. Diese moralische Schnitt- ebendies verbieten (Walzer 1983, 291–303).
menge ist demgemäß erstens derivativ (d. h. die uni- Die kommunitaristische Kritik am moralischen
versellen Prinzipien müssen sich nach den partikulä- Universalismus impliziert eine Aufwertung der Ge-
ren Moralvorstellungen richten und nicht umgekehrt) meinschaft im Vergleich zur liberalen Theoriebil-
und zweitens vergleichsweise dünn. Die international dung. Gemeinschaften sind nicht einfach pragmati-
anerkannten Menschenrechte können vielleicht als ei- sche Assoziationen, sondern maßgebliche normative
ne solche dünne Schnittmenge gelten. Allerdings wäre Bezugspunkte für deren Mitglieder. Mit dieser Auf-
damit immer noch offen gelassen, wie die einzelnen wertung der Gemeinschaft geht ein neues Menschen-
Rechte im jeweiligen Kontext begründet sind und ob bild einher: Menschen sind nicht atomistische Indivi-
kulturelle Faktoren nicht unterschiedliche Vorrang- duen, die sich zu Kooperationszwecken zu Gesell-
regelungen bedingen (Bell 2006, Kap. 3; Benhabib schaften zusammenschließen, sondern wesentlich
1992, Kap. 1–3; MacIntyre 1988, Kap. 1; Taylor 1985, Gemeinschaftstiere. Ihr moralisches Leben kann
Kap. 1–3; Walzer 1983, xiv, 5; Walzer 1994). nach kommunitaristischem Verständnis nicht un-
Ein zweites Argument ist pragmatischer. Angenom- abhängig von den gesellschaftlichen Kontexten ge-
men, es gäbe universalistische Gerechtigkeitsprinzi- dacht werden, in die sie eingebettet sind.
pien, die substanziellerer Natur sind als eine Schnitt-
menge empirisch vorhandener, partikulärer Moraltra-
ditionen; müssten diese Prinzipien dann nicht so abs- Das Individuum in der Gemeinschaft
trakt formuliert werden, dass sie sich zur Beantwortung
praktisch relevanter Streitfragen kaum eignen? Damit In liberalen Gerechtigkeitstheorien steht das Indivi-
gerechtigkeitstheoretische Interventionen in der Ge- duum mit seinen Freiheitsrechten im Mittelpunkt.
sellschaft Widerhall finden und Wirkung entfalten Die Gesellschaft ist eine Assoziation zu Kooperations-
könnten, so das Argument weiter, müssten sie durch zwecken, hat aber darüber hinaus keinen speziellen
den Verweis auf örtlich vorherrschende Anschau- Wert. Zugespitzt formuliert ist sie gerecht, wenn sie
ungen und Werttraditionen begründet werden (Wal- möglichst neutral ist. Anstatt Lebenspläne ihrerseits
zer 1983, 29, 91; Young 1990, 4). Dieses partikularisti- vorzuschreiben, soll sie lediglich gewährleisten, dass
sche Anschlussfähigkeitsargument weist den An- die Mitglieder ihre eigenen Lebenspläne uneinge-
spruch universalistischer Gerechtigkeitstheorien also schränkt verfolgen können, solange sie nicht mit den
nicht kategorisch zurück, sondern räumt ihnen eher Lebensplänen anderer in Konflikt geraten. Rawls’ Ge-
geringe Erfolgsaussichten ein, viele Menschen über- dankenkonstrukt des hypothetischen Urzustands il-
zeugen zu können. Allgemeiner lässt sich das Argu- lustriert dieses Verständnis des Verhältnisses von In-
ment wie folgt formulieren: Gerechtigkeitstheoreti- dividuum und Gemeinschaft: Die Prinzipien für eine
sche Argumente haben größere Aussicht auf Erfolg, gerechte gesellschaftliche Ordnung werden hinter
wenn zur Widerlegung einer weit verbreiteten Mei- dem ›Schleier des Nichtwissens‹ festgelegt, der den
nung X auf eine im Denken derselben Menschen tief Entscheidungspersonen das Wissen über ihre soziale
verwurzelte Überzeugung Y rekurriert wird, als wenn Stellung, Religionszugehörigkeit, Lebenspläne etc.
man die Existenz eines abstrakten und universalisti- entzieht. So soll gewährleistet werden, dass die für alle
36 Kommunitaristische Gerechtigkeit 233

verbindlichen Gerechtigkeitsprinzipien niemanden bensplänen wünschenswert ist. Es möge manchmal


bevorzugen und niemanden bevormunden (Rawls vonnöten sein, sozial vermittelte Wertvorstellungen,
1971, §§ 4, 24). Gewohnheiten und Rollen zur Disposition zu stellen,
Kommunitaristische Kritiker bescheinigen der Fo- z. B. wenn Konflikte unter ihnen auftreten, die das täg-
kussierung auf individuelle Selbstbestimmung zwar liche Leben belasten. Einen Eigenwert hat die kritische
intuitive Attraktivität, meinen aber, sie beruhe auf Hinterfragung aber nicht. Warum sollte ein Anhänger
zweifelhaften Annahmen. Zunächst müsse man sich des 1. FC Nürnberg ohne konkreten Beweggrund in
von der Vorstellung befreien, dass Individuen als Betracht ziehen, Bayernfan zu werden? Andererseits
selbstgenügsame, atomistische Einheiten zu denken wird der Vorwurf erhoben, der Fokus auf individuelle
seien, deren Verhältnis zu anderen Menschen und Ge- Selbstbestimmung entziehe einer liberalen Gesell-
meinschaften rein voluntaristisch sei. Abgesehen da- schaft ihre notwendigen Grundlagen. Die Aufrecht-
von, dass Menschen für gewöhnlich nicht außerhalb erhaltung einer pluralistischen Ordnung (und a fortio-
der Gesellschaft leben wollten, könnten sie es nämlich ri von wohlfahrtsstaatlichen Institutionen) erfordere
gar nicht. Sie werden in einem sozialen Kontext gebo- nämlich ein solidarisches Selbstverständnis unter den
ren und wachsen in einem ebensolchen auf. Das Fami- Gesellschaftsmitgliedern sowie die Identifikation der
lien- und Gemeinschaftsleben werfe die heranwach- Gesellschaftsmitglieder mit den staatlichen Institutio-
senden Menschen in eine Vielzahl von nichtfreiwil- nen. Indem der Liberalismus aber auf der Neutralität
ligen persönlichen Beziehungen und verankere in ih- des Staates und dem Ideal der individuellen Selbst-
nen Wertvorstellungen und Gewohnheiten, die ihr bestimmung beharre, würden die Gesellschaftsmit-
Denken und Handeln grundlegend beeinflussen. An- glieder zu konsumistischen und politikverdrossenen
statt autonom zwischen unterschiedlichen Lebensplä- Privatmenschen erzogen und daran gewöhnt, indivi-
nen wählen und sich für oder gegen das Gesellschafts- duelle Rechte als Trümpfe gegen die Gesellschaft zu
leben entscheiden zu können, seien Individuen not- verstehen (Sandel 1996, Kap. 9).
wendig Teil von Gemeinschaften und das Produkt von Der gewichtigste Einwand von kommunitaristi-
Sozialisation (Sandel 2010, Kap. 1; Taylor 1985, Kap. 7). scher Seite ist aber, dass Individuen Loyalitätspflich-
Dieses ontologische Argument ist an sich plausibel. ten gegenüber partikulären Gemeinschaften haben,
Es ist lediglich fraglich, ob es alle liberalen Gerechtig- deren Mitglied sie sind (sowie Pflichten gegenüber de-
keitskonzeptionen gleichermaßen tangiert. Während ren einzelnen Mitgliedern) – partikuläre Verpflich-
gewisse individualistische Theorien (z. B. Nozicks tungen also, denen im konkreten Fall durchaus Priori-
›Entitlement Theory‹) tatsächlich nicht um die Prä- tät gegenüber allgemeinen moralischen Verpflichtun-
misse eines atomistischen Menschenbildes herum- gen zukommen kann.
kommen dürften, scheinen andere (z. B. Rawls’ Theo-
rie von Gerechtigkeit als Fairness) aber darauf ver-
zichten zu können, ohne eine substanzielle Neujustie- Loyalitätspflichten
rung vornehmen zu müssen. Letztere können das
selbstbestimmte Leben als ein regulatives Ideal auffas- Die meisten Menschen verstünden sich, so einige Ver-
sen, das eine gerechte Gesellschaft so gut wie möglich treter des Kommunitarismus, als Mitglieder von Fa-
fördern soll, selbst wenn die vollständige Selbst- milien, Religionsgemeinschaften und Freundschaften,
bestimmung des Einzelnen unerreichbar ist. Genau als Angehörige eines Volks oder einer Nation, und er-
genommen wollen Liberale durch die Einräumung achteten sich solchen partikulären Gemeinschaften
von möglichst umfangreichen Freiheitsrechten ja le- gegenüber grundsätzlich als verpflichtet. Nicht wenige
diglich gewährleisten, dass Individuen frei zwischen würden sogar einräumen, dass Mütter bzw. Väter und
unterschiedlichen Lebensplänen wählen dürfen. Jeder deren Kinder, Freunde, Angehörige einer Nation etc.
Mensch soll das gute Recht haben, sich von jeder wechselseitige Verpflichtungen haben, die Außenste-
durch Sozialisation vermittelten Wertvorstellung, Ge- hende nicht haben, selbst wenn die Elternschaft,
wohnheit oder Rolle zu emanzipieren, wenn er oder Freundschaft, Nationalität etc. nicht frei gewählt wur-
sie es wünscht (Kymlicka 1989, 52 f.). de. Liberale Ansätze könnten der Idee solcher Loyali-
Ein weiteres Set von Argumenten der kommunita- tätspflichten aber schlecht habhaft werden. Die nor-
ristischen Kritiker ist normativen Charakters. Einer- mativ auf Selbstbestimmung ausgerichteten Indivi-
seits wird bezweifelt, dass die systematische Infra- duen seien in liberalen Gerechtigkeitskonzeptionen
gestellung von nicht voluntaristisch gewählten Le- schließlich nur durch selbstgewählte Ziele und Rollen
234 III Gerechtigkeitskonzeptionen

verpflichtet sowie durch allgemeine Regeln, die si- Verpflichtungen durch das moralische Gut der par-
cherstellen, dass alle Individuen selbstgewählte Le- tikulären Gemeinschaftsbeziehung legitimiert. Loya-
benspläne so frei wie möglich verfolgen können. Weil litätspflichten wären dementsprechend implizit im
die Einhaltung der allgemeinen Regeln individuelle moralischen Gut einer partikulären Gemeinschaft
Selbstbestimmung erst ermögliche, müsse dabei uni- enthalten (Raz 1989; Mason 1997, 439–447).
versellen moralischen Verpflichtungen der normative Am populärsten unter den Vertretern des Kom-
Vorrang eingeräumt werden. Die praktische Kon- munitarismus sind jedoch Begründungsversuche von
sequenz sei, dass ein tugendhafter Mensch, wie Mon- Loyalitätspflichten, bei denen die konstitutive Bedeu-
tesquieu bekräftigte, dem entferntesten Fremden tung von partikulären Gemeinschaften für die Iden-
ebenso schnell zur Hilfe eilen würde wie einem tität von Individuen ins Feld geführt wird: Wenn
Freund. Wenn also zwei Menschen zu ertrinken droh- Menschen Gemeinschaftstiere sind, für deren Selbst
ten, von denen einer der beiden ein persönlicher die Zugehörigkeit zu partikulären Gemeinschaften
Freund, der andere aber eine Unbekannte ist, und konstitutiv ist, dann resultieren Loyalitätspflichten
man nur eine Person retten kann, dann wäre es viel- aus dem Wert, den unsere Mitgliedschaft in diesen
leicht geboten, eine Münze zu werfen. Ein wahrhaft Gemeinschaften für uns hat. Derartige Begründungs-
tugendhafter Mensch, spitzte Montesquieu die Pointe ansätze setzen voraus, dass einerseits Gemeinschaf-
zu, hätte gar keine Freunde (zit. nach Sandel 1996, ten mehr als instrumentelle Zusammenschlüsse von
342). Gemäß den kommunitaristischen Kritikern liegt selbstgenügsamen Individuen sind, sowie anderer-
Montesquieu falsch. Wir können uns nicht nur guten seits, dass die häufig nicht oder nur bedingt volunta-
Gewissens für den eigenen Freund entscheiden, wir ristisch gewählte Zugehörigkeit von Menschen zu ge-
haben unter Umständen sogar eine vorgeordnete Lo- meinschaftlichen Kontexten Verbindlichkeiten mit
yalitätspflicht, dies zu tun. Und Gleiches könne für Fa- sich bringt. So wird, um drei Beispiele zu nennen, zu
milienmitglieder sowie Mitglieder der eigenen Glau- begründen versucht, dass die leiblichen Eltern einem
bensgemeinschaft oder Nation gelten (MacIntyre ungeplanten Kind gegenüber moralisch verpflichtet
1993; Sandel 1996, bes. 341–344). sind und es nicht ohne gewichtige Gründe abtreiben
Wer eine starke Form des moralischen Partikularis- dürfen; dass eine Person sich nicht leichtfertig auf-
mus vertritt, für den ist die Rechtfertigung von Loyali- grund von wechselnden romantischen Gefühlen oder
tätspflichten keine theoretische Herausforderung. rationalem Kalkül von ihrem Ehepartner scheiden
Fraglich ist vielmehr aus empirischer Sicht, ob die in lassen darf und dass Patriotismus eine Tugend ist
einer Gesellschaft kontingenterweise etablierten mo- (Hoff Sommers 1989; MacIntyre 1995; Sandel 2010,
ralischen Normen ihre Mitglieder gegenüber ihres- 178–183).
gleichen stärker als gegenüber Außenstehenden ver-
pflichten (Oldenquist 1982, 177 f.). Es kann aber auch
versucht werden, die Existenz von Loyalitätspflichten Ausblick
ohne Rückgriff auf den moralischen Partikularismus
zu begründen. Argumente können dabei zunächst Die Diskussionen um die Existenz von Loyalitäts-
konsequentialistischen Charakters sein. Richard M. pflichten sind noch nicht zu einem Ende gelangt. Inso-
Hare argumentiert beispielsweise, dass Loyalitäts- fern die Vertreter des Kommunitarismus diese Diskus-
pflichten letztlich effektiver zum allgemeinen Wohl- sionen mit angestoßen haben, kann ihrem Anliegen
befinden beitrügen als universelle moralische Pflich- gewisser Erfolg bescheinigt werden. Auch hinsichtlich
ten, da die Verbundenheit in einer Gemeinschaft die der Kritik am moralischen Universalismus kann gesagt
Motivation liefere, moralisch zu handeln (Hare 1981, werden, dass die Intervention nicht wirkungslos ver-
137; vgl. auch Railton 1984, 152). Alternativ können pufft ist, zumal gerade Rawls in seinem Spätwerk einen
Argumente aber auch auf den intrinsischen Wert von deutlichen Schritt auf die Kommunitarier zugegangen
partikulären Gemeinschaften rekurrieren. Wenn par- ist. Dort schränkt er den Geltungsanspruch seiner Ge-
tikuläre Gemeinschaften wie Freundschaften, Famili- rechtigkeitskonzeption nämlich auf liberal-demokra-
enverbände oder Nationen intrinsisch gute Beziehun- tische Kulturkreise ein und will seine Theorie auch al-
gen von Menschen sind, dann sind sie an und für sich lein über die dort vorherrschenden historischen Tradi-
wertvoll. Wenn eine Freundschaft, ein Familienver- tionen begründet wissen (Rawls 1985; 1993). In jedem
bund oder eine Nation wechselseitige Verpflichtungen Fall kann aus dem kommunitaristischen Plädoyer für
unter den Mitgliedern einschließt, dann sind diese einen moralischen Partikularismus gelernt werden,
36 Kommunitaristische Gerechtigkeit 235

dass es ratsam sein dürfte, bei der Beanspruchung uni- –: Ist Patriotismus eine Tugend? In: Axel Honneth (Hg.):
verseller Gültigkeit für ein normatives Prinzip beson- Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen
dere Vorsicht und auch mehr Bescheidenheit walten Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a. M.
1993, 84–102.
zu lassen, als dies in der Vergangenheit mitunter der –: Is patriotism a virtue? In: Ronald Beiner (Hg.): Theorizing
Fall war. Die ›Entdeckung‹ des sozial konstituierten In- Citizenship. New York 1995, 209–228.
dividuums hat im Rückblick aber kleinere Wellen ge- Mason, Andrew: Special obligations to compatriots. In: Et-
schlagen, als man zunächst vielleicht vermuten durfte. hics 107/3 (1997), 427–447.
So plausibel das ontologische Argument, dass Men- Nozick, Robert: Anarchy, State and Utopia. New York 1974.
Oldenquist, Andrew: Loyalties. In: Journal of Philosophy
schen Gemeinschaftstiere sind, sein mag: Die Einsicht
79/4 (1982), 173–193.
in die Einbettung des Menschen in gemeinschaftliche Railton, Peter: Alienation, consequentialism, and the de-
Kontexte lässt sich häufig in liberale Gerechtigkeits- mands of morality. In: Philosophy & Public Affairs 13/2
konzeptionen integrieren, ohne dass deren liberal-in- (1984), 134–171.
dividualistischer Charakter aus normativer Sicht ins Rawls, John: A Theory of Justice. Cambridge MA 1971.
Wanken geraten würde. –: Justice as fairness. Political, not metaphysical. In: Philoso-
phy and Public Affairs 14/3 (1985), 223–251.
Die langfristig vielleicht wichtigste Frage, die der –: Political Liberalism. New York 1993.
Kommunitarismus für die weitere Forschung auf- Raz, Joseph: Liberating duties. In: Law and Philosophy 8/1
geworfen hat, bezieht sich auf das Wesen und den (1989), 3–21.
Status von Werttraditionen. Wenn sich gerechtig- Sandel, Michael: Democracy’s Discontent. America in Search
keitstheoretische Reflexionen – wie von kommunita- of a Public Philosophy. Cambridge MA 1996.
–: Liberalism and the Limits of Justice [1982]. Cambridge
ristischen Kritikern gefordert und vom späten Rawls
2010.
bestätigt – stärker auf existierende Traditionen stüt- –: What Money Can’t Buy. New York 2012.
zen sollen, um metaphysische Setzungen zu vermei- Taylor, Charles: Philosophy and the Human Sciences. Philoso-
den, scheint schließlich allem voran eine tiefgründi- phical Papers 2. Cambridge 1985.
gere Auseinandersetzung mit dem Konzept der Tra- Walzer, Michael: Spheres of Justice. New York 1983.
dition notwendig. Es wird deshalb genauer zu unter- –: Thick and Thin. Notre-Dame 1994.
Young, Iris Marion: Justice and the Politics of Difference.
suchen sein, wie entwicklungsfähig Traditionen sein Princeton NY 1990.
können, ohne konzeptuell beliebig und politisch all-
zu leicht instrumentalisierbar zu werden; wie (und Martin Beckstein
ob) zwischen guten und schlechten Traditionen un-
terschieden werden kann; wie zwischen rivalisieren-
den Traditionen zu vermitteln ist und unter welchen
Bedingungen der Rekurs auf vorherrschende Tradi-
tionen ausreichend Raum für Deliberation und Kri-
tik lässt.

Literatur
Bell, Daniel: Beyond Liberal Democracy. Political Thinking
for an East Asian Context. Princeton NY 2006.
Benhabib, Seyla: Situating the Self. Gender, Community and
Postmodernism in Contemporary Ethics. Cambridge MA
1992.
Etzioni, Amitai: On a communitarian approach to bioethics.
In: Theoretical Medicine and Bioethics 32/5 (2011), 363–
374.
Hare, Richard M.: Moral Thinking: Its Levels, Method and
Point. Oxford 1981.
Hoff Sommers, Christina: Philosophers against the family.
In: George Graham/Hugh LaFollette (Hg.): Person to Per-
son. Philadelphia 1989, 82–105.
Kymlicka, Will: Liberalism, Community and Culture. New
York 1989.
MacIntyre, Alasdair: Whose Justice? Which Rationality? Not-
re Dame IN 1988.
236 III Gerechtigkeitskonzeptionen

37 Gerechtigkeit in der Diskursethik seiner Moraltheorie systematisch einen Begriff der


Gerechtigkeit zu entwickeln. Mit anderen kantia-
Die Diskursethik wurde von Jürgen Habermas (1983) nischen Gerechtigkeitstheorien geht Habermas von
und Karl-Otto Apel (1973; Kettner 2000) als Theorie dem Grundsatz aus, dass die praktische Vernunft ihre
der Moral entwickelt, die in der Tradition Kants steht. Prinzipien aus sich selbst heraus gewinnen kann. Der
An die Stelle einer reflexiven Prüfung moralischer ›moralische Standpunkt‹, von dem aus moralische
Maximen anhand des kategorischen Imperativs tritt Handlungskonflikte unparteilich beurteilt werden
der praktische Diskurs, in dem die Geltung mora- können, ist dann nicht der einer letztbegründeten
lischer Normen argumentativ ausgelotet wird. Aus der Moral (wie bei Apel 1973) des moralischen Realismus,
transzendentalen Selbstreflexion durch das vernünfti- des Naturrechts oder des ›Philosophenkönigs‹. Viel-
ge Subjekt wird eine pragmatische Rekonstruktion mehr wird die Unparteilichkeit durch Regeln und
normativer Bedingungen kommunikativer Rationali- Verfahren gewährleistet, die gerechte, d. h. verfah-
tät (Habermas 2001). In dieser Theorie kommt Aspek- rensethisch begründete Prinzipien hervorbringen.
ten der Gerechtigkeit nur indirekt eine zentrale Stel- Bereits bei Kant ist diese prozedurale Interpretation
lung zu. Einige Anknüpfungspunkte lassen sich den- der Gerechtigkeit im kategorischen Imperativ ange-
noch zunächst allgemein, dann anhand verschiedener legt – wenn man ihn nicht bloß als Handlungsmaxi-
Sichtweisen darstellen. me, sondern auch als ein Begründungsprinzip ver-
Für Friedrich Nietzsche und Peter Sloterdijk ist Ge- steht, das besagt, dass gültige Handlungsmaximen der
rechtigkeit die Feindin der Freiheit. Bei aller Differenz allgemeinen Gesetzgebung dienen können (Kant
liegt diesen Positionen eine Vorstellung von Freiheit 1785/1991). Der prozedurale Charakter der Gerech-
zugrunde, bei der Gerechtigkeitsforderungen als Be- tigkeit drückt sich in zwei Aspekten aus: in der Forde-
schneidung eines möglichst unbegrenzten Handlungs- rung nach Autonomie, d. h. der Freiheit des Einzel-
spielraumes erscheinen. In der Diskursethik hingegen nen, nach ›selbstgegebenen Gesetzen‹ zu handeln,
kann Freiheit überhaupt nur im Zusammenspiel mit und in der Erwartung einer allgemeinen Konsens-
Gerechtigkeit bestehen. Ohne gerechte Verfahren, in fähigkeit der entsprechenden Handlungsweisen. Die-
denen wir als Autoren die Reichweite und Grenze der se moralischen Grundannahmen werden von den
Freiheit aller festlegen, kann es nur die willkürliche zeitgenössischen kantianischen Gerechtigkeitstheo-
Freiheit Einzelner, nicht aber die Freiheit aller geben. rien, mit denen Habermas sich auseinandersetzt,
Diese moralische Grundintuition entfaltet Haber- noch stärker verfahrensethisch akzentuiert – wenn
mas in seiner Konzeption der Verfahrensgerechtigkeit auch auf unterschiedliche Weise (Habermas 1991, 54).
(s. Kap. II.21), die nicht in einem Einzelwerk gebün- John Rawls, der zweifellos eine der einflussreichs-
delt ist, sondern sich als normatives Leitmotiv durch ten Gerechtigkeitstheorien des 20. Jahrhunderts vor-
seine Moraltheorie, Rechtsphilosophie und seine Stu- gelegt hat, bedient sich zur Begründung der Gerech-
dien zur politischen Theorie zieht. Es lassen sich zwei tigkeitsprinzipien der Vertragstheorie (Rawls 1972).
Bereiche unterscheiden, die gleichwohl eng miteinan- Die privatrechtlich am rationalen Eigeninteresse ori-
der verbunden sind: Die ›moralische Gerechtigkeit‹ entierten Vertragsparteien entscheiden bekannter-
wird im Anschluss an in kantischer Tradition stehen- weise unter den Bedingungen des ›Urzustandes‹: Sie
de Moraltheorien entwickelt, und die ›politische Ge- genießen gleiche Wahlfreiheit und orientieren sich an
rechtigkeit‹ nimmt vor allem in seiner Rechtsphiloso- ihrem rationalen Eigeninteresse. Durch den so ge-
phie Konturen an. In diesem Zusammenhang stellt nannten ›Schleier des Nichtwissens‹ (der die beteilig-
sich auch die Frage nach der Gerechtigkeit auf trans- ten Parteien in Unkenntnis ihres zukünftigen gesell-
nationaler Ebene, die in den politisch-theoretischen schaftlichen Status belässt) sind die Vertragsparteien
Schriften zur Konstitutionalisierung des Völkerrechts gezwungen, sich nacheinander die Sichtweisen aller
aufgegriffen wird. Beteiligten anzueignen, da sie nach dem Lüften des
Schleiers in einer gesellschaftlich nachteiligen Situati-
on sein könnten. Auf diese Weise ist durch die Rah-
Moralische Gerechtigkeit menbedingungen auch der rationale Egoist gezwun-
gen, einen moralischen Standpunkt einzunehmen.
Mit dem Erscheinen des langen Aufsatzes Diskurs- Für Habermas bleibt dennoch bei Rawls ein Moment
ethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm (Ha- des Voluntarismus, da den auf »den Verstand von Pri-
bermas 1983, 53–126) beginnt Habermas im Rahmen vatrechtssubjekten« zugeschnittenen Vertragspart-
37 Gerechtigkeit in der Diskursethik 237

nern die über eine bloße Kalkulation eigener Interes- werden. Die Gefahr einer ›emotivistischen Vereinsei-
sen hinausreichende »Einsicht« in die Richtigkeit ih- tigung‹, bei der ein intuitives Verständnis für die Lage
rer Entscheidungen fehlt (Habermas 1991, 56). Diese der Einzelnen eine größere Rolle spielt als die inter-
moralisch-praktische Erkenntnis bleibt – in einem subjektive Anerkennung ihrer Argumente, durch die
Anflug von Restplatonismus – dem Theoretiker über- die Beteiligten zur Einsicht in die Richtigkeit ihres
lassen (Habermas 1996c, 179). Handelns und zu einer Einstellungsänderung gelan-
Dieses Problem hat der amerikanische Philosoph gen können, ist für Habermas unausweichlich. Die
Thomas Scanlon, so Habermas, durch eine entschei- »diskursethische Alternative« (Habermas 1991, 69)
dende Revision des kantischen Vertragsmodells we- basiert dann auch auf der Rechtfertigung von Normen.
sentlich überzeugender gelöst. Anstelle des kanti- Normen sind dann gerecht, wenn sie das Ergebnis ei-
schen Sittengesetzes, das jeder durch die praktische nes ›reflexiven‹ Diskurses sind, d. h. eines Diskurses,
Vernunft einsehen kann, tritt der Wunsch der Einzel- in dem auch die Verfahren selbst, die zu gerechten
nen, die eigene Praxis gegenüber allen möglicherweise Prinzipien führen, auf die Bedingungen der Argu-
davon Betroffenen überzeugend zu rechtfertigen. Das mentation, die alle Beteiligten zur idealen Rollenüber-
geschieht auf Basis von »Gründen, die man vernünfti- nahme anhält, überprüft werden (ebd., 632).
gerweise nicht zurückweisen kann« (Scanlon 1982, Anfang der 1980er Jahre kritisierte Carol Gilligan
110; 1998). Die Rawlssche Deutung der praktischen Kohlbergs Annahme, dass sich moralisches Urteilen
Vernunft verliert auf diese Weise ihren monologi- über sechs Entwicklungsstufen hin zu einer zuneh-
schen Charakter, da es nicht ausreicht, aus Sicht ir- menden Universalisierung begründen lasse (Gilligan
gendeines anderen (die dann doch bloß meine Sicht 1982). Gilligan warf Kohlberg vor, durch eine einseiti-
ist, projiziert auf die Anderen) zu prüfen, was als all- ge Fragestellung die Gerechtigkeitsurteile allein auf
gemein zustimmungsfähig erscheint. Bei Scanlon ›vernunftbasierte‹ Einschätzungen zu beziehen und
muss jeder aus seiner Perspektive beurteilen, welche anderes Wissen, alternative Umgangsweisen mit mo-
Handlungsweise als allgemeine Praxis von nieman- ralischen Konflikten und damit die Sorge (care) für-
dem im Kreis der Betroffenen aus guten Gründen zu- einander, die auf die Einzigartigkeit von Personen und
rückgewiesen werden kann. Das verlangt jedem Ein- die Nahbeziehungen zwischen Menschen abzielt, voll-
zelnen ein begründetes Einverständnis ab. Statt einer kommen auszublenden. Kohlberg sah sich veranlasst,
Gerechtigkeitsperspektive, die den Parteien überge- auf diese Einwände zu reagieren, und versuchte, Ge-
stülpt wird, müssen sich die Beteiligten wenigstens rechtigkeit (justice) und das Wohl des Nächsten (bene-
virtuell eine intersubjektive Einigung vorstellen, die volence) zusammenzuführen (Kohlberg/Boyd/Levine
sie als gerecht ansehen (Habermas 1991, 57). 1986) – ein Anliegen, an dem er letztlich scheitert, da
Scanlon wie auch Habermas greifen nicht zufällig für ihn die Integrität des Einzelnen nur auf den ersten
auf George Herbert Meads Theorie des symbolischen Blick den Gerechtigkeitsfragen unversöhnlich gegen-
Interaktionismus zurück. Die Vorstellung, dass ein In- übersteht und die ›Fürsorge‹ letztlich nur ein Aspekt
teraktionsteilnehmer die Perspektive des anderen der ›Gerechtigkeit‹ darstellt.
übernimmt, wird nicht als Ergänzung, sondern expli- Habermas nimmt Gilligans Vorschlag, das Wohl
zit als Alternative zum Vertragsmodell entwickelt des Nächsten zu berücksichtigen, zum Anlass, Solida-
(Habermas 1983; 1991, 58; 1981, Bd. II, 141 f.). Auch rität als die andere Seite der Gerechtigkeit einzufüh-
Lawrence Kohlberg, der für die Begründung von ›ge- ren (Habermas 1991, 70). Jede deontologische Ge-
rechten Prinzipien‹ und die entwicklungspsychologi- rechtigkeitstheorie müsse zwei Aufgaben erfüllen: die
sche Grundlage von moralischem Handeln in Haber- Gleichbehandlung sowie den gleichmäßigen Respekt
mas’ Theorie von großer Bedeutung ist, erläutert den vor der Würde des Einzelnen fordern und die inter-
moralischen Gesichtspunkt mithilfe des Begriffs der subjektiven Beziehungen reziproker Anerkennung
idealen Rollenübernahme (Kohlberg 1981). Aus- schützen. Seyla Benhabib, die Gilligans Kritik eben-
gehend von einer überschaubaren Perspektivüber- falls aufgreift, bringt diese Doppelseitigkeit der dis-
nahme zwischen Alter und Ego, bei der sich beide im kurstheoretischen Gerechtigkeit auf den Punkt, in-
Falle eines moralischen Konfliktes reziprok in die Er- dem sie zwei Standpunkte vorschlägt, die mit der Un-
wartungen, Interessen, Wertorientierungen des ande- terscheidung Gerechtigkeit/Solidarität korrespondie-
ren einfühlen, muss die Prüfung der Universalisier- ren: den Standpunkt des ›verallgemeinerten Anderen‹,
barkeit auf eine Gruppe und letztlich auf die univer- der uns dazu bewegt, jedes Individuum als Wesen mit
selle Austauschbarkeit aller Perspektiven erweitert gleichen Rechten und Pflichten anzuerkennen, und
238 III Gerechtigkeitskonzeptionen

den des ›konkreten Anderen‹, der uns veranlasst, den Gerechtigkeit ist die Annahme entscheidend, die er
Anderen mit seiner ganzen Individualität, bestimmter u. a. in Diskussion mit Klaus Günther und Ingeborg
Geschichte und affektiv-emotionaler Konstitution zu Maus entwickelt hat, dass das Verhältnis von subjekti-
sehen (Benhabib 1995, 182; vgl. auch Wingert 1993, ven Freiheitsrechten und Volkssouveränität, von
der zwischen ›gerechtem‹ und ›solidarischem‹ Res- Recht und Politik, komplementär sei. Die demokrati-
pekt unterscheidet). Erst wenn beide Standpunkte sche Genese – und nicht ein apriorisches Rechtsprin-
eingenommen und aufeinander bezogen werden, zip, dem das Gesetz entsprechen muss – sichert die
kann Benhabib zufolge eine »epistemologische Blind- Gerechtigkeit der Verfassungsrechte und der Gesetze
heit« (ebd.) gegenüber Fragen des guten Lebens und (Maus 1992). Die subjektive Freiheit wiederum er-
damit Ungerechtigkeit vermieden werden. Damit be- laubt, aus dem kommunikativen Handeln ›auszustei-
zieht sich das Diskursmodell der Gerechtigkeit weiter- gen‹ und sich in eine Privatheit zurückzuziehen, die
hin auf das Prinzip der reziproken und allgemeinen von der Last gegenseitig zugemuteter kommunikati-
Rechtfertigung von Normen gegenüber allen Betroffe- ver Freiheit befreit (Günther 1992).
nen und unterläuft dennoch die starre Grenze zwi- Hier wird auch der Zusammenhang zwischen ›mo-
schen Gerechtigkeit und dem guten Leben (s. Kap. ralischer‹ und ›politischer Gerechtigkeit‹ deutlich. Ers-
IV.42), wie sie beispielsweise bei Rawls besteht – ein tere geht letzterer logisch voraus (Forst 1999, 151): Die
Vorschlag, der von Habermas in seiner Rechtsphi- im moralischen Kontext begründeten Prinzipien ›re-
losophie und in seinen Arbeiten zur politischen Theo- gieren‹ die Verfahren zur Rechtssetzung, im Rechtsset-
rie aufgegriffen wird (Habermas 1994, 375 f., 380; zungsverfahren verbindet sich ein Netz von pragmati-
1996a, 247). schen, moralischen und juridischen Diskursen mit
Verhandlungen, die auf verschiedenen Wegen mit-
einander in Verbindung treten und zu einer begründe-
Politische Gerechtigkeit ten Übereinkunft führen. Im Begründungsdiskurs
selbst trumpfen letztlich die moralischen Argumente
In der Rechtsphilosophie ändert die Verfahrens- (Habermas 1996b, 1612): Gerechte Verfahren bringen
gerechtigkeit ihr Gesicht, ohne ihren normativen verallgemeinerbare und damit auch gerechte Ergebnis-
Kern zu verlieren. Ging es in Habermas’ Moraltheorie se hervor.
um die moralische Rechtfertigung der Verfahren zur Das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Politik
Bestimmung von gerechten Prinzipien, so werden in ist auch Gegenstand der Diskussion zwischen Rawls
der Rechtsphilosophie im Prozess der politischen und Habermas, die im Journal of Philosophy im Jahr
Rechtfertigung Prinzipien zur Begründung der politi- 1995 erschien (dt. Rawls 1996; Habermas 1996c). Mo-
schen Grundstruktur einer Rechtsgemeinschaft ent- tiviert durch die Wahrnehmung einer kulturellen und
wickelt (zur Differenzierung von Moral, Recht und weltanschaulichen Pluralität, unterstreicht Rawls seit
Politik vgl. Forst 1994). Im moralischen Kontext wird den Dewey Lectures (1993) den politischen Charakter
das Verfahren beschrieben, mit dem die hypotheti- seiner Gerechtigkeitstheorie. Die vertragstheoretisch
sche Gemeinschaft aller Menschen sich auf mora- begründete Gerechtigkeitstheorie wird daraufhin ge-
lische und prozedurale Prinzipien einigt, die ihr Zu- prüft, ob sie in einer pluralen Gesellschaft auf Akzep-
sammenleben regeln. Ausgehend von den moralisch tanz stoßen kann. Dies geschieht in einer öffentlichen
gerechtfertigten Prinzipien wird das gerechte Verfah- Diskussion, in der sich zeigen muss, dass die ›Gerech-
ren dann im Kontext einer politischen Rechtsgemein- tigkeit als Fairness‹ einen »übergreifenden Konsens«
schaft der Bürger verankert, mit dem Ziel, sich auf ge- herstellen kann (Rawls 1993, § 3, 144). Rawls stellt sich
rechte politische Institutionen zu verständigen. Dazu in diesem Fall nicht virtuelle, sondern ganz reale Bür-
gehören Verfassungsrechte und Menschenrechte ger vor, die tatsächlich über die Stabilität der Theorie
ebenso wie Regeln, die die soziale Gerechtigkeit oder zu entscheiden haben – mit offenem Ausgang (ebd.,
die Anerkennung kultureller Lebensformen betreffen. 65). Dennoch zeigt sich für Habermas darin ein fal-
Die Begründung eines Systems von Rechten hat sches Verständnis einer ›politischen‹ Gerechtigkeits-
Habermas in gleich weitem Abstand von liberalen theorie: Die Bürger können sich nicht von der Gerech-
Theorien, die einen Vorrang der klassischen Freiheits- tigkeitstheorie überzeugen, bevor sie in einen Kon-
rechte vertreten, wie von republikanischen Theorien sens einwilligen, sondern der Wert der bestehenden
vorgenommen, die den politischen Teilnahmerechten Theorie wird bereits vorausgesetzt (Habermas 1996c,
Priorität einräumen. Für Habermas’ Idee ›politischer‹ 183). Es fehlt offensichtlich eine Verbindung zwischen
37 Gerechtigkeit in der Diskursethik 239

der Gültigkeit der Theorie und einer Überprüfung keit lenken soll; diese Gerechtigkeitsprinzipien sollen
derselben unter den Bedingungen der Pluralität. Da- von einer Weltorganisation und ihrer Charta reprä-
mit verschenkt Rawls die Möglichkeit, Gerechtigkeit sentiert werden (Habermas 2007, 450). Dabei wird ei-
an politische Freiheit zu binden. Anders als die älteren ne Trennlinie gezogen zwischen den klar definierten
(substanziellen) Begriffe der Gerechtigkeit, die auf Aufgaben, deren Erfüllung die Gerechtigkeit auf su-
dem guten Leben oder dem Gemeinwohl aufruhen, ist pranationaler Ebene garantieren soll (in erster Linie,
mit den modernen Rechtssystemen die Vorstellung den Frieden zu bewahren), einerseits und allen ande-
erwachsen, dass Gerechtigkeit und Freiheit aufeinan- ren transnationalen Aufgaben ›politischer Art‹ ande-
der bezogen sind: In der demokratischen Realisierung rerseits: der Gestaltung von ökonomischen Regelwer-
individueller Freiheit zeigt sich eine gerechte politi- ken und von Umweltschutzstandards, der Förderung
sche Ordnung – und, so ließe sich ergänzen, die Soli- der Künste und der Aufstellung von sozialpolitischen
darität der Rechtsgenossen (Brunkhorst 2002). Standards (ebd.).
In einer ersten Lesart, die den minimalistischen
Ansatz untermauert, stellen die negativen Pflichten
Globale Gerechtigkeit einer universalistischen Moral der Gerechtigkeit –
»die Pflicht zur Unterlassung von Angriffskriegen und
Globale Probleme wie weltweite Armut, die Exklusion von Menschheitsverbrechen« – die Grundlage für die
ganzer Bevölkerungsschichten von Arbeit, Bildung Rechtsprechung der internationalen Gerichte und die
und einer funktionierenden Gerichtsbarkeit haben politischen Entscheidungen der UN dar (Habermas
die Frage aufgeworfen, ob Gerechtigkeit als normati- 2004, 142). Hier bleibt für Armutsbekämpfung auf su-
ver Maßstab auch jenseits des Nationalstaates Gültig- pranationaler Ebene kein Raum; dies scheint ein Teil
keit haben sollte. Während Rawls’ Vorschlag für in- der transnationalen Agenda zu sein, die Gegenstand
nerstaatliche soziale Gerechtigkeit (Differenzprinzip, von politischen Verhandlungen ist.
s. Kap. II.25) auf internationaler Ebene auf eine Habermas ließe sich aber auch auf eine andere, nor-
»Pflicht, den Völkern zu helfen« reduziert wird, wenn mativ ehrgeizige Weise lesen: Demnach gäben die
diese bereit sind, sich zu »wohlgeordneten« Gesell- Vereinten Nationen den normativen Rahmen für die
schaften zu entwickeln (Rawls 2002, 41), zieht sich Weltpolitik im Allgemeinen vor – einschließlich der
Thomas Nagel auf den Standpunkt zurück, dass es kei- politischen Prozesse auf transnationaler Ebene. Die
ne Gerechtigkeit zwischen Staaten oder deren Bür- Aufgaben werden zwischen diesen beiden Ebenen
gern geben kann, solange es keinen transnationalen nach Maßgabe funktioneller Anforderungen auf-
Souverän gibt, der die Pflichten durch legitimes zwin- geteilt, die von Wirtschaftsorganisationen wie der
gendes Recht erwirken kann (Nagel 2005). Auf der WTO und ebenso von UN-Organisationen wie der
universalistischen Seite des Theoriespektrums argu- WHO erfüllt werden müssen, sind aber nicht von
mentiert Peter Singer für eine universelle »positive vornherein festgelegt (Habermas 2005, 335). Eine the-
Hilfspflicht«. Wie es moralisch falsch ist, beim Spa- matische Aufgabenteilung zwischen Moral und Poli-
ziergang ein ertrinkendes Kind nicht zu retten, ma- tik, die dem diskursiven Verfahren vorausläge, wäre
chen wir uns schuldig, wenn wir nicht regelmäßig mit dem Anspruch der Verfahrensgerechtigkeit ohne-
spenden (Singer 2007). hin unvereinbar.
Aus Habermas’ Projekt einer »Weltinnenpolitik« Aus Sicht einiger Theoretiker spricht viel für diese
ergibt sich eine doppeldeutige Auffassung supranatio- zweite Lesart. Dafür werden mindestens drei Argu-
naler Gerechtigkeit. Auf der einen Seite fußt es auf ei- mente angeführt: Erstens sehen wir – konsequentialis-
nem minimalistischen ›realistischen‹ Ansatz, wonach tisch betrachtet –, dass jedes Jahr mehr Menschen an
die Weltinnenpolitik der Aufrechterhaltung des Frie- vermeidbaren, durch Armut verursachten Krankhei-
dens höchste Priorität vor allen anderen Zielen ein- ten und an anderen Formen des Mangels sterben als
räumt; die Gerechtigkeitskonzeption beschränkt sich bei Kriegen getötet werden. Dies ist Grund genug, um
hierbei auf die Vermeidung von Kriegen und die Ga- diese Frage auf die supranationale Bühne zu heben
rantie der Menschenrechte auf Freiheit (Habermas (Pogge 2002; Kreide 2007). Zweitens ist Armut auf der
2004, 140–143). Andererseits basiert sein Projekt auf Welt nicht von den Betroffenen selbst verschuldet,
einem eher ehrgeizigen »utopischen« Ansatz, der eine sondern es ist davon auszugehen, dass einige von den
globale Regierungsorganisation vorschlägt, die die weltweiten ökonomischen, finanziellen und politi-
Weltinnenpolitik nach Prinzipien globaler Gerechtig- schen Regeln in einer Weise profitieren, die andere in
240 III Gerechtigkeitskonzeptionen

eine desperate Situation zwingen (O’Neill 2000; Caney –: Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende
2005). Und schließlich müsste die Beantwortung der Politik: eine Replik. In: Peter Niesen/Benjamin Herborth
Frage, was in den Bereich der Gerechtigkeitstheorie (Hg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Ha-
bermas und die Theorie der internationalen Politik. Frank-
gehört und was politischen Verhandlungen mit unge- furt a. M. 2007, 406–460.
wissem Ausgang überlassen bleibt, »der internen Lo- Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
gik des Moraldiskurses folgen« (Lafont 2009). Gerech- [1785]. In: Ders.: Werkausgabe in zwölf Bänden, Bd. VII.
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furt a. M. 2000.
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The Philosophy of Moral Development. Bd. 2: The Psycho-
Literatur logy of Moral Development. San Francisco 1981.
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schaft und die Grundlagen der Ethik. In: Ders.: Transfor- sechsten Stufe. In: Wolfgang Edelstein/Gertrud Nunner-
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38 Gerechtigkeit in der Kritischen Theorie 241

38 Gerechtigkeit in der Kritischen rechtigkeitsbegriff zwingt die Vertreter und Vertrete-


Theorie rinnen der Kritischen Theorie dazu, ihre Verwendung
des Gerechtigkeitsbegriffs kritisch zu reflektieren an-
statt sich blindlings auf seinen kritischen und emanzi-
In den 1930er Jahren entstand am Institut für Sozial- patorischen Gehalt zu verlassen. Auf diese Herausfor-
forschung (IfS) in Frankfurt am Main jene Theorietra- derung reagieren sie unterschiedlich, wie wir im Fol-
dition, die später als ›Kritische Theorie‹ bzw. ›Frank- genden zeigen möchten. Wir werden uns dabei aus-
furter Schule‹ bekannt werden sollte (vgl. Wiggers- schließlich auf die Kritische Theorie im engeren Sinne
haus 1987). Orientiert an der Gesellschafts- und Kapi- beziehen, d. h. auf Denker und Denkerinnen, die insti-
talismuskritik von Karl Marx, zeichnet sich das tutionell mit der Kritischen Theorie bzw. der Frankfur-
Forschungsprogramm der Kritischen Theorie von Be- ter Schule in Verbindung stehen. Im zweiten Teil wer-
ginn an dadurch aus, dass philosophische und sozial- den wir zunächst die Gerechtigkeit in der frühen Kriti-
wissenschaftliche Forschung miteinander verbunden schen Theorie behandeln, wobei wir uns aus Platz-
werden sollte, um zur Emanzipation der Gesellschaft gründen auf deren Hauptvertreter Max Horkheimer,
beizutragen (vgl. Horkheimer 1931/1988). Die Frage Theodor W. Adorno und Walter Benjamin beschrän-
der Gerechtigkeit bzw. der Ungerechtigkeit von gesell- ken. Im dritten Teil wird die Diskussion des Begriffs
schaftlichen Zuständen spielt dabei seit jeher eine gro- der Gerechtigkeit in der neueren Kritischen Theorie
ße Rolle. Die Orientierung an Marx sorgt allerdings systematisch rekonstruiert, wobei im Besonderen die
dafür, dass das Nachdenken über Gerechtigkeit inner- Positionen von Jürgen Habermas, Axel Honneth und
halb der Kritischen Theorie von einer grundsätzlichen Rainer Forst berücksichtigt werden.
Skepsis bestimmt ist. Die Frage nach dem Stellenwert
des Gerechtigkeitsbegriffs bei Marx hat in den 1980er
Jahren eine kontroverse, bis heute nicht abgeschlosse- Frühe Kritische Theorie
ne Diskussion ausgelöst. Im Mittelpunkt steht dabei
die Frage, ob sich im Werk von Marx überhaupt eine In der frühen Kritischen Theorie, die noch deutlich
Theorie der Gerechtigkeit findet und, wenn ja, wel- vom ursprünglich marxistischen Forschungspro-
chen normativen Status sie besitzt. Auf diese Debatte gramm des IfS geprägt ist, spielt das Problem der Ge-
soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden rechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit eine große Rolle. Die
(einen Überblick bietet z. B. Leist 1985; s. Kap. I.10). Auseinandersetzung findet hierbei – mit Ausnahme
Für den vorliegenden Zusammenhang genügt es zu von Benjamins Abhandlung Zur Kritik der Gewalt –
erläutern, worin die Marxsche Skepsis gegenüber dem allerdings nicht explizit statt. Das heißt: Die Frage, was
Begriff der Gerechtigkeit besteht, die die Vertreter und Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit ist und wie sie zu
Vertreterinnen der Kritischen Theorie bis heute be- beheben ist, wird nicht als gesondertes theoretisches
schäftigt. In einer historisch-materialistischen Per- Problem diskutiert. Vielmehr fungieren die Begriffe
spektive erscheinen Recht und Gerechtigkeit in erster der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit als beständige
Linie als Ausdruck der vorherrschenden materiellen Bezugspunkte für eine kritische Analyse des Gesell-
Produktions- und Reproduktionsverhältnisse (vgl. schaftlichen, wobei sich die Hauptvertreter der frühen
u. a. MEW 1, 390; MEW 19, 359; MEW 23, 99; MEW Kritischen Theorie – Horkheimer, Adorno und Benja-
25, 352). Marx gebraucht den Begriff der Gerechtig- min – vor allem an dem Marxschen Verdacht gegen-
keit in diesen Fällen »in einem informativen Modus« über dem Gerechtigkeitsbegriff abarbeiten und sich
(Rottleuthner 1994, 210), d. h. um zu bezeichnen, was darum bemühen, das emanzipatorische Potenzial des
innerhalb der bürgerlichen Rechtsordnung als gerecht Begriffs zu sondieren.
gilt. Damit nährt er den Verdacht, dass der Begriff der Horkheimer beschäftigt zeitlebens die enorme ge-
Gerechtigkeit womöglich nicht taugt, um die bürger- sellschaftliche Ungerechtigkeit, die in den unter-
lich-kapitalistische Gesellschaft zu kritisieren. Denn schiedlichen Lebensbedingungen der Menschen zum
wenn der Begriff der Gerechtigkeit zu der historischen Ausdruck kommt (vgl. Adorno 1986b, 158; Hesse
Bewusstseinsform der bürgerlichen Gesellschaft ge- 2008, 508). Prinzipiell ist Horkheimer davon über-
hört, dann kann und sollte womöglich nicht in diesem zeugt, dass der Begriff der Gerechtigkeit für den Kampf
Namen für eine emanzipierte, post-kapitalistische Ge- für eine bessere Welt genutzt werden kann, insofern
sellschaft gekämpft werden. die Norm der Gerechtigkeit fordert, »die Wirklichkeit
Dieser ›Marxsche Verdacht‹ gegenüber dem Ge- so einzurichten, dass keiner ohne sinnvollen Grund zu
242 III Gerechtigkeitskonzeptionen

leiden hat« (Horkheimer 1935/1988, 264). Als Vertre- mittelbarkeit nicht verwirklichen [kann], ohne daß
ter des westlichen Marxismus weiß Horkheimer aller- ihre Ordnung aufgehoben« wird (Adorno 1977, 630).
dings auch, dass der Begriff der Gerechtigkeit mit der Die bürgerliche Gesellschaft verschleiert diesen Zu-
spezifischen historischen Bewusstseinsform der bür- sammenhang, indem sie damit beginnt, den Begriff
gerlichen Gesellschaft verbunden ist (vgl. Horkheimer der Gerechtigkeit ausschließlich in einem immanen-
1967/1991, 181). Um den Gerechtigkeitsbegriff auf sei- ten Sinn zu verwenden: Gerecht ist die Handlung, die
nen tatsächlichen emanzipatorischen Gehalt hin zu in Übereinstimmung mit dem bürgerlichen Gesetz
überprüfen, wendet sich Horkheimer daher seinem steht; gerecht ist der ökonomische Tausch, in dem
historischen Entstehungskontext zu. Laut Horkheimer Äquivalente gegeneinander getauscht werden. Dieser
verdankt der Begriff seine Existenz »dem elenden Zu- Begriff von Gerechtigkeit, der nichts anderes mehr als
stand der Beherrschten«, der in ihnen den »uto- die »›Vernünftigkeit‹ eben dieser Gesellschaft« (Ador-
pische[n] Wunsch nach Gleichheit und Gerechtigkeit« no 1986a, 20) bezeichnet, hat laut Adorno eine ideo-
(Horkheimer 1936b/1988, 25) erzeugt. Die Massen logische Funktion: Mit dem Begriff der »immanenten
nutzen den Gerechtigkeitsbegriff, um sich dem »blin- Gerechtigkeit« verdeckt die bürgerliche Gesellschaft
de[n] Urteilsspruch der Ökonomie« (Horkheimer den Tatbestand, dass in Wirklichkeit die nackte »Le-
1936a/1988, 383) zu widersetzen und die Aufhebung bensnot [...] den Mechanismus der antagonistischen
ihres ökonomischen Elends zu fordern. Diese Forde- Gesellschaft stöhnend im Gange erhält« (ebd.). Ador-
rung wird von den Protagonisten und Protagonistin- no teilt also den Marxschen Verdacht gegenüber dem
nen der bürgerlichen Revolution aufgenommen und bürgerlichen Gerechtigkeitsbegriff. Wie Horkheimer
für ihre eigenen Ziele instrumentalisiert. Der »bürger- bemüht sich auch Adorno darum, den kritisch-eman-
liche[ ] Führer[ ]« (Horkheimer 1936b/1988, 72) nutzt zipatorischen Gehalt des Begriffs zu retten, indem er
den Wunsch nach Gerechtigkeit, um die unterdrück- einen »umfassender[en] Gerechtigkeitsbegriff« (Loh-
ten Massen für den Kampf um eine neue Gesellschafts- mann 1986, 190) entwickelt. Dieser soll deutlich ma-
ordnung zu mobilisieren, die in Wahrheit nur den In- chen, dass die »Äquivalenz nicht die Wahrheit, daß
teressen des Bürgertums dient, ohne das Elend der der gerechte Tausch nicht die Gerechtigkeit« (Adorno
Massen signifikant zu lindern (vgl. ebd., 25, 72). In der 1971, 34) ist, sondern das »universale Unrecht [...] in
Epoche der bürgerlichen Gesellschaft verliert der Ge- Vertauschbarkeit und Substitution selber« (Adorno
rechtigkeitsbegriff sodann seinen ursprünglich mate- 1980, 84) liegt. Adorno bringt seine Vorstellung von
rialistisch-ökonomischen Gehalt und emanzipatori- einer anderen, umfassenden Gerechtigkeit durch die
schen Anspruch. Er wird zum Opfer einer »ideologi- Formel ›Gerechtigkeit widerfahren lassen‹ zum Aus-
sche[n] Hypostasierung« (ebd., 75) und fungiert nur druck, die sich wie ein roter Faden durch sein Werk
noch als abstraktes Ideal und Gegenstand der Theorie. zieht. Einer Sache Gerechtigkeit widerfahren zu las-
Folglich sieht Horkheimer die Aufgabe einer kriti- sen, impliziert, auf eine Weise wahrzunehmen, zu
schen Theorie der Gerechtigkeit darin, dem histori- denken und sich auszudrücken, die nicht durch den
schen Prozess der Entpolitisierung entgegenzutreten Zwang zur begrifflichen Identifikation bestimmt ist.
und dem Begriff der Gerechtigkeit seinen ursprüng- Damit löst Adorno den Gerechtigkeitsbegriff von sei-
lichen Wahrheitsgehalt zurückzugeben. Indem Kriti- ner Fokussierung auf politisch-ökonomisch-juri-
sche Theorie aufzeigt, dass die bürgerliche Gesellschaft dische Verhältnisse ab. Am pointiertesten kommt
niemals das Versprechen auf Gerechtigkeit eingelöst Adornos Verständnis des Gerechtigkeitsbegriffs in
hat, das sie bei ihrer Gründung gegeben hat, kann sie seiner Besprechung von Wilhelm Lehmanns Bemer-
die bestehenden Verhältnisse kritisieren und dem Ge- kungen zur Kunst des Gedichts zum Ausdruck. Dort
rechtigkeitsbegriff seinen ursprünglichen emanzipato- heißt es:
rischen Gehalt zurückgeben.
Adorno schließt sich grundsätzlich der begriffshis- »[E]s ist das Eigentümliche solcher Erfahrungen wie
torischen Analyse Horkheimers an: Auch er glaubt, der seinen, daß sie, im Gegensatz zu der heute verbrei-
dass die bürgerliche Gesellschaft mit dem hoffnungs- teten Denkgewohnheit, keine These aufstellen, nie-
vollen Versprechen auf Gerechtigkeit gegründet wur- mandem eine Gesinnung aufdrängen wollen, vielmehr
de, ohne dass sie dieses jemals einlösen konnte. Be- sich um Konkretion im wörtlichsten Sinn, das Ineinan-
reits im 19. Jahrhundert zeigt sich, dass die bürger- dergewachsensein der Momente eines Problems be-
liche Gesellschaft »ihre eigene Vernunft, ihre eigenen mühen. Mit anderen Worten, um Gerechtigkeit« (Ador-
Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit und humaner Un- no 1974, 665).
38 Gerechtigkeit in der Kritischen Theorie 243

Von den hier vorgestellten Vertretern der frühen Kri- Mittel-Matrix steht. Benjamin glaubt, dass von solch
tischen Theorie liefert nur Benjamin mit seiner Ab- einer »reinen unmittelbaren Gewalt« (ebd., 199) der
handlung Zur Kritik der Gewalt eine explizite theo- Impuls zu einer vollständigen »Entsetzung des
retische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Ge- Rechts« (ebd., 202) ausgehen und dadurch der Ein-
rechtigkeit. Der Text zielt darauf ab, eine ›Kritik der tritt in »ein neues geschichtliches Zeitalter« (ebd.) ge-
Gewalt‹ zu leisten, und zwar durch »die Darstellung lingen kann. Wenn expressive Gewalt nämlich nicht
ihres Verhältnisses zu Recht und Gerechtigkeit« als mythische Gewalt, sondern als göttliche Gewalt in
(Benjamin 1977, 179). Der überaus dichte und an- Erscheinung tritt, vermag sie den Menschen vor Au-
spruchsvolle Text kann an dieser Stelle nicht adäquat gen zu führen, »daß und wie [...] revolutionäre Ge-
rekonstruiert und interpretiert werden. Für den vor- walt möglich ist« (ebd.), die einen Zustand herbei-
liegenden Zusammenhang muss es genügen, Benja- führt, in dem die Frage der Gerechtigkeit nicht mehr
mins Reaktion auf den Marxschen Verdacht gegen- gestellt werden muss. Benjamin bietet einen Begriff
über dem bürgerlichen Gerechtigkeitsbegriff sichtbar von Gerechtigkeit an, der alle bisherigen Rechtsord-
zu machen. Offensichtlich teilt Benjamin diesen Ver- nungen, ja die Logik von Rechtsordnungen über-
dacht. Unter Bezugnahme auf Georges Sorel konsta- haupt transzendiert und jener Hoffnung Ausdruck
tiert Benjamin, dass »alles Recht« bis jetzt »›Vor’recht verleiht, die sich auch bei Marx findet (vgl. MEW 4,
der Könige oder der Großen, kurz der Mächtigen« ge- 480 f.; MEW 19, 21) – der Hoffnung, dass in der post-
wesen ist und dies auch so »bleiben [wird], solange es kapitalistischen Gesellschaft »durch Beseitigung ma-
besteht« (ebd., 198). Wie Horkheimer und Adorno terieller Knappheit und Herstellung von Interessens-
reagiert auch Benjamin auf diesen Umstand mit dem harmonie keine Gerechtigkeit mehr nötig« (Gose-
Versuch, einen umfassenderen Gerechtigkeitsbegriff path 2008, 399) ist.
zu entwickeln, der aber wie bei Horkheimer auf poli-
tisch-ökonomisch-juridische Verhältnisse bezogen
bleibt. Benjamin verfolgt dabei in seinem Aufsatz eine Neuere Entwicklungen in der Kritischen
zweifache Strategie: Zuerst arbeitet er die Widersprü- Theorie
che innerhalb der bürgerlichen Rechtsordnung he-
raus, die dafür sorgen, dass diese sich von selbst de- Hat auch die neuere Kritische Theorie den Marxschen
stabilisiert. Diese dekonstruktivistische Sicht auf das Verdacht gegenüber dem Gerechtigkeitsbegriff geerbt,
Recht ist durch die Interpretation von Jacques Derri- so hat Habermas’ Neuformulierung des Programms
da (1991) äußert einflussreich geworden und spielt der Kritischen Theorie im Paradigma kommunikati-
auch für die gegenwärtigen Bemühungen innerhalb ver Vernunft zu einer optimistischeren Sicht auf die
der Kritischen Theorie, die von Marx begonnene »so- Institution des Rechts und das emanzipatorische Po-
ziale Kritik des Rechts« (Menke 2013, 273) aufzuneh- tenzial des Gerechtigkeitsbegriffs geführt. Diese ver-
men und weiterzudenken, eine große Rolle (vgl. hier- änderte Sichtweise hat eine explizitere Auseinander-
zu Teil 3). Anschließend geht Benjamin »von einer setzung mit dem Begriff der Gerechtigkeit zur Folge,
›immanenten‹ zu einer ›transzendierenden‹ Kritik« als sie in der frühen Kritischen Theorie stattfand. Das
(Honneth 2006, 206) über und etabliert einen exter- erlaubt einen systematischen Zugriff auf die Diskussi-
nen Standpunkt, von dem aus die bürgerliche Rechts- on zwischen den hier ausführlicher behandelten Au-
ordnung als ganze kritisiert werden kann. Diesen ex- toren Habermas, Honneth und Forst. Gemeinsam ist
ternen Standpunkt erreicht Benjamin dadurch, dass den drei Positionen die Kritik eines distributiven Ge-
er dem bislang vorherrschenden instrumentellen rechtigkeitsbegriffs. Ihre Positionen unterscheiden
Verständnis von Gewalt ein »expressivistisches Kon- sich anhand der Frage, wie weitreichend die Kon-
zept« (ebd.) der Gewalt gegenüberstellt. In den bishe- sequenzen der Kritik an einem distributiven Modell
rigen Rechtsordnungen wird Gewalt immer als Mittel für den Gerechtigkeitsbegriff im Allgemeinen, ins-
zur Erreichung eines bestimmten (Rechts-)Zweckes besondere bezüglich seiner Stellung zum Recht, sind.
gesehen. Benjamin versucht demgegenüber einen Be- Die Kritik an einem distributiven Gerechtigkeits-
griff von Gewalt zu etablieren, in dem Gewalt »nicht modell richtet sich gegen die angelsächsisch geprägte
Mittel, sondern Manifestation« (Benjamin 1977, 196) liberale Gerechtigkeitstheorie, die sich im Anschluss
ist. Solch expressive Gewalt, wie sie sich beispielswei- an John Rawls entwickelt hat (s. Kap. III.31). Sie wur-
se in einem Wutanfall zeigt, ist laut Benjamin »eine de in den 1980er und 1990er Jahren prominent von
Gewalt anderer Art« (ebd.), die außerhalb der Zweck- Iris Marion Young geübt, die ihre Kritik analog zu
244 III Gerechtigkeitskonzeptionen

Marx’ Kritik der politischen Ökonomie verstand bündels sein sollten, mit dem sie (willkürlich) machen
(Young 1981, 284; 2011, insbes. 15–38). Youngs Kri- können, was sie wollen. Die Grundlagen dieser Ent-
tik wurde im Frankfurter Kontext aufgenommen und scheidungsfreiheit reflektiert ein bloßer ›Empfänger‹
erweitert (Habermas 1998, 505 f.; Honneth 2010; dabei nicht (ebd., 217, 221–223; Honneth 2011, 146–
Forst 2011, 29–52). Der Kern der Kritik ist, dass 172). Dies knüpft an Marx’ Kritik eines für die bürger-
sich distributive Gerechtigkeitstheorien darauf be- liche Gesellschaft typischen, distributiv-juridischen
schränkten, zu untersuchen, welche (materielle) Gü- Gerechtigkeitsbegriffs an. Diese Erweiterung des Ge-
terverteilung in einer Gesellschaft gerecht ist, d. h. genstandsbereichs von Gerechtigkeit hat darüber hi-
welches Bündel an Gütern jedem Individuum zu- naus methodische Konsequenzen. So sollte eine Ge-
kommen sollte. Dabei wird das Individuum fälsch- rechtigkeitstheorie nicht abstrakte normative Grund-
licherweise als passiv, bloß Güter empfangend, und sätze über eine gerechte Verteilung aufstellen, die dann
isoliert konzeptualisiert, und die eigentlich wichtigen als Maßstab dafür gelten, welche Gesetze gerecht und
Fragen, woher die zu verteilenden Güter überhaupt welche ungerecht sind. Eine Theorie der Gerechtigkeit
kommen und wer die Macht hat, sie zu verteilen, sollte vielmehr alle sozialen Beziehungen analysieren,
werden ausgeblendet oder stehen zumindest nicht im die notwendig sind für die Ermöglichung individueller
Mittelpunkt vieler Theorien der Gerechtigkeit (vgl. Freiheit. In Das Recht der Freiheit (2011) entwirft Hon-
Forst 2011, 34–37). Gegenstand von Gerechtigkeits- neth eine Gerechtigkeitstheorie nach diesen Maß-
theorien sollten statt Güterverteilungen und ihren gaben. Bestehende soziale Beziehungen und Institutio-
Empfängern soziale Beziehungen sein. Das bedeutet nen werden daraufhin analysiert, wie und ob sie indi-
im Umkehrschluss nicht, Verteilungsfragen seien un- viduelle Freiheit, laut Honneth der Grundwert der
ter dem Aspekt der Gerechtigkeit unwichtig, sondern Moderne, realisieren. In Anlehnung an seine früheren
bloß, dass sie selbst schon aus bestimmten sozialen Arbeiten, in denen der Gerechtigkeitsbegriff allerdings
Beziehungen hervorgehen. Hier wird der Marxsche keine systematische Bedeutung hat, werden diese als
Hintergrund der Kritik deutlich; denn auch Marx Anerkennungsbeziehungen, die nicht vollständig in
kritisierte, dass die politische Ökonomie die Bedin- Rechtsbeziehungen aufgehen (vgl. Honneth 2011,
gungen gesellschaftlicher Missstände, nämlich die 126), konzeptualisiert. Ein freies Individuum, das
Produktionsverhältnisse als bestimmte Form sozialer dementsprechend in einer gerechten Gesellschaft lebt,
Beziehungen, nicht in den Blick nehme (Forst 2013, ist anerkannter Teil von drei verschiedenen »relationa-
144–121). Nun geht es der neueren Kritischen Theo- len Handlungssystem[en]«: »dem der persönlichen
rie beim Blick auf soziale Beziehungen nicht aus- Beziehungen, des ökonomischen Marktes und der po-
schließlich um Produktionsverhältnisse, sondern all- litischen Öffentlichkeit« (ebd., 232).
gemeiner um die Reflexion auf soziale Verhältnisse, Es ist bemerkenswert, dass Honneth dem Recht kei-
die spezifischen Gerechtigkeitsfragen wie der Vertei- ne hervorgehobene Stellung zugesteht, obwohl er
lungsfrage vorgelagert sind. Honneth spricht daher grundsätzlich an Habermas’ kommunikatives Paradig-
von einer »Reflexionssteigerung von Gerechtigkeit« ma anknüpft und dieses »der Kategorie des Rechts ei-
(Honneth 2004, 225). nen zentralen Stellenwert einräumt« (Habermas 1998,
Laut Honneth ist die Verschiebung der »Aufmerk- 21), wie Habermas in Faktizität und Geltung betont
samkeit von Gütern auf Beziehungen« folgenschwer hat. Hier findet Habermas’ expliziteste Auseinander-
(ebd., 215, 217). Infolge dieser Einsicht muss das setzung mit Gerechtigkeitstheorien statt, die er auch
Rechtsverhältnis »seine privilegierte Stellung« verlie- im Dialog mit Rawls vertieft. Dennoch muss Faktizität
ren, wenn es um die Realisierung von Gerechtigkeit in und Geltung als »Diskurstheorie des Rechts und des
der Gesellschaft gehe (ebd., 217). Nun könnte man ein demokratischen Rechtsstaates«, wie es im Untertitel
Rechtsverhältnis als soziale Beziehung und somit als heißt, und nicht als Gerechtigkeitstheorie verstanden
angemessenen Gegenstand der Gerechtigkeit nach der werden (vgl. Habermas’ Kritik am liberalen Gerechtig-
Kritik distributiver Gerechtigkeit verstehen. In Anleh- keitsdiskurs: ebd., 78–90). Versteht man Habermas’
nung an Hegel argumentiert Honneth aber, dass Ausführungen als Rechts- und nicht als Gerechtig-
Rechtsverhältnisse nur einen Teil der gerechtigkeits- keitstheorie, bedeutet dies, dass Habermas die moder-
relevanten sozialen Beziehungen darstellen, und zwar ne Rechtsform gewissermaßen als Untersuchungs-
diejenigen, die die Willkürfreiheit von Individuen be- gegenstand voraussetzt – und nicht erst als beste Form
treffen. Das ist gerade die Bestimmung, die Individuen der Realisierung von abstrakten Gerechtigkeitsforde-
so versteht, dass sie Empfänger eines gerechten Güter- rungen thematisiert. Dennoch ist der Untersuchungs-
38 Gerechtigkeit in der Kritischen Theorie 245

gegenstand natürlich mit Bedacht gewählt, insofern um die Frage, wie Rechtsnormen gerechtfertigt werden
Habermas an die emanzipatorische Kraft des Rechts sollten. Dass Habermas den Gegenstand seines Demo-
glaubt, daran, dass das Recht Resultate demokratischer kratieprinzips so versteht, ist in seiner umfassenden
Entscheidungsfindungsprozesse angemessen ausdrü- Gesellschaftstheorie begründet, die auf seiner be-
cken und somit legitim sein kann (vgl. Iser/Strecker rühmten Unterscheidung zwischen System und Le-
2010, 140–155). Ob Rechtsnormen legitim sind oder benswelt basiert. Die Sprache des Rechts sei sowohl für
nicht, entscheidet sich anhand des »Demokratieprin- das System als auch für die Lebenswelt verständlich,
zips«, das »besagt [...], daß nur die juridischen Gesetze könne daher eine gesellschaftliche Vermittlungsfunk-
legitime Geltung beanspruchen dürfen, die in einem tion einnehmen und dafür sorgen, dass das System
ihrerseits rechtlich verfaßten diskursiven Rechtsset- nicht auf unangemessene Weise in die Lebenswelt ein-
zungsprozeß die Zustimmung aller Rechtsgenossen greift, d. h. sie kolonisiert (vgl. Habermas 1998, 77 f.).
finden können« (Habermas 1998, 141). Inwiefern sich Da Forst hingegen, in Abgrenzung zu Habermas, Ge-
nun Legitimität und Gerechtigkeit unterscheiden, kann sellschaft gar nicht mithilfe der System-Lebenswelt-
an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert werden. Dichotomie versteht (Forst 2015, 26, 69 f.), spielt für
Grob gesagt betrifft die Gerechtigkeit einer politischen ihn – zumindest auf den ersten Blick – das Recht keine
Ordnung sowohl ihren grundsätzlichen Herrschafts- derart bedeutende Rolle, da er nicht zwei gesellschaft-
anspruch als auch den Inhalt ihrer Herrschaftsord- liche Sphären miteinander vermitteln muss. Forst ver-
nung, während Legitimität bloß Ersteres in den Blick steht Gesellschaft als Ensemble von Rechtfertigungsver-
nimmt (vgl. Forst 2015, 186–197). Gerade wenn es da- hältnissen (Forst 2011). Da Rechtfertigung für Forst
rum geht, Forsts Projekt einer »kritischen Theorie der sowohl ein deskriptiver als auch ein normativer Begriff
Gerechtigkeit« in seinen Differenzen zu Habermas zu ist – es kann also auch unvernünftige oder ideologi-
verstehen, gilt es diese Unterscheidung zu beleuchten sche Rechtfertigungen geben – besteht die Forderung
(Forst 2007, 179). der Gerechtigkeit darin, bestehende Rechtfertigungen
Der normative Grundsatz von Forsts kritischer in gerechte Rechtfertigungsverhältnisse zu transfor-
Theorie der Gerechtigkeit ähnelt dem von Habermas. mieren (vgl. Forst 2015, 58–81).
Im Kontext »politische[r] und soziale[r] Gerechtig- Obwohl dem Recht bei Forst also zunächst nicht
keit« besteht die normative Forderung der Gerechtig- dasselbe Gewicht zukommt wie bei Habermas, spielt
keit darin, dass die Grundstruktur der relevanten Ge- es für ihn eine bedeutendere Rolle als in den hegelia-
sellschaft oder allgemeiner des relevanten sozialen nischen Sittlichkeitstheorien Honneths und Jaeggis
Gefüges »wechselseitig und allgemein begründet wer- (Jaeggi 2014). So ist bei Honneth das Recht zwar
den muss, wobei nicht eine Seite ihre Gründe auf die auch eine notwendige Bedingung für die Realisie-
andere einfach projizieren darf, sondern sich diskur- rung von Gerechtigkeit; allerdings hat es in Bezug
siv rechtfertigen muss« (Forst 2011, 30, 40). auf ihre Verwirklichung gegenüber beispielsweise
Ein seiner und Habermas’ normativer Perspektive intimen Beziehungen keine hervorgehobene Rolle
ähnliches Verständnis von Gerechtigkeit findet Forst (s. o.). An dieser Stelle kann nicht weiter auf die
bereits beim jungen Horkheimer (Forst 1996, 154). wichtige Frage eingegangen werden, ob Honneths
Forst rückt bei seiner Interpretation ungerechtfertigte Programm somit tatsächlich sinnvollerweise als Ge-
gesellschaftliche Ungleichheit als Kennzeichen von Un- rechtigkeitstheorie zu begreifen ist und ob nicht
gerechtigkeit ins Zentrum, während für Horkheimer Jaeggi konsequenter verfährt, wenn sie ihre hegelia-
grundloses Leiden mindestens genauso zentral ist nische Version Kritischer Theorie gar nicht als Ge-
(Forst 2015, 20). Es gibt zwei Hauptaspekte von Forsts rechtigkeitstheorie, sondern als »eine kritische Theo-
Theorie, mit denen er sich von Habermas abgrenzt. rie der Kritik von Lebensformen« bezeichnet und sich
Erstens verwendet Forst einen »normativ gehaltvol- explizit vom Gerechtigkeitsdenken verabschiedet,
leren Vernunftbegriff als Habermas« (ebd., 11, Fn. 4). d. h. dem Marxschen Verdacht gewissermaßen nach-
Forst kritisiert an Habermas, dass man mit ihm zwar gibt (ebd., 12, 23). Ein Vorteil von Forsts Theorie ge-
verstehen könne, was eine gerechtfertigte, d. h. eine ge- genüber Jaeggis sei, dass sie Entscheidungen darüber
rechte, Norm ausmache, aber nicht, dass sie tatsächlich zulasse, wann ein gesellschaftliches Phänomen so
Geltung beanspruche und Individuen motiviere (Forst falsch, d. h. ungerecht sei, dass es ein »Einschreiten
2007, 93). Zweitens versteht Forst den Gegenstands- des Rechts« fordere (Forst 2015, 21). Bei Jaeggi steht
bereich von Gerechtigkeit bzw. Legitimität anders als die Kritik eines sozialen Phänomens dagegen nicht
Habermas. Wie oben beschrieben, geht es Habermas in direktem Zusammenhang mit der Frage nach den,
246 III Gerechtigkeitskonzeptionen

insbesondere rechtlichen, Konsequenzen der Kritik Auch die Rechtstheoretiker Franz Neumann und Otto
(Jaeggi 2014, 52 f.). Analog zu der Abgrenzung von Kirchheimer, die in den 1920er und 1930er Jahren am
Jaeggi kann man Forsts Beitrag zu der zwischen IfS arbeiteten, bewegte diese Frage (vgl. Buckel 2007,
Nancy Fraser und Honneth geführten Debatte Um- 80–94). Insbesondere in Auseinandersetzung mit
verteilung oder Anerkennung? (Fraser und Honneth Benjamin und seiner Rezeption durch Jacques Derri-
2003) verstehen, wenn er betont, dass ein Vorteil sei- da (1991) wird diese Diskussion heute in Frankfurt
ner (und mit Einschränkung Frasers) Theorie gegen- weitergeführt (Loick 2012; Menke 2012; Menke 2015,
über Honneths sei, dass sie »wie ein Filter [funktio- insbes. 403 ff.). Im Gegensatz zu Habermas’ Hoffnung,
niert], der rechtfertigbare von nicht-rechtfertigbaren dass die moderne Rechtsform Gerechtigkeit zumin-
Ansprüchen« (und man könnte ergänzen: solche, die dest prinzipiell realisieren könne, schreibt Menke
in Recht übersetzt werden sollten, von solchen, die über (s)eine an Benjamin und Derrida geschulte Per-
es nicht sollten) differenzieren kann (Forst 2011, spektive: »[S]ie hofft nicht einmal mehr, daß ihr Ge-
139). Auch in seiner Debatte mit Wendy Brown über rechtigkeitsverlangen sich [im Recht] je ganz stillen
Toleranz – ein Begriff, der für Forsts gerechtigkeits- lasse« (Menke 1994, 287).
theoretisches Projekt eine wichtige Rolle spielt – be-
tont er, dass seine Perspektive es ihm erlaube, in »die
Rolle des Gesetzgebers« zu schlüpfen und sich die Ausblick
Frage zu stellen, »ob mein Einwand zu dieser Praxis
gut genug ist, um zu argumentieren, dass diese Din- Der Marxsche Verdacht ist für alle Vertreter und Ver-
ge nicht erlaubt sein sollten« (Brown/Forst 2014, 41, treterinnen der Kritischen Theorie in ihrem Nachden-
eigene Übers.). ken über Gerechtigkeit und Recht bedeutend. In der
Die Frage nach gerechtem (bzw. legitimem) Recht ersten Generation ist der dadurch begründete Skepti-
ist für Forst demnach – auf den zweiten Blick –, wie zismus gegenüber dem Gerechtigkeits- (und Rechts-)
für Habermas, zentral; und gerade das grenzt seine Denken besonders stark. In der neueren Debatte ver-
Gerechtigkeitstheorie von hegelianisch geprägten tritt Habermas eine Rechtstheorie, die den emanzipa-
zeitgenössischen kritischen Theorien ab: So ist für torischen Gehalt des modernen Rechts betont; Hon-
Honneth das Recht nur eine von verschiedenen Mani- neth hingegen entwirft ein erweitertes gerechtigkeits-
festationsformen der Gerechtigkeit und in Jaeggis theoretisches Programm, das dem Recht eine notwen-
Modell der Kritik spielt das Recht zunächst gar keine dige, aber keine hervorgehobene Rolle zuweist. Für
entscheidende Rolle. Dennoch unterscheiden sich die Jaeggis normative Theorie spielt das Recht unmittel-
Theorien von Habermas und Forst in der Art und bar gar keine explizite Rolle, und sie löst sich gleich-
Weise, wie das Recht in ihnen relevant ist. Für Haber- zeitig auch vom Gerechtigkeitsbegriff. Menke dagegen
mas nimmt das Recht, wie oben beschrieben, eine rückt, wie Habermas, die Auseinandersetzung mit
Vermittlungsfunktion zwischen System und Lebens- dem modernen und bürgerlichen Recht ins Zentrum
welt ein; für Forst hingegen, könnte man argumentie- seiner Überlegungen, betont dabei aber, anders als
ren, ist gerechtes Recht das Ergebnis der Transforma- Habermas, insbesondere die in der Form dieses Rechts
tion von schlechten zu vernünftigen Rechtfertigungs- angelegten problematischen Wirkungen (vgl. Menke
verhältnissen. Da die Rechtsform bei Forst nun aber, 2015). Das Projekt einer ›kritischen Theorie der Ge-
im Gegensatz zu Habermas, nicht historisch und so- rechtigkeit‹ steht für Forst im Mittelpunkt seiner For-
ziologisch als emanzipatorische Institution gerecht- schungen. Dabei verfolgt er, im Vergleich zu Honneth,
fertigt wird, sondern abgeleitet von Forsts normati- der ebenfalls eine kritische Gerechtigkeitstheorie ent-
vem Gerechtigkeitsprinzip als angemessene Realisie- wirft (Honneth 2011), ein in Bezug auf den Gerechtig-
rungsform desselben verstanden werden kann, stellt keitsbegriff orthodoxeres Programm. Er erkennt den
sich hier nun eine radikale rechtstheoretische Frage, Marxschen Verdacht als Herausforderung an, strebt
welche die frühe Kritische Theorie schon beschäftigt aber keine so starke Erweiterung des Gerechtigkeits-
hat: Inwiefern hängt die moderne Rechtsform not- begriffs an wie Honneth; seine Gerechtigkeitstheorie
wendigerweise mit (illegitimer) Gewalt zusammen bleibt eine »reduzierte[ ] Form der Kritik« (Forst 2011,
und ist deshalb als emanzipatorische Institution und 136). Frasers Perspektive auf Fragen der Gerechtigkeit
somit für die Kritische Theorie zunächst problema- ähnelt in ihren theoretischen Grundentscheidungen,
tisch? In dem erwähnten Aufsatz Zur Kritik der Ge- trotz wichtiger Unterschiede, der von Forst (s. o. und
walt hat sich Walter Benjamin dieser Frage gewidmet. Fraser 2008).
38 Gerechtigkeit in der Kritischen Theorie 247

In Bezug auf Forsts Programm bleibt eine offene ner erweiterten Gerechtigkeitskonzeption zuordnen.
Frage, nämlich die, wie das Verhältnis von Gerechtig- So schreibt Pereira, dass das Ziel einer kritischen
keit zu Recht verstanden werden muss. Steht das Recht Theorie der Gerechtigkeit die Sicherung der Bedin-
nicht so sehr im Zentrum der Überlegungen wie bei gungen individueller Selbstverwirklichung sei, was
Habermas und Menke, scheint es dennoch eine be- z. B. von Forsts Perspektive abweicht (ebd., 3; vgl.
deutendere Rolle für die Frage der Realisierung der Forst 2011, 134–136).
Gerechtigkeit (bzw. in Jaeggis Fall einer rationalen Le-
bensform) zu spielen als bei Honneth und Jaeggi. Wo- Literatur
möglich ist Forst bezüglich der emanzipatorischen Adorno, Theodor W.: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie.
Kraft des Rechts optimistischer als Menke, nichtsdes- Studien über Husserl und die phänomenologischen Anti-
nomien. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf
totrotz ist seine Perspektive prinzipiell offen für eine Tiedemann, Bd. 5: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie.
radikale Kritik der Institution des Rechts (wie des Drei Studien zu Hegel. Frankfurt a. M. 1971, 7–245.
Marktes), da diese Institution für ihn, anders als für –: Bei Gelegenheit von Wilhelm Lehmanns ›Bemerkungen
Habermas, keine festgeschriebene Funktion inner- zur Kunst des Gedichts‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften,
halb einer gesellschaftstheoretischen Analyse hat. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1974, 665–668.
–: Stichworte. Kritische Modelle 2. Fortschritt. In: Ders.: Ge-
Bezüglich sowohl Honneths als auch Forsts Ge-
sammelte Schriften, Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft
rechtigkeitstheorien ist es eine weitere offene Frage, ob 2. Frankfurt a. M. 1977, 617–638.
sie strukturelle Herrschaftsmechanismen, insbesonde- –: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben.
re Geschlechterhierarchien, aus ihren theoretischen In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4. Frankfurt a. M.
Perspektiven adressieren können. Young hat im An- 1980.
schluss an ihre Kritik des distributiven Paradigmas ei- –: Neue wertfreie Soziologie. In: Ders.: Gesammelte Schrif-
ten, Bd. 20.1: Vermischte Schriften 1. Frankfurt a. M.
ne Konzeption struktureller Ungerechtigkeit entwor-
1986a, 13–45.
fen, die insbesondere in ihrem posthum erschienenen –: Offener Brief an Max Horkheimer. In: Ders.: Gesammelte
Buch Responsibility for Justice (Young 2011) verhan- Schriften, Bd. 20.1: Vermischte Schriften 1. Frankfurt a. M.
delt wird. Strukturelle Ungerechtigkeit lässt sich dem- 1986b, 155–163.
nach nicht als individuell-interaktional oder staatlich Azmanova, Albena: The Scandal of Reason. A Critical Theory
bzw. von mächtigen politischen Institutionen indu- of Political Judgment. New York 2012.
Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt. In: Ders.: Gesam-
ziert begreifen, sondern als strukturell ungerechte melte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann
Hierarchie sozialer Positionen (ebd., 45). Honneths Schweppenhäuser, Bd. II.1. Frankfurt a. M. 1977, 179–
und Forsts Gerechtigkeitstheorien beziehen sich auf 203.
soziale Beziehungen, Anerkennungs- bzw. Rechtferti- Brown, Wendy/Forst, Rainer: The Power of Tolerance. A De-
gungsbeziehungen, und betonen somit mehr als bate. Wien 2014.
Buckel, Sonja: Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekon-
Young die interaktionale, auf das intentional handeln-
struktion einer materialistischen Theorie des Rechts. Göt-
de Subjekt bezogene Dimension von Sozialität. Offen tingen 2007.
bleibt, ob sie strukturelle Herrschaftsmechanismen Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der
mit ihrem Instrumentarium aufdecken können oder Autorität«. Frankfurt a. M. 1991.
nicht (vgl. Young 2007 über Honneth sowie Forsts Ar- Ferrara, Alessandro: Justice and Judgment. The Rise and the
gumentation in Forst 2015, 69–74). Prospect of the Judgment Model in Contemporary Political
Philosophy. London 1999.
Es bleibt eine Strömung im Nachdenken über kriti- Forst, Rainer: Justice, reason, and critique: Basic concepts of
sche Gerechtigkeitsperspektiven und ein aktuelles Critical Theory. In: David Rasmussen (Hg.): The Hand-
Buch zum Thema zu erwähnen. Alessandro Ferrara book of Critical Theory. Oxford 1996, 138–162.
macht den Vorschlag, dass beim Nachdenken über –: Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivis-
Gerechtigkeit zunächst der Anspruch aufgegeben tischen Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 2007.
–: Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse. Perspektiven einer
werden müsse, ideale Modelle, Regeln oder Normen
kritischen Theorie der Politik. Berlin 2011.
der Gerechtigkeit festzulegen (Ferrara 1999). Stattdes- –: Gerechtigkeit nach Marx. In: Rahel Jaeggi/Daniel Loick
sen sollte das Augenmerk auf Urteile über Gerechtig- (Hg.): Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis. Berlin 2013,
keitsfragen in konkreten Situationen gelenkt werden. 107–121.
An dieses »judgment paradigm« schließt Albena Az- –: Normativität und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtferti-
manova (2012, 4) an. Gustavo Pereiras Buch Elements gungsordnungen. Berlin 2015.
Fraser, Nancy: Scales of Justice. Reimagining Political Space in
of a Critical Theory of Justice (2013) lässt sich mit Ein-
a Globalizing World. New York 2008.
schränkungen dem von Honneth verfolgten Weg ei-
248 III Gerechtigkeitskonzeptionen

–/Honneth, Axel: Umverteilung oder Anerkennung? Eine po- Rechts. In: Rahel Jaeggi/Daniel Loick (Hg.): Nach Marx.
litisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt a. M. 2003. Philosophie, Kritik, Praxis. Berlin 2013, 273–295.
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39 Luck Egalitarianism 249

39 Luck Egalitarianism ten Faktor, nämlich den der individuellen Verantwor-


tung, vernachlässige. Sollte sich eine Gesellschaft
Das Kernprinzip des Luck Egalitarianism wirklich an der materiellen Situation der Schlechtest-
gestellten messen lassen, auch wenn diese für ihre La-
Luck egalitarian oder verantwortungssensitive Theo- ge selbst verantwortlich sind? Eine angemessene Ge-
rien der Verteilungsgerechtigkeit verknüpfen den rechtigkeitstheorie, so die Position des Luck Egalita-
Wert der Gleichheit mit der Bedeutung von Verant- rianism, habe einen doppelten Anspruch einzulösen:
wortung. Ungleichheiten sind nur dann gerechtfer- Eine Verteilung kann nur dann als gerecht gelten,
tigt, wenn sie sich auf Entscheidungen, Handlungen, wenn Anlagen, Herkunft und Talente einer Person
Umstände oder Ereignisse zurückführen lassen, für unerheblich dafür sind, wer was bekommt (endow-
die von der Ungleichheit Betroffene in einem relevan- ment insensitivity), die Verteilung aber sehr wohl in-
ten Sinne selbst verantwortlich sind. Das zentrale dividuelle Entscheidungen und Anstrengungen wi-
Prinzip dieser Variante des Egalitarismus lautet: Nie- derspiegelt (ambition sensitivity).
mandem soll es ohne eigenes Verschulden oder eine
eigene relevante Entscheidung schlechter ergehen als
anderen (Cohen, 1989). Die Bezeichnung ›Luck Ega- Gerechtigkeit, Fairness und Verdienst
litarianism‹, die zunächst von Kritikern geprägt wur-
de (Anderson, 1999), soll deutlich machen, dass es der In der Begründung einer verantwortungssensitiven
Gerechtigkeitstheorie eines verantwortungssensitiven Gerechtigkeitskonzeption spielen sowohl der Wert
Egalitarismus darum geht, den Einfluss von Glück, der Fairness (s. Kap. II.27) als auch Überlegungen zu
Zufall oder Schicksal auf die Verteilung wichtiger Gü- individuellem Verdienst eine Rolle. Ungleichheiten,
ter, wie etwa materieller Ressourcen oder individuel- für die ›niemand etwas kann‹, sind moralisch proble-
len Wohlergehens, auszuschalten. matisch, weil sie unfair und unverdient sind. Es ist
(von unten erläuterten Umständen des optionalen Zu-
falls abgesehen) unfair, wenn Güter zwischen zwei
Luck Egalitarianism und die Gerechtigkeits- Personen, die sich auf die gleiche Art und Weise ver-
theorie von John Rawls halten, die gleichen Entscheidungen treffen und die
gleichen Anstrengungen auf sich nehmen, ungleich
Die grundlegenden Impulse und Motive eines verant- verteilt werden. Der Einfluss von Glück, Zufall oder
wortungssensitiven Egalitarismus lassen sich aus dem Schicksal untergräbt die Fairness von Verteilungen.
Verhältnis zu den zentralen Prinzipien und Argumen- Einige Luck Egalitarians gestehen zudem Überlegun-
ten in John Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit gen individuellen Verdiensts eine zentrale Rolle zu. Sie
(1979) erklären (Kymlicka 2002). Auf der einen Seite argumentieren, dass Ungleichheiten nur dann mora-
kann man das Anliegen des Luck Egalitarianism als lisch unproblematisch sind, wenn diese Unterschiede
eng verwandt mit einer der von Rawls dargelegten di- individuellen moralischen Verdienst widerspiegeln.
rekten Begründungen seiner Gerechtigkeitsprinzi- Eine Ungleichheit, die zwischen zwei Personen ent-
pien verstehen, der zufolge Faktoren wie etwa Talent steht, weil sich nur eine Person moralisch verhält, ih-
oder soziale Herkunft moralisch willkürlich (morally ren Verpflichtungen nachkommt und Teile ihres Be-
arbitrary) und daher vom Standpunkt der Gerechtig- sitzes für gute Zwecke aufgibt, erscheint vom Stand-
keit unerheblich sind. Auf der anderen Seite wenden punkt der Gerechtigkeit problematisch, obwohl die
sich Vertreter des Luck Egalitarianism in zweifacher Ungleichheit auf Entscheidungen der benachteiligten
Hinsicht gegen Rawls. Sie argumentieren erstens, dass Person zurückzuführen ist.
eine Gerechtigkeitstheorie, die anerkennt, dass Vertei- Es gibt mehrere Möglichkeiten, Überlegungen zu
lungen nicht von moralisch willkürlichen Faktoren Gerechtigkeit, Fairness und Verdienst in einer im wei-
beeinflusst sein sollen, egalitärer ausfallen müsse als teren Sinne luck egalitarian Theorie miteinander zu
die Theorie von Rawls. Letztlich seien alle Ungleich- kombinieren: Fairness könnte mit Verdienst und Ver-
heiten, die sich nicht auf Entscheidungen Einzelner antwortung in Zusammenhang gebracht werden, so
zurückführen lassen, ungerecht, auch solche, die für dass Ungleichheiten nur dann unfair sind, wenn sie
eine Verbesserung der Situation aller sorgen. Zweitens unverdient sind. Gerechtigkeit könnte als sowohl von
argumentieren Verfechter des Luck Egalitarianism, Fairness als auch Verdienst bestimmt verstanden wer-
dass Rawls’ Differenzprinzip einen moralisch relevan- den, wobei beiden Begriffen unabhängig voneinander
250 III Gerechtigkeitskonzeptionen

Bedeutung zukommt (Temkin 2011), Gerechtigkeit gezogen werden soll und was genau als reiner Zufall
könnte als Kombination aus Gleichheits- und Ver- und somit als ausgleichswürdig zu betrachten sei.
dienstüberlegungen verstanden werden (Arneson Verfechter eines so genannten Ressourcen-Ega-
2007), und schließlich könnte man individuelles mo- litarismus (resource egalitarianism) wie etwa Ronald
ralisches Verdienst an die Stelle von Verantwortung Dworkin (1981a; 1981b; 2002) glauben, dass sich die
setzen und einen verdienstsensitiven Egalitarismus Gerechtigkeitsprinzipien des verantwortungssensiti-
formulieren (Knight 2011). ven Egalitarismus in erster Linie auf die Verteilung ex-
terner Ressourcen beziehen. Die Idee eines idealisier-
ten Marktes, in dem Individuen die Kosten ihrer eige-
Reiner und optionaler Zufall nen Entscheidungen und Vorlieben tragen, ist in dop-
pelter Hinsicht zentral für Dworkin.
Vom Standpunkt der Fairness unterscheiden Luck Erstens veranschaulicht Dworkin das Ideal der Res-
Egalitarians zwischen zwei unterschiedlichen Varian- sourcengleichheit durch das Modell einer Versteige-
ten des Glücks oder Zufalls. Der so genannte optiona- rung bei gleicher Kaufkraft, in der beispielsweise auf
le Zufall (option luck) tritt dann auf, wenn Individuen einer Insel Gestrandete mit unterschiedlichen Vorlie-
freiwillig ein bestimmtes Risiko eingegangen sind. ben, aber gleicher Ausstattung an Muschelwährung
Ungleichheiten, die das Ergebnis optionalen Zufalls für die natürlichen Reichtümer der Insel bieten. Die
sind, gelten nicht als unfair und müssen daher nicht sich aus der Versteigerung ergebende Verteilung ist
ausgeglichen werden. Wenn von drei Jahrmarktbesu- genau dann gerecht, wenn sie den so genannten Neid-
chern, die alle einen Dollar besitzen, einer freiwillig test (envy test) besteht, d. h. wenn jeder sein eigenes
das Risiko eingeht, ein Los mit einer geringen Ge- ersteigertes Bündel an Ressourcen allen anderen
winnchance auf 100 Dollar zu kaufen, während die preisgleichen Bündeln vorzieht. Ungleichheiten, die
beiden anderen sich entscheiden, ihren Dollar zu be- im Laufe der Zeit aufgrund von Entscheidungen oder
halten, dann ist die nach einem Gewinn entstehende Wagnissen entstehen, sind als optionaler Zufall mora-
Ungleichheit zunächst unproblematisch. Der so ge- lisch unproblematisch.
nannte reine Zufall (brute luck) tritt dann auf, wenn Zweitens bedient sich Dworkin der Idee eines Ver-
Menschen unfreiwillig oder unvermeidbar dem Zufall sicherungsmarktes, um zu erklären, wie sich der mora-
ausgesetzt sind. Ungleichheiten, die das Ergebnis von lisch problematische reine Zufall in optionalen Zufall
purem Zufall sind, gelten als unfair und sollten daher überführen lässt. Das Risiko, durch reinen Zufall be-
ausgeglichen werden. Wenn einem der Jahrmarkt- nachteiligt zu werden, beispielsweise durch Krankheit
besucher der Ein-Dollar-Schein durch eine unvorher- oder Behinderung, wird durch die Möglichkeit, sich zu
sehbar starke Windböe aus der Hand gerissen wird, versichern, zum optionalen Zufall. Inselbewohner, die
dann scheint die daraus entstehende Ungleichheit un- fürchten, durch Krankheit oder Ähnliches schlechter
fair und ausgleichsbedürftig zu sein. gestellt zu sein, würden einige ihrer Muscheln auf den
Erwerb einer Versicherung verwenden. Unter Um-
ständen, in denen Individuen bereits von Krankheiten
Unterschiedliche Konzeptionen des Luck oder Behinderungen betroffen sind (so genannte inter-
Egalitarianism nal endowment deficits), lässt sich die Idee eines hypo-
thetischen Versicherungsmarktes zur Bestimmung
Innerhalb der Familie des Luck Egalitarianism gibt es von Umverteilung und Ausgleich heranziehen: Opfer
konkurrierende Konzeptionen und Auseinanderset- von unfreiwilligem Nachteil werden aus Steuermitteln
zungen darüber, wie die Gerechtigkeitsprinzipien ei- entschädigt, wobei die Höhe der Entschädigung für die
nes verantwortungssensitiven Egalitarismus genau zu Opfer und das Steuerniveau der Höhe der Entschädi-
verstehen sind. Eine erste strittige Frage ist, in welcher gungssumme und der Prämie einer Versicherung ent-
Hinsicht überhaupt Gleichheit hergestellt werden soll, sprechen, die Menschen erwerben würden, um sich
d. h. um die Gleichverteilung welcher Güter es Ega- gegen das jeweilige Risiko abzusichern. Zentral für die
litaristen geht. Anders formuliert: Was genau ist die Unterscheidung zwischen moralisch unbedenklichen
Metrik oder Währung des Luck Egalitarianism (Sen und durch einen Steuertransfer auszugleichenden
1980)? Eine zweite Auseinandersetzung dreht sich um Nachteilen ist für Dworkin die Unterscheidung zwi-
die Frage, wo und wie die Trennlinie zwischen ge- schen Personen und Umständen. Nachteile, die entste-
rechtfertigten und ungerechtfertigten Ungleichheiten hen, weil man eine Person mit bestimmten Vorlieben
39 Luck Egalitarianism 251

ist oder sich mit bestimmten Zielen identifiziert, bei- schen mit teuren Vorlieben eben diese im Allgemei-
spielsweise weil man dem kostspieligen Hobby Segeln nen als positiven Teil ihrer Persönlichkeit an. Dwor-
nachgeht, müssen nicht ausgeglichen werden; Nach- kin und andere ressourcenorientierte Egalitaristen
teile, die externen Umständen geschuldet sind, bei- halten diese Tatsache für einen überzeugenden Grund
spielsweise dass man sich ohne Rollstuhl nicht bewe- dafür, dass solche Vorlieben keinen Anspruch auf ei-
gen kann, hingegen schon. nen höheren Ressourcenanteil rechtfertigen können.
Andere Luck Egalitarians, beispielsweise Richard J. Cohen entgegnet, dass in Fällen, in denen Individuen
Arneson und Gerald A. Cohen, stehen dem Ideal der für ihre Präferenzen nicht verantwortlich sind und der
Ressourcengleichheit kritisch gegenüber und vertre- Preis einer für die Befriedigung von wichtigen Be-
ten Konzeptionen des verantwortungssensitiven Ega- dürfnissen benötigten Ressource das Ergebnis von pu-
litarismus, die sich sowohl in Bezug auf die Metrik der rem Preisglück, genauer Pech (price luck) ist, Men-
Gleichheit als auch hinsichtlich der Unterscheidung schen mit teuren Vorlieben mehr Ressourcen zuste-
zwischen moralisch problematischen und moralisch hen. Teure Vorlieben können in doppelter Hinsicht als
unproblematischen Ungleichheiten von Dworkins unfreiwilliger Nachteil gelten: Weder die Tatsache,
Position unterscheiden. Arneson (1989) ist als Vertre- dass man die Vorliebe hat, noch, dass ihre Befriedi-
ter eines so genannten Chancen-auf-Wohlfahrt-Ega- gung teuer ist, lässt sich auf eine relevante Entschei-
litarismus (equal opportunity for welfare) davon über- dung zurückführen.
zeugt, dass es Luck Egalitarians darum gehen müsse,
sicherzustellen, dass alle die gleiche Chance auf indi-
viduelles Wohlergehen haben, auch wenn dies eine Einwände und Kritik
Ungleichverteilung von Ressourcen bedeutet. Cohen
(1989) argumentiert, dass die richtige Metrik oder Der Luck Egalitarianism sieht sich einer Vielzahl von
Währung des Luck Egalitarianism Ressourcen- und Einwänden ausgesetzt. Einige dieser Einwände bezie-
Wohlfahrtselemente in einem Begriff des gleichen Zu- hen sich in erster Linie auf den egalitären Aspekt der
gangs zu Vorteilen (equal access to advantage) ver- Theorie und die Bedeutung, die dem Wert der Gleich-
einen müsse. Widerspruch zu Dworkin ergibt sich heit beigemessen wird. Andere Einwände richten sich
auch aus der Frage, welche Nachteile genau im Namen gegen verschiedene Aspekte individueller Verantwor-
der Gerechtigkeit ausgeglichen werden sollten. Nach tung und deren Rolle für zentrale Prinzipien des Luck
Cohen ist die relevante Unterscheidung nicht die zwi- Egalitarianism. Wieder andere Kritiker verweisen auf
schen Personen und Umständen, sondern die zwi- die Unzulänglichkeit des Luck Egalitarianism als
schen Wahl/Entscheidung (choice) und Umständen. Maßstab und Anleitung für die Einrichtung und Um-
Nachteile, die einer Person aufgrund ihrer Ziele und gestaltung politischer Institutionen.
Vorlieben entstehen, sollten ausgeglichen werden, Der prominenteste Einwand gegen Gerechtigkeits-
nämlich genau dann, wenn diese Ziele oder Vorlieben theorien, die der Gleichverteilung von Gütern – im
unfreiwillig und nicht das Ergebnis einer Wahl oder Fall des Luck Egalitarianism unter Berücksichtigung
Entscheidung sind. des Prinzips der Verantwortungssensitivität – einen
An der so genannten Auseinandersetzung um teure Wert an sich zugestehen, ist der so genannte Nivellie-
Vorlieben (expensive tastes) lassen sich die Unter- rungseinwand (levelling down objection) (Parfit 1997):
schiede von Cohens und Dworkins Konzeptionen des Wer an den Wert der Gleichheit glaubt, der müsse eine
verantwortungssensitiven Egalitarismus verdeutli- Gleichverteilung auf niedrigem Niveau einer für alle
chen (Dworkin/Burley 2004): Sollten Menschen mit Betroffenen besseren Ungleichverteilung auf höherem
teuren Vorlieben, etwa für Segeln und Champagner, Niveau vorziehen und darauf bestehen, dass eine Ver-
mehr Ressourcen erhalten, so dass es ihnen genauso teilung besser sein kann als eine andere, ohne für ir-
gut geht wie Menschen mit weniger teuren Vorlieben, gendjemanden besser zu sein. An die Stelle des Ega-
etwa für Radfahren und Bier? Dworkin argumentiert, litarismus solle das so genannte Prinzip des Vorrangs
dass Individuen mit teuren Vorlieben, also Indivi- (priority view) treten, dem zufolge es bei der Bewer-
duen, die zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse viele tung von Verteilungen um Vorrang für die absolut
Ressourcen brauchen, keinen Anspruch auf einen Schlechtgestellten geht, vergleichende Überlegungen
größeren Anteil an Ressourcen haben. Anders als jedoch irrelevant und Ungleichheiten nicht an sich
Menschen, die mit einer Behinderung oder anderen moralisch problematisch sind.
Form der Benachteiligung leben müssen, sehen Men- Andere Kritiker konzentrieren sich auf den Aspekt
252 III Gerechtigkeitskonzeptionen

der Verantwortung und weisen beispielsweise darauf- rien den Wert der Gleichheit durch das Prinzip des
hin, dass die Plausibilität des Luck Egalitarianism von Vorrangs, so dass ihre Position eine verantwortungs-
Antworten auf strittige Fragen, etwa solchen der Wil- sensitive Variante des Vorrangprinzips wird (Arneson
lensfreiheit und des Determinismus, abhänge. Eine 2000): Vom Standpunkt der Gerechtigkeit geht es pri-
weitere Frage tritt bei der Begründung des Luck Ega- mär um das Wohlergehen der Schlechtestgestellten,
litarianism auf: Wieso sollte aus der Motivation, den wobei es auch von Bedeutung ist, ob diese für ihre La-
Einfluss von Glück und Zufall auf Verteilungen aus- ge selbst verantwortlich sind.
zuschalten und lediglich Faktoren, für die Individuen Andere verfolgen eine andere, doppelte Antwort-
verantwortlich sind, als verteilungsrelevant gelten zu strategie. Erstens verweisen sie auf den pluralistischen
lassen, eine Gleichverteilung als moralischer Standard Charakter von Moral und erklären, dass der Egalita-
folgen (Hurley 2003)? rismus keine vollständige Moraltheorie formuliert
Ein dritter Einwand verweist darauf, dass die Prin- und anderen Werten und Prinzipien Platz lässt. Da
zipien des Luck Egalitarianism mit anderen Werten in Egalitaristen auch an die Bedeutung von individueller
Konflikt geraten oder zu problematischen Urteilen Wohlfahrt glauben, können sie eine Ungleichvertei-
führen, sobald es darum geht, zu entscheiden, wie lung auf hohem Wohlfahrtsniveau einer Gleichvertei-
sich Individuen und politische Institutionen gerech- lung auf niedrigem Wohlfahrtsniveau vorziehen. Es
terweise verhalten sollten und wie eine Gerechtig- gibt lediglich eine Hinsicht, nämlich die der Gleich-
keitskonzeption praktisch umzusetzen sei. Wer mit heit, in der die Verteilung auf niedrigem Niveau besser
einem luck egalitarian Anspruch auf Umverteilung zu ist. Und zweitens wird argumentiert, dass die durch
seinen Gunsten auftritt, so der Einwand der Kritiker, die levelling down objection zum Vorschein gebrachte
müsse diesen mit beschämenden Enthüllungen, bei- Merkwürdigkeit, dass nämlich ein Zustand als zumin-
spielsweise über persönliche Unzulänglichkeiten, be- dest in einer Hinsicht besser erachtet wird, ohne für
gründen und sich von Institutionen auf eine Art und irgendjemanden tatsächlich besser zu sein, keine Be-
Weise behandeln lassen, die mit Respekt gegenüber sonderheit des Egalitarismus sei. Wie andere Werte
der Person unvereinbar sei (Anderson 1999; Wolff und Prinzipien auch, lasse sich der Luck Egalitaria-
1998). Außerdem, so ein weiterer Einwand, könnten nism nicht auf Überlegungen individueller Wohlfahrt
Verfechter des Luck Egalitarianism nicht erklären, reduzieren (Temkin 1993; 2003).
warum Ressourcen zugunsten von Menschen ver- Entgegnungen auf die verantwortungsbasierten
wendet werden sollen, die Opfer ihrer eigenen Ent- Einwände können in einem zweifachen Zugeständnis
scheidungen und Handlungen werden (Fleurbaey bestehen. Sollten sich bestimmte Varianten des Deter-
1995). Sollten wir einen verunglückten Motorradfah- minismus als wahr herausstellen und die Bedeutung
rer wirklich sterben lassen, nur weil er für sein Schick- von individueller Verantwortung untergraben, dann
sal selbst verantwortlich ist? Anstatt auf gleiche Ver- würde dies bedeuten, dass der Luck Egalitarianism
teilungen zu zielen, solle sich der Egalitarismus stär- einfacheren Varianten des (Ergebnis-)Egalitarismus
ker mit sozialen Beziehungen auseinandersetzen (was stärker ähnelt und somit alle Formen von Ungleich-
wäre das für eine Gesellschaft, in der Sterbende auf heit als moralisch problematisch verurteilt. Als Ant-
der Straße zurückgelassen werden?). Weil sich ein wort auf die Argumentation Susan Hurleys argumen-
plausibler Egalitarismus lediglich über das Ideal einer tieren Luck Egalitarians, dass Überlegungen zur Neu-
Gesellschaft von Gleichen begründen lasse, solle an tralisierung von Glück zur genaueren Bestimmung
die Stelle des Luck Egalitarianism das Ideal eines de- des luck egalitarian Ideals dienen, auch wenn sie kein
mokratischen oder relationalen Egalitarismus (rela- unabhängiges Argument für den Wert der Gleichheit
tional egalitarianism) treten (Scheffler 2010). liefern (Cohen 2006; Arneson 2001).
Der bereits in der Entgegnung auf den Nivellie-
rungseinwand erwähnte Verweis auf den mora-
Antwortstrategien lischen Pluralismus kommt auch in der Antwort auf
die Einwände von Elizabeth Anderson und Marc
Verfechter des Luck Egalitarianism begegnen den Ein- Fleurbaey zum Tragen. Luck Egalitarians glauben,
wänden ihrer Kritiker auf unterschiedliche Art und dass Opfern ihrer eigenen Entscheidungen im Na-
Weise. men der Menschlichkeit geholfen werden soll, auch
Manche akzeptieren die levelling down objection wenn uns die Prinzipien eines verantwortungssensiti-
und verwandte Einwände und ersetzen in ihren Theo- ven Egalitarismus im Konfliktfall nahelegen, eher
39 Luck Egalitarianism 253

denjenigen zu helfen, die für ihre Situation nicht ergebende Geltungsumfang (scope) des Luck Egalita-
selbst verantwortlich sind (Tan 2008). Dem Einwand, rianism (Tan 2012)?
dass die Prinzipien des Luck Egalitarianism sich nicht Viertens stellt sich die Frage, wie sich die Theorie
als Maßstab und Anleitung für die Einrichtung und eines verantwortungssensitiven Egalitarismus auf kol-
Umgestaltung politischer Institutionen eignen, kön- lektive Phänomene anwenden lässt. In den Standard-
nen Luck Egalitarians unter anderem dadurch begeg- formulierungen des Luck Egalitarianism wird von In-
nen, dass sie den Status ihrer Prinzipien genauer klä- dividuen als Trägern von Verantwortung ausgegan-
ren und den Unterschied zwischen abstrakten Prinzi- gen. Was aber, wenn beispielsweise die Handlungen
pien und den daraus abzuleitenden Politikempfeh- und Entscheidungen von Gruppen Einfluss auf das
lungen herausstellen: Bei den Prinzipien des Luck Wohlergehen ihrer Mitglieder haben (Lippert-Ras-
Egalitarianism handelt es sich um erste Prinzipien der mussen 2011)?
Gerechtigkeit und nicht um Prinzipien sozialer Regu- Und fünftens gibt es das Projekt, verantwortungs-
lierung (Cohen 2003; 2008). egalitaristische Positionen, Lösungsansätze und Ant-
worten auf Fragen in verschiedenen Politikbereichen
zu formulieren. Wie sähe beispielsweise eine luck ega-
Gegenwärtige Fragen litarian Gesundheitspolitik plausiblerweise aus und
was sind die Empfehlungen einer luck egalitarian Ge-
Die Gerechtigkeitstheorie des Luck Egalitarianism rechtigkeitstheorie, wenn es um die Verteilung knap-
wirft weiterhin zentrale Fragen in der politischen Phi- per Gesundheitsgüter geht (Segall 2009)?
losophie auf. Die folgenden fünf Beispiele, die sich
teils auf fundamentale Begründungsfragen, teils auf Literatur
Herausforderungen der Anwendung beziehen, illus- Anderson, Elizabeth: What is the point of equality? In: Ethics
trieren Entwicklungen in der gegenwärtigen Debatte. 109/2 (1999), 287–337.
Arneson, Richard J.: Equality and equal opportunity for wel-
An ihnen muss sich der Luck Egalitarianism bewäh- fare. In: Philosophical Studies 56/1 (1989), 77–93.
ren und seine Überzeugungskraft entfalten. –: Luck egalitarianism and prioritarianism. In: Ethics 110/2
Erstens findet eine Auseinandersetzung darüber (2000), 339–349.
statt, wie genau zentrale Begriffe wie etwa Verdienst –: Luck and equality. In: Aristotelian Society Supplementary
und Verantwortung (Temkin 2011; Knight/Stem- Volume 75 (2001), 51–72.
–: Desert and equality. In: Nils Holtug/Kasper Lippert-Ras-
plowska 2011) oder Fairness und Chancengleichheit
mussen (Hg.): Egalitarianism. New Essays on the Nature
(Fleurbaey 2012) zu verstehen sind und wie sie mit der and Value of Equality. Oxford 2007, 262–293.
Position des verantwortungssensitiven Egalitarismus Carter, Ian: Respect and the basis of equality. In: Ethics 121/3
zusammenhängen. (2011), 538–571.
Zweitens gibt es – nachdem Fragen der Metrik der Christiano, Thomas: A Foundation for Egalitarianism. In:
Gleichheit in der Vergangenheit eine zentrale Rolle Nils Holtug/Kasper Lippert-Rasmussen (Hg.): Egalitaria-
nism. New Essays on the Nature and Value of Equality. Ox-
gespielt haben – derzeit eine stärkere Auseinanderset-
ford 2007, 41–82.
zung mit Begründungsfragen: Warum eigentlich Cohen, Gerald A.: On the currency of egalitarian justice. In:
Gleichheit? Lässt sich ein systematisches Argument Ethics 99/4 (1989), 906–944.
für die Prinzipien des Luck Egalitarianism formulie- –: Facts and principles. In: Philosophy and Public Affairs 31/3
ren oder läuft am Ende alles auf eine Gleichheits- oder (2003), 211–245.
Fairness-Intuition hinaus (Christiano 2007)? Und –: Luck and equality: A reply to Hurley. In: Philosophy and
Phenomenological Research 72/2 (2006), 439–446.
sind die Prinzipien eines verantwortungssensitiven –: Rescuing Justice and Equality. Cambridge MA 2008.
Egalitarismus mit der Idee der fundamentalen Gleich- Dworkin, Ronald M.: What is equality? Part 1: Equality of
heit von Menschen vereinbar (Carter 2011)? welfare. In: Philosophy & Public Affairs 10/3 (1981a), 185–
Drittens stellt sich im Zusammenhang mit Proble- 246.
men globaler Gerechtigkeit die Frage, ob der Luck –: What is equality? Part 2: Equality of resources. In: Philoso-
phy & Public Affairs 10/4 (1981b), 283–345.
Egalitarianism das Potential zu einer überzeugenden
–: Sovereign Virtue: The Theory and Practice of Equality.
Theorie globaler Gerechtigkeit hat. Finden die Prinzi- Cambridge MA 2002.
pien des Luck Egalitarianism lediglich auf Personen –/Burley, Justine: Dworkin and His Critics: With Replies by
Anwendung, die einen bestimmten institutionellen Dworkin. Malden MA 2004.
Kontext miteinander teilen? Wenn ja, wie ist dieser Fleurbaey, Marc: Equal opportunity or equal social outco-
Kontext zu bestimmen? Und was ist der sich hieraus me? In: Economics and Philosophy 11/1 (1995), 25–55.
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40 Menschenwürde Er meint, dass ich den anderen (und mich selbst) ge-
nau dann in seiner Würde achte, wenn ich ihn »jeder-
Nach Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes ist die zeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel« (AA
Würde des Menschen unantastbar und ihr Schutz die IV, 429) behandle. Die Pflicht, den anderen in seiner
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Viele sehen die Würde zu achten, sowie der Anspruch, den eine ande-
Würde des Menschen auch als die Grundlage der ver- re Person mir als einem Wesen mit Würde gegenüber
fassungsmäßig garantierten Grundrechte wie auch geltend machen kann, werden so von Kant über das
der Menschenrechte. Die Präambel der Allgemeinen ›Instrumentalisierungsverbot‹ bestimmt. Dieses un-
Erklärung der Menschenrechte bezeichnet die »An- tersagt uns, Personen (uns selbst wie auch andere)
erkennung der angeborenen Würde [...] aller Mitglie- ›bloß‹ als Mittel zu benutzen.
der der Gemeinschaft der Menschen [als] die Grund- Bloß als Mittel behandle ich den anderen, wie Kant
lage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der in seinen Erläuterungen zum falschen Versprechen
Welt«. Was unter der Würde, von der in Verfassungs- ausführt (vgl. ebd.), wenn ich ihn in einer Weise be-
kontexten die Rede ist, zu verstehen ist, ist umstritten. handle, der er ›unmöglich‹ zustimmen kann. Gemeint
Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, was sie ist hier eine Unmöglichkeit in einem normativen Sinn.
bedeutet und ob sie überhaupt etwas bedeutet. Unklar Man kann sagen, die andere Person könne einer be-
ist auch, was es heißen könnte, dass die Würde Grund- stimmten Behandlung unmöglich zustimmen, wenn
lage der Grund- und Menschenrechte sowie allgemein sie dazu keinen Grund hat und sie sich nicht rational
von Freiheit und Gerechtigkeit ist, bzw. in welcher Be- verhalten würde, wenn sie zustimmen würde. So ließe
ziehung sie zu Gerechtigkeit steht. sich im Blick auf die von Kant erwähnten Angriffe auf
die Freiheit und das Eigentum von Personen sagen,
dass die jeweiligen Opfer keinen Grund haben, in die
Kant und das Instrumentalisierungsverbot Weise, wie sie behandelt werden, einzuwilligen. Die an-
dere Person in ihrer Würde zu achten, heißt nach Kant
Was ist unter der Würde des Menschen zu verstehen? dementsprechend, sie in einer Weise zu behandeln, die
Eine wichtige Rolle für die Bestimmung der Bedeu- ihr die Möglichkeit gibt, zu dem, was man mit ihr tut,
tung des Würdebegriffs spielen Immanuel Kants Aus- zustimmend oder ablehnend Stellung zu nehmen. In
führungen zur Würde des Menschen. Dass Menschen Orientierung an der normativen Unmöglichkeit könn-
Würde haben, heißt für Kant zunächst negativ: Men- te man alternativ sagen: Eine andere Person in ihrer
schen haben keinen Preis. Unter ›Preis‹ versteht Kant Würde zu achten, bedeutet, sie in einer Weise zu behan-
nicht bloß den Marktpreis, den wir für Güter und deln, der sie vernünftigerweise zustimmen kann.
Leistungen bezahlen, sondern auch den Wert von
Dingen, die wir nicht gegen Geld tauschen, die wir
aber mit dem Wert anderer Dinge vergleichen. Solche Grundrechte und moralischer Status
Dinge haben keinen Marktpreis, aber, wie Kant sagt,
einen ›Affektionspreis‹. Sie haben einen Wert für uns, In der neueren philosophischen Diskussion findet
ohne dass wir sie kaufen oder verkaufen würden. We- man Vorschläge, Würde über verfassungsmäßig ga-
sen, die Würde haben, besitzen einen absoluten Wert. rantierte Grundrechte zu verstehen, andere wiederum
Das unterscheidet sie von Dingen, die einen Markt- verweisen auf charakteristische Eigenschaften von
oder Affektionspreis haben. Was keinen absoluten Menschen. Nach einem anderen Verständnis meint
Wert hat, »an dessen Stelle kann auch etwas anderes, die Menschenwürde den moralischen Status von
als Äquivalent, gesetzt werden, was dagegen über allen Menschen, dass Menschen Träger von Rechten sind
Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, oder einfach moralische Berücksichtigung verdienen.
das hat eine Würde« (AA IV, 429). Verschiedene Autoren verbinden die Würde von
Die Achtung, die wir anderen Personen schulden, Menschen mit deren Selbstachtung. Betrachten wir
ist nach Kant die Achtung ihrer Würde (AA VI, 462). diese Vorschläge einzeln für sich.
40 Menschenwürde 257

Nach Ansicht von Dieter Birnbacher lässt sich der Die Verbindung von spezifischen Rechten und
Begriff der Würde über bestimmte Grundrechte ex- Würde, die Birnbachers Vorschlag zugrunde liegt,
plizieren. Die Grundrechte, die er dabei im Blick hat, wird von verschiedenen Autoren in Frage gestellt. Zu
werden nach Birnbacher nicht durch die Würde be- nennen sind etwa die Autorinnen und Autoren, die ei-
gründet. Vielmehr meint er, dass die Würde des Men- ne Statustheorie der Menschenwürde vertreten. Nach
schen »mit einem Ensemble bestimmter grundlegen- Ansicht dieser Autorinnen und Autoren wird mit der
der Rechte gleichgesetzt werden kann« (Birnbacher inhärenten Würde Menschen ein ›moralischer‹ Status
1995, 5). Es sind genau vier Grundrechte, die mit dem zugewiesen. ›Menschen haben Würde‹ meint demge-
Würdebegriff gemeint sind: a) das Grundrecht auf ein mäß: Menschen verdienen moralische Rücksichtnah-
Existenzminimum, b) das Recht auf Freiheit von gro- me. Unterschiedliche Versionen einer solchen Status-
ßen und andauernden Schmerzen, c) das Recht auf theorie finden wir sowohl bei englisch- wie auch bei
minimale Freiheit und d) das Recht auf eine minimale deutschsprachigen Autoren.
Selbstachtung. Mit dem Anspruch der Menschenwür- Für Joel Feinberg hat die Würde des Menschen mit
de wird in dieser Konzeption nicht ein Gut oder ein seinem Status als Rechtssubjekt, d. h. als Träger von
Wert geschützt. Es geht vielmehr um den Schutz eines Rechten, zu tun. Würde ist nach Feinberg kein Ensem-
Ensembles von Rechten, die unter dem Titel der Wür- ble von Rechten und auch kein einzelnes Recht, son-
de zugleich als grundlegende Rechte ausgezeichnet dern die Eigenschaft eines Menschen, Rechte zu ha-
werden. Nach Birnbacher besitzen diese grundlegen- ben und anderen gegenüber geltend machen zu kön-
den Rechte anderen Rechten gegenüber Vorrang. Sie nen. Einen Menschen in seiner Würde zu achten,
entziehen sich einem politischen Kosten-Nutzen-Kal- heißt nach Feinberg, ihn als jemanden zu sehen, der
kül wie auch einer Abwägung mit anderen Gütern und Ansprüche geltend machen kann (»to think of him as
Rechten. Das Minimum an Grundgütern, auf das der possessed of human dignity, simply is to think of him
Begriff der Menschenwürde verweist, verstattet in An- as a potential maker of claims«; Feinberg 1970, 252).
knüpfung an Kant auch nach Birnbacher kein Äqui- Dabei geht es Feinberg nicht bloß darum, dass man
valent, wenn man, wie er einschränkend hinzufügt, den anderen als ein Wesen sieht, das diese Fähigkeit
von Katastrophensituationen absieht, in denen auch besitzt, sondern dass man ihn als ein Wesen sieht, das
dieses Minimum zur Disposition gestellt werden darf berechtigt ist, Ansprüche zu erheben. Natürlich setzt
(vgl. ebd., 8). die Berechtigung, Ansprüche geltend zu machen, die
In dieser Interpretation erhält der Begriff der Men- Fähigkeit voraus, dies faktisch auch tun zu können.
schenwürde einen eigenständigen Gehalt, der die An- Feinberg versteht dieses ›Können‹ aber in einem nor-
sprüche benennt, die mit der inhärenten Würde ge- mativen Sinn: Menschen können das nicht bloß fak-
meint sind und deren Schutz auch verfassungsrecht- tisch tun, sondern sind dazu auch berechtigt. Die Ach-
lich garantiert wird. Die vier Grundrechte, mit denen tung der Würde von Menschen wird damit von der
Birnbacher das Prinzip der Würde gleichsetzt, sind Achtung ihrer Rechte unterschieden. Achtung der
Anspruchs- und Abwehrrechte zugleich. Einen Men- Würde bezieht sich auf den Rechtsstatus der anderen
schen in seiner Würde zu achten, heißt danach: ›Füge Person.
ihm keine großen Schmerzen zu‹, ›nimm ihm nicht In einer ähnlichen Weise wie Feinberg versteht Ste-
seine Freiheit‹, gleichzeitig aber auch: ›Sorge dafür, phen Darwall die Würde von Personen. ›Personen ha-
dass er über Güter verfügt, die ihm ein Leben sichern, ben Würde‹ heißt nach Darwall: Sie haben die Auto-
in dem er sich achten kann‹. rität, von anderen bestimmte Dinge zu fordern (Dar-
Wenn eines dieser Grundrechte verletzt wird, wird wall 2006, 14). Die Achtung vor der Würde ist die Ach-
kein Anspruch verletzt, der diesen Rechten zugrunde tung dieser Autorität, Forderungen erheben zu
liegt und aus dem sich diese Grundrechte herleiten können. Achtung schulden wir auch den gültigen An-
lassen. Es ist auch nicht so, dass Würde etwas bezeich- sprüchen von Personen. Achtung vor Personen lässt
nen würde, worin die besagten Grundrechte überein- sich allerdings, so Darwall, nicht auf die Achtung ihrer
stimmen würden. Es handelt sich um unterschiedli- gültigen Ansprüche reduzieren. Wir könnten die An-
che Rechte, die bloß darin übereinkommen, dass sie sprüche anderer achten, ohne sie als ›ihre‹ Ansprüche
grundlegende Rechte sind, die sich – unter normalen anzuerkennen (vgl. ebd., 140). In diesem Fall achten
Bedingungen jedenfalls – einer Güterabwägung ent- wir nicht die normative Autorität einer Person, d. h.
ziehen und deren Verletzung eine Würdeverletzung wir achten sie nicht in ihrer Würde. Es handelt sich al-
darstellt. so um einen wesentlichen Aspekt der Würde von Per-
258 IV Gerechtigkeit im Kontext

sonen, dass sie die gleiche Autorität haben, Dinge von- aber auch die Fähigkeit, sich um andere zu kümmern,
einander einzufordern (vgl. ebd., 242). Die Würde von mit ihnen zu interagieren und sich in sie einzufühlen
Personen beruht dabei, Darwall zufolge, nicht auf (dazu ausführlich ebd., 76–78). Zu den zentralen
dem intrinsischen Wesen von Personen, sondern da- menschlichen Fähigkeiten zählen für Nussbaum nicht
rauf, wie sie sich als Wesen, die wechselseitige An- bloß diejenigen Fähigkeiten, über welche ausschließ-
sprüche erheben, aufeinander beziehen. Würde zu- lich Menschen verfügen. Als zentrale menschliche Fä-
zuschreiben, ist etwas, wozu wir innerhalb dessen, was higkeiten betrachtet Nussbaum diejenigen Fähigkei-
Darwall den »zweitpersonalen Standpunkt« nennt, ten, die für alle Menschen wichtig sind (vgl. ebd., 78).
verpflichtet sind (ebd., 245). Wenn ich gegenüber je- Im Unterschied zu Kants Würdekonzeption spielt in
mandem eine Forderung erhebe, setze ich immer dieser anthropologischen Theorie der Würde nicht
schon eine geteilte Autorität voraus. Und Würde er- bloß die Fähigkeit zur rationalen Selbstbestimmung
schließt sich nicht aus einer erstpersonalen Perspekti- eine Rolle, sondern vielmehr alle typischen mensch-
ve. Würde ist vielmehr etwas, das wir nach Darwall lichen Fähigkeiten. Nussbaum betont, dass die Zu-
anderen Personen dadurch, dass wir uns mit zweitper- schreibung von Würde von keiner einzelnen mensch-
sonalen Gründen an sie richten und ihnen gegenüber lichen Fähigkeiten abhängt (vgl. Nussbaum 2008,
Forderungen erheben, zuschreiben. Darwall ist der 362). Die Fähigkeit zur rationalen Selbstbestimmung
Überzeugung, dass selbst ein Sklavenhalter, wenn er ist genauso wenig maßgebend für die Würdezuschrei-
Forderungen an seinen Sklaven richtet, voraussetzt, bung wie irgendeine andere menschliche Fähigkeit.
dass sie beide einen gemeinsamen normativen Status Würde kommt nach Nussbaum allen menschlichen
freier und rationaler Personen besitzen (vgl. ebd., Wesen zu, die irgendeine der typischen menschlichen
265). Wer Forderungen erhebt, unterstellt, dass ande- Fähigkeiten besitzen.
re das ihm gegenüber auch tun dürfen. Das meint Mit der Würde geht der Anspruch einher, in der La-
Darwall mit der Aussage, dass die Würde von Per- ge zu sein, die zentralen menschlichen Fähigkeiten
sonen aus einer irreduzibel zweitpersonalen Perspek- auszuüben. Es muss sichergestellt werden, dass die Fä-
tive hervorgeht. higkeiten ausgeübt werden können, nicht dass sie
auch ausgeübt werden. So muss der Staat z. B. dafür
sorgen, so Nussbaum, dass Menschen das Recht ha-
Menschliche Grundfähigkeiten ben zu wählen, und nicht, dass sie dieses Recht auch
wahrnehmen (vgl. ebd., 368). Die Verhinderung und
Seit der Stoa wird die Würde mit essenziellen Eigen- Beeinträchtigung der Ausübung von Fähigkeiten sind
schaften von Menschen in Verbindung gebracht. Au- nach dieser Würdekonzeption Verletzungen der Wür-
torinnen wie Martha Nussbaum meinen, Würde beru- de des Menschen.
he auf typisch menschlichen Eigenschaften (s. Kap.
IV.43). Sie bezeichnet diesen Vorschlag als eine ›aris-
totelische Theorie‹ der Würde (vgl. Nussbaum 2006, Würde und Autonomie
161). Nach dieser Konzeption kommt Menschen
Würde aufgrund ihres Menschseins zu. Damit ist Anders als Martha Nussbaum sehen Vertreterinnen
nicht gemeint, dass sie Würde haben, weil sie Mitglied einer stärker an Kant orientierten Würdekonzeption
der Spezies Mensch sind. Sie haben vielmehr Würde ›Autonomie‹ als die würdeverleihende Eigenschaft an.
aufgrund typisch menschlicher Eigenschaften. Nuss- Bei einigen Autorinnen steht in diesem Zusammen-
baum spricht davon, dass man ein Leben in Würde hang die Fähigkeit im Vordergrund, das eigene Ver-
führt, wenn man ein Leben zu führen in der Lage ist, halten im Lichte von Gründen zu bestimmen (vgl.
das Menschen eben typischerweise führen. Nussbaum Herman 1993, 228). Menschen haben Würde, weil sie
meint damit ein Leben, in dem zentrale menschliche diese Fähigkeit haben. Und sie in ihrer Würde zu ach-
Fähigkeiten ausgeübt werden können (vgl. ebd., 161). ten, heißt nach diesem Vorschlag, sie nach ihren eige-
Zu diesen zentralen menschlichen Fähigkeiten gehö- nen Gründen handeln zu lassen. Das tut man bei-
ren unter anderem die Fähigkeit, die Vorstellung und spielsweise dann nicht, wenn man sie täuscht, mani-
das Denken zu religiösen, literarischen, musika- puliert oder sie zu Dingen verführt, die sie von sich
lischen und anderen kulturellen Zwecken zu benut- aus nicht tun wollen.
zen; die Fähigkeit, sich Dingen und Menschen ver- Eine vergleichbar normative Autonomiekonzepti-
bunden zu fühlen, sie zu lieben und sie zu betrauern, on der Würde schlägt auch die Bioethikerin Ruth
40 Menschenwürde 259

Macklin vor. Wenn der Begriff der Würde auf eine ver- zen diejenigen Güter, welche für die Ausübung dieser
ständliche Weise verwendet werde, sei damit nichts für uns so wertvollen Fähigkeiten erforderlich sind.
anderes als die Achtung vor der Autonomie von Per-
sonen gemeint (vgl. Macklin 2003, 1420). Wenn mit
Würde allerdings der Anspruch darauf gemeint ist, in Würde und Selbstachtung
seiner Autonomie oder Willensfreiheit nicht beein-
trächtigt zu werden, stellt sich die Frage, ob man die Eine Theorie der Gerechtigkeit befasst sich nach John
Würde verletzt, wenn man den anderen in der Aus- Rawls mit der Verteilung von Gütern, die für jedes Le-
übung seiner Autonomie oder seiner Willensfreiheit ben von zentraler Bedeutung sind. Eines der wichtigs-
beeinträchtigt, oder bloß dann, wenn man ihn seiner ten Grundgüter ist seiner Ansicht nach Selbstachtung
Autonomie oder Willensfreiheit gänzlich beraubt. (vgl. Rawls 1979, 479). Die Menschen würden sich im
Verletze ich den anderen in seiner Würde bloß dann, Urzustand deshalb für soziale Verhältnisse entschei-
wenn ich dafür sorge, dass er nicht mehr frei oder au- den, welche es ihnen ermöglichen würden, sich selbst
tonom handeln kann? Oder ist jede Beeinträchtigung zu achten. Zur Selbstachtung gehört nach Rawls zum
der Autonomie oder der Willensfreiheit des anderen einen ein Selbstwertgefühl und zum andern »ein Ver-
eine Würdeverletzung? Wenn wir Letzteres sagen, trauen in die eigene Fähigkeit, seine Absichten, soweit
verwenden wir den Begriff der Würde in einem weiten es einem eben möglich ist, auszuführen« (ebd., 479).
Sinn. Verstehen wir den Begriff der Würde hingegen Selbstachtung ist ein Grundgut, weil sie erforderlich
so, dass bloß dann eine Würdeverletzung vorliegt, ist, damit sich Menschen gesellschaftlich engagieren.
wenn jemand seiner Willensfreiheit bzw. seiner Fähig- Ohne Selbstachtung, so Rawls, versinken Menschen
keit, sich selbst zu bestimmen, beraubt wird, verwen- »in Teilnahmslosigkeit und Zynismus« (ebd., 479).
den wir den Begriff in einem engen Sinn. Für eine Theorie der Gerechtigkeit als Fairness spielt
Selbstachtung deshalb eine wichtigere Rolle als für
andere Theorien der Gerechtigkeit. Eine Gesellschaft,
Würde und Handlungsfähigkeit welche die von Rawls vorgeschlagenen Gerechtig-
keitsprinzipien anerkennt, sorgt auch dafür, dass
Nach Alan Gewirth besteht ein Zusammenhang zwi- Menschen sich selber achten können (vgl. dazu Mieth
schen der Würde von Menschen und ihrer Fähigkeit, 2009, 146).
für sie wertvolle Ziele zu verfolgen. Menschen haben Wenn, wie verschiedene Autoren meinen, Würde
die Fähigkeiten, das eigene Verhalten zu kontrollieren bloß über den Begriff der Selbstachtung verstanden
und für die eigenen Zwecke die geeigneten Mittel zu werden kann, dann kann eine Gesellschaft nur gerecht
bestimmen (vgl. Gewirth 1996, 66). Diese Fähigkeiten sein, wenn sie den einzelnen ein Leben in Würde er-
sind erforderlich, um einem Wesen Rechte sinnvoll möglicht. Die Idee, dass zwischen Selbstachtung und
zuschreiben zu können. Und da wir den Zwecken un- Würde ein enger Zusammenhang besteht, geht auf
seres Handelns einen Wert zuschreiben, müssen wir, Avishai Margalit zurück. In seinem Buch Politik der
so Gewirth, auch den Fähigkeiten, die es uns ermögli- Würde (engl. The Decent Society, 1996) untersucht er
chen, wertvolle Zwecke zu verfolgen, einen Wert zu- das Verhältnis von Demütigung und Würde. Demüti-
schreiben. Es sind nämlich, wie Gewirth argumen- gung stellt, so Margalit, einen Angriff auf die Selbst-
tiert, diese Fähigkeiten, die dem menschlichen Leben achtung der gedemütigten Person dar. Dem anderen
einen Wert verleihen, und sie sind deshalb auch der soll deutlich gemacht werden, dass er nicht zählt.
Grund, Menschen als Wesen mit Rechten zu sehen. Der zentrale Begriff dieses Verständnisses von
Die moralischen Rechte von Menschen ergeben sich Menschenwürde ist derjenige der Selbstachtung. Was
aus dem Wert des Rechtsträgers. Dieser Wert des unter Würde verstanden wird, hängt davon ab, was
Rechtsträgers ist das, was Gewirth mit dem Begriff man unter Selbstachtung versteht. Selbstachtung kann
Würde im Blick hat. Gewirth redet davon, dass die im Sinne der Selbstwertschätzung verstanden werden:
Würde die Grundlage von Rechten sei, und auch da- Ich achte mich selbst, wenn ich mich selbst und das,
von, dass Rechte aus der Würde abgeleitet seien (vgl. was ich tue, positiv bewerte. Jemanden zu demütigen
Gewirth 1992, 24). Es scheint, als würden die Rechte heißt demnach, jemanden in seiner Selbstwertschät-
von Personen die Fähigkeiten schützen, die, wie Ge- zung zu beeinträchtigen. Man kann diese Selbstwert-
wirth meint, die Würdezuschreibung an Menschen schätzung, wie Christoph Menke und Arnd Pollmann
rechtfertigen würden. Die moralischen Rechte schüt- das tun, als ein Resultat sozialer Anerkennung verste-
260 IV Gerechtigkeit im Kontext

hen (vgl. Menke/Pollmann 2007, 141). Ein »Gefühl meinschaft hat nach dieser Auffassung die Pflicht, die
der Selbstsicherheit« wird in mir erzeugt, wenn ich Menschenrechte zu garantieren. Der Schutz dieser
weiß, dass ich von den anderen »als gleichwertiges Rechte ist zugleich auch der Schutz der Würde jedes
Mitglied der moralischen Gemeinschaft respektiert« Menschen, sofern man die Würde als Grundlage der
(ebd.) werde. Die positive Selbstbewertung kann auch Menschenrechte versteht.
anderen gegenüber durch eine würdevolle Haltung Alle Autorinnen, die der Würde einen eigenen
zum Ausdruck gebracht werden. Menschen, die sich Stellenwert zuschreiben, kommen darin überein,
selbst achten, verhalten sich in einer Weise, die ande- dass Gerechtigkeit den Schutz der Rechte fordert, die
ren deutlich macht, dass sie Respekt verdienen. den Schutz der Würde garantieren. Um welche Rech-
Margalit versteht die Selbstachtung, die durch De- te es sich dabei handelt, variiert jedoch, und es ist un-
mütigung gefährdet wird, als eine Wertschätzung sei- klar, ob sämtliche Menschenrechte die Würde als
ner selbst, die sich nicht auf eigene Taten, sondern auf Grundlage besitzen. Mit Gewirth könnte man sagen,
das eigene Menschsein bezieht (vgl. Margalit 1996, 24). dass diejenigen Rechte Menschenrechte sind, welche
Er meint darüber hinaus, dass man Selbstwertschät- die Fähigkeiten schützen, die es uns ermöglichen,
zung und Selbstachtung unterscheiden sollte (vgl. ebd., unsere Ziele zu verfolgen. Und wenn man James
44). Selbstachtung soll nach Margalit kein psychischer Griffin folgt, könnte man sagen, dass diejenigen
Zustand sein. Er begreift sie als etwas, das unabhängig Rechte garantiert sein müssen, welche unsere Fähig-
von der Bewertung konkreter Kompetenzen und Taten keiten schützen, ein Leben nach unseren Vorstellun-
besteht. Es handelt sich um einen intrinsischen Wert, gen des Guten zu führen. Gemäß einer anthropologi-
den wir uns als Menschen zuschreiben. Das tun wir schen Theorie der Würde, wie sie Nussbaum vertritt,
nach Margalit aber nicht unabhängig davon, welche sollte der gerechte Staat dafür sorgen, dass Menschen
Einstellungen andere uns gegenüber einnehmen. Men- in der Lage sind, grundlegende Fähigkeiten aus-
schen, die Opfer von Erniedrigungen und Demütigun- zuüben. Das würde es ihnen ermöglichen, ein Leben
gen werden, fühlen sich in ihrem Selbstwert in der Re- in Würde zu führen. Hier ist Würde eng verbunden
gel beeinträchtigt. Die Frage stellt sich, ob sie das auch mit einer bestimmten Lebensform, die es zu ermög-
tun sollten. Margalit bezeichnet das als das »Paradox lichen und zu schützen gilt. Wenn Würde zu haben
der Entwürdigung« (ebd., 115–129). Wie soll das Un- bedeutet, ein Selbstverfügungsrecht zu besitzen,
recht, das Demütigung darstellt, ein Grund sein, sich in dann gibt es ›Gründe‹, den Menschen die ›Rechte‹
seiner Selbstachtung tangiert zu fühlen? Rational be- zuzusprechen, welche die Bedingungen schützen, die
trachtet sollten Demütigungen sich nicht auf unser erfüllt sein müssen, soll das Selbstverfügungsrecht
Selbstverhältnis auswirken. Für Margalit ist es aller- wirklich ausgeübt werden können; nämlich Rechte,
dings ein psychologisches Faktum, dass sich die meis- welche akzeptable Optionen von Menschen schüt-
ten von uns entwürdigt fühlen, wenn sie gedemütigt zen. Das sind Rechte wie das Recht, nicht erniedrigt
werden. Unsere Einstellung uns selbst gegenüber ist oder Opfer inhumaner Behandlung zu werden; aber
faktisch nicht unabhängig von den Einstellungen, die – und das ist im Zusammenhang der Verteilungs-
andere uns gegenüber einnehmen (vgl. ebd., 127). gerechtigkeit (s. Kap. II.12) von zentraler Bedeutung
– auch das Recht, kein Leben in absoluter Armut füh-
ren zu müssen, mithin das Recht auf ein Existenz-
Würde und eine gerechte staatliche minimum.
Ordnung

Eine enge Verbindung zwischen Würde und Gerech- Verteilungsgerechtigkeit und Armut
tigkeit ist in der Präambel der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte ausgedrückt. Dort lesen wir, dass Die Güter einer Gesellschaft können nur dann gerecht
die Anerkennung der Würde des Menschen auch die verteilt sein, wenn alle in der Lage sind, ein Leben in
Grundlage von Gerechtigkeit sei: Würde ist Grund- Würde führen zu können. Nach Rawls müssen sie fä-
lage der Rechte, welche Menschen zukommen. Und hig sein, sich selbst zu achten. Um gerecht zu sein, be-
sie ist als solche auch Grundlage einer gerechten staat- darf es nach Gewirth sozialer Rechte, welche Men-
lichen Ordnung, sofern man darunter eine staatliche schen den Zugang zu Gütern sichern, ohne die sie
Gemeinschaft versteht, in der die Menschenrechte an- nicht nach wertvollen Zielen streben und deshalb auch
erkannt und geschützt werden. Jede staatliche Ge- kein Leben in Würde führen könnten. Für Nussbaum
40 Menschenwürde 261

sorgt ein gerechter Staat dafür, dass Menschen grund- in relativer Armut Zugang zu den Grundgütern, die in
legende Fähigkeiten auszuüben in der Lage sind. jeder Gesellschaft erforderlich sind, um ein minimal
Es ist unklar, ob diese Vorschläge hinreichende Kri- gutes Leben zu führen. Ungeachtet dessen leben Men-
terien für eine gerechte Ordnung formulieren. Man schen unter Bedingungen relativer Armut dieser Auf-
kann sagen, dass der Umstand, dass alle ein Leben in fassung gemäß in der Regel am Rande der Gesell-
Würde führen können, nicht bedeutet, dass die Güter schaft. Sie werden als Bürgerinnen und Bürger zweiter
gerecht verteilt sind. Für Margalit ist eine Gesellschaft, Klasse behandelt, was sich mit Selbstachtung und
in der alle in Würde leben können, eine anständige, Würde der Personen nicht verträgt (vgl. ebd., 168).
aber nicht notwendigerweise eine gerechte Gesell- Dabei besteht nach Auffassung der Autoren kein be-
schaft (vgl. Margalit 1996, 272). Dass alle in Würde le- grifflicher Zusammenhang zwischen relativer Armut
ben können, ist eine notwendige Bedingung von Ge- und Würdeverletzung. Menschen, die in relativer Ar-
rechtigkeit. Man kann sagen, dass in einer gerechten mut leben, könnten auch als gleichwertige Bürgerin-
Gesellschaft Menschen ein Leben in Würde führen nen und Bürger behandelt werden. Das ist in der Regel
können, dass allerdings zusätzlich die Grundgüter aber nicht der Fall. Deshalb können wir nur dann si-
nach Maßgabe des Rawlsschen Differenzprinzips cherstellen, dass Menschen ein Leben in Würde zu
(s. Kap. II.25) verteilt werden sollen. In einer Gesell- führen in der Lage sind, wenn wir dafür sorgen, dass
schaft, in der die Güter gerecht verteilt sind, ist jedes nicht nur niemand in absoluter, sondern auch nie-
Mitglied der Gesellschaft fähig, in Würde zu leben. mand in relativer Armut leben muss. Nur dann kön-
Das ist relevant für die Frage, welche Formen der Ar- nen in einer Gesellschaft gemäß dieser Auffassung die
mut eine gerechte Gesellschaft tolerieren könnte. Güter auch gerecht verteilt sein.
Für die einen schließt ein menschenwürdiges Le-
ben ein Leben in absoluter Armut, für andere ein Le- Literatur
ben auch in relativer Armut aus. Diese beiden For- Birnbacher, Dieter: Mehrdeutigkeiten im Begriff der Men-
men der Armut werden in der Diskussion um Armut schenwürde. In: Aufklärung und Kritik 2/1 (1995), 4–13.
Darwall, Stephen L.: The Second-Person Standpoint. Morali-
üblicherweise unterschieden. Fraglich ist, ob beide ty, Respect, and Accountability. Cambridge 2006.
nicht mit einem Leben in Würde verträglich sind. In Feinberg, Joel: The nature and value of rights. In: Journal of
absoluter Armut lebt jemand nach der Standardde- Value Inquiry 4/4 (1970), 243–257.
finition der Weltbank, wenn ihm weniger als 1,25 Gewirth, Alan: Human dignity as the basis of rights. In: Mi-
Dollar pro Tag zur Verfügung stehen. Gehaltvoller chael A. Meyer/William A. Parent (Hg.): The Constitution
of Rights. Human Dignity and American Values. Cornell
aber im Blick auf die Frage, ob absolute Armut mit
UP 1992, 10–28.
einem Leben in Würde unverträglich ist, ist die von –: The Community of Rights. Chicago 1996.
Peter Singer formulierte Auffassung, wonach Per- Herman, Barbara: The Practice of Moral Judgement. Cam-
sonen dann in absoluter Armut leben, wenn sie »un- bridge 1993, 208–242.
ter schlimmen Entbehrungen und in einem Zustand Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
von Verwahrlosung und Entwürdigung ums Über- [1785]. In: Königlich Preußische Akademie der Wissen-
schaften (Hg.): Kant’s gesammelte Schriften [Akademie-
leben kämpfen« (Singer 1993, 219). Entwürdigung ist
Ausgabe], Bd. IV. Berlin 1968 [AA IV].
nach dieser Auffassung ein Merkmal eines Lebens in –: Metaphysik der Sitten [1794]. In: Königlich Preußische
absoluter Armut. Wer diese Position vertritt, wird Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant’s gesammelte
sich fragen müssen, was an einem Leben in absoluter Schriften [Akademie-Ausgabe], Bd. VI. Berlin 1968 [AA
Armut entwürdigend ist. VI].
Autoren, die sich an Margalits Auffassung von Macklin, Ruth: Dignity is a useless concept. In: British Medi-
cal Journal 327/7429 (2003), 1419–1420.
Würde orientieren, meinen, ein Leben in absoluter Margalit, Avishai: The Decent Society. Cambridge 1996.
Armut lasse keine Selbstachtung zu: »Schwere Armut Menke, Christoph/Pollmann, Arnd: Philosophie der Men-
erzeugt Bedürftigkeit, die einen von anderen abhängig schenrechte zur Einführung. Hamburg 2007.
macht. Diese Abhängigkeit ist mit der Selbstachtung Mieth, Corinna: Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit.
nicht vereinbar« (Mieth 2009, 140; vgl. auch Schaber Überlegungen zu Kant, Rawls und Margalit. In: Christian
Thies (Hg.): Der Wert der Menschenwürde. Paderborn
2011, 155–157). Für Julia Müller und Christian Neu-
2009, 133–148.
häuser gilt dies nicht bloß für ein Leben in absoluter Müller, Julia/Neuhäuser, Christian: Relative poverty. In: Pau-
Armut, sondern auch für eines in relativer Armut (vgl. lus Kaufmann/Hannes Kuch/Christian Neuhäuser/Elaine
Müller/Neuhäuser 2011). Im Unterschied zu Men- Webster (Hg.): Humiliation, Degradation, Dehumanizati-
schen, die in absoluter Armut leben, haben Menschen on. Human Dignity Violated. Dordrecht 2011, 159–172.
262 IV Gerechtigkeit im Kontext

Nussbaum, Martha C.: Frontiers of Justice. Disability, Natio- 41 Moral


nality, Species Membership. Cambridge 2006.
–: Human dignity and political entitlements. In: President’s Versteht man Moral als richtiges Handeln nach Re-
Council on Bioethics (Hg.): Human Dignity and Bioethics.
Essays Commissioned by the President’s Council on Bio- geln und das Gerechte im Sinne des lat. rectum, des
ethics. Washington DC 2008, 351–380. Richtigen, dann ist Moral nahezu bedeutungsgleich
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. mit Gerechtigkeit. Wenn für Moral dagegen die rich-
1979 (engl. 1971). tige Einsicht und Absicht entscheidend ist, Gerechtig-
Schaber, Peter: Instrumentalisierung und Würde. Paderborn keit (›öffentliche Gerechtigkeit‹) dagegen ein System
2010.
der richtigen oder gerechtfertigten Verteilung von
–: Absolute poverty. In: Paulus Kaufmann/Hannes Kuch/
Christian Neuhäuser/Elaine Webster (Hg.): Humiliation, Gütern ist, dann besteht eine erhebliche Differenz. Ei-
Degradation, Dehumanization. Human Dignity Violated. ne ›gerechte Weltordnung‹ ist offenbar etwas Umfas-
Dordrecht 2011, 151–158. senderes als eine Handlung aus richtiger oder pflicht-
Singer, Peter: Practical Ethics. Cambridge 1993. gemäßer Gesinnung.
Peter Schaber Ist also Moral ein Teil der Gerechtigkeit oder umge-
kehrt? Im Folgenden sollen einige der Konstellationen
beider Begriffe (und ihrer jeweiligen Inhalte) erörtert
werden.
In der modernen philosophischen Literatur wird
Moral oft von Ethik unterschieden als Verhalten nach
gebotenen Regeln (Moral) gegenüber der Theorie, Be-
gründung oder Rechtfertigung dieser Regeln (Ethik).
Das ist eine nützliche Unterscheidung, obgleich sie
weder der Wortgeschichte von lat. mores und griech.
ethos, scientia moralis und ethike episteme entspricht
noch unserem alltäglichen Sprachgebrauch. In diesem
gibt es etwa eine ›christliche Moral‹, die Handeln, Re-
geln und Lehre (Moraltheologie) umfasst. Oder man
spricht von ethischem und ›unethischem‹ Verhalten
(unethical behavior). Wenn im Folgenden von Moral
die Rede ist, werden moralische Lehren und Theorien
der Moral einbezogen – allerdings nur normative,
nicht deskriptive wie Moralpsychologie oder -soziolo-
gie. Zunächst soll die enge Verbindung zwischen Mo-
ral und Gerechtigkeit dargestellt werden, dann ist die
Differenz zu akzentuieren.

Gerechtigkeit als Kern der Moral

Das allgemeinste Kriterium für Moral ist vielleicht das,


was man den ›moralischen Standpunkt‹, den moral
point of view genannt hat (am ausführlichsten ent-
wickelt von Baier 1958). Dieser Standpunkt ist die Per-
spektive des benevolent impartial spectator (bereits bei
Hume 1751/1998, 166; Smith 1759/1976, 26, 294; vgl.
Tugendhat 1993, 282–309). Man kann das als einen
vom Menschen eingenommenen Gottesstandpunkt
betrachten (Smith 1759/1976, 130, 166), aber vielleicht
hat es ihn schon vor jedem Gottes- oder Götterglauben
gegeben, wenn Menschen in der Frühzeit gemeinsam
jagen oder Feinde abwehren mussten. Wenn man nicht
41 Moral 263

von der bloßen Befehlsgewalt eines Anführers ausgeht, rechten Gott. Dieses ›Zustehende‹, oder platonisch
mussten die von jedem geforderten Leistungen oder ›das Seine‹, kann wieder einen ganz verschiedenen
Belohnungen ja einvernehmlich geregelt werden, zu- Umfang haben. Im allgemeinsten Sinne sprechen wir
mindest durch wechselseitig akzeptierte Erwartungen. sogar von ›einer Sache gerecht werden‹. Ob das noch
Für diesen moralischen Standpunkt ist offenbar Ge- zur Moral gehört oder diese auf Personen beschränkt
rechtigkeit im Sinne der Unparteilichkeit notwendig. ist, steht in der modernen Ethik zur Diskussion.
Dass Gerechtigkeit es mit einer Gleichheit in der Be- Bisher ist ein zentraler Begriff des Moralischen oder
rücksichtigung von Ansprüchen, Leistungen, Bedürf- der Moral nur nebenher in den Blick gekommen: der
nissen etc. zu tun hat, ›wissen‹ nicht nur Kinder, son- des Guten. In der ›Benevolenz‹ muss so etwas mit-
dern es geht auch in die frühesten philosophischen Ge- gedacht werden, nicht nur wegen des Bestandteils bo-
rechtigkeitskonzeptionen ein – etwa in die isotes-Lehre num in benevolentia. Der Wohlwollende muss dem Be-
des Aristoteles (vgl. NE 1129a, 34: »demgemäß wird troffenen etwas für ihn Gutes wünschen. Der gerechte
gerecht sein, wer die Gesetze beobachtet und sich an Gott ist traditionell ebenfalls durch Güte gekennzeich-
die Gleichheit (to ison) hält«). Aber auch in den neues- net – auch wenn diese seinen Geschöpfen oder ›seinem
ten ethischen Konzeptionen wie der Diskursethik oder Volk‹ (›alter‹ oder ›neuer‹ Bund) in dessen beschränk-
der Vertragsethik ist Unparteilichkeit und Gleichheit ter Perspektive als grausam oder hart erscheinen mag.
in verschiedenen Formen vorausgesetzt: Teilnehmer Der Begriff des Guten hat allerdings ebenfalls einen
an einem Diskurs über die Rechtfertigung von Nor- großen und differenzierten Bedeutungsumfang (vgl.
men dürfen nicht von vornherein bevorzugt sein, es Wright 1970; Stemmer 1997, 65–92). Auch er steht zur
muss eine grundsätzliche Gleichberechtigung ihrer Moral und zur Gerechtigkeit in unterschiedlichen Ver-
Ansprüche herrschen. Verträge, die als Grundlage ei- hältnissen, je nach Begriffsverständnis oder mora-
nes wechselseitigen Verzichts auf Schädigung dienen lischer Position. Ein moralisch handelnder oder sich
sollen, müssen ebenfalls von einer elementaren Gleich- moralisch richtig verhaltender Mensch ist jedenfalls
heit der Ansprüche und Unparteilichkeit des Richters auch ein ›guter Mensch‹. In der Tradition der hebräi-
in Bezug auf ihre Erfüllung ausgehen. Am meisten schen Bibel (s. Kap. I.6) und der aristotelischen Ethik
Schwierigkeiten hat der Utilitarismus mit der Gerech- fällt er aber auch mit ›dem Gerechten‹ zusammen: In
tigkeit, weil eine Steigerung des Gesamtnutzens auch der ersteren ist er derjenige, der den Willen des gerech-
durch Ungleichverteilung von Grundrechten – oder ten Gottes erfüllt, in der letzteren der edle Charakter,
ihrer Erfüllung – erreicht werden kann (s. u.). der alle Tugenden im sozialen Umgang zu aktivieren
Der Zusammenhang dieses Verständnisses der weiß (vgl. NE 1125b, 25–30).
Moral mit dem des Richtigen (rectum), des Einhaltens
von Verpflichtungen und der Anerkennung von An-
sprüchen liegt auf der Hand. Steigt man sozusagen Gerechtigkeit als Tugend
von der Höhe des nicht-interessierten, aber wohlwol-
lenden Beobachters hinab in die Mitte der miteinan- Moral kann auch als ein die Tugenden ausübendes
der Kooperierenden oder Streitenden, dann besteht Verhalten und die Lehre davon als Tugendethik ver-
das moralische Handeln eben in der Erfüllung von standen werden (s. auch Kap. III.29). Es kann dabei of-
Pflichten gegenüber den gleichen Rechten eines jeden. fen bleiben, ob die Tugendethik auf einer Ebene mit
Natürlich gibt es auch Pflichten gegenüber einem der Pflichten- und Folgenethik steht, wie das in vielen
›Nicht-Teilnehmer‹ wie dem göttlichen oder fürst- metaethischen Einteilungen behauptet wird. (Kritisch
lichen Urheber von Normen. Wenn Gerechtigkeit gegenüber der modernen Tugendethik – aber nicht ge-
aber nicht nur in der Erfüllung von autoritativ gesetz- genüber den Tugenden – ist Christoph Halbig 2013.)
ten Normen besteht, also sozusagen ›positivistisch‹ Tugenden haben es nach Aristoteles, dem die Tra-
verstanden wird, dann kommt die Frage nach dem, dition weitgehend folgt, mit einer richtigen, von der
was jemandem zusteht, wieder ins Spiel. Die Differenz Vernunft klug dosierten Proportion der Affekte in ei-
zu einem bloß gesetzestreuen legalen Handeln ist aber ner Situation und gegenüber den darin Involvierten zu
gerade das, was moralisch genannt wird. Moralische tun – einschließlich des sich Verhaltenden bzw. Han-
Pflichten betreffen also das Gerechte nicht einfach im delnden selber. Neben dem Begriff der Gerechtigkeit
Sinne formaler Unparteilichkeit, sondern im Sinne als Fähigkeit, alle besonderen Tugenden richtig ein-
dessen, was einem anderen zusteht – und sei es die zusetzen, kann Gerechtigkeit aber nach der schon pla-
Dankbarkeit oder Verehrung gegenüber einem ge- tonischen Tradition der zentralen Tugenden (›Kardi-
264 IV Gerechtigkeit im Kontext

naltugenden‹) eine besondere Haltung sein. Dann hat tigkeit im Postulat eines allgerechten und allmächti-
sie es wiederum mit der richtigen Verteilung (justitia gen Wesens, das die Natur den moralischen Ver-
distributiva, s. Kap. II.12) oder der geschuldeten Leis- diensten der Menschen angemessen gestalten kann –
tung in Interaktion und Austausch (justitia commuta- allerdings nicht in dieser raum-zeitlichen Welt (Kant
tiva, s. Kap. II.13) zu tun. Auch für die Moral als Tu- AA V, 124–132). Auch bei den modernen alltäglichen
gend bzw. Tugendlehre ist die Gerechtigkeit also zen- ›Weltverbesserern‹ spielt die menschliche oder sozia-
tral, egal, ob sie als allgemeine oder besondere Tugend le Gerechtigkeit in der Regel die entscheidende Rolle.
verstanden wird. Nach der ökologischen Wende der Moral und der
Wie bedeutsam sie für alle Tugenden ist, ist auch (Natur-)Ethik können aber auch nicht-menschliche
der Debatte über die Einheit oder Vielheit der Tu- Wesen Ansprüche und Güter haben, die bei einer
gend zu entnehmen. Kann man die Tugenden der Verbesserung der Welt – oder dem Aufhalten ihrer
Klugheit, des Maßes oder der Tapferkeit ohne die Ge- Verschlechterung – zu berücksichtigen sind (vgl. Re-
rechtigkeit haben? Bei den ersten beiden ist die Er- gan 1982).
kenntnis des Zustehenden oder Angemessenen oh- Notorische Probleme im Verhältnis zwischen Ge-
nehin im Spiel. Aber auch tapfer wird man ohne ein rechtigkeit und Gutem bzw. Verbesserung gibt es im
Mindestmaß an Gerechtigkeit nicht sein können. Ein Utilitarismus (s. Kap. III.34). Seit Jeremy Bentham
tapferer Soldat, der einer völlig ungerechten Welt- das größte Glück der größten Zahl oder die moder-
sicht folgt – der viel diskutierte ›tapfere‹ überzeugte neren Versionen die Optimierung der Balance von
SS-Hauptmann (bzw. ›Obersturmbannführer‹ etc.) –, Freud und Leid (pleasure and pain) bei allen Betroffe-
wird in seiner radikal ungerechten Weltanschauung nen zur Grundregel des Utilitarismus gemacht ha-
zwar kühn und ›kameradschaftlich‹ sein können, ben, war das Problem der Gerechtigkeit ein Stan-
aber nicht im moralischen Sinne tapfer. Die sich da- dardproblem. Schon John Stuart Mill setzte sich mit
bei öffnenden weiteren Probleme, wie weit der Hori- der Frage auseinander, ob es Pflichten gebe, die un-
zont der Gerechtigkeit und der Moral sein muss – ob abhängig von der Glücksbilanz einzuhalten sind, weil
man in einer insgesamt falschen Weltsicht im kleinen sie von den Rechten und der Gerechtigkeit her gefor-
Umkreis gerecht und moralisch sein kann –, lasse ich dert sind. Bei ihm hatte es justice vornehmlich mit
hier offen. der Respektierung von Pflichten zu tun, die gesetz-
lich (Integrität der Person, Eigentum) oder moralisch
(Wahrhaftigkeit) gefordert sind. In diesem Sinne ge-
Gerechtigkeit: Gesinnung und Weltzustände recht zu sein, kann bei ihm zwar im Einzelfall das
Glück bzw. den Nutzen verringern, ist aber im Gan-
Die Bedeutung des Guten muss aber nicht auf Hand- zen für die Gesellschaft und die Menschheit nützli-
lungen oder Gesinnungen beschränkt sein. Sie kann cher als alternative Verhaltensweisen (vgl. Mill
sich auch auf Weltzustände erstrecken, nicht nur in 1861/1976, Kap. 5).
traditionellen Begriffen einer durch die kosmische Die moderne, vor allem von John Rawls in seiner
Vernunft oder den göttlichen Schöpfer guten Welt Theory of Justice (1971) ausgelöste Debatte über Uti-
(Kosmos, Schöpfung), sondern auch in modernen litarismus und Gerechtigkeit hat es mehr damit zu
der Arbeit an einer zukünftigen besseren Welt – wie tun, dass das Glück der größten Zahl auch durch das
in Kants Lehre vom höchsten Gut als Gegenstand ge- Leid einer kleinen Gruppe (z. B. Sklaven) gefördert
meinsamen moralischen und rechtlichen Strebens in werden kann. Darauf gibt es eine ganze Reihe sehr ela-
seiner Religions- und Geschichtsphilosophie (vgl. borierter utilitaristischer Antworten wie den Gerech-
Hoesch 2014) oder in den utilitaristischen Begriffen tigkeitsutilitarismus (vgl. Trapp 1988) oder den Prio-
von der Verbesserung der Weltzustände (make the ritarismus (vgl. Parfit 2002). Die Trennung zwischen
world a better place) (über die Beförderung des Guten Moral und Gerechtigkeit (oder die Marginalisierung
im Utilitarismus vgl. Driver 2012, besonders Kap. 2, von Rechtspflichten gegenüber dem Guten) trifft of-
1.1 und 1.7). In den traditionellen Konzeptionen von fenbar einen neuralgischen Punkt. Dass eine Steige-
Platon bis Kant ist selbstverständlich, dass für diese rung der Summe des Guten (Freude, Nutzen etc.) für
Güte der Welt die Gerechtigkeit eine zentrale Voraus- eine Menge von Menschen jede Verletzung von Rech-
setzung ist. In der Neuzeit ist die Gerechtigkeit aller- ten Einzelner oder strikten Geboten (etwa Tötung Un-
dings zumeist auf die Menschenwelt beschränkt. Bei schuldiger) aufwiegen könne, scheint für keine Moral
Kant findet sich noch ein Rest ›kosmischer‹ Gerech- tolerabel.
41 Moral 265

Der Gegensatz von Gut und Recht genannte Gerechtigkeit gegen sie ins Spiel bringen.
Die materiale Gerechtigkeit einer Rechtsordnung
Bisher haben wir es nur mit Formen der Moral zu tun kann dann von der formalen ihrer Gesetze und Ver-
gehabt, für die Gerechtigkeit von zentraler Bedeutung fahren abweichen. Man kann diese materiale Vorstel-
war, die ohne Gerechtigkeit nicht denkbar waren oder lung als ein Ideal ansehen, das nur zur Kritik unge-
in denen das moralisch Richtige, Geforderte etc. mit rechter Gesetze benutzt werden, aber nicht positiv
dem Gerechten zusammenfiel. Es gibt aber in der neu- ausbuchstabiert werden kann (Derrida 1991). Oder
zeitlichen Moralphilosophie und vor allem in der po- man kann bestimmte überpositive Rechte, wie die
litischen Philosophie auch Tendenzen, das Gerechte Menschenrechte, ›moralische‹ Rechte nennen (z. B.
oder Rechte und das Gute oder moralisch Gesollte zu Habermas 1991).
trennen – von Thomas Hobbes über Kant und Rawls Differenzen zwischen Moral und Gerechtigkeit
bis Jürgen Habermas. kann es auch in der Morallehre oder Ethik geben.
Für Hobbes, einen der Begründer der Ethik und Dass für eine Moral, die wie der Utilitarismus von
Rechtsphilosophie der Neuzeit, gibt es keine gemein- der Beförderung des Guten ausgeht, die Gerechtig-
samen Vorstellungen vom Guten. Die Sicherung der keit nur ein Teil des Guten (oder des Nutzens) ist,
Rechte eines jeden ist daher die einzige streng ver- wurde schon erwähnt. Statt von ›Teil‹ kann man viel-
pflichtende Aufgabe – sowohl der gesetzgebenden leicht auch von Bedingung oder Grenze sprechen:
Autorität wie der die Gebote befolgenden Bürger Das Gute, das in der Freude oder der Erfüllung der
(vgl. Hobbes 1651/1996, Kap. XIII–XVII). Nach Kant Präferenzen aller oder der größten Zahl besteht, darf
ist das Recht allein auf die äußeren Handlungen der die Rechte der Einzelnen nicht verletzen. Seine Be-
Menschen bezogen, die sich nach allgemeinen Geset- förderung sollte auch nicht zu unfairen Verteilungen
zen zur Sicherung der gleichen Handlungsfreiheit führen.
aller richten müssen (vgl. Kant AA VI, § B 229 f.). Die Genauer wird das Verhältnis einer utilitaristischen
Moral betrifft das Gebiet des ›inneren‹ Willens zur oder allgemeiner einer konsequentialistischen Moral
Befolgung des Sittengesetzes (vgl. Kant AA IV, 393– zur Gerechtigkeit davon abhängen, ob es sich um eine
405). Für Rawls hat es die Gerechtigkeit mit der wertmonistische oder wertpluralistische Position
Gesellschaftsordnung zu tun, und sie beruht auf glei- handelt. In der ersten wird Gerechtigkeit auf den ein-
chen Primärinteressen (Freiheit, Fairness, Persona- zigen oder übergeordneten Wert zurückgeführt wer-
lität). Dagegen ist das Gute entweder Inhalt persön- den müssen – eben als langfristig bestes Mittel zur
licher Überzeugungen oder moralischer Lehren über Steigerung des Nutzens oder der Freude (pleasure).
Ziele und Werte, die verwirklicht werden sollen Das wird am ehesten im Regelutilitarismus gelingen,
(Rawls 1975, 433–442, 486–492). Nach Habermas in dem der langfristige Nutzen von Handlungsregeln
(1991) ist das Gute Thema der konkreten Traditio- entscheidend ist, nicht die einzelne Handlung. Bei
nen und Sitten einer Gemeinschaft, das Rechte da- wertpluralistischen Formen des Konsequentialismus
gegen universal begründbarer Gegenstand von wird dagegen Gerechtigkeit einer der zu realisieren-
Pflichten aller Menschen gegeneinander. den Werte neben anderen sein, und die Rangfolge der
In Folge dieser Unterscheidungen können Gerech- Gewichtung wird sich möglicherweise je nach Um-
tigkeit und Moral auch in Distanz oder Konflikt zu- ständen anders gestalten.
einander geraten. Wenn für die Moral Gewissens- und Nicht ganz einfach ist auch die Frage zu beantwor-
Überzeugungsfreiheit gilt, Gesetze aber von äußeren ten, welche Rolle die Gerechtigkeit im so genannten
Instanzen erlassen und sanktioniert werden können, Präferenzutilitarismus spielt. Man könnte die These,
dann können gerechte Gesetze mit ›falscher‹ (z. B. ei- dass es keinen allgemeinen Nutzenvergleich außer-
gensüchtiger) Gesinnung befolgt werden. Umgekehrt halb der individuellen Präferenzen geben kann, als
kann eine richtige moralische Haltung sich von Geset- Resultat einer Gerechtigkeitsüberlegung ansehen: Es
zen distanzieren, zumindest innerlich. Moralität kann darf niemandem ›paternalistisch‹ sein Glück vor-
von Legalität unterschieden werden – Kant hat das am geschrieben werden, jeder hat das Recht, seine Inte-
deutlichsten formuliert (AA VI, 219). ressen oder seinen Nutzen selbst zu bestimmen, auch
Wenn Gerechtigkeit allerdings, wie im Positivis- wenn es für andere nach ›Schaden‹ aussieht. Richtig ist
mus, mit der Gültigkeit und Befolgung der geltenden nur, ihn bei der Realisierung seiner Präferenzen nicht
Gesetze gleichgesetzt wird, dann kann man eine über- zu stören. Aber andererseits werden die Störungen
gesetzliche, in diesem Sinne von manchen ›moralisch‹ oder Beförderungen auch wieder in ein Gesamtkalkül,
266 IV Gerechtigkeit im Kontext

das Optimierungs- oder Maximierungskriterien folgt, tisch und gesetzlich aufgefasst. Man kann auch auf
einbezogen. den alten Begriff des einer Sache, einer Situation
Auch in tugendethischen Ansätzen ist das Verhält- und den betroffenen Personen ›Gerechtwerdens‹ zu-
nis nicht so harmonisch, wie es zunächst aussieht. Ge- rückgreifen. Dann kann den Nahverpflichtungen
rechtigkeit als strikte Befolgung allgemeiner Prinzi- doch ein Primat eingeräumt werden. Aber unabhän-
pien oder universaler Gesetze der Verteilung oder des gig davon, ob man Gerechtigkeit konkret oder all-
Zustehenden zeigt sich im Verhältnis der Tugenden gemein, strikt oder ›flexibel‹ versteht, sie wird von
durchaus als sperrig: Gerechtigkeit kann in Konflikt diesen Positionen aus kaum als das Ganze der Moral
mit Barmherzigkeit geraten, aber auch mit Tugenden oder desjenigen angesehen werden können, was bei
oder auch Pflichten der Nahbeziehungen. Der Kon- einer guten Handlung oder Einstellung zu berück-
flikt mit der Barmherzigkeit oder der Wohltätigkeit sichtigen ist.
wird traditionell mit der Tugend der Billigkeit über-
brückt, die von der strikten Gerechtigkeit situations-
und folgenorientierte Abweichungen zulässt. Ihr Ruf Gerechtigkeit in der angewandten Ethik
ist allerdings zu unterschiedlichen Zeiten und in un-
terschiedlichen Bereichen sehr verschieden gewesen: Überlegungen der letzten Art werden heute vielfach
Im Bereich des Rechtes kann man argwöhnen, dass auch in der angewandten Ethik angestellt, vor allem
sich dahinter Rechtsbeugung und Willkür von Rich- bei Fragen der internationalen Gerechtigkeit, aber
tern oder Herrschern verberge. Zu Zeiten einer auch in der Bio- oder Naturethik.
›rechtsförmigen‹ Gestaltung der Moral, wozu man die Bei der internationalen Gerechtigkeit – im Sinne
Neuzeit mit ihrem Ausgang von den subjektiven der Probleme gerechter Verteilung der Lebenserhal-
Rechten und ihrer Durchsetzung generell rechnen tung und der Chancen auf ein ›gutes Leben‹ in ver-
muss, liegt das nahe. Es gilt vor allem dann, wenn schiedenen Gegenden und Staaten der Welt – geht es
Gerechtigkeit als von einer gesetzlich strukturierten vielfach auch um das Verhältnis zwischen Wohltätig-
Vernunft geforderter unbedingter Zweck verstanden keit und Gerechtigkeit sowie Nah- und Fernpflichten
wird, wie in Kants ›rigoristischer‹ Moral- und Rechts- (vgl. Bleisch/Schaber 2007). Das kann hier nur ganz
philosophie. Dagegen kann auf die sehr viel stärker kurz skizziert werden.
von historischen Lernprozessen und Problemlösun- Haben Menschen in Ländern, die aufgrund natürli-
gen geprägte ›Sittlichkeit‹ hingewiesen werden, die cher oder historisch bedingter Verhältnisse beim Er-
nur mit einer ganzheitlichen (kohärentistischen oder werb oder der Erhaltung von Gesundheit, Einkom-
holistischen) Theorie verschiedener Prinzipien, Werte men und vielen anderen Gütern und Chancen be-
und Pflichten begriffen und weiterentwickelt werden nachteiligt sind, Gerechtigkeitsforderungen gegen-
kann – dieser Position kommt Hegel nahe (vgl. Hegel über den Bevorzugten? Sind diese Forderungen
1821/2013, §§ 142–157). rechtlich durchsetzbare Ansprüche oder sind sie mo-
Der Konflikt zwischen Nah- und Fernpflichten ist ralische Appelle zu freiwilliger Wohltätigkeit? Zwar
davon nicht strikt zu trennen: Fordert die Gerech- gibt es in vielen Staaten soziale Grundrechte, aber sie
tigkeit etwa, dass ich die Bedürfnisse meines eige- sind meist nicht streng einklagbar (z. B. Recht auf Ar-
nen Kindes nicht höher bewerte als das eines belie- beit, Wohnung) und sie gelten nicht als Rechte gegen
bigen, mir unbekannten Kindes in entfernten Län- andere Staaten. In der Regel sind sie Gegenstände von
dern? Oder ist es ›herzlose Prinzipienreiterei‹, um Staatsaufgaben. Die internationalen Verpflichtungen
eines allgemeinen ›Humanismus‹ willen die Nahe- zur Hilfe, etwa bei Hungerkatastrophen in anderen
stehenden (near and dear) nicht bevorzugt zu be- Staaten, oder auch die gemeinsamen Zielsetzungen
handeln? Die Antwort auf diese Frage hat es mit me- der Staatengemeinschaft (›Millenniumsziele‹ etc.)
taethischen Überlegungen zu Pflichten aus einer ak- sind von noch schwächerer, oft nur deklaratorischer
teurzentrierten (agent-centered) Perspektive versus Verbindlichkeit.
strengem Universalismus und Egalitarismus zu tun Eine neuere Tendenz der gegenwärtigen (›ange-
(vgl. Nagel 1986, Kap. IX). Das gilt auch für die Fra- wandten‹) Ethik wie auch politischer Aktivitäten, vor
ge nach den nicht-vertraglichen Verpflichtungen allem von Nichtregierungsorganisationen (NGOs),
durch Nahbeziehungen im Verhältnis zu den Rech- versteht demgegenüber die Ansprüche auf ausrei-
ten aller in einer universalistischen Moral. Gerech- chende Ernährung und Gesundheitsversorgung als
tigkeit wird aber nicht immer als streng universalis- Menschenrechte (Pogge 2007; Venkatapuram 2011).
41 Moral 267

Da Menschenrechte einen Anspruch enthalten, welt- Bleisch, Barbara/Schaber, Peter (Hg.): Weltarmut und Ethik.
weit geachtet zu werden, scheint das den Notleiden- Paderborn 2007.
den einen stärkeren Anspruch zu sichern. Dafür Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der
Autorität«. Frankfurt a. M. 1991 (engl. 1990).
spricht, dass sich die Staaten oft auch in ihren Verfas- Driver, Julia: Consequentialism. New York 2012.
sungen, wie die Bundesrepublik in Artikel 1, Abs. 2 Habermas, Jürgen: Vom pragmatischen, ethischen und mo-
GG, auf die Achtung der Menschenrechte und ihre in- ralischen Gebrauch der praktischen Vernunft. In: Ders.:
ternationale Verbreitung verpflichten. Andererseits Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a. M. 1991,
sind Menschenrechte auf Güter, die in ihrem Umfang 100–118.
Halbig, Christoph: Der Begriff der Tugend und die Grenzen
umstritten sind und positive Leistungen erfordern
der Tugendethik. Berlin 2013.
(wie ein ›Recht auf Gesundheit‹), international weder Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philoso-
durch staatliche noch durch überstaatliche Sanktio- phie des Rechts [1821]. Hamburg 2013.
nen (›humanitäre Interventionen‹) zu erzwingen. In- Hobbes, Thomas: Leviathan [1651]. Cambridge 1996.
ternationale Verteilungsgerechtigkeit zur Menschen- Hoesch, Matthias: Vernunft und Vorsehung. Säkularisierte
rechtsfrage zu machen, könnte die Menschenrechte Eschatologie in Kants Religions- und Geschichtsphilosophie.
Berlin 2014.
also auch ›aufweichen‹. Ob man die internationale Hume, David: An Enquiry Concerning the Principles of Mo-
Gerechtigkeit durch moralische Appelle, durch völ- rals [1751]. Oxford 1998.
kerrechtliche Verpflichtungen oder durch eine Termi- Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
nologie und Politik der Menschenrechte fördern will, [1785]. In: Königlich Preußische Akademie der Wissen-
ist auch eine Frage der rechtspraktischen oder politi- schaften (Hg.): Kant’s gesammelte Schriften [Akademie-
Ausgabe], Bd. IV. Berlin 1968 [AA IV].
schen Erfolgsaussichten – eine Art praktischer Kon-
–: Kritik der praktischen Vernunft [1788]. In: Königlich Preu-
sequentialismus. ßische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant’s gesam-
Schließlich haben es auch natur- und bioethische melte Schriften [Akademie-Ausgabe], Bd. V. Berlin 1968
Überlegungen mit dem Verhältnis strenger und wei- [AA V].
ter Gerechtigkeits- oder Wohltätigkeitspflichten zu –: Metaphysik der Sitten [1797]. In: Königlich Preußische
tun. Davon berührt ist die Frage, ob nur Menschen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant’s gesammelte
Schriften [Akademie-Ausgabe], Bd. VI. Berlin 1968 [AA
oder auch andere Lebewesen Rechte oder zumindest VI].
advokatorisch wahrzunehmende Ansprüche haben. Krebs, Angelika: Oikophilia – Die neu entdeckte Liebe zur
Wenn es darüber hinaus auch um die Erhaltung der Heimat. In: Siegfried Höfling/Felix Tretter (Hg.): Homo
Diversität von Arten, Landschaften oder natürlichen Oecologicus. Menschenbilder im 21. Jahrhundert. München
Formationen geht, muss man entweder die Rechte 2012, 45–54.
Mill, John Stuart: Der Utilitarismus. Stuttgart 1976 (engl.
der Menschen sehr weit fassen – als Recht auf ein ge-
1861).
lungenes Leben, das der Begegnung mit intakter Na- Nagel, Thomas: The View from Nowhere. Oxford 1986.
tur bedarf, oder auf eine Identität, die mit einer ver- Parfit, Derek: Equality or Priority? In: Matthew Clayton/
trauten Landschaft verbunden ist (Krebs 2012, 45– Andrew Williams (Hg.): The Ideal of Equality. Basingstoke
54). Oder man muss das Ziel einer Natur ins Auge fas- 2002, 81–125.
sen, die von einem den Umkreis der Menschen Pogge, Thomas: Anerkannt und doch verletzt durch interna-
tionales Recht. Die Menschenrechte der Armen. In: Bar-
überschreitenden Impartial-observer-Perspektive aus
bara Bleisch/Peter Schaber (Hg.): Weltarmut und Ethik.
gesehen ›gut‹ (erstrebenswert, billigenswert) genannt Paderborn 2007, 95–138.
werden kann (vgl. Siep 2004; Vieth/Halbig/Kallhoff Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
2008). Für eine solche umfassende Naturethik im 1975 (engl. 1971).
Zeitalter der Evolutionstheorie würde Gerechtigkeit Regan, Tom: All that Dwell Therein. Berkeley 1982.
im Sinne der Koexistenz von unterschiedlichen We- Siep, Ludwig: Konkrete Ethik. Frankfurt a. M. 2004.
Smith, Adam: The Theory of Moral Sentiments [1759]. Ox-
sen, die sich Lebensräume teilen, ebenfalls ein not- ford 1976.
wendiger, wenn auch nicht der ganze Inhalt der Mo- Stemmer, Peter: Gutsein. In: Zeitschrift für philosophische
ral sein. Forschung 51/1 (1997), 65–92.
Trapp, Rainer: Nicht-klassischer Utilitarismus. Eine Theorie
Literatur der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1988.
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hg., übers. und eingeleitet Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M.
und mit Erläuterungen versehen von Olof Gigon. Zürich/ 1993.
München 1967 [NE]. Venkatapuram, Sridhar: Health Justice. An Argument from
Baier, Kurt: The Moral Point of View. Ithaca 1958. the Capabilities Approach. Cambridge 2011.
268 IV Gerechtigkeit im Kontext

Vieth, Andreas/Halbig, Christoph/Kallhoff, Angela (Hg.): 42 Gutes Leben


Ethik und die Möglichkeit einer guten Welt. Berlin 2008.
Wright, Georg Henrik von: The Varieties of Goodness. Lon- Das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und gutem Le-
don 1970.
ben ist verwandt mit dem zwischen Moral und Glück.
Ludwig Siep Während in der antiken Philosophie beide Verhältnis-
se kaum zu unterscheiden waren, weil Gerechtigkeit
häufig als Kern der Moral galt und Glück und gutes
Leben in eins fielen, haben sich die Begriffe mittler-
weile so weit differenziert, dass es sinnvoll ist, die Idee
des guten Lebens gesondert in Bezug auf Gerechtig-
keit zu thematisieren.
Je nach Perspektive kann man die Beziehung zwi-
schen Gerechtigkeit und dem guten Leben für grund-
sätzlich harmonisch oder spannungsvoll halten. Als
harmonisch erscheint sie aus der Perspektive, dass Ge-
rechtigkeit zum guten Leben aller beitragen sollte.
Spannungsgeladen erscheint sie, wenn man bedenkt,
dass Forderungen der Gerechtigkeit die Möglichkei-
ten eines guten Lebens für Einzelne einschränken
können. Natürlich hängen diese Überzeugungen vom
jeweiligen Verständnis von Gerechtigkeit und dem
guten Leben ab. Annäherungsweise seien vorab zwei
grobe Bestimmungen genannt. Mit ›Gerechtigkeit‹ ist
die Idee gemeint, dass jedem das Angemessene zu-
kommt, was ihm in Abhängigkeit der verantwort-
lichen Handlung eines anderen zusteht (vgl. Gosepath
2004, 61). Mit ›gutem Leben‹ ist eines gemeint, das als
ganzes oder doch zu wichtigen Teilen (in sich) gut ist
für die Person, die es führt (vgl. Steinfath 2011, 296);
es ist eines, für das insgesamt am meisten spricht.

Historische Positionen
Antike
Platon und Aristoteles können exemplarisch für zwei
Antworten der Antike auf die Frage nach dem Ver-
hältnis von Gerechtigkeit und gutem Leben stehen (s.
Kap. I.2). Auf den ersten Blick kann es scheinen, als
müsse für diese Autoren Gerechtigkeit (diakosyne) ei-
ne problematische Herausforderung darstellen, da sie
Glücksethiken vertreten (Annas 1993, 291), also Ethi-
ken, in denen die praktische Grundfrage, wie man le-
ben soll, damit beantwortet wird, dass man das Glück
(eudaimonia) als höchstes Gut anstreben soll. Wenn
man annimmt, dass Forderungen der Gerechtigkeit
Einschränkungen im persönlichen Glück bedeuten
müssen, da man auf Bedürfnisse oder Rechte anderer
achten und daher selbst in irgendeiner Hinsicht zu-
rückstecken muss, dann scheinen Gerechtigkeitsfor-
derungen der direkten Ausrichtung auf Glück ent-
42 Gutes Leben 269

gegenzustehen. Doch im Verständnis von Platon und daher naheliegenderweise ein Bestandteil der Gestal-
Aristoteles gibt es diese Spannung letztlich nicht, da tung eines guten Zusammenlebens in der Gemein-
das Glück nicht als ein rein individuelles, idiosynkrati- schaft (vgl. Fenner 2007, 22; Annas 1993, 223–226).
sches verstanden wird, sondern als eines, das man als
Person einer Gemeinschaft erlebt, als deren Teil man
Neuzeit
sich begreift (ebd., 291). Um dieser Idee zu entspre-
chen und auch anderen Missverständnissen vorzubeu- Während im Mittelalter neoplatonische Gedanken mit
gen, wurde eudaimonia im 20. Jahrhundert zuneh- christlichen Ideen verbunden werden und die harmo-
mend mit dem Begriff des ›Wohlergehens‹ oder ›guten nische Tendenz vorherrscht, bricht in der Neuzeit eine
Lebens‹ übersetzt (vgl. zustimmend Wolf 1999, 15; kri- zunehmende Spannung zwischen Gerechtigkeit und
tisch Annas 1993, 453). dem guten Leben auf (s. Kap. I.3.4). David Hume bei-
Platon geht so weit zu behaupten, dass allein in der spielsweise verhandelt Gerechtigkeit auch noch als ei-
Gerechtigkeit der Schlüssel zu einem guten Leben lie- ne Tugend, jedoch nicht als eine natürliche, wie es das
ge, da nur eine nach dem Prinzip der Gerechtigkeit ge- Wohlwollen gegenüber uns nahestehenden Menschen
ordnete Seele eine gesunde sei, mit der sich ein gutes sei, sondern als eine künstliche. Mit ihr begegneten wir
Leben führen lasse (Platon 1994, 444 f.). Er geht von einander unter den tatsächlichen Bedingungen der
drei Seelenteilen aus, die wie die drei Teile des Staates Gesellschaft, die uns dazu bringen, auf das Wohl von
in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen unbekannten Mitmenschen zu achten, um letztlich
können und sollen. Insofern ist hier ein gerechtes dem Prinzip der Nützlichkeit – nämlich unserem eige-
Handeln identisch mit dem Handeln von jemandem, nen Nutzen – Rechnung zu tragen (Hume 2000, Bd. 3,
der ein gutes Leben führt. Dabei unterscheidet Platon Teil 2, Abschn. 1). Humes Ethik, die wesentlich auf
nicht zwischen Gerechtigkeit als Bezeichnung von moralischen Gefühlen beruht, ist in diesem Zusam-
umfassend moralisch angemessenen Handlungen menhang als Übergang interessant, da er einerseits der
oder Verfassungen und Gerechtigkeit als angemesse- Tugend der Gerechtigkeit (noch) eine große Rolle zu-
ner Güter- und Aufgabenverteilung. spricht und andererseits kein substanzielles, teleologi-
Diese wie andere wichtige Unterscheidungen nimmt sches Menschenbild mehr hat, durch das festgelegt wä-
Aristoteles vor (NE, V). Neben dem umfassenden Ge- re, was alle Menschen zu ihrem gelingenden Leben
rechtigkeitsbegriff, der die Moral als ganze betrifft, beitragen müssen. Individuelle Empfindungen spielen
führt er die spezifischere Vorstellung von partikularer eine größere Rolle. Die künstliche Tugend der Gerech-
Gerechtigkeit ein (Horn/Scarano 2002, 27). Damit tigkeit kann man als Resultat eines Prozesses von Um-
fällt ein direkter Vergleich mit staatlicher Gerechtig- lernen und Umgewöhnung von Gefühlen sehen, die
keit weg und in Aristoteles’ eudämonistischer Tu- anfänglich, rein individuell, anders ausgerichtet sind.
gendethik tritt die Gerechtigkeit als problematische Mit Immanuel Kant wird die eudämonistische Mo-
Tugend im Vergleich zu anderen stärker hervor: Die ralphilosophie endgültig an den Rand gedrängt (vgl.
Tugend der Tapferkeit beispielsweise ist für die han- Steinfath 1998a, 7) und die Spannung zwischen Ge-
delnde Person selbst genauso gut wie für die anderen rechtigkeit und gutem Leben wird größer. Das hat
Beteiligten in einer Situation. Die Gerechtigkeit, die zwei Gründe. Zum einen wird das aufgeklärte Indivi-
verlangt, andere zu berücksichtigen, scheint hingegen duum nicht mehr selbstverständlich und grundsätz-
einen Nachteil für das Individuum mit sich zu brin- lich als in eine Gemeinschaft eingebettet verstanden,
gen. Nach Aristoteles’ Tugendkonzeption, die mit ei- sondern in seiner Autonomie betont; zum anderen
nem teleologischen Menschenbild zusammenhängt, wächst die Skepsis allen Versuchen gegenüber, »verall-
ist das aber nicht der Fall. Tugendhaft zu leben heiße, gemeinerbare Aussagen über ein gutes Leben aus ei-
die Natur (ergon) des Menschen aufs Beste zu entfal- ner sei es anthropologisch, sei es kosmologisch oder
ten, und das bedeute nichts anderes, als ein gutes Le- theologisch begründeten Wesensbestimmung des
ben zu führen (NE, I). Ein gutes Leben zu führen, be- Menschen abzuleiten« (ebd.). Auf die praktische Fra-
stehe also nicht in erster Linie darin, einem indivi- ge, wie man leben soll, werden nun Antworten in zwei
duellen Glück hinterherzulaufen, sondern tugendhaft widerstrebenden Richtungen gegeben: Moralisch zu
zu leben. In diesen Tugenden nun kann die Rücksicht leben, ist nicht mehr notwendig auch der Weg, alles in
auf andere und die Sorge um sie selbstverständlich allem gut zu leben. Dafür ist eine subjektivierte Vor-
enthalten sein, wie es in der Gerechtigkeit und in der stellung des guten Lebens verantwortlich, wonach
Freundschaft (philia) der Fall ist. Diese Tugenden sind dessen Ziel, Glück, nur ganz persönlich zu bestimmen
270 IV Gerechtigkeit im Kontext

ist. So bezeichnet Kant ›Glückseligkeit‹ (ohne davon nur anzuschließen bräuchten, um lustvolle Bewusst-
ein ›gutes Leben‹ abzusetzen) als »Befriedigung aller seinsphänomene zu erleben, zeigt, dass wir uns mit ei-
unserer Neigungen« (KrV, A 806) oder als den »Zu- ner Illusion nicht zufriedengeben würden, sondern
stand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem [...] dass es auf die Beziehung zur Realität ankommt (No-
alles nach Wunsch und Willen geht« (KpV, A 225). Die zick 1974, 42–45). Deshalb setzt sich vom einfachen
Frage nach dem guten Leben wird vor dem Hinter- sensory hedonism ein attitudinal hedonism ab, in dem
grund eines solchen hedonistischen Glücksverständ- intentionale Einstellungen wie Freude, also positive
nisses mit John Locke geradezu zu einer Geschmacks- Emotionen, als entscheidend für ein gutes Leben gese-
frage wie der, ob einem Pflaumen oder Nüsse besser hen werden (Feldman 2004, Kap. 4). Solche Emotio-
schmecken (Locke 1690/1975, Bd. 2, Kap. 21). Damit nen können sich nach längerfristigen mühsamen Be-
wird dieses Thema zu einer empirischen Frage, für tätigungen einstellen und schließen immer Weltbezug
welche die Philosophie gar nicht mehr zuständig ist; mit ein. Doch hier greift der Einwand, dass es bei
diese kümmert sich vornehmlich nur noch um Ge- Menschen als reflexiven Wesen für ein gutes Leben
rechtigkeit, die im Zweifel auf individuelle Entwürfe darauf ankomme, sich mit dem als angenehm Emp-
des guten Lebens keine Rücksicht nimmt. fundenen auf bestimmte Weise zu identifizieren. Das
gute Leben sei für einen Menschen auf andere Weise
gut, als es für eine Maschine gut sei, geölt zu werden,
Aktuelle Positionen oder für eine Pflanze, gegossen zu werden (Steinfath
2013, 176); das liege daran, dass der Mensch Wünsche
Da es gegenwärtig keine eigene differenzierte Debatte und einen Willen habe, von denen abhänge, ob etwas
gibt, die sich dem Verhältnis von Gerechtigkeit und für eine spezielle Person gut sei (vgl. Frankfurt 1988).
gutem Leben widmet, werden zunächst Theorien des Deshalb machen andere Theorien das gute Leben
guten Lebens vorgestellt und anschließend wird ge- genau daran fest: Für Wunschtheorien ist ein Leben
zeigt, welche verschiedenen Konzeptionen davon in dann gut, wenn es eines ist, in dem eine Person ihre
prominenten Theorien der Gerechtigkeit auf welche Wünsche oder (mit dem vor allem in der Wohlfahrts-
Weise eine Rolle spielen. ökonomie verbreiteten Ausdruck) ihre Präferenzen
oder auch ihre Ziele oder Zwecke erfüllt sieht (Griffin
1986; Wessels 2011). Doch die Wunschtheorien haben
Theorien des guten Lebens
ein eigenes Problem: Wenn es sich nicht um Wünsche
Eine übliche Einteilung seit Derek Parfit (1987, 493) handelt, die auf etwas Wertvolles ausgerichtet sind,
unterscheidet grob zwischen drei Theorierichtungen scheint die Rede von einem guten Leben auch noch
zur Bestimmung dessen, was ein gutes Leben aus- nicht vollständig gerechtfertigt. Wenn man sich nur
macht: hedonistischen Theorien, Wunschtheorien nach den faktischen Wünschen richtet, besteht die
und objektivistischen Theorien (vgl. z. B. auch Fenner Gefahr, dass man sich flüchtigen oder verfehlten, etwa
2007). Nach einer hedonistischen Theorie ist ein Le- falsch informierten oder neurotischen Wünschen aus-
ben dann gut, wenn es geprägt ist von Erlebnissen der liefert, die einen auf lange Sicht vom guten Leben weg-
Lust oder Freude. Als an sich gut gilt die Gefühlsquali- führen. Verteidiger schlagen vor, dass nur die Erfül-
tät von lustvollen Erfahrungen, zentral sind also Be- lung bestimmter qualifizierter Wünsche als entschei-
wusstseinsphänomene, unabhängig davon, wie sie dend für das gute Leben anzusehen sei, etwa solcher
ausgelöst wurden. Je mehr, je intensivere und je länge- Wünsche, die in angemessenen Werturteilen fundiert
re solcher Erfahrungen man macht, desto besser ist seien (Fenner 2007, 63–69), oder solcher, die »sinnvoll
nach dieser Sicht auch ein ganzes Leben. Die klassi- miteinander vereinbar sind [und] einen nicht-illusio-
schen Versionen des Hedonismus, die auf Epikur zu- nären Charakter haben« (Seel 1995, 93), die sich also
rückgehen und bei einigen Utilitaristen (wie John in »sinnvolle[ ] Lebenskonstellationen« (ebd.) ein-
Stuart Mill oder Henry Sidgwick) zu finden sind, grei- fügen lassen. Solche Ansätze sind dann jedoch kaum
fen offensichtlich zu kurz, da uns oft besonders an mehr zu unterscheiden von objektiven Theorien des
Dingen liegt, die wir nur unter Anstrengung, vielleicht guten Lebens, die grundsätzlich der Forderung ent-
auch Schmerzen erreichen können, und es uns außer- sprechen, dass das gute Leben auf objektiv Wertvol-
dem nicht gleichgültig ist, wie wir zu den angenehmen lem basieren muss.
Empfindungen kommen. Robert Nozicks Gedanken- Objektivistische Ansätze gehen von Standards aus,
experiment einer experience machine, an die wir uns die für alle Menschen als erstrebenswert bzw., mehr
42 Gutes Leben 271

noch, als wertvoll angesehen werden. Neo-aristote-


Die Rolle des guten Lebens in Gerechtigkeits-
lische Versionen solcher Ansätze nehmen eine all-
konzeptionen
gemeine menschliche Natur an, die es zu verwirk-
lichen gelte, so dass es auf das Gedeihen als Menschen In der aktuellen Gerechtigkeitsdebatte sind John Rawls
ankomme, wie es für die Pflanze auf ihr Erblühen an- und Nozick entscheidende Bezugspunkte. So unter-
komme (Kraut 2007, bes. Teil 3; Foot 2001). Kritiker schiedlich ihre Gerechtigkeitskonzeptionen sind – bei
solcher substanziellen anthropologischen Annahmen Rawls vertragsrechtlich, bei Nozick naturrechtlich –,
haben dagegen Versionen entwickelt, die die Idee der so sind sie sich doch in einer Sache einig. Zugespitzt
Selbstverwirklichung hervorheben, so dass es nicht auf sagen sie: Gerechtigkeit hat Vorrang vor dem guten
die Entfaltung von Gattungsmerkmalen, sondern von Leben. Das zumindest implizieren Worte wie diese:
individuellen Potentialen ankomme (Gewirth 1998). »The principles of right, and so of justice, put limits on
Gegen diese objektivistischen Ansätze lässt sich je- which satisfactions have value; they impose restric-
doch wiederum anführen, dass es für ein gutes Leben tions on what are reasonable conceptions of one’s
nicht hinreichend sein kann, einen objektiv bemesse- good [...]. [I]n justice as fairness the concept of right
nen Standard zu erreichen. Vielmehr muss eine Per- is prior to that of the good« (Rawls 1971, 27).
son das Leben auch selbst als gut empfinden oder ein- Diese Äußerung mag insofern überraschen, als
schätzen. Wie es einer Person nicht gut geht, wenn sie man hier, in der politischen Philosophie, die erste der
sich krank fühlt – auch wenn sie physisch gesund ist –, eingangs genannten Grundauffassungen hätte erwar-
so kann ein Leben nicht gut sein, wenn die Person es ten können, nach der zwischen Gerechtigkeit und gu-
nicht subjektiv als gut empfindet. Wenn eine Person tem Leben insofern ein harmonisches Verhältnis be-
Nahrung, Haus und Familie hat und dennoch nicht steht, als die Gerechtigkeit dafür sorgen soll, dass
glücklich ist, handelt es sich im Ganzen auch nicht um möglichst viele Menschen ein gutes Leben führen
ein gutes Leben. So argumentieren Vertreter der zu- können. Tatsächlich ist das auch der leitende Hinter-
erst erwähnten subjektivistischen Theorien, die beto- gedanke solcher Gerechtigkeitstheorien, doch man
nen, dass das gute Leben immer für die Person, die es ist der – seit der frühen Moderne geläufigen – Über-
führt, gut sein muss. zeugung, dass das gute Leben nur persönlich zu be-
Angesichts dieser Vor- und Nachteile der einzelnen stimmen sei und Gerechtigkeit lediglich gewisse Vo-
Positionen liegt es nahe, eine Hybridkonzeption zu raussetzungen dafür schaffen könne und müsse. Eben
vertreten, die aus allen dreien etwas aufnimmt, wie es weil aufgrund der Vielfalt von Lebensentwürfen gar
etwa Joseph Raz (Raz 1986, Kap. 12) und Holmer keine Berücksichtigung des guten Lebens für alle
Steinfath tun. »So könnten wir ein Leben gut nennen, möglich sei, stehe das Prinzip der Gerechtigkeit im
wenn die Person, die es führt, die Ziele, Ideale und Be- Vordergrund und habe im Konfliktfall einzelne per-
ziehungen, die ihr am Herzen liegen, auf eine sie emo- sönliche Vorstellungen des guten Lebens zu über-
tional befriedigende Weise realisiert und das, was für trumpfen.
sie zählt, auch wert- und sinnvoll ist« (Steinfath 2013, Dabei vertreten Rawls und Nozick eine Wunsch-
177; vgl. Steinfath 2001, Kap. 7 und 8). Freilich muss theorie des guten Lebens, mit der sie sich ausdrück-
bei einer solchen Bestimmung noch ausgeführt wer- lich von hedonistisch-utilitaristischen Konzeptionen
den, was etwas wert- oder sinnvoll macht. Wenn man absetzen, nach denen Gerechtigkeit mit der größt-
bei dieser Frage nicht auf einen letzten, beständigen möglichen Lust der größtmöglichen Zahl in eins ge-
Wertmaßstab kommt, muss man Steinfath zufolge je- setzt würde. Während sie selbst stichhaltige Argu-
doch nicht die Idee des guten Lebens aufgeben, da wir mente gegen hedonistische Theorien vorbringen,
auch »ohne letzte Bezugspunkte zurechtkommen, in- werden umgekehrt gegen sie und ihre Wunschtheo-
dem wir uns für neue Erfahrungen offen halten und rien Einwände seitens objektivistischer Ansätze for-
uns mit temporären Situations- und Sinndeutungen muliert. In beiden Fällen vollzieht sich also die Kri-
zufrieden geben« (Steinfath 2011, 302). tik an einer Gerechtigkeitskonzeption über eine Kri-
Daniel Haybron schlägt eine etwas andere Übersicht tik an einer zugrunde liegenden Vorstellung von gu-
über die Thematik vor. Er hält die vorgestellten Theo- tem Leben.
rien in der Regel für Theorien des Wohlergehens und Von konservativ-kommunitaristischer Seite wird
hält Wohlergehen nur für einen der Werte, die für ein Rawls und Nozick ein Individualismus vorgeworfen,
gutes Leben nötig sind – neben moralischen und ande- der übersehe, dass alle Werte nur im Zusammenhang
ren, etwa ästhetischen Werten (Haybron 2008, 38). des Zusammenlebens einer Gemeinschaft zu verste-
272 IV Gerechtigkeit im Kontext

hen seien, welche sich über Tugenden bestimme, die dass diese Reflexion auch moralische Ansprüche mit
wesentlich mit Traditionen zusammenhingen und in einschließe, da jede Selbstkritik auch mögliche Kritik
deren Ein- und Ausübung ein gutes Leben bestehe. Zu von außen mitbedenke (Steinfath 1998b, 91). So
einem entsprechenden Gerechtigkeitsverständnis ge- könnten in diesem Modell auch Gerechtigkeitserwä-
höre dann auch die Idee des Verdienstes, und zwar des gungen integraler Bestandteil eines guten Lebens
moralischen Verdienstes im Rahmen einer mora- sein. Ein gerechtes und ein gutes Leben wären, so
lischen Gemeinschaft, nicht nur die Idee der Gleich- kann man weiter erläutern, weder selbstverständlich
heit in Bezug auf Bedürfniserfüllung oder Anrechte identisch, wie es in der Antike verbreitet gesehen
(MacIntyre 1981, Kap. 17). wurde, noch stünden sie grundsätzlich in einem
Von einer progressiven, oftmals auch feministi- Spannungsverhältnis, in dem das gute Leben all-
schen Seite werden die Wunschtheorie des guten Le- gemeinen Gerechtigkeitsforderungen untergeordnet
bens und die damit zusammenhängenden Gerechtig- wäre, wie es in der politischen Philosophie des
keitstheorien dahingehend kritisiert, dass sie von fal- 20. Jahrhunderts dargestellt wurde; vielmehr speisten
schen Annahmen darüber ausgingen, was überhaupt sich die selbstkritisch reflektierten Wünsche, deren
in einem Staat gerecht zu verteilen sei. In Anschluss Erfüllung ein gutes Leben verspricht, auch aus Ge-
an Amartya Sen betont Martha Nussbaum, dass es rechtigkeitsüberlegungen.
nicht in erster Linie auf die gleiche Verteilung von Die Renaissance der Idee des guten Lebens in den
Rechten, Chancen und materiellen Gütern ankom- letzten Jahrzehnten könnte man insgesamt zunächst
me, sondern auf eine solche Verteilung, die dazu füh- für eine Erscheinung im Rahmen von neoliberalen
re, dass den Menschen die Ausübung gleicher Grund- Tendenzen deuten, die mehr auf das gelungene Leben
fähigkeiten ermöglicht werde, etwa die Ausübung von Einzelnen abzielen als auf eine gesamtgesell-
praktischer Vernunft, Engagement in sozialen Bezie- schaftliche Ordnung, in der auf eine gerechte Vertei-
hungen, auch Verbindung mit der Natur und spieleri- lung der Güter geachtet wird. Doch wie gezeigt weisen
sche Tätigkeiten (Nussbaum 1998, bes. Kap. 2). Im die jüngeren Ansätze, die Überlegungen zum guten
Rahmen dieses Capability Approach (vgl. Sen 1980) Leben in den Mittelpunkt stellen, gerade in eine ande-
plädiert Nussbaum für eine neo-aristotelische Theo- re Richtung: Sie wenden sich gegen neoliberale Ge-
rie des guten Lebens, die manchmal auch Listentheo- rechtigkeitstheorien, die mit dem Fokus auf materielle
rie genannt wird, da in ihrem Zentrum eine »starke Güter und Rechte vor allem mit der herrschenden
vage« (Nussbaum 1998, 209) Liste von Bedürfnissen Wirtschaftsordnung kompatibel sind, und plädieren
und Fähigkeiten steht, die für alle Menschen erfüllt für eine kritische, moralsensible und integrierende Er-
bzw. die auszuüben allen möglich sein müsse (vgl. läuterung des guten Lebens. Es wird sich zeigen, ob
auch Nussbaum 2011, Kap. 2). Die Wunschtheorie auf diesem Weg im postkolonialen Zeitalter auch eine
des guten Lebens trage nicht dem Umstand Rech- Annäherung zwischen der westlichen Tradition und
nung, dass viele Menschen (insbesondere z. B. Frauen moralischen Grundkonzeptionen aus anderen Kul-
in wenig entwickelten Ländern ohne breite Bildung) turkreisen möglich ist (vgl. Metz 2014), was unter den
gar nicht erst die Wünsche ausbilden können, die not- Bedingungen der Globalisierung wichtig wäre. Neue
wendig wären, damit sie für ein Leben streiten könn- Aufmerksamkeit erlangt hat zumindest das südame-
ten, das wirklich gut für sie wäre und für das die Aus- rikanische Prinzip des ›Buen vivir‹, das zum guten Le-
übung bestimmter Grundfähigkeiten zumindest eine ben nicht nur die Gemeinschaft mit Menschen, son-
Voraussetzung sei. dern auch einen angemessenen Umgang mit der Na-
Da Vertreter der Hybridtheorie des guten Lebens tur zählt (Fatheuer 2011); im europäischen Kontext
Kritik an Theorien üben, die sich auf solche ›objekti- findet man einen ähnlichen Ansatz z. B. in dem von
ven Listen‹ stützen, ist zu fragen, inwieweit bei einer französischen Denkerinnen und Denkern verfassten
Hybridtheorie Gerechtigkeitsforderungen als ein- und von weiteren europäischen Autorinnen und Au-
schränkend, kompatibel oder sogar als notwendig für toren unterzeichneten konvivialistischen Manifest
das gute Leben betrachtet werden. Damit wird die (Leggewie/Adloff 2014).
Perspektive wieder weg von der politischen Philoso-
phie und hin zur Moralphilosophie gewendet. Stein- Literatur
fath erklärt, dass ein gutes Leben wesentlich mit der Annas, Julia: The Morality of Happiness. Oxford 1993.
Erfüllung von selbstkritisch reflektierten und evalu- Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hg. von Ursula Wolf.
Reinbek bei Hamburg 2006 [NE].
ierten Wünschen zusammenhänge, und deutet an,
42 Gutes Leben 273

Fatheuer, Thomas: Buen Vivir – Recht auf gutes Leben. Berlin Wessels, Ulla: Das Gute. Wohlfahrt, hedonisches Glück und
2011. die Erfüllung von Wünschen. Frankfurt a. M. 2011.
Feldman, Fred: Pleasure and the Good Life. Oxford 2004. Wolf, Ursula: Die Philosophie und die Frage nach dem guten
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Ders.: Werke in 12 Bänden, Bd. VII. Hg. von Wilhelm
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Bänden, Bd. III. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt
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[1690]. Hg. von Peter Nidditch. Oxford 1975.
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Ders.: Was ist ein gutes Leben? Frankfurt a. M. 1998b, 73–
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Mitscherlich-Schönherr (Hg.): Glück. Ein interdisziplinä-
res Handbuch. Stuttgart/Weimar 2011, 296‒302.
–: Gutes Leben. In: Armin Grunwald (Hg.): Handbuch Tech-
nikethik. Stuttgart 2013, 174‒178.
274 IV Gerechtigkeit im Kontext

43 Grundgüter und Fähigkeiten keiten zu messen, dürfte mindestens auf die Theorie
sozialer Indikatoren in den 1960er Jahren zurück-
Theoretische Rolle in Gerechtigkeits- gehen, die ökonomische Indikatoren für sozialen
theorien Fortschritt, insbesondere das von Simon Kuznet pro-
pagierte GDP (Gross Domestic Product), ergänzen
Grundgütern und Grundfähigkeiten sind zwei unter- oder ersetzen sollten. Den Anfang macht 1966 Ray-
schiedliche Funktionen gemeinsam, die sich direkt in mond Bauer mit dem Band Social Indicators, wenn
deren Konzeption niederschlagen. Es handelt sich ei- auch Vorläuferkonzepte in den 1930er Jahren etwa bei
nerseits um eine Maßeinheit, in der das Wohlergehen William F. Ogburn zu finden sind. Beispiele für soziale
von Personen und der Fortschritt einer Gesellschaft Indikatoren sind: »das Risiko finanzieller Armut, ge-
erfasst werden sollen. Andererseits dienen sie dazu, messen durch 50 bzw. 60 % des nationalen Media-
Mittel zu identifizieren, mit denen das Wohlergehen neinkommens, gewichtet nach OECD-Skala« oder
von Personen verändert und typischerweise verbes- »Anteil der Personen in Haushalten ohne bestimmte
sert werden soll. Haushaltseinrichtungen oder mit bestimmten Gebäu-
Diese unterschiedlichen Funktionen sind für eine demängeln« (Atkinson 2002, 196).
erhebliche Uneinheitlichkeit der Theorien von Grund- Die Tradition sozialer Indikatoren hat bereits früh
gütern und Fähigkeiten verantwortlich, wie an einem auf die Kritik, sie könne aufgrund ihrer Orientierung
einfachen Beispiel vorgeführt werden kann. Ein typi- an einzelnen Gütern oder Dienstleistungen kein ge-
sches Grundgut in der Entwicklungshilfe wie in zahl- sellschaftsübergreifendes Maß sozialen Fortschritts
reichen nationalen Sozialversorgungssystemen ist der liefern, mit Vorschlägen zu kulturübergreifenden In-
Zugang zu sauberem Trinkwasser. Dieses Gut ist so- dikatoren wie beispielsweise dem UNRISD level of li-
wohl dazu geeignet, das Wohlergehen einer Person zu ving index (1966) reagiert. Die Soziale-Indikatoren-
bemessen, als auch dazu, als Leistung zur Verfügung Tradition hat sich in ihrer Entwicklung oft explizit auf
gestellt zu werden. Anders verhält es sich mit dem die philosophische Kritik bezogen. So ist beispielswei-
Grundgut der Teilhabe am politischen und kulturellen se der von Mahbub ul-Haq entwickelte und von den
Leben der Gemeinschaft. Während sich dieses Gut mit Vereinten Nationen verwendete Human Develop-
einigem Aufwand messen lässt und aufgrund dessen ment Index von den Arbeiten Amartya Sens und Mar-
etwas über das Wohlergehen der Person ausgesagt tha Nussbaums inspiriert. Die jüngsten Indizes ver-
werden kann, ist es nicht in derselben Weise zuteilbar wenden neben ökonomischen und sozialen zuneh-
wie der Zugang zu sauberem Wasser. In beiden Rollen mend auch Umwelt-Indikatoren, um der Gefahr von
erfordert die Bestimmung von Grundgütern oder Fä- Umweltveränderungen für den sozialen Fortschritt
higkeiten ein Werturteil über gesellschaftliche Ziele in Rechnung zu tragen (Scrivens/Iasiello 2010).
ökonomischer, sozialer, kultureller und ökologischer In kritischer Anlehnung an die Tradition sozialer
Hinsicht. Indikatoren hat sich insbesondere in der philosophi-
Die meisten Theorien von Grundgütern und Fähig- schen Debatte eine Zahl von Entwürfen herausgebil-
keiten werden von ihren Autoren explizit als Theorien det, die sozialen Fortschritt daran bemessen wollen,
der Messung von Wohlergehen oder sozialem Fort- ob Personen in einer Gesellschaft die notwendigen
schritt präsentiert. Grundgüter und Fähigkeiten kon- Mittel zum Leben oder gar zu einem guten Leben ha-
kurrieren in dieser methodischen Funktion mit sub- ben. Diese neuen, auf Grundgütern und Fähigkeiten
jektiven Indikatoren, insbesondere Zufriedenheits- basierenden Ansätze werfen der Soziale-Indikatoren-
oder Glücksmaßen. Diesen gegenüber wird nahezu Theorie vor, sie habe es nicht vermocht, die Univer-
durchweg reklamiert, dass Grundgüter und Fähigkei- salität ihrer Maße für sozialen Fortschritt zu rechtfer-
ten nicht in derselben Weise anfällig für den verzer- tigen, und versuchen genau diesen Mangel zu behe-
renden Einfluss von Gewöhnung seien. Während Per- ben (vgl. Corning 2000; Doyal/Gough 1991; Nuss-
sonen auf einer Zufriedenheitsskala allein deshalb ei- baum/Sen 1993).
nen hohen Wert erlangen könnten, weil sie sich an Si- Die eingangs erwähnte Doppelrolle als Ziel und
tuationen der Auszehrung gewöhnt haben, stelle ihre Zuteilungseinheit lässt sich sowohl in der Entwick-
Ausstattung mit Grundgütern oder Fähigkeiten ihre lungshilfepraxis als auch in der Sozialhilfepraxis gut
reale Lebenssituation dar (Nussbaum 2000, Kap. 2). nachverfolgen. So formulieren beide explizit Ziele in
Der Versuch, die Güte oder den Fortschritt sozialer Begriffen von Grundgütern und Fähigkeiten. In der
Zustände mittels einer Liste von Gütern oder Fähig- Entwicklungshilfepraxis sind derzeit noch die Millen-
43 Grundgüter und Fähigkeiten 275

nium Development Goals in solchen Begriffen gefasst, erforderlich ist, damit eine Person ihre eigene Theorie
wie etwa mit Bezug auf das Grundgut HIV-Behand- des Guten entwickeln und sich als gleicher Bürger am
lung: »Bis 2010 weltweiten Zugang zu medizinischer sozialen Leben beteiligen kann. Auch wenn sich keine
Versorgung für alle HIV/AIDS-Infizierten erreichen, gesellschaftsübergreifenden Angaben zur Höhe die-
die diese benötigen« (United Nations General Assem- ses bestimmten Niveaus finden lassen, scheint Rawls
bly 2000). Gleichzeitig werden Entwicklungsprojekte die Maßeinheit als generell geeignet anzusehen, die
danach bewertet, ob sie den Betroffenen Grundgüter unterschiedlichen Bedingungen der Partizipation am
oder Fähigkeiten zur Verfügung stellen, beispielsweise sozialen und politischen Leben anzugeben (vgl.
durch die Finanzierung von Brunnenprojekten oder Rawls 1993/1998). Diese Grundausstattung des ko-
von Schulen und Lernmaterial. In der Sozialhilfe zahl- operationsfähigen Bürgers wird zwar weitgehend in
reicher Länder wird neben finanziellen Mitteln oft der derselben Einheit gemessen wie spätere Umverteilun-
Zugang zu konkreten Grundgütern wie Unterkunft gen in Rawls’ Differenzprinzip, nämlich »Grundrech-
(Doyal/Gough 1991, 196 f.) erleichtert, beispielsweise te, Grundfreiheiten und Chancen und allgemein
in der Form von Wohnberechtigungsscheinen, sozia- dienliche[ ] Mittel wie Einkommen und Besitz, die al-
lem Wohnungsbau, Heizkostenzuschüssen oder Ähn- le durch dieselben gesellschaftlichen Grundlagen der
lichem. Seit 2003 gehören in Deutschland nicht nur Selbstachtung gesichert werden« (Rawls 1992, 371).
Grundgüter, sondern auch Fähigkeiten – unter dem Allerdings ist zu beachten, dass die ersten drei Ele-
Titel ›Verwirklichungschancen‹ – zum theoretischen mente dieser Liste ‒ Grundrechte, Grundfreiheiten
Inventar der Sozialhilfepraxis (Arndt/Volkert 2006). und Chancen ‒ nicht Teil einer gesellschaftlichen
Umverteilung sein können, weil sie in jeder gerechten
Gesellschaft von Beginn an gleich verteilt sind. Wäh-
Theorien von Grundgütern und Grund- rend die restlichen Grundgüter, d. h. die allgemein
fähigkeiten dienlichen Mittel im Rahmen des Differenzprinzips
zur Bewertung von Verteilungsmaßnahmen inner-
Die Zahl der Vorschläge zu Grundgütern und Fähig- halb der gesellschaftlichen Kooperation dienen, wer-
keiten, aber auch zu den im Weiteren nicht diskutier- den alle genannten Grundgüter inklusive Grundrech-
ten Grundbedürfnislisten, ist erheblich. Einen guten ten, Grundfreiheiten und Chancen als Maß der
Überblick darüber liefert Sabina Alkire (2002). Im Grundbedingungen des kooperativen Gesellschafts-
Folgenden sollen nur drei theoretisch besonders ein- mitglieds vor jeder Anwendung des Differenzprin-
flussreiche Theorien exemplarisch vorgestellt werden. zips angelegt (vgl. Rawls 1993/1998). Im Rahmen
John Rawls verwendet den Begriff der Grundgüter nachgeordneter gesellschaftlicher Umverteilung zwi-
(basic goods) bereits 1971, Sen führt den Begriff der schen Bürgern fungieren Rawls’ allgemein dienliche
basic capabilities 1979 ein und Len Doyal und Ian Mittel als Maßeinheit der gerechtfertigten Ansprüche
Gough entwickeln ihre Theorie der Grundbedürfnisse an den Staat, die Personen innerhalb ihrer jeweiligen
und universal satisfiers 1984. Auf die Diskussion von Theorien des Guten vorbringen. Diese Grundgüter
Grundgütern in perfektionistischen Theorien, bei- sind in der Umverteilung gemäß dem Differenzprin-
spielsweise bei Thomas Hurka oder George Sher, sei zip ein universelles Mittel bei der Verfolgung der ei-
hier nur verwiesen, weil sie dort normalerweise in ei- genen Vorstellung vom guten Leben.
ne umfassendere Theorie des Guten bzw. der Vervoll- Rawls gibt nur wenig Auskunft darüber, wie genau
kommnung eingebettet sind. die Liste der Grundgüter zustande kommt. Allerdings
Grundgüter füllen bei Rawls zwei unterschiedliche formuliert er einige Bedingungen, die diese Liste er-
theoretische Rollen aus. Sie fungieren zum einen im füllen muss. Sie muss in einer politischen Konzeption
Rahmen des Differenzprinzips als Maßeinheit ge- von Gerechtigkeit als Fairness vertretbar bleiben, die
rechtfertigter Ansprüche von Bürgern an den Staat. in einem übergreifenden Konsens von allen Bürgern
Zum anderen wird mit ihnen angegeben, unter wel- akzeptiert werden kann, und sie muss »einschränken-
chen Umständen Personen in der Lage sind, als de Bedingungen der Einfachheit und der Verfügbar-
Bürger an der gesellschaftlichen Kooperation teil- keit von Informationen beachten« (Rawls 1992, 372).
zunehmen. Seine Grundgüterliste muss demnach in jeder voll-
Rawls macht in seinem Buch Politischer Liberalis- ständigen Theorie des guten Lebens begründet wer-
mus geltend, dass ein Mindestmaß an materiellem den können, d. h. kein Bürger darf in einem überlap-
und sozialem Wohlergehen, Bildung und Ausbildung penden Konsens in die Situation geraten, die dort for-
276 IV Gerechtigkeit im Kontext

mulierten Güter im Rahmen seiner eigenen Vorstel- einer Kritik an der verkürzten Information, mit der
lung vom guten Leben nicht anerkennen zu können. insbesondere in ökonomischen Theorien über gesell-
Daher nennt Rawls seine Grundgüterliste auch eine schaftlichen Fortschritt und das Wohlergehen von
schwache Theorie des Guten. Das Erfordernis ein- Personen geurteilt wurde. Sen macht bereits 1979 in
facher und verfügbarer Informationen speist sich da- seiner Tanner-Lecture Equality of What? geltend, dass
raus, dass Rawls’ Verteilungsverfahren nach Maßgabe wir nicht nur auf Ressourcen wie das Brutto-Inlands-
des Differenzprinzips davon abhängt, dass die Aus- produkt pro Kopf und nicht nur auf subjektive Zu-
stattung mit sozialen Gütern eindeutig vergleichbar stände wie Zufriedenheit schauen dürfen, sondern
ist. Das Differenzprinzip zieht den Vorteil der sozial beachten müssen, wie Personen wirklich leben und
am schlechtesten gestellten Personengruppe als Krite- welche Freiheiten zu wertvollen Zuständen und Akti-
rium der Zulässigkeit von neuen Ungleichheiten he- vitäten sie haben (Sen 1980).
ran. Dafür muss diese Personengruppe eindeutig Der Capability Approach gewinnt durch die Ko-
identifiziert werden, was nur mit einer Theorie der operation mit Nussbaum einen engen Bezug zur aris-
Grundgüter möglich ist, die eine einfache Messung totelischen Ethik (Nussbaum 1988), der sich in Sens
anhand verfügbarer Informationen zulässt. Hier hat Tanner-Lecture The Standard of Living von 1985 (Sen
demnach das Verteilungsprinzip starken Einfluss auf 1988) andeutet. Die aristotelischen Bezüge werden in
die Grundgüterkonzeption. dem von Nussbaum und Sen gemeinsam herausgege-
Die Auseinandersetzung mit der Rawlsschen Kon- benen Band The Quality of Life (Nussbaum/Sen 1993)
zeption kann selbst als ein dominanter Strang der po- besonders klar. Die wahrscheinlich am weitesten aus-
litischen Philosophie der letzten 40 Jahre gelten, ent- gearbeitete Version des Ansatzes, in dem die aristote-
sprechend umfangreich sind die Kritiken daran. Für lischen Bezüge aber bereits wieder schwächer wer-
den gegenwärtigen Kontext sind besonders zwei Ein- den, legt Nussbaum mit Women and Human Develop-
wände von Bedeutung. Zum einen wird geltend ge- ment: The Capability Approach vor (Nussbaum 2000).
macht, Rawls berücksichtige bei seiner Konzeption In neueren Veröffentlichungen interpretiert Nuss-
der Grundgüter die tatsächliche Diversität der Vor- baum ihre Liste von capabilities (s. u.) überwiegend
stellungen vom guten Leben nicht und ignoriere die im Rahmen der Rawlsschen Konzeption eines über-
Erfahrungswelt insbesondere sozial schwächer ge- lappenden Konsenses und kaum mehr mit Bezug auf
stellter und marginalisierter Gruppen (Brighouse/Un- Aristoteles. Einen Überblick über ihre philosophi-
terhalter 2010). Zum anderen wird ihm vorgeworfen, schen Gewährsleute gibt Nussbaum in Creating Capa-
dass seine Grundgüterkonzeption nicht geeignet sei, bilities in einem eigenen Kapitel (Nussbaum 2013,
die Auswirkung von Gütern auf die Lebensführung 123 ff.).
unter variierenden Bedingungen zu erfassen. So mo- ›Capability‹ bezeichnet insgesamt die positive Frei-
niert insbesondere Sen an der Konzeption der Grund- heit, wertvolle Zustände und Aktivitäten (Funktio-
güter, dass sie keine ausreichende Garantie für ein in nen) zu erlangen. Diese Freiheit basiert auf sozialen,
Freiheit geführtes Leben zu bieten scheint (Sen 1980). psychologischen und materiellen Grundbedingun-
Durch einen Vergleich der unterschiedlichen Hand- gen, die es ermöglichen, diese Befähigungen zu ent-
lungsoptionen, die Personen mit und ohne Behin- wickeln und auszuüben. Basic capabilities oder in
derung mit denselben Gütern haben, verdeutlicht Sen, Nussbaums Begriffsverwendung central capabilities
dass Rawls’ Grundgüter ein unzureichendes Maß für sind die grundlegenden Ermöglichungsbedingungen
die realen Freiheiten von Personen sind. Die Umset- eines guten Lebens – »die Fähigkeit bestimmte äu-
zung von Grundgütern in eine Lebensführung hänge ßerst wichtige Funktionen zu einem gewissen mini-
von Faktoren ab, die mit dieser Einheit selbst nicht malen Grad zu erfüllen« (Sen 1993). Nussbaum (1988)
erfasst werden können. Wolle man die Mittel zur Ver- zufolge ergeben sich Befähigungen (combined capabi-
folgung eines guten Lebens ermessen, so dürfe man lities) aus der Verbindung von natürlichen Dispositio-
sich nicht auf die Grundgüter verlassen, sondern müs- nen (basic capabilities) und gesellschaftlichen Mög-
se auch die Umstände berücksichtigen, die die Um- lichkeiten (external capabilities). Die Maßeinheit ca-
setzung von Gütern in Lebensweisen und Handlun- pabilities ist auch jenseits einer Grundausstattung ein-
gen limitieren. schlägig, zahlreiche Beiträge im Rahmen des
Der Capability Approach, der Fähigkeiten- bzw. Befähigungsansatzes konzentrieren sich aber auf Ar-
Befähigungsansatz (zur Übersetzungsproblematik s. mutsthemen und daher auf Grundbefähigungen.
Heinrichs 2004) von Nussbaum und Sen beginnt mit Sens frühe Schriften lassen zunächst erwarten, dass
43 Grundgüter und Fähigkeiten 277

er eine Theorie der Grundbefähigungen hat, die für Überprüfung ihrer Liste in interkulturellen akademi-
ein menschenwürdiges Leben unumgänglich sind. Er schen Gesprächen und partizipatorischen Prozessen.
bezieht sich aber später nur im Kontext der Armuts- Nussbaum reklamiert, ihre Liste habe in der jüngsten
problematik und für die Human Development Re- Version die Überprüfung in interkulturellen Abwä-
ports auf basic capabilities (Sen 1993). Bis heute hat er gungen bestanden. Sie betont darüber hinaus, dass ih-
nicht nur keine aufgearbeitete Grundbefähigungsliste re Liste nicht nur offen, d. h. auf Basis von gesellschaft-
vorgelegt, sondern sich sogar explizit davon distan- lichen Erwägungen ergänzbar sei, sondern dass auch
ziert (z. B. Sen 2005). Sen zufolge werden Grundbefä- die einzelnen Befähigungen so abstrakt formuliert
higungen wie auch alle anderen gesellschaftlich als werden müssten, dass sie in partizipatorischen delibe-
wertvoll erachteten Befähigungen in gesellschaftli- rativen Prozessen durch die Bürger der jeweiligen Ge-
chen Entscheidungen festgelegt (ebd.). Zahlreiche sellschaften ausgestaltet werden könnten.
Autoren haben das Fehlen einer Grundbefähigungs- In der Auseinandersetzung zwischen Vertretern
liste in Sens Schriften beklagt und teilweise versucht, des Befähigungsansatzes und einer Grundgüterkon-
diese auf der Basis oder in Weiterentwicklung des Be- zeption wurde der Maßstab der Befähigung insbeson-
fähigungsansatzes nachzuliefern (z. B. Alkire 2002; dere dahingehend kritisiert, dass er sowohl in der Sen-
Gasper 2002; Heinrichs 2004; Nussbaum 2000; Wil- schen als auch in der Nussbaumschen Variante einen
liams 1988). Perfektionismus und eine starke Theorie des Guten
Nussbaum entwickelt in Auseinandersetzung mit (Kelly 2010) impliziere. Damit sei er zwischen unter-
Sen eine eigene vollständige Theorie der capabilities, schiedlichen Lebensentwürfen nicht mehr neutral
die mittlerweile mehrere Phasen durchlaufen hat. Im und tauge daher in einer pluralistischen Gesellschaft
Unterschied zu Sen generiert Nussbaum eine Liste nicht als Gerechtigkeitsmaßstab. Darüber hinaus sei
von zehn Grundbefähigungen und bezieht sich dabei die Messung von Befähigungen selbst wiederum so
ausführlich auf Traditionsbestände der Philosophie aufwendig, dass sie dem Publizitätskriterium nicht
wie eine Narrativitätskonzeption (Nussbaum 1995) mehr genügen könnten. Es sei Mitgliedern der Gesell-
und das aristotelische Funktionenargument (Nuss- schaft nicht mehr ohne weiteres möglich, den Maß-
baum 1988). Eine Befähigungsliste müsse all diejeni- stab zu evaluieren, mit dem Gerechtigkeitsurteile ge-
gen Befähigungen enthalten, derer es bedarf, damit troffen würden (Rawls 1999, 13).
wir das Leben einer Person als ein vollständiges, der Doyal und Gough legen einen explizit kantischen
Möglichkeit nach gutes menschliches Leben erken- Entwurf von Grundgütern vor. Anders als Rawls, von
nen können. Ihre frühere Version des Befähigungs- dem sie sich ausdrücklich distanzieren, orientieren
ansatzes identifiziert die einschlägigen Befähigungen sie sich dabei aber nicht an Kants Vernunftrechts-
unter dem Titel einer starken vagen Theorie des Gu- konzeption, sondern an dessen Moralphilosophie. Sie
ten. Diese Bezeichnung wendet sich kritisch gegen entwickeln in ihrer Theory of Human Needs (Doyal/
Rawls, der lediglich eine schwache Theorie des Guten Gough 1991) ein Maß, das den Erfolg sozialer Praxen
für rechtfertigbar erklärt hatte. Spätere Ausarbeitun- über alle Personen hinweg angeben soll. Die theoreti-
gen stützen sich stärker auf die Rawlssche Konzeption sche Rolle dieses Maßes verorten sie explizit in der
und sehen in der Liste lediglich einen Vorschlag für Theorie gesellschaftlichen Fortschritts. Obwohl – dem
eine partielle moralische Konzeption, die in einen Titel entsprechend – der Fokus ihrer Arbeit auf einer
übergreifenden Konsens eingehen könne. Die Recht- Theorie der Grundbedürfnisse liegt, entwickeln sie
fertigung der Liste folgt nicht mehr narrativistischen auf diesem Begriff aufbauend auch eine Konzeption
oder neoaristotelischen Linien, vielmehr nimmt von Grundgütern.
Nussbaum seit Women and Human Development Doyal und Gough beziehen sich explizit auf Kant,
(Nussbaum 2000) in Anspruch, es handele sich bei indem sie geltend machen, die Grundbedürfnisse je-
diesen Grundbefähigungen um die Bedingungen ei- des Menschen ließen sich mit einem transzendenta-
nes Lebens in Würde. Der Würdebegriff findet aller- len Argument ableiten. Grundbedürfnisse seien näm-
dings erst in Creating Capabilities eine explizite Dis- lich jene Bedürfnisse, deren Erfüllung die Bedingung
kussion (Nussbaum 2013). der Möglichkeit individuellen Handelns sei. Damit
Neben die quasi-deduktive Herleitung von Befähi- Menschen irgendwelche Ziele verfolgen könnten,
gungen aus dem aristotelischen Ansatz respektive müssten die Grundbedürfnisse erfüllt sein. Damit
dem Würdebegriff tritt spätestens seit Women and Hu- geht der deduktive Anspruch weiter als bei Rawls
man Development (Nussbaum 2000) eine empirische oder bei Nussbaum. Doyal und Gough versuchen
278 IV Gerechtigkeit im Kontext

Grundbedürfnisse bzw. -güter nicht aus den Bedin- baum 1995). Das transzendentale Argument macht
gungen voller Kooperationsfähigkeit als Bürger oder geltend, bestimmte Grundgüter oder Fähigkeiten sei-
eines guten Lebens abzuleiten, sondern aus jenen der en die Bedingung der Möglichkeit von Tätigkeiten
Handlungsfähigkeit überhaupt. Gough reklamiert in oder Zuständen menschlicher Wesen, die in der Per-
seinem jüngsten Artikel zum Thema explizit, die spektive der politischen Ethik als unverzichtbar gel-
Doyal-Gough-Theorie greife damit auf den »kleins- ten. Bei Rawls sind die Grundgüter, wie erwähnt, Be-
ten gemeinsamen Nenner universalisierbarer Vor- dingung der Möglichkeit einer eigenen Vorstellung
bedingungen für menschliches Handeln und soziale des Guten; bei Sen machen Grundbefähigungen »ge-
Partizipation« zurück (Gough 2014). wisse elementare und entscheidend wichtige Fähig-
Die Theorie identifiziert zwei Gruppen von Grund- keiten« (s. o.) möglich; bei Doyal und Gough ermög-
bedürfnissen, nämlich individuelle Grundbedürfnisse lichen sie individuelles Handeln der Person; bei Peter
(Überleben, Gesundheit, Autonomie und Lernen) so- A. Corning ermöglichen sie adaptive Fitness und da-
wie gesellschaftliche Grundbedürfnisse (Produktion, mit langfristiges Überleben der Spezies. Jüngst haben
Reproduktion, Kommunikation und Autorität). Wie Rutger Claassen und Marcus Düwell (2013) vor-
diese Bedürfnisse konkret bestimmt würden, sei von geschlagen, Nussbaums Capability Approach mithilfe
Kultur und Kontext abhängig. Aber aus allen Varian- von Alan Gewirths Moralphilosophie so umzugestal-
ten der Befriedigung von Grundbedürfnissen ließen ten, dass capabilities als die Bedingung der Möglich-
sich so genannte universal satisfiers (universelle Be- keit von Handlungen verstanden werden. Sie rücken
darfsdecker) abstrahieren. Diese universal satisfiers den Ansatz damit unter der Hand an den von Doyal
lassen sich durchaus als Grundgüter identifizieren. und Gough heran (Claassen/Düwell 2013). Das Pro-
Genauer beschreibt Gough die Eigenschaften von uni- blem für alle Theorien, die auf ein transzendentales
versal satisfiers als die Eigenschaften von Gütern, Argument bei der Bestimmung von Grundgütern zu-
Dienstleistungen, Aktivitäten und Beziehungen, die rückgreifen, besteht darin, dass sie leicht Gegenbei-
die physische Gesundheit und menschliche Auto- spielen anheimfallen. Wenn Personen nicht über die
nomie in allen Kulturen steigerten. Darunter fielen fraglichen Grundgüter oder Fähigkeiten verfügen,
beispielsweise die täglichen Kalorien in Nahrungsmit- aber dennoch eine Vorstellung vom Guten, von Hand-
teln, Schutz vor den Elementen und Schutz vor krank- lungsfähigkeit etc. haben, scheinen solche Theorien in
heitsübertragenden Vektoren (Gough 2014). Frage zu stehen.
Wie die universal satisfiers in einer Kultur und in Neben den transzendentalen Verfahren bemüht
einem Kontext realisiert würden, lasse sich einerseits insbesondere Nussbaum einen so genannten interna-
mittels wissenschaftlicher Informationen aus den Na- listischen Essentialismus, der zwar nicht durchweg
tur- und Ingenieurwissenschaften sowie der kom- deduktiv, aber zugleich auch nicht rein empirisch ar-
parativen Anthropologie klären, andererseits mittels gumentiert. Dieser Ansatz evaluiert aus der teilneh-
Erfahrungswissen der Personen im jeweiligen Kon- menden Perspektive der menschlichen Lebensform,
text. An dieses Erfahrungswissen gelange man am ob ein Leben als volles menschliches Leben erkannt
besten unter idealen Kommunikationsbedingungen werden kann. Menschen gäben sich in ihren Erzäh-
eines herrschaftsfreien Diskurses. lungen und Mythen insbesondere über nichtmensch-
liche Wesen wie etwa Zyklopen und Götter Auskunft
darüber, was ein menschliches Leben ausmache. Nar-
Verfahren zur Bestimmung von Grund- rative Vergleiche zu Göttern wiesen darauf hin, dass
gütern und Fähigkeiten Menschen sterblich und verletzlich seien, Vergleiche
mit Zyklopen darauf, dass Menschen soziale Wesen
Die meisten Theorien geben explizit das Verfahren an, seien (Nussbaum 1995). Die Grundgüter und Fähig-
mittels dessen sie Grundgüter und Fähigkeiten be- keiten, die auf deduktive Weise generiert werden,
stimmen. In den meisten Fällen werden deduktive sind durchweg relativ grob eingeteilt, um ihre Univer-
und empirische Verfahren kombiniert, um zuerst Ka- salität zu wahren. Die konkrete Ausgestaltung wird
tegorien der Grundsicherung zu definieren und diese nahezu durchweg Verfahren anheimgestellt, in denen
Kategorien dann kontextsensitiv auszufüllen. die Perspektive der jeweiligen in einer Kultur und in
Die deduktiven Verfahren gruppieren sich zum ei- einem Kontext verankerten Personen berücksichtigt
nen um ein transzendentales Argument, zum anderen werden kann.
um einen internalistischen Essentialismus (Nuss- Während die Perspektive unterschiedlicher kul-
43 Grundgüter und Fähigkeiten 279

tureller Gruppen in philosophischen Theorien mit Literatur


wenigen Ausnahmen nur als Desiderat erwähnt wird, Alkire, Sabina: Valuing Freedoms: Sen’s Capability Approach
spielt sie in der Praxis insbesondere der Entwicklungs- and Poverty Reduction. Oxford 2002.
Arndt, Christian/Volkert, Jürgen: Amartya Sen’s Capability-
hilfe eine konkrete Rolle. Seit den 1990er Jahren ha- Approach – Ein neues Konzept der deutschen Armuts-
ben sich so genannte partizipatorische Prozesse bei und Reichtumsberichterstattung. In: Vierteljahrshefte zur
der Gestaltung von Entwicklungsprozessen durch- Wirtschaftsforschung 75/1 (2006), 7–29.
gesetzt und die reinen Expertenurteile und konsulta- Atkinson, Anthony B.: Social Indicators: The EU and Social
torische Verfahren zum Teil verdrängt (The World Inclusion. Oxford 2002.
Bauer, Raymond A.: Social Indicators. Cambridge MA
Bank 1996). Partizipatorische Verfahren erfüllen zwei
1966.
unterschiedliche Rollen; sie sind einerseits episte- Brighouse, Harry/Robeyns, Ingrid (Hg.): Measuring Justice.
mische, andererseits aber auch politische Prozesse. Primary Goods and Capabilities. Cambridge 2010.
Als überwiegend epistemischer Prozess werden sie –/Unterhalter, Elaine: Primary Goods versus Capabilities:
beispielsweise bei Doyal und Gough gesehen, die Considering the debate in relation to equalities in educati-
durch das Erfahrungswissen vor Ort eine kontextsen- on. In: Hans-Uwe Otto/Holger Ziegler (Hg.): Capabilities
‒ Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in
sitive Anpassung ihrer universal satisfiers intendieren.
der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden 2010, 69–81.
Als politische Prozesse werden sie insbesondere bei Brock, Dan: Quality of life measures in health care and me-
Sen und bei Nussbaum gesehen, die konkrete Ergeb- dical ethics. In: Martha Nussbaum/Armatya Sen (Hg.):
nisse partizipatorischer Prozesse in ihren Arbeiten be- The Quality of Life. Oxford 1993, 95–132.
rücksichtigen. Beide erkennen an, dass die Einbin- Claassen, Rutger/Düwell, Marcus: The foundations of Capa-
dung in partizipatorische Prozesse selbst ein Teil der bility theory: Comparing Nussbaum and Gewirth. In: Et-
hical Theory and Moral Practice 16/3 (2013), 493–510.
Erfüllung von Grundbefähigungen ist, nämlich der Corning, Peter A.: Biological adaptation in human societies:
Fähigkeit zur politischen Teilhabe (agency achieve- A ›Basic Needs‹ approach. In: Journal of Bioeconomics 2/1
ment laut Sen, political control over one’s environment (2000), 41–86.
bei Nussbaum). Doyal, Len/Gough, Ian: A Theory of Human Need. Hounds-
Neben den partizipatorischen Prozessen finden mills 1991.
Gasper, Des: Is Sen’s Capability Approach an adequate basis
zum Teil empirische Verfahren der Natur- und Sozial-
for considering human development? In: Review of Politi-
wissenschaften Erwähnung, wenn es um die Bestim- cal Economy 14/4 (2002), 435–461.
mung von Grundgütern und Fähigkeiten geht. So Gough, Ian: Lists and thresholds: Comparing the Doyal-
macht Corning in seiner evolutionären Theorie der Gough theory of human need with Nussbaum’s Capabili-
Grundbedürfnisse geltend, biologische Erkenntnisse ties Approach. In: Flavio Comim/Martha Nussbaum
könnten Auskunft darüber geben, was Menschen zum (Hg.): Capabilities, Gender, Equality. Towards Fundamen-
tal Entitlements. Cambridge 2014 (im Erscheinen).
Überleben und zur Fortpflanzung brauchen. Doyal Heinrichs, Jan-Hendrik: Grundbefähigungen: Zum Verhält-
und Gough weisen auf Erkenntnisse aus den Natur- nis von Ethik und Ökonomie. Paderborn 2004.
wissenschaften wie aus der Anthropologie hin, derer Hurka, Thomas: Perfectionism. Oxford 1996.
es bedürfe, um Bedürfnisbefriediger zu identifizieren. Kelly, Erin: Equal opportunity, unequal capability. In: Harry
Weil Grundbefähigungen und Grundgüter ledig- Brighouse/Ingrid Robeyns (Hg.): Measuring Justice: Pri-
mary Goods and Capabilities. Cambridge MA 2010.
lich Maßeinheiten für das Wohlergehen von Per-
Nussbaum, Martha C.: Nature, function, and capability:
sonen sind, kann die Bevorzugung eines der beiden Aristotle on political distribution. In: Julia Annas/Robert
Standards nur eingeschränkt gerechtfertigt werden, H. Grimm (Hg.): Oxford Studies in Ancient Philosophy.
ohne die umfassende Gerechtigkeitstheorie zu dis- Oxford 1988, 145–184.
kutieren, in die sie eingebettet werden. Die Debatte –: Aristotle on human nature and the foundations of ethics.
hat sich über die bereits oben erwähnten klassischen In: J. E. J. Altham/Ross Harrison (Hg.): World, Mind, and
Ethics. Essays on the Ethical Philosophy of Bernard Wil-
Argumente für und wider beide Standards stark di- liams. Cambridge 1995, 86–131.
versifiziert. So wurden sowohl differenzierte Argu- –: Women and Human Development: The Capabilities Ap-
mentationsstrategien für beide Ansätze im Allgemei- proach. Cambridge 2000.
nen generiert als auch die Vorzüge beider Ansätze in –: Creating Capabilities. The Human Development Approach.
spezifischen Kontexten wie Erziehung und Bildung Cambridge/London 2013.
–/Sen, Amartya (Hg.): The Quality of Life. Oxford 1993.
(Otto/Ziegler 2010), Gesundheitsfürsorge (Brock
Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger (Hg.): Capabilities – Hand-
1993) etc. diskutiert. Einen guten Überblick über den lungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erzie-
Stand der Debatte liefern Harry Brighouse und Ingrid hungswissenschaft. Wiesbaden 2010.
Robeyns (2010).
280 IV Gerechtigkeit im Kontext

Rawls, John: Der Vorrang des Rechten und die Idee des Gu- 44 Moralische Rechte
ten. In: Wilfried Hinsch (Hg.): Rawls, Die Idee des politi-
schen Liberalismus. Frankfurt a. M. 1992, 364–397 (engl. ›Ius suum tribuere‹
1988).
–: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993).
–: The Law of Peoples. Cambridge 1999. Eine der ältesten und berühmtesten Charakterisie-
Scrivens, Katherine/Iasiello, Barbara: Indicators of »societal rungen der Gerechtigkeit expliziert sie als ständige
progress«: Lessons from international experiences. Wor- Bereitschaft, anderen Menschen ihr Recht zu geben
king paper, Organisation for Economic Co-operation and (ius suum tribuere). Besonders wirkungsmächtig ist
Development, Statistics Directorate. Paris 2010.
die Formulierung der Justinianischen Institutionen
Sen, Amartya: Equality of what? In: Sterling M. McMurrin
(Hg.): The Tanner Lectures on Human Values 1. Cam- aus dem 6. Jahrhundert: »Gerechtigkeit ist der stete
bridge 1980, 197–220. und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zu geben«
–: The standard of living, in: Geoffrey Hawthorn (Hg.): The (iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cui-
Standard of Living. Cambridge 1988, 1–38. que tribuens). Der Grundgedanke dieser Explikation
–: Capability and well-being. In: Martha C. Nussbaum/ ist schon zu Justinians Zeiten ein alter Hut. Justinian
Amartya Sen (Hg.): The Quality of Life. Oxford 1993, 30–
53.
zitiert mit diesen Worten den römischen Juristen Ul-
–: Human rights and capabilities. In: Journal of Human De- pian, der von ähnlichen Formulierungen bei Cicero
velopment 6/2 (2005), 151–166.United Nations General beeinflusst ist, der den Gedanken bei Platon gefunden
Assembly: Resolution 2 Session 55 United Nations Millen- haben könnte, der ihn (in der Republik) Polemarchus
nium Declaration. New York 2000. in den Mund legt, der sich auf den Dichter Simonides
Sher, George: Desert. Studies in Moral, Political and Legal
beruft (vgl. Raphael 2001, Part I). Ulpian erklärt die
Philosophy. Princeton 1987.
Williams, Bernard: The standard of living: Interests and ca- Tugend der Gerechtigkeit im Rückgriff auf Akte des
pabilities. In: Geoffrey Hawthorn (Hg.): The Standard of ›Gebens‹ (tribuere), deren Akkusativobjekte die sub-
Living. Cambridge 1988, 94–102. jektiven Rechte (lat.: ius, pl.: iura) anderer Menschen
The World Bank: The World Bank Participation Sourcebook. sind. Der Wille zur Gerechtigkeit zielt auf die ständige
Washington, D. C. 1996. und umfassende Achtung der Rechte anderer.
Jan-Hendrik Heinrichs Die Zielobjekte und Gegenstände eines gerechten
Willens, so Ulpian, sind subjektive Rechte. Aber ist die
Übersetzung des Lateinischen ius durch ›subjektives
Recht‹ nicht ein Anachronismus? Ist der Begriff eines
›subjektiven‹, einer Person zukommenden Rechts
nicht eine Erfindung der Moderne? Nein. Die angebli-
che Modernität subjektiver Rechte ist ein Mythos (vgl.
Tierney 2001). Soziale Institutionen wie Eigentum,
Vertrag und Ehe, wie sie seit jeher in allen Zivilisatio-
nen vorkommen, sind ohne ein (zumindest implizi-
tes) Erfassen des Begriffs eines subjektiven Rechts un-
denkbar. Denn diese und ähnliche Institutionen und
Praktiken werfen unweigerlich Fragen nach der Be-
rechtigung interpersonaler Ansprüche auf, deren
dauerhafte Regelung und Administration die Identifi-
zierung und Anerkennung der Rechte aller Beteiligten
erfordert. Überdies zeigt das Possessivpronomen su-
um in Ulpians analytischer Definition unmissver-
ständlich an, dass die iura, auf die der Wille zur Ge-
rechtigkeit zielt, etwas sind, das Menschen (Personen,
Subjekte) besitzen und das ihnen zukommt. Die hier
relevanten iura sind weder Rechte im ›objektiven‹ Sin-
ne von Rechtsordnungen noch im (unpersönlichen)
Sinne eines ›Richtigen‹, sondern im ›subjektiven‹, ei-
nen Besitzer und Rechtsträger implizierenden Sinne.
Allenfalls in einem Punkt weicht das griechisch-
44 Moralische Rechte 281

römische Verständnis von ius suum vom modernen siven – Handeln die subjektiven Rechte anderer Men-
Begriff subjektiver Rechte ab. Dem modernen Ver- schen umfassend zu achten.
ständnis nach sind subjektive Rechte für ihre Träger
zumindest pro tanto von Vorteil. Heute betrachten
wir subjektive Rechte als normative relationale Eigen- Anspruchsrechte und vollkommene
schaften, die ihren Trägern eine begünstigende nor- Pflichten
mative Position gegenüber anderen Personen einräu-
men. Ihre Funktion besteht darin, ihren Besitzern ein Um welchen Typ subjektiver Rechte handelt es sich
Gut zu sichern, kein Übel. Dieses Verständnis ist spä- und welche Pflichten impliziert ihre umfassende Ach-
testens bei Jeremy Bentham explizit: »Einem Indivi- tung? Im 13. Jahrhundert wird die Ulpiansche Analyse
duum den Besitz eines bestimmten Guts zu sichern, von Thomas von Aquin präzisiert. In seiner Summe der
heißt ihm ein subjektives Recht zu übertragen« (Bent- Theologie macht Thomas sich zunächst Ulpians ana-
ham 1843, 159; Hervorh. im Orig.). Hingegen sind lytische Definition der Gerechtigkeit zu eigen (ebd.,
die Ulpianschen iura, deren Achtung ein Gebot der II-II q. 58 a. 1c). Sein Paradebeispiel eines Gerech-
Gerechtigkeit ist, für ihre Besitzer nicht immer er- tigkeitsverhältnisses ist die kommutative Beziehung,
freulich. Das zeigt die Bemerkung eines mittelalterli- die durch eine Vereinbarung (pactum, pl.: pacta) über
chen Ulpian-Kommentators, der erklärt, dass das ius einen Lohn im Austausch für eine Dienstleistung
eines Menschen im hier relevanten Sinne »ein Kranz (recompensatio mercedis debitae pro servitio impenso;
ist, wenn er Gutes verdient; eine Strafe, wenn er ge- ebd., II-II q. 57 a. 1c) gestiftet wird. Vereinbarungen al-
sündigt hat« (coronam, si bene meruerit; poenam si ler Art unterliegen einem Sekundärprinzip der Ge-
peccaverit; zit. n. Carlyle/Carlyle 1909, Kap. 1). Wer rechtigkeit, das Ende des 12. Jahrhunderts von den Bo-
Unrecht getan hat, mag eine Strafe verdienen; aber für logneser Glossatoren entwickelt wurde und das im
moderne Ohren klingt es ungereimt, von einem sub- modernen Recht als ›das Prinzip der Vertragstreue‹ be-
jektiven Recht des Täters auf Bestrafung zu sprechen kannt ist: »Vereinbarungen sind einzuhalten« (pacta
(aber immerhin noch nicht für Hegel: Hegel 1820, sunt servanda; vgl. ebd., II-II q. 110 a. 3c). Angenom-
§ 100). Ein weiteres Bedenken richtet sich gegen die men, A verspricht B, ihn für eine Dienstleistung mit 10
Übersetzung von tribuere durch ›geben‹. Mit Blick auf Euro zu entlohnen. Das durch diesen Akt des Verspre-
Ciceros Formulierung der klassischen Gerechtig- chens entstehende pactum ist nach Thomas so zu be-
keitsformel wendet Kant ein: »[S]uum cuique tribue. schreiben: Durch sein Versprechen verpflichtet sich A
– Die letztere Formel, wenn sie so übersetzt würde: gegenüber B zur Zahlung von 10 Euro im Austausch
›Gieb Jedem das Seine‹ würde eine Ungereimtheit sa- für B ’s Dienstleistung; zugleich berechtigt es B zum Er-
gen; denn man kann niemandem etwas geben, das er halt von 10 Euro seitens A, sobald B die Dienstleistung
schon hat« (Kant 1797/1988, 46). Aber wie Kant selbst erbringt. Das Versprechen generiert ein bilaterales Ge-
sieht, zeigt dieser Einwand bestenfalls, dass ›geben‹ rechtigkeitsverhältnis zwischen A und B, in dem A eine
hier nicht in einem rein aktivischen Sinne zu verste- (bedingte) Pflicht und B ein korrelatives (bedingtes)
hen ist. Tribuere kann nicht nur ein aktives Zuteilen Recht hat. Wir können verallgemeinern. Vereinbarun-
meinen, sondern auch ein passives Lassen. Der klassi- gen aller Art erzeugen nach Thomas interpersonale
sche Gerechtigkeitsbegriff ist allgemeiner als der mo- Recht/Pflicht-Beziehungen, in denen eine Partei den
derne. Er umfasst nicht nur distributive, sondern normativen Status eines Gläubigers und Rechtsträgers
auch korrektive bzw. kommutative Gerechtigkeit (vgl. und die andere Partei den normativen Status eines
NE V; ST, I-II q. 60 a. 3 ad 3). Beispielsweise ist Folter Schuldners und Verpflichteten hat. Der Versprechens-
nach klassischer Auffassung eine Ungerechtigkeit – geber A hat nun eine Schuld (debitum) – in Form einer
aber keine distributive, sondern eine kommutative. Pflicht gegenüber B und der Versprechensempfänger B
Entsprechend müssen wir tribuere im Kontext der Ul- ein korrelatives subjektives Recht auf Erfüllung dieser
pianschen Gerechtigkeitsdefinition als ein Teilhaben- Pflicht gegenüber A. Das Ergebnis solcher Verein-
lassen im weiten Sinne verstehen. Dieser Sinn schließt barungen zwischen zwei Parteien A und B ist ein Ge-
alle (aktiven und passiven) Handlungen ein, die an- rechtigkeitsverhältnis in Form einer Recht/Pflicht-Re-
deren Menschen den störungsfreien Genuss ihrer lation nach dem Schema:
Rechte ermöglichen. Folglich besteht die Tugend der (Korr): A hat gegenüber B ein moralisches Recht auf
Gerechtigkeit nach Ulpian in der steten und dauer- B ’s φen genau dann, wenn B gegenüber A die
haften Bereitwilligkeit, im eigenen – aktiven und pas- moralische Pflicht hat, zu φen.
282 IV Gerechtigkeit im Kontext

Für Thomas sind aus Vereinbarungen resultierende bar erwachsen. Thomas’ impliziter Verweis auf (Korr)
Recht/Pflicht-Relationen für Gerechtigkeitsverhält- macht klar, dass es sich bei den moralischen Rechten,
nisse paradigmatisch. Aber er ist nicht der Auffassung, deren umfassende und stete Achtung die Gerechtig-
dass Gerechtigkeitsverhältnisse ausschließlich durch keit gebietet, um Hohfeldsche Anspruchsrechte han-
pacta in die Welt kommen. Viele Recht/Pflicht-Rela- delt. Denn (Korr) ist Hohfelds kontextuelle Definiti-
tionen sind nicht das Ergebnis eines datierbaren Wil- on dessen, was er als »Anspruch« (claim) oder als
lensaktes. Vielmehr finden wir uns in ihnen immer »subjektives Recht im strikten Wortsinn« (Hohfeld
schon vor. Nicht nur in vertraglichen, auch in nicht- 1913/2007, 62) bezeichnet und von anderen Typen
konsensuellen zwischenmenschlichen Beziehungen subjektiver Rechte, seien es Freiheitsrechte (privile-
trete »deutlich zu Tage, dass ein Mensch dem anderen ges), Befugnisse (powers) oder Immunitäten (immuni-
gegenüber verpflichtet ist, ihm das zu geben, was er ties), unterschieden wissen will. In der Terminologie
ihm schuldet« (manifeste apparet quod homo est alteri des modernen Naturrechts (vgl. Kersting 1982) sind
obligatus ad reddendum ei quod debet; ebd., II-II q. 122 Anspruchsrechte mit so genannten ›vollkommenen‹
a. 1). Von besonders bedeutsamen und allgemeingül- Pflichten – und nur mit ihnen – begrifflich äquivalent,
tigen nicht-konsensuellen Gerechtigkeitsverhältnis- aber nicht identisch. Zu beachten ist jedoch, dass es
sen, so Thomas, handeln die alttestamentarischen Thomas (im Unterschied zu Hohfeld) in diesem Kon-
Zehn Gebote. Alle Gebote des Dekalogs brächten For- text nicht primär um positiv-juridische, sondern um
derungen der Gerechtigkeit zum Ausdruck (ergo om- kritisch-moralische Anspruchsrechte geht. Denn die
nia praecepta Decalogi pertinent ad iustitiam; ebd., Forderungen der Gerechtigkeit und die von ihnen
II-II q. 122 a. 1). Als solche sind sie anderen Personen, implizierten Rechte sind von der Existenz positiver
die ein entsprechendes korrelatives Recht haben, Rechtsordnungen unabhängig. Gerechtigkeitsfragen
strikt geschuldet: Ihre Erfüllung ist ein debitum, wie stellen sich auch im Naturzustand.
Thomas betont. Die Existenz solcher Recht/Pflicht-
Relationen erscheint zumindest mit Blick auf die Ver-
bote von Mord, Diebstahl und Lüge der zweiten Tafel Der Ursprung des Begriffs eines subjektiven
des Dekalogs plausibel. Die jeweiligen moralischen Rechts
Rechte und Pflichten beruhen nicht auf pacta, son-
dern auf der intrinsischen Schädlichkeit von Mord, Thomas versteht Gerechtigkeitsbeziehungen als nor-
Diebstahl und Lüge etc. für Wesen mit der geistigen mative Relationen, die in Anspruchsrechte und voll-
und körperlichen Konstitution von Menschen. Mord, kommene Pflichten zerfallen. Die Möglichkeit der ex-
Diebstahl und Lüge verletzen natürliche Rechte und pliziten begrifflichen Artikulation von Gerechtigkeits-
Pflichten, deren Existenz weder auf Vereinbarungen beziehungen als Recht/Pflicht-Relation suggeriert ei-
noch überhaupt auf Willenssetzungen beruht. Darü- ne These über den Ursprung und den Erwerb des
ber hinaus gibt es Gerechtigkeitsverhältnisse, die Begriffs eines moralischen Anspruchsrechts: Wir er-
durch kontingente Umstände entstehen und ver- werben den Begriff eines Anspruchsrechts (und seines
gehen. Beispielsweise generiert die Tatsache, dass in Pflichtkorrelats), wenn wir lernen, Gerechtigkeits-
einer Nothilfesituation allein A ohne unzumutbare beziehungen als Recht/Pflicht-Relationen zu verste-
Risiken und Kosten ein Kleinkind B vor dem Ertrin- hen und die entsprechende begriffliche Zerfällung
ken bewahren kann, eine Recht/Pflicht-Relation, in vorzunehmen. Der entscheidende Schritt ist die Ein-
der A eine Rettungspflicht gegenüber B und B ein kor- sicht in die allgemeine Möglichkeit einer analytischen
relatives Anspruchsrecht auf Rettung gegenüber A Zergliederung einer Relationsaussage a[R]b in zwei
hat. Hier ist es die Koinzidenz zweier Umstände, näm- Teilaussagen über zwei korrelative relationale Eigen-
lich das Ertrinken B ’s und die zufällige Präsenz A ’s, schaften [aR]b und a[Rb]. Nach Thomas sind bilatera-
die ein Gerechtigkeitsverhältnis erzeugt. le Gerechtigkeitsbeziehungen in dieser Hinsicht wie
Zusammenfassend können wir sagen, dass eine (heterosexuelle, monogame) Ehen. Eine Relationsaus-
Person A nach Thomas die moralischen Rechte einer sage wie ›Frau Müller und Herr Schmidt sind verhei-
anderen Person B genau dann achtet, wenn A B gibt, ratet‹ kann als Behauptung über das Bestehen einer
was A ihm schuldet (reddere quod ei debit); und A gibt Ehe-Beziehung aufgefasst und begrifflich so artiku-
B, was er ihm schuldet, wenn er stets und ständig liert werden: [Frau Müller]-Ehe-[Herr Schmidt]. Al-
die moralischen Pflichten erfüllt, die ihm aus B ’s ternativ kann sie jedoch auch als von einer Ehefrau/
moralischen Rechten nach Schema (Korr) unmittel- Ehemann-Relation handelnd verstanden werden, die
44 Moralische Rechte 283

zwei Personen zwei unterschiedliche relationale Ei- kundären und derivativen Sinne kann Gerechtigkeit
genschaft zuschreibt: Frau Müller [ist-Ehefrau-von- auch von Handlungen oder Institutionen ausgesagt
Herrn-Schmidt], und Herr Schmidt [ist-Ehemann- werden. Gleichwohl hat in explanatorischer Hinsicht
von-Frau Müller]. In dem Augenblick, indem wir uns der Begriff der gerechten Handlung den Primat.
über die allgemeine Möglichkeit dieser Alternativzer- Denn Gerechtigkeit-als-Tugend wird von Ulpian er-
gliederung von Ehebeziehungen klar werden, erwer- klärt als Disposition-zu-gerechtem-Handeln. Ein
ben wir die zwei Korrelationsbegriffe ›Ehemann‹ bzw. zweites Merkmal des klassischen Gerechtigkeits-
›Ehefrau‹. Analog für Gerechtigkeitsbeziehungen: Die begriffs ist seine Interpersonalität. Gerechtigkeit ist
kognitive Fähigkeit, bilaterale Gerechtigkeitsbezie- das Paradigma einer sozialen, interpersonalen Tu-
hungen begrifflich in Recht/Pflicht-Relationen zu gend. Sie ist, wie Thomas betont, ihrem Wesen nach
gliedern, geht einher mit dem Erwerb der zwei Korre- auf den Anderen (ad alterum) gerichtet. Denn die
lationsbegriffe ›Rechtsträger‹ und ›Pflichtinhaber‹. Handlungen, zu denen diese Tugend ihre Besitzer
Diese Einsicht manifestiert sich in der logischen Fä- disponiert, beziehen sich notwendig auf andere Per-
higkeit und Bereitschaft, vom Bestehen einer Gerech- sonen: A kann nur vis-à-vis einer zweiten Person B
tigkeitsbeziehung auf die Existenz eines Rechts- und gerecht oder ungerecht sein. Sich selbst gegenüber
eines Pflichtinhabers zu schließen (analog für Ehen kann man diesem Verständnis nach bestenfalls in ei-
und deren Relata, d. h. die jeweiligen Ehefrauen und nem metaphorischen Sinne (un)gerecht sein. Die we-
Ehemänner). sentliche Interpersonalität von Gerechtigkeitsbezie-
hungen überträgt sich auf die beiden korrelativen re-
lationalen Eigenschaften, in die sie zerfallen. Auch
Drei Merkmale des klassischen Gerechtig- Anspruchsrechte und vollkommene Pflichten sind
keitsbegriffs wesentlich relationale, interpersonale Eigenschaften
von Personen. Ein drittes Merkmal des klassischen
Damit haben wir die klassische, von Ulpian formulier- Gerechtigkeitsbegriffs ist seine peremptorische Stren-
te und von Thomas präzisierte Analyse von Gerechtig- ge. Die Erfüllung gerechter Forderungen ist, in Tho-
keit in hinreichender Schärfe vor uns. Ihr zufolge ist mas’ Worten, eine Schuld (debitum), deren Erfüllung
gerecht, wer stets und dauerhaft bereit ist, die An- nicht von unseren Neigungen und Wünschen ab-
spruchsrechte anderer zu berücksichtigen und zu ach- hängt. In der Terminologie des modernen Natur-
ten, indem er die vollkommenen Pflichten erfüllt, die rechts handelt es sich um ›vollkommene‹ Pflichten
mit diesen moralischen Rechten korrelieren. Metho- der Schuldigkeit, im Unterschied zu den ›unvollkom-
disch folgt Ulpians klassische Analyse der wissen- menen‹ Pflichten der Gütigkeit, bei deren Erfüllung
schaftstheoretischen Empfehlung des Aristoteles, Dis- unsere Wünsche und Neigungen zumindest hinsicht-
positionen durch ihre Aktualisierungen und Aktuali- lich des Wann, Wie und Wo einen gewissen Spiel-
sierungen durch deren Gegenstände zu explizieren raum haben (vgl. Kersting 1982). Gerechtigkeits-
(Über die Seele, II.4, 415a16–22). Ulpian fasst Gerech- beziehungen sind moralisch asymmetrisch, insofern
tigkeit als eine charakterliche Disposition, die sich in der Pflichtinhaber den moralischen Status eines
Handlungen aktualisiert, deren Ziele und Gegenstän- Schuldners und der Rechtsträger den moralischen
de die subjektiven Rechte anderer sind. Der Begriff Status eines Gläubigers hat.
der Gerechtigkeit-als-Tugend wird erklärt durch den
Begriff der gerechten Handlung, der wiederum durch
den Begriff der umfassenden Achtung moralischer Die moralische Notwendigkeit positiver
Anspruchsrechte erläutert wird: 1) Die Tugend der Konkretisierungen und Sicherungen
Gerechtigkeit ist eine ständige Disposition des Wil-
lens (constans et perpetua voluntas) zu gerechten Die peremptorischen Pflichten bzw. Anspruchsrechte
Handlungen des Teilhabenlassens (tribuere), die 2) in beider Parteien einer Gerechtigkeitsbeziehung sind
der umfassenden Achtung der moralischen An- jedoch weiterer Konkretisierung fähig und bedürftig.
spruchsrechte anderer Menschen (iura sua) bestehen. Zwar kann, so Thomas, prinzipiell jeder Mensch allein
Der so explizierte klassische Gerechtigkeitsbegriff durch seine Vernunft erkennen, dass z. B. Mord, Dieb-
hat drei Merkmale. Erstens fasst er Gerechtigkeit pri- stahl und Lüge ungerecht sind und alle Menschen An-
mär als moralische Charaktereigenschaft von Per- spruchsrechte auf die entsprechenden Unterlassungen
sonen: als Tugend (s. Kap. III.29). Nur in einem se- haben. Gleichwohl ist der präzise normative Gehalt
284 IV Gerechtigkeit im Kontext

der so erkennbaren Gerechtigkeitsprinzipien in der so lauten: ›Tritt in einen Zustand, worin Jedermann
Praxis oft vage und unterbestimmt, weil er für sich ge- das Seine gegen jeden Anderen gesichert sein kann‹
nommen keine hinreichend genaue Identifikation der (Lex iustitiae)« (Kant 1797/1988, 46).
zu achtenden Rechte erlaubt. Allgemein ist nach Tho-
mas der normative Gehalt der kritisch-moralischen
Prinzipien des Naturrechts (lex naturalis) wesentlich Gerechtigkeit und subjektive Rechte
unterbestimmt und der Konkretisierung durch die bei John Stuart Mill
politisch-autoritativen Setzungen einer positiven
Rechtsordnung (lex positiva) dringend bedürftig. Die- In Kapitel V von Utilitarianism von 1861 macht Mill
sen politisch-autoritativen Konkretisierungsprozess sich die klassische Analyse von Gerechtigkeit zu eigen.
bezeichnet Thomas als »determinatio« (ST I-II q. 95, Mill grenzt zunächst innerhalb des normativen Ge-
2; vgl. auch Finnis 1998, Kap. V. I.). Er erfordert posi- biets allgemeiner Nützlichkeit (the field of General Ex-
tiv-moralische und positiv-rechtliche Stipulationen pediency) den Bereich der (kritischen) Moral (morali-
einer politischen Autorität, die kontingente histori- ty) ab. Er sucht nach einem Kriterium, das es uns er-
sche, ökonomische und natürliche Umstände berück- laubt, nützliche, aber nicht verpflichtende Handlun-
sichtigt. Diese autoritativen Stipulationen sind nicht gen von solchen zu unterscheiden, die auszuführen
willkürlich, weil die kritisch-moralischen Prinzipien wir moralisch verpflichtet sind. Das entscheidende
der Gerechtigkeit bestimmte Konkretisierungen aus- Merkmal von Pflichthandlungen, so Mill, sei die Straf-
schließen. Aber für sich genommen sind sie mit einer würdigkeit ihrer Unterlassung: Ein Tun oder Lassen
Vielzahl gleichermaßen zulässiger Stipulationen ver- sei genau dann moralisch notwendig – und somit mo-
träglich. Eben deshalb bedarf es einer finalen politi- ralische Pflicht – wenn seine Unterlassung eine Be-
schen Autorität, die zwischen ihnen verbindlich ent- strafung rechtfertigt (Mill 1863, 247). Bloß nützliche
scheidet. Dass diese politische Autorität ›final‹ ist, Handlungen unterscheiden sich demnach von Pflicht-
heißt nicht, dass sie infallibel wäre. Im Gegenteil, der handlungen der Moral dadurch, dass ihre Unterlas-
autoritative Konkretisierungsprozess geschieht im sung zwar moralisch suboptimal, aber nicht strafwür-
steten Bewusstsein seiner Revidierbarkeit und grund- dig ist. In einem zweiten Schritt identifiziert Mill in-
sätzlichen Offenheit für Anpassungen und Verände- nerhalb des so bestimmten Gebiets moralischer
rungen. Eine vollständige Konkretisierung der Recht/ Pflichten den »heiligsten und verbindlichsten Teil der
Pflicht-Relationen zwischen Mitgliedern größerer Ge- Moral« (ebd., 255), den Bereich der Gerechtigkeit:
meinschaften ist äußerst komplex (vgl. Finnis 2011, »Gerechtigkeit ist der Name einer gewissen Klasse
Kap. VIII 5). Selbst für vergleichsweise einfache Ge- moralischer Regeln, welche die Notwendigkeiten
rechtigkeitsverhältnisse erfordert dieser Prozess mini- menschlichen Wohls (the essentials of human well-
mal a) die Bestimmung der Klasse der Rechtsinhaber; being) näher betreffen und die deshalb von absoluterer
b) die Festlegung der Klasse der Pflichtträger; und c) Verbindlichkeit (of more absolute obligation) sind als
die Identifikation des Handlungstyps, der den Inhalt alle anderen Regeln der Lebensführung« (ebd.). Dem-
des Rechts bzw. der Pflicht bildet (vgl. die entspre- nach verdanken die Pflichten der Gerechtigkeit ihre
chenden Überlegungen zu einem Menschenrecht auf peremptorische Dringlichkeit ihrer überragenden Be-
Freiheit von schwerer Armut in Hinsch/Stepanians deutung für die Befriedigung grundlegender mensch-
2005). Ein weiteres, ebenfalls nur durch positiv-mora- licher Bedürfnisse. Aber anhand welcher Kriterien,
lische und positiv-rechtliche Setzungen zu erfüllendes fragt Mill, lassen sich Pflichten der Gerechtigkeit von
Desiderat ist die Sicherung der konkretisierten Rechte bloß moralischen Pflichten unterscheiden?
durch Zwangsmittel. Beides, sowohl die moralische In seiner Antwort greift Mill auf die oben schon er-
Notwendigkeit der Konkretisierung von Rechten und wähnte naturrechtliche Einteilung aller Pflichten in
Pflichten als auch deren dauerhafte Sicherung, erfor- ›vollkommene‹ und ›unvollkommene‹ zurück: »Be-
dert letztlich die Etablierung einer umfassenden posi- kanntlich unterteilen Ethiker moralische Pflichten in
tiven Rechtsordnung. So verstanden hat Kant recht, zwei Klassen, die mit den irreführenden Ausdrücken
wenn er die klassische Gerechtigkeitsformel letztlich Pflichten vollkommener und unvollkommener Ver-
als Aufforderung zur positiv-rechtlichen Institutiona- bindlichkeit bezeichnet werden; wobei Letztere jene
lisierung einer »Gerechtigkeitsordnung« im Sinne ei- sind, die zwar verbindlich sind, deren Erfüllungs-
ner »lex iustitiae« interpretiert: »Wenn [die Formel su- anlässe jedoch in unsere Wahl gestellt bleiben, wie im
um cuique tribue] einen Sinn haben soll, so müßte sie Fall der Wohl- oder Mildtätigkeit, die zu praktizieren
44 Moralische Rechte 285

zwar verbindlich ist, aber weder gegenüber einer be- Dworkin, Rawls und in subjektiven Rechten
stimmten Person noch zu einer bestimmten Zeit. In fundierte Gerechtigkeitstheorien
der präziseren Sprache der philosophischen Juristen
sind Pflichten mit vollkommener Verbindlichkeit je- Im Zuge der Renaissance des Menschenrechtsgedan-
ne Pflichten, kraft derer sich in einer oder mehreren kens (s. Kap. IV.45) und der Idee moralischer Rechte
Personen ein korrelatives Recht [a correlative right] allgemein nach 1945 findet auch die klassische Auf-
befindet; Pflichten unvollkommener Verbindlichkei- fassung von Gerechtigkeit erneute Aufmerksamkeit.
ten sind solche moralischen Verbindlichkeiten, die In seinem einflussreichen Aufsatz »Justice and Equa-
kein Recht gebären« (ebd., 247; Hervorh. im Orig.). lity« von 1962 wirbt Gregory Vlastos für Platons Auf-
Für vollkommene Pflichten der Gerechtigkeit gilt im fassung von Gerechtigkeit, die er so definiert: »Eine
Unterschied zu bloßen, weil unvollkommenen Pflich- Handlung ist genau dann gerecht, wenn sie aus-
ten der Moral: Mindestens eine andere Person hat auf schließlich mit Rücksicht auf die subjektiven Rechte
ihre Erfüllung ein korrelatives Recht. Pflichten der all derer vorgeschrieben ist, die sie substanziell affi-
Gerechtigkeit, und nur sie, erfüllen (Korr). Demnach ziert« (Vlastos 1962, 53; Hervorh. im Orig.). Auch
impliziert der Vorwurf, dass eine Handlung unmora- John Finnis bekennt sich zu Beginn der 1980er Jahre
lisch sei, in Mills Augen für sich genommen nur, dass zur klassischen Konzeption, wenn er (Thomas zu-
sie moralisch falsch (wrong), d. h. strafwürdig ist. Der stimmend) betont: »Gegenstand (das definierende
Vorwurf, dass sie nicht nur moralisch falsch, sondern Ziel oder die Pointe) der Gerechtigkeit sind subjekti-
darüber hinaus ungerecht sei, wiegt schwerer. Denn ve Rechte« (Finnis 2011, 460; vgl. auch Finnis 1998,
er impliziert nach Mill »zweierlei – eine falsche Hand- Kap. V. I.). In jüngster Zeit hat Nicholas Wolterstorff
lung und eine zuordenbare Person, der ein Unrecht in Justice – Rights and Wrongs von 2008 in gleicher
zugefügt wird« (a wrong done, and some assignable Absicht hervorgehoben, dass Gerechtigkeit und sub-
person who is wronged; ebd., 247). Die ›absolutere‹ jektive Rechte zwei Kehrseiten derselben Medaille
Verbindlichkeit von Pflichten der Gerechtigkeit im sind: »Ich betrachte Gerechtigkeit als durch subjekti-
Unterschied zu anderen Pflichten der Moral rührt al- ve Rechte konstituiert: Eine Gesellschaft ist gerecht,
so daher, dass ihre Verletzung nicht nur falsch und insofern ihre Mitglieder Güter genießen, auf die sie
verwerflich ist, sondern darüber hinaus einer konkre- ein Recht haben« (Wolterstorff 2008, xii). Grundsätze
ten, identifizierbaren Person ein Unrecht zufügt. Wie der Gerechtigkeit implizieren moralische Rechte;
ein Blick auf (Korr) zeigt, besteht dieses Unrecht in aber auch umgekehrt beeinflusst die Struktur mora-
der Verletzung eines moralischen Anspruchsrechts lischer Rechte den Inhalt von Gerechtigkeitsprinzi-
dieser Person. pien. Das ist der Grundgedanke in Hillel Steiners
Die größere (›absolutere‹) Verbindlichkeit von Buch A Theory of Rights von 1994: »Die Elementar-
vollkommenen Pflichten der Gerechtigkeit gegen- teilchen der Gerechtigkeit sind subjektive Rechte.
über bloß unvollkommenen Pflichten der Moral Rechte sind die Entitäten, die durch Gerechtigkeits-
rührt also daher, dass wir für ihre Erfüllung nicht nur prinzipien geschaffen und verteilt werden« (Steiner
einen Grund haben, sondern zwei. Ihre Nicht-Erfül- 1994, 2; Hervorh. im Orig.). Daher gelte auch: »Wir
lung ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern ver- lernen etwas über Gerechtigkeit, indem wir die for-
letzt immer und notwendig auch ein moralisches malen oder charakteristischen Eigenschaften subjek-
Recht mindestens einer anderen Person. Denn »Ge- tiver Rechte untersuchen. Diese Eigenschaften be-
rechtigkeit impliziert etwas, das nicht nur zu tun rich- schränken den möglichen Inhalt von Gerechtigkeits-
tig und nicht zu tun falsch ist, sondern das eine ande- prinzipien auf ganz ähnliche Weise wie Bauvorschrif-
re Person als ihr moralisches Recht von uns einfor- ten die Eigenschaften der Baumaterialien reflektieren,
dern kann« (ebd.). Folglich ist das Gebiet der Gerech- die sie orchestrieren« (ebd.).
tigkeit, des für Mill »heiligsten und verbindlichsten Der wohl detaillierteste zeitgenössische Versuch,
Teils der Moral«, jener Bereich, in dem es um die Ach- die klassische Auffassung von Gerechtigkeit neu zu
tung moralischer Rechte geht. Der Kernbegriff der begründen und zu präzisieren, stammt von Ronald
Gerechtigkeit, so Mill, ist der eines moralischen An- Dworkin. In »Gerechtigkeit und Rechte« (Original-
spruchsrechts: »Die Vorstellung, die wir als für die titel »Justice and Rights«, 1977) argumentiert Dwor-
Idee der Gerechtigkeit wesentlich gefunden haben, ist kin, dass der analytische Zusammenhang zwischen
die eines einem Individuum innewohnenden Rechts« Gerechtigkeit und subjektiven Rechten keine Erfin-
(ebd., 255). dung der Philosophen ist, sondern tief verwurzelten
286 IV Gerechtigkeit im Kontext

Alltagsintuitionen entspricht. Am paradigmatischen –: Natural Law and Natural Rights [1980]. Oxford ²2011.
Beispiel von John Rawls’ Hauptwerk A Theory of Justi- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philoso-
ce von 1971 (dt. 1975) beansprucht Dworkin zu zei- phie des Rechts. Berlin 1820.
Hinsch, Wilfried/Stepanians, Markus: Severe poverty as a
gen, »dass unsere Intuitionen über Gerechtigkeit nicht human rights violation – weak and strong. In: Andreas
nur voraussetzen, dass Menschen subjektive Rechte Føllesdal/Thomas Pogge (Hg.): Real World Justice:
haben, sondern dass eines von diesen Rechten grund- Grounds, Principles, Human Rights, and Social Institutions.
legend und sogar axiomatisch ist. Dieses grund- Dordrecht 2005, 295–315.
legendste aller Rechte ist eine distinkte Konzeption Hohfeld, Wesley N.: Einige Grundbegriffe des Rechts, wie
sie in rechtlichen Überlegungen Anwendung finden. In:
des Rechts auf Gleichheit, die ich als das Recht auf
Markus Stepanians (Hg.): Individuelle Rechte. Paderborn
gleiche Anteilnahme und [gleichen] Respekt [equal 2007, 51–85 (engl. 1913).
concern and respect] bezeichne« (Dworkin 1984, Ein- Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangsgründe der Rechts-
leitung, § 4). Wie alle akzeptablen Gerechtigkeitstheo- lehre [1797]. Hg. von Bernd Ludwig. Hamburg 1988.
rien, so Dworkin, sei auch Rawls’ Auffassung von Ge- Kersting, Wolfgang: Das starke Gesetz der Schuldigkeit und
rechtigkeit – im Einklang mit der klassischen Konzep- das schwächere der Gütigkeit. Kant und die Pflichtenlehre
des 18. Jahrhunderts. In: Studia Leibnitiana 14/2 (1982),
tion – in subjektiven Rechten fundiert (right-based). 184–220.
Eine eingehende Analyse von Eine Theorie der Gerech- Mill, John Stuart: Utilitarianism. London 1863.
tigkeit zeige, so Dworkin, dass Rawls Gerechtigkeit als Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
universales und natürliches Recht aller Menschen auf 1975 (engl. 1971).
gleiche Achtung ihrer moralischen Rechte auffasse: Raphael, Daiches D.: Concepts of Justice. Oxford 2001.
Steiner, Hillel: An Essay on Rights. Oxford 1994.
»Wir können [...] sagen, dass [Rawls’] Gerechtigkeit
Stepanians, Markus (Hg.): Individuelle Rechte. Paderborn
als Fairness auf der Annahme eines natürlichen Rechts 2007.
aller Männer und Frauen auf gleiche Anteilnahme Thomas von Aquin: Summe der Theologie. Stuttgart ³1985
und gleichen Respekt beruht, ein Recht, das sie nicht [ST].
nur aufgrund von Geburt oder Merkmalen oder Ver- Tierney, Brian: The Idea of Natural Rights – Studies on Na-
dienst oder Tugend haben, sondern schlicht aufgrund tural Rights, Natural Law, and Church Law 1150–1625.
Grand Rapids 2001.
ihres Menschseins« (ebd., 182). Rawls selbst scheint
Vlastos, Gregory: Justice and equality. In: Richard Brandt
den ›Rechte-fundierten‹ Charakter seiner Theorie zu (Hg.): Social Justice. Englewood Cliffs 1962, 31–72.
bestätigen, wenn er unterstreicht, dass seine Konzep- Wolterstorff, Nicholas: Justice – Rights and Wrongs.
tion Gerechtigkeit im Rückgriff auf natürliche Rechte Princeton 2008.
und Pflichten der Moral begründe. Seine Theorie der
Markus Stepanians
Gerechtigkeit als Fairness, so Rawls in Eine Theorie der
Gerechtigkeit, habe »die charakteristischen Merkmale
einer Naturrechtstheorie [...]. Nicht nur gründet sie
fundamentale Rechte auf natürliche Attribute und un-
terscheidet deren Grundlagen von sozialen Normen,
sondern sie weist Personen subjektive Rechte durch
Prinzipien gleicher Gerechtigkeit zu« (Rawls 1975,
Kap. VIII, § 77, Fn. 30).

Literatur
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Stuttgart 1969 [NE].
–: Über die Seele. Stuttgart 2011.
Bentham, Jeremy: A General View of a Complete Code of
Laws. In: Ders.: The Works of Jeremy Bentham. Hg. von
John Bowring, Bd. 3. London ³1843.
Carlyle, Robert W./Carlyle, Alexander J.: A History of Medie-
val Political Theory in the West. London 41909.
Dworkin, Ronald: Gerechtigkeit und Rechte. In: Ders.: Bür-
gerrechte ernstgenommen. Frankfurt a. M. 1984, S. 252–
302 (engl. 1977).
Finnis, John: Aquinas – Moral, Political, and Legal Theory.
Oxford 1998.
45 Menschenrechte und Grundrechte 287

45 Menschenrechte und sporadisch und meist beiläufig erörtert (wichtige Aus-


Grundrechte nahmen: Gosepath 2004, Kap. IV; Dworkin 2012,
Kap. 15). Allenfalls in neueren Debatten um ›globale
Gerechtigkeit‹ bzw. ›globale Armut‹ hat der Begriff
Die deutschen Termini ›Gerechtigkeit‹ und ›Men- der Menschenrechte auch innerhalb der philosophi-
schenrechte‹ weisen ersichtlich denselben Wortstamm schen Gerechtigkeitsdebatte eine gewisse Konjunktur
auf. In beiden Fällen klingt das ›Rechte‹ an, das in der erfahren (meist im Anschluss an Rawls 2002; s. Kap.
althochdeutschen Sprache etwa ab dem 8. Jahrhundert II.16, 17, III.35, V.56). Allerdings gehen etwaige Be-
als Bezeichnung für Meinungen, Handlungen, Per- zugnahmen hier nur selten einmal über den – sehr
sonen und dann auch zunehmend für soziale Umstän- wohl wichtigen – Hinweis hinaus, dass die Menschen-
de, Regeln, Gesetze oder Institutionen Verwendung rechte in systematischer Hinsicht so etwas wie ›mini-
findet, die ›gerade‹ oder ›aufrecht‹ geartet sind und male‹ (globale) Gerechtigkeit fordern (vgl. Tugendhat
sich damit auf der ›richtigen Seite‹ befinden (im Ge- 1993, 390 f.). Umgekehrt gilt, dass sich in der aktuellen
gensatz zu dem, was ›links‹ ist). Trotz dieser etymolo- Menschenrechtsdebatte zwar vielerorts der Hinweis
gischen Nähe ist jedoch das Verhältnis beider Begriffs- finden lässt, dass die Menschenrechte in einem engen
konzepte aus philosophischer Sicht bis heute weit- thematischen Zusammenhang zu Fragen der Gerech-
gehend ungeklärt, ja, die Debatten über Gerechtigkeit tigkeit stehen (exemplarisch Pogge 2011). Doch syste-
und Menschenrechte kreuzen sich eher selten, so dass matische Überlegungen dazu, wie genau dieser be-
die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede griffliche Zusammenhang beschaffen ist, erschöpfen
beider Konzepte keineswegs auf der Hand liegen und sich, der Sache nach, zumeist in eher oberflächlichen
daher im Folgenden aufgedeckt werden sollen. Vorab Variationen der dem klassischen Naturrecht ver-
muss es aber im ersten Abschnitt dieser Überlegungen pflichteten Überzeugung, dass die Menschenrechte –
um die Aufklärung einer terminologischen Verwir- ganz so wie Theorien der Gerechtigkeit auch – eine
rung gehen, die dadurch entsteht, dass man die Men- Art »übergesetzliches Recht« definieren, wie es pro-
schenrechte sehr häufig mit ›Grundrechten‹ in einem minent bei Gustav Radbruch heißt; ein Recht, dem
Atemzug nennt und auch verwechselt. Es handelt sich das positive oder gesatzte Recht zu weichen habe, so-
dabei aber weder um synonyme Begriffe noch um voll- bald es zu »gesetzlichem Unrecht« oder gar zu »un-
ends verschiedene Begriffskonzepte, sondern ledig- erträglich« ungerechten Gesetzesanwendungen kom-
lich, wie zu zeigen sein wird, um zwei verschiedene me (Radbruch 1946, bes. 107).
›Aggregatzustände‹ fundamentaler Rechtsansprüche. Mit diesem gemeinsamen Bezug auf eine Art ›hö-
Im zweiten Abschnitt sollen dann zunächst wichtige heres‹ Recht ist gleichwohl eine erste systematische
Parallelen zwischen den Debatten um Gerechtigkeit Gemeinsamkeit angedeutet, aus der sich unmittelbar
und Menschenrechte aufgezeigt werden. Im dritten auch eine zweite Parallele ergibt: Sobald nämlich phi-
Abschnitt sind die wichtigsten Differenzen in Bezug losophische Begriffskonzepte der Gerechtigkeit oder
auf die inhaltliche Frage zu klären, ob Forderungen der der Menschenrechte die Idee eines derart höheren
Gerechtigkeit und der Menschenrechte denselben Rechts propagieren, an dem sich das ›irdische‹ Recht
oder auch nur einen ähnlichen Gegenstand haben. Im im Kollisionsfall messen lassen muss, handelt es sich
Schlussabschnitt wird es dann um wichtige formale bei beiden Begriffskonzepten um dezidiert politische
Begriffsunterschiede und damit um die Frage gehen, Ordnungsvorstellungen. Zwar kann die Philosophie
inwiefern sich Forderungen der Gerechtigkeit und der sowohl den Begriff der Gerechtigkeit als auch den der
Menschenrechte strukturell unterscheiden. Menschenrechte als ›vorstaatlich‹ oder ›überpositiv‹
in dem Sinn verstehen, dass beide Begriffe der Kritik
empirisch konkreter Rechts(un-)ordnungen voraus-
Drei Parallelen zwischen den Debatten um gehen müssen. Aber indem beide Arten von Theorie
Gerechtigkeit und Menschenrechte diesen empirischen Rechts(un-)ordnungen normativ
vorschreiben wollen, wie sie gestaltet sein sollten, sind
Zwar nimmt die zeitgenössische Gerechtigkeitsdebat- beide philosophischen Begriffskonzepte von vorn-
te nicht selten auf philosophische Konzepte des herein als politische – und damit nicht bloß als ›mora-
›Rechts‹ Bezug (s. Kap. IV.44, 47), aber systematische lische‹ (s. Kap. IV.41, 44) – Ordnungsvorstellungen zu
Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit Blick auf den verstehen. Wer in öffentlich-rechtlichen und institu-
spezifischeren Begriff der Menschenrechte werden nur tionellen Zusammenhängen auf Gerechtigkeit oder
288 IV Gerechtigkeit im Kontext

aber auf die Menschenrechte pocht, gibt seinem bzw. ge kommt, bürgt allein schon das Faktum gleichen
ihrem Gegenüber zu verstehen, dass er oder sie die po- Menschseins (Bielefeldt 2012).
litischen und mithin gesetzlichen Umstände, um de- Damit sind die drei wichtigsten konzeptionellen
ren Kritik es geht, im Lichte höherer Rechtsnormen Gemeinsamkeiten zwischen philosophischen und po-
für mangelhaft oder gar unerträglich hält. litischen Forderungen der Gerechtigkeit und ebensol-
Bei genauerem Hinsehen lässt sich an politischen chen Appellen im Namen der Menschenrechte be-
Forderungen nach Gerechtigkeit und Menschenrech- nannt: 1) In beiden Fällen werden kontexttranszen-
ten zugleich auch eine dritte Gemeinsamkeit ablesen: dierende Normen angerufen, die philosophisch auch
Beide Begriffskonzepte weisen in systematischer Hin- dann Gültigkeit beanspruchen sollen, wenn sie empi-
sicht einen konstitutiven Bezug zum Begriff der Gleich- risch nicht gelten. 2) In beiden Fällen werden Alterna-
heit auf (s. Kap. II.28). Auch wenn innerhalb der phi- tiven zu politisch vorherrschenden Ordnungskonzep-
losophischen Gerechtigkeitsdebatte umstritten sein ten vorgeschlagen, die kritisch als Vorschlag zu deren
mag, wie strikt ›egalitaristisch‹ eine Theorie der Ge- Transformation zu verstehen sind. 3) Für beide Ord-
rechtigkeit ausgerichtet sein müsse, und die klassische nungskonzepte ist die Idee der Gleichheit zentral, die
gerechtigkeitstheoretische Gewissheit, dass ›Unglei- den Status einer konzeptionellen »Präsumtion« zuge-
ches ungleich‹ zu behandeln sei, von der jeweils in Fra- wiesen bekommt (dazu Gosepath 2004, 200–211).
ge stehenden Theorie als noch so fundamental ein-
gestuft werden mag: Theorien der Gerechtigkeit wer-
den aus der für sie jeweils zentralen Perspektive der Zum Unterschied von Menschenrechten
›Unparteilichkeit‹ (vgl. Lohmann 2001) kaum vollends und Grundrechten
auf die korrespondierende Gewissheit verzichten kön-
nen, dass in mindestens einer konzeptionell wichtigen Wie eben schon angedeutet, werden die Begriffe
Hinsicht – sei es mit Blick auf Grundgüter, Chancen, ›Menschenrechte‹ und ›Grundrechte‹ gelegentlich als
Rechte, Pflichten etc. – eben doch auch ›Gleiches austauschbare Synonyme verwendet, was aus rechts-
gleich‹ behandelt werden müsse. philosophischer Sicht die systematische Erkundigung
Ähnliches gilt auch für die philosophische Men- notwendig macht, wie genau sich deren begriffliches
schenrechtsdebatte: Im Einzelfall mag strittig sein, wie Verhältnis zueinander darstellt (vgl. für das Folgende:
egalitär die Anerkennung universeller Menschenrech- Pollmann 2012). In der rechtshistorischen Rückschau
te gedacht werden muss und ob man als Träger dieser auf einschlägige Rechtsdokumente, in denen es im
Rechte tatsächlich bereits dann alle Menschenrechte Laufe der Rechtsgeschichte zur Verkündung oder gar
besitzt, wenn man irgendein Menschenrecht besitzt. zur Positivierung von Menschenrechten bzw. Grund-
So halten heute vereinzelt Verteidigerinnen und Ver- rechten gekommen ist, wird rasch deutlich, dass lange
teidiger der Menschenrechte noch immer an der An- Zeit keine Unterschiede – zumindest keine eindeu-
sicht fest, dass der Besitz von Menschenrechten ›gra- tigen – zwischen beiden Begriffen gemacht wurden
duiert‹ werden könne. Demnach mögen z. B. vollwer- (vgl. die Dokumente in Hartung/Commichau/Mur-
tige Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mehr Rechte phy 1998). Selbst noch das deutsche Grundgesetz von
als Flüchtlinge besitzen, so genannte Personen mehr 1949 scheint beide Begriffe auf den ersten Blick als
Rechte als Nicht-Personen genießen, Erwachsene bedeutungsgleich zu behandeln, wenn es in Artikel 1
mehr Rechte als Kinder auf sich vereinen oder Män- Abs. 2 heißt, das deutsche Volk bekenne sich zu »un-
ner mehr Rechte als Frauen einfordern dürfen. Kriti- verletzlichen und unveräußerlichen Menschenrech-
kerinnen und Kritiker dieser relativistischen Theorie- ten«, während Abs. 3 umgehend hinzufügt, dass daher
varianten sehen in eben diesen Graduierungen eine »nachfolgende Grundrechte« den deutschen Staat
menschenrechtliche Ungerechtigkeit, die sich eben nur und seine Organe verfassungsrechtlich binden sollen.
schwer mit der Prämisse menschenrechtlicher Gleich- Aber gerade diese Struktur von Artikel 1 ist rechtsphi-
heit vertrage; vielmehr seien die Menschenrechte auch losophisch bedeutsam, weil sich darin ein historisch
in dem Sinn ›unteilbar‹, dass man sie als Mensch ent- und politisch wichtiger Schritt von den Menschen-
weder alle oder aber keines davon habe. Einig sind rechten zu den Grundrechten niederschlägt – womit
sich jedoch fast alle philosophischen Theorien der beide Rechtsbegriffe eben doch auf terminologisch
Menschenrechte in zumindest diesem egalitären angemessene Weise differenziert werden. Denn der zi-
Punkt: Für den Umstand, dass man überhaupt als Trä- tierte Übergang von Artikel 1 Abs. 2 zu Abs. 3 muss als
ger von (zumindest einigen) Menschenrechten in Fra- eine dezidierte »Begründung« verstanden werden
45 Menschenrechte und Grundrechte 289

(Brugger 1997): Eben weil sich das deutsche Volk zu und die ihm in politischen Deklarationen, einzelstaat-
Rechten aller Menschen, und zwar weltweit, bekennt, lichen Verfassungen oder auch völkerrechtlichen Ab-
bindet es sich und seine Staatsgewalt – in positiv ge- kommen als ›angeboren‹, ›unverlierbar‹ und ›unver-
satzter Form – an subjektive öffentliche Rechte im Sin- äußerlich‹ zuerkannt werden müssen. Folgt man dem
ne Georg Jellineks (1892/2006), die eben dadurch zu aus rechtshistorischer Sicht bislang symbolträchtigs-
»nachfolgenden Grundrechten« (Art. 1 Abs. 3 GG) ten Dokument, der Allgemeinen Erklärung der Men-
werden und fortan »als unmittelbar geltendes Recht« schenrechte von 1948, so dienen die Menschenrechte
(ebd.) zu verstehen sind. Anders gesagt: Menschen- dem Schutz und der Garantie von elementaren Le-
rechte werden zu Grundrechten, indem sie nicht bloß bensinteressen, basalen Freiheiten, grundlegenden po-
philosophisch oder politisch ›deklariert‹ werden, son- litischen Partizipationsmöglichkeiten sowie elementa-
dern in Form von verfassungsrechtlich verbürgten ren sozialen, ökonomischen und kulturellen Teilhabe-
und damit einklagbaren Ansprüchen eine positiv- chancen. Die Menschenrechte fungieren damit welt-
rechtliche Verankerung erfahren (anders etwa die weit, d. h. über nationale, regionale, kulturelle oder
Verwendung des Begriffs »basic rights« bei Shue 1996, auch religiöse Grenzen hinweg, als Mindestnormen,
der letztere von vornherein mit überpositiven Men- an denen sich die Legitimität öffentlicher Gewalt und
schenrechten identifiziert). mithin staatlicher Herrschaft messen lassen muss.
Allerdings ergibt sich aus dem inhärenten Anspruch Dass die Menschenrechte jedem Menschen bereits
der Menschenrechte, in positivierte Grundrechte qua Menschsein zukommen, will besagen, dass es sich
transformiert zu werden, unmittelbar ein philosophi- um Rechte handelt, die ›universelle‹, ›kategorische‹
sches Problem: Das vermeintlich ›höhere‹ und damit und ›egalitäre‹ Geltung beanspruchen dürfen (Loh-
zunächst nur ›gedachte‹ Recht der Menschenrechte mann 1998). Was genau dies freilich jeweils heißt, wie
dient der Kritik empirisch defizienter Rechts(un-)ord- konsequent diese Geltungsansprüche zu verstehen
nungen. Indem dieses höhere Recht nun aber selbst, sind und ob sich daraus wichtige weitere Geltungs-
und zwar in der Gestalt von Grundrechten, zu positi- ansprüche ergeben, ist philosophisch umstritten (da-
vem Recht wird, wandert in dieses positive Recht eine zu Kap. II.1 und IV.1 in Pollmann/Lohmann 2012).
Spannung ein: Entspricht die empirisch jeweils kon- Vor allem aber ist mit ihrer universellen, kategori-
krete Ausgestaltung der Grundrechte denn auch wirk- schen und egalitären Sollgeltung gemeint, dass die
lich den (gedachten) Menschenrechten? Und wie lässt Menschenrechte – im Gegensatz zu vielen anderen
sich das entscheiden? Man kann diese Spannung mit Rechten – ihren Trägern vollends unabhängig von in-
Blick auf die deutsche Verfassung an periodisch auf- dividuellen Eigenschaften, persönlichen Leistungen,
flammenden Debatten z. B. über die ›Aushöhlung‹ des sozialen Zugehörigkeiten oder intersubjektiven Ver-
Menschenrechts auf Asyl, über das Fehlen kodifizierter einbarungen zustehen. Dabei weisen die Menschen-
›sozialer‹ Grundrechte oder auch über die Frage able- rechte stets die folgende Grundstruktur auf, die sie mit
sen, wie mit ›neuen‹ Menschenrechten, z. B. dem Recht positivierten Grundrechten gemein haben (vgl. Alexy
auf informationelle Selbstbestimmung, umzugehen 1999): A hat gegenüber B einen gerechtfertigten An-
sei, die sich aus dem bisherigen Verfassungstext bislang spruch auf x. Und diese Rechtsform ist äquivalent mit:
so nicht zu ergeben scheinen. B hat gegenüber A die begründete Pflicht zu x. Mit A
Doch kommen wir zu der Frage zurück, was der Be- sind jeweils einzelne Rechtssubjekte, mit B die für die
griff ›Menschenrechte‹ meint. Ein Blick auf die inzwi- Gewährleistung der entsprechenden Rechtsansprüche
schen weitverzweigte Menschenrechtsdebatte (dazu verantwortlichen Pflichtadressaten und mit x die von
der interdisziplinäre Überblick: Pollmann/Lohmann diesen zu gewährleistenden Rechtsgüter gemeint (z. B.
2012) führt einem rasch die Unmöglichkeit einer ›öku- Leben, Freiheit, Sicherheit, Teilhabe, Gleichheit). Dass
menischen‹ Definition der Menschenrechte vor Au- es sich dabei um ›gerechtfertigte‹ Ansprüche handeln
gen, die nach Art eines overlapping consensus eine uni- muss, bedeutet, dass alle der von den konkreten
versell geteilte Begriffsdeutung zuließe. Und doch gibt Rechtsrelationen Betroffenen (d. h. sämtliche As und
es einige recht allgemeine Begriffsaspekte, die weit- Bs) diese Ansprüche wechselseitig mit rationalen
gehend als unstrittig gelten: Man versteht unter Men- Gründen akzeptieren können müssen. Aus welchen
schenrechten gemeinhin rechtssystematisch grund- konkreten Gründen diese Ansprüche zu akzeptieren
legende und zudem inhaltlich fundamentale ›indivi- sind (ob aus metaphysischen, naturrechtlichen, ver-
duelle Rechte‹ (vgl. Stepanians 2007), die jedem einzel- nunftrechtlichen, anthropologischen, vertragstheo-
nen Menschen bereits qua Menschsein zustehen sollen retischen, diskursethischen etc.), ist Gegenstand einer
290 IV Gerechtigkeit im Kontext

anhaltenden »Begründungsdebatte« (dazu Kap. II.2 in griffliches Problem angezeigt: Die Menschenrechte
Pollmann/Lohmann 2012). implizieren das Ansinnen ihrer juridischen Kodifizie-
Während grundsätzlich jede Art von Recht die rung in Form von einklagbaren Grundrechten. Genau
oben erwähnte formale Grundstruktur aufweist, in diesem Moment ihrer Positivierung aber verwan-
nimmt deren inhaltliche Konkretisierung im Fall der deln sie sich, denn in der Gestalt von Grundrechten
Menschenrechte bzw. der Grundrechte eine für diese gelten kodifizierte Menschenrechte nunmehr noch
Rechte jeweils charakteristische Form an: Mit A sind für diejenigen, die im Geltungsbereich der gemein-
in beiden Fällen nicht etwa partikulare Rechtssubjekte samen Verfassung leben. Und dies sind vornehmlich
(z. B. Vertragspartner, Erben, Teilnehmer am Straßen- – wenn auch nicht ausschließlich, wie der Fall von Mi-
verkehr, diskriminierte Gruppen) gemeint, sondern – grantinnen und Migranten zeigt – die Bürgerinnen
in einem noch näher zu spezifizierenden Sinn – ›alle‹. und Bürger des betreffenden Staates. So entsteht aus
Dagegen sind die mit B bezeichneten Pflichtadressa- menschenrechtlicher Sicht ein philosophischer Wi-
ten, zumindest in der politischen bzw. der öffentlich- derspruch: Die Transformation der Menschenrechte
rechtlichen Auslegung beider Begriffe (vgl. Menke/ in kodifizierte Grundrechte verwirklicht zwar deren
Pollmann 2007, Kap. 1 und 2), ausdrücklich nicht alle inhärenten Anspruch auf Positivierung, doch dabei
einzelnen Individuen, obwohl dies in der Philosophie scheinen die Menschenrechte zugleich auch ihre Uni-
sehr häufig angenommen wird (für eine derart inter- versalität einzubüßen (vgl. Bobbio 1998, Kap. 1).
personelle und damit moralische Deutung vgl. exem-
plarisch Griffin 2009), sondern zuvorderst die für die
öffentliche Ordnung verantwortlichen Akteure und Inhaltliche Unterschiede zwischen
Repräsentanten, d. h. politische und staatliche Funk- Menschenrechtsforderungen und
tionsträger. Mit Blick auf die konkreten Rechtsgüter x Gerechtigkeitsansprüchen
gilt schließlich, dass es sich – im doppelten Sinn – um
›fundamentale‹ Rechtsansprüche handelt: Zum einen Die Menschenrechte werden häufig in drei inhaltliche
sind diese Rechte inhaltlich so beschaffen, dass es ih- Klassen unterteilt, die sich in historischer Stufenfolge
nen um ›Mindeststandards‹ geht, die garantiert sein ergeben haben sollen: ›negative Freiheitsrechte‹, ›po-
müssen, damit die betreffenden Rechtsträger auch et- litische Teilnahmerechte‹ und ›soziale Teilhaberech-
waige weiterreichende Rechte in Anspruch nehmen te‹. Abgesehen davon, dass diese Dreiteilung ange-
können. Zum anderen bilden diese Rechte, sobald sie sichts der Heterogenität völkerrechtlich bereits ver-
in einem ausdifferenzierten Rechtssystem in Form briefter Menschenrechte etwas unterkomplex anmu-
von Grundrechten kodifiziert sind, dessen Wertefun- tet, lässt diese dreifache Binnendifferenzierung
dament; d. h. sie sind dann als rechtliche Grundent- vermuten, dass sich daraus sowohl auf inhaltlicher als
scheidungen zu verstehen, an denen die öffentliche auch auf historischer Ebene sehr verschiedene Bezüge
Ordnung die eigene normative Basisstruktur ausrich- zur philosophischen Gerechtigkeitsdebatte ergeben.
tet und an denen sich dann auch alle weiteren Rechte Während die Teilklasse negativer Freiheitsrechte seit
und politischen Entscheidungen zu orientieren haben jeher im Mittelpunkt liberaler Gerechtigkeitskonzep-
(Alexy 1994, Kap. 10). tionen steht, rücken politische Teilhaberechte vor al-
Die begrifflichen Unterschiede zwischen Men- lem im Rahmen republikanischer Ordnungsvorstel-
schenrechten und Grundrechten zeigen sich aber erst lungen in den Fokus, während die Klasse der sozialen
dann, wenn man jeweils deren Geltungsbereich ab- Teilhaberechte zuvorderst das ideengeschichtliche Er-
steckt. Genau dann bekommt die obige Behauptung, be sozialistischer Gerechtigkeitstheorien ist (Loh-
Träger dieser Rechte seien ›alle‹, eine jeweils unter- mann 2000). Trotz dieser ersten historischen Paralle-
schiedliche Bedeutung: Menschenrechte kommen de- len wird häufig übersehen, dass die Inhalte von Ge-
finitionsgemäß (mindestens) allen Menschen weltweit rechtigkeitsforderungen einerseits und Forderungen
zu (vielleicht aber auch manchen Tieren; dazu etwa im Namen der Menschenrechte andererseits in zwei
die Debatte im Anschluss an Donaldson/Kymlicka bedeutsamen Hinsichten nicht deckungsgleich sind.
2013). Die Geltung von verfassungsrechtlich ver- Die erste dieser inhaltlichen Differenzen betrifft
ankerten Grundrechten hingegen muss stets auf den den in politischen Verteilungsfragen unstrittigen Um-
Hoheitsbereich desjenigen Verfassungsstaates be- stand, dass sich politische Gerechtigkeitsvorstellun-
schränkt bleiben, der diese Rechte ausdrücklich per gen lediglich unter anderem auf die Verteilung grund-
Verfassung garantiert. Damit ist zugleich auch ein be- legender Rechte beziehen. Als politisch ›ungerecht‹
45 Menschenrechte und Grundrechte 291

werden regelmäßig auch ganz andere Missstände ge- als das, was für ein umfassend ›gutes‹ oder gar ›glück-
deutet oder erfahren, z. B. die Falsch- oder Ungleich- liches‹ Leben notwendig wäre und z. B. im Erwar-
verteilung von materiellem Eigentum, von Arbeit und tungshorizont so mancher ›egalitaristischer‹ oder
Freizeit, Chancen und Risiken, Bildung und Kultur, ›perfektionistischer‹ Gerechtigkeitstheorie liegt. Die
Privilegien und Ämtern, Pflichten und Verantwort- Menschenrechte zielen vielmehr inhaltlich auf einen
lichkeiten usw., und damit nicht nur die diskriminie- ethischen ›Zwischenbereich‹, der mehr als bloßes
rende Ungleichverteilung basaler Rechtsansprüche. Überleben und doch zugleich auch weniger als Glück
Die Menschenrechte hingegen setzen zunächst aus- bedeuten würde. Und dieser inhaltliche Zwischen-
nahmslos auf Rechte bzw. auf Forderungen in Rechts- bereich wird in der Menschenrechtsdebatte gemein-
form. Die jeweils konkret eingeforderten Rechts- hin mit der These markiert, die Menschenrechte ziel-
ansprüche mögen sich zwar, ihrem Inhalt nach, mit ei- ten auf ein Leben in ›Menschenwürde‹ (Menke/Poll-
nigen der oben genannten Gerechtigkeitsforderungen mann 2007, Abschnitt III; zum systematischen Gehalt
überschneiden. Der systematische Unterschied je- der menschenrechtlichen Menschenwürdeidee Kauf-
doch ist folgender: Mögen auch Forderungen der Ge- mann et al. 2010; s. auch Kap. IV.40).
rechtigkeit bisweilen sogar ausdrücklich mit der Rede Folglich kann ein Mensch leben, ohne zugleich
von (moralischen) ›Rechten auf‹ operieren, so setzt menschenwürdig zu leben (z. B. in Sklaverei, auf der
der Menschenrechtsdiskurs von vornherein auf Rechte Flucht oder in Armut), während zugleich gilt, dass ein
im ›starken‹ (juristisch durchsetzbaren) Sinn. Diese Mensch menschenwürdig leben kann, ohne dass er
harren so lange ihrer Verwirklichung, wie sie ihren deshalb bereits gut leben müsste (weil z. B. keine um-
Trägern nicht auch in Form von juridisch einklag- fassende Verteilungsgerechtigkeit gegeben ist). Damit
baren bzw. erzwingbaren Ansprüchen zuerkannt wer- aber erweist sich die Behauptung, die Menschenrechte
den (vgl. Tugendhat 1993, Kap. 17). Mit anderen Wor- zielten auf ›minimale‹ Gerechtigkeit, als irreführend.
ten: Während der Gerechtigkeitsdiskurs auf Ebene der Zwar sind die Menschenrechte inhaltlich ›bescheide-
normativen Begründungen weitgehend mit ›schwa- ner‹ als so manche Gerechtigkeitsvorstellung. Das An-
chen‹ oder eben moralischen Rechten operiert, sind spruchsniveau menschenwürdigen Lebens ist ersicht-
die Menschenrechte von vornherein »gleichzeitig der lich niedriger zu veranschlagen als das des guten Le-
Moral und dem Recht zugewandt [...] Ungeachtet ih- bens. Und doch ist das, was mit der Verwirklichung
res moralischen Inhalts haben sie die Form juristi- menschenwürdigen Lebens erreicht wäre, keineswegs
scher Rechte« (Habermas 1998, 177). so ›minimal‹, wie es hier suggeriert wird, denn das Le-
Der zweite wichtige Unterschied ergibt sich aus ben in Menschenwürde ginge doch teilweise weit über
dem normativen ›Anspruchsniveau‹, das Gerechtig- das hinaus, was zu nacktem Überleben notwendig wä-
keitsvorstellungen einerseits und menschenrechtliche re. Daher muss der inhaltliche Zusammenhang noch
Forderungen andererseits zu etablieren versuchen. An etwas genauer formuliert werden: Es geht bei den
eben dieser Stelle erfolgt gelegentlich der weiter oben Menschenrechten bzw. den Grundrechten inhaltlich
bereits erwähnte Hinweis, dass die Menschenrechte, um eine (weltweite) Gleichverteilung von Mindest-
zumindest in distributiven Zusammenhängen, auf standards menschenwürdigen Lebens.
›minimale‹ Gerechtigkeit zielen. Tatsächlich geht es
den Menschenrechten in inhaltlich konkreter Hin-
sicht nicht schon um das Ganze der distributiven Ge- Formale Unterschiede zwischen
rechtigkeit, sondern lediglich um Fragen einer Art Menschenrechtsforderungen und
›Grundsicherung‹ (Gosepath 2008), d. h. um Min- Gerechtigkeitsansprüchen
deststandards gelingenden Lebens. So würden gerech-
tigkeitstheoretische Forderungen nach einer umfas- Wie weiter oben bereits angedeutet, basieren zeitge-
senderen Umverteilung der – national oder sogar welt- nössische Gerechtigkeitstheorien meist auf einer
weit verfügbaren – Ressourcen teilweise weit über das »Präsumtion der Gleichheit« (Gosepath 2004, 200–
hinauszielen, was als Anspruch auf eine spezifisch 211) und damit auf dem Prinzip eines wechselseitigen
menschenrechtliche Gleichbehandlung einzuklagen moralischen Respekts zwischen jenen, die zu diesem
wäre (so etwa die Tendenz bei Nussbaum 2014). Die Respekt fähig sind. Zwar berücksichtigen die gemein-
Menschenrechte fordern zwar ersichtlich mehr als nur ten Theorien fast immer auch (zumindest manche)
das, was der Mensch zum ›nackten‹ oder ›bloßen‹ andere Subjekte als anspruchsberechtigt, die nicht
Überleben braucht, aber doch zugleich auch weniger schon gleichermaßen zu moralischem Respekt fähig
292 IV Gerechtigkeit im Kontext

zu sein scheinen (z. B. Embryonen, Kinder, geistig Be- in dem betreffenden Herrschaftsverband übernom-
hinderte, höher entwickelte Tiere). Aber etwaige mo- men haben oder öffentliche Funktionen oder Ämter
ralische Verpflichtungen gegenüber diesen vulnerab- bekleiden. Besteht nicht auch der Staat letztlich nur
len Gruppen ergeben sich häufig erst sekundär, und aus jeweils individuellen Funktionsträgern, die sich je-
zwar als wechselseitige Übereinkunft jener vernunft- weils persönlich, d. h. moralisch, für ihr Tun verant-
fähigen Autorinnen und Autoren der Moral, auch die- wortlich fühlen müssen? Und haben diese staatlichen
sen Gruppen moralische Rücksicht zu schulden. Im Funktionsträger menschenrechtliche Pflichten nicht
Kern bleibt es meist bei einer vorgängig reziproken gerade deshalb, weil sie eben auch als moralische Sub-
Begründungsstruktur: ›Wir‹ sind als einzelne mora- jekte menschenrechtlich verpflichtet sind?
lische Subjekte – im starken Sinn – anspruchsberech- Den gleichwohl bestehenden Unterschied zwi-
tigt, weil wir zugleich auch – im starken Sinn – zur Ge- schen moralischen und menschenrechtlichen Pflich-
währleistung entsprechender Ansprüche gegenüber ten kann man sich an einem Beispiel deutlich machen:
den unfreiwillig Benachteiligten (die wir am Ende ja Herr K. ist Polizist, 34 Jahre alt, verheiratet, Vater
auch selbst sein können) verpflichtet sind. Somit kor- zweier Kinder. In seiner Freizeit treibt er Sport in einer
respondieren individualmoralischen Ansprüchen auf Rugby-Mannschaft. In all diesen Rollen und Funktio-
Gerechtigkeit ebenso individualmoralische Pflichten nen gilt K. als nicht ganz unumstritten: Als Polizist ist
zur Gerechtigkeit, und folglich gehen moralisch be- er für seine ›unorthodoxen‹ Verhörmethoden be-
gründete Gerechtigkeitstheorien oft von einer prinzi- kannt, mit denen er bisweilen, laut seinen Kritikerin-
piellen Personalunion von Anspruchsberechtigten nen und Kritikern, die Grenze zur Folter überschrei-
und Pflichtadressaten aus. tet. Als Ehemann und Familienvater ist er gefürchtet,
Im Fall der Menschenrechte (bzw. der Grundrech- weil ihm daheim gelegentlich ›die Hand ausrutscht‹.
te) verhält sich das grundlegend anders – zumindest Als Rugby-Spieler schließlich neigt er zu einem etwas
dann, wenn man sie von vornherein als öffentlich- überharten Einsatz. Aus den bisherigen Überlegungen
rechtliche Schranken politischer Gewaltausübung ver- zu den Menschenrechten ergibt sich nun folgende
steht. Dann ist vielmehr von einer prinzipiellen Asym- These: Je nach ›Rolle‹ ergeben sich für Herrn K. sehr
metrie zwischen Anspruchsberechtigten und Pflicht- unterschiedliche Pflichten in Bezug auf eine hier ge-
adressaten auszugehen. Diese Asymmetrie ergibt sich forderte Unterlassung von Gewalt. Ein Polizist, der
zunächst aus dem weiter oben schon erwähnten Um- Verdächtige mit Gewalt zur Aussage nötigt oder gar
stand, dass die Menschenrechte (bzw. die Grundrech- foltert, begeht eine Grund- und Menschenrechtsver-
te) ›subjektive öffentliche‹ Rechte sind: Sie sind dazu letzung, weil er als staatlicher Funktionsträger per
da, politische und staatliche Machtbeziehungen zu re- Verfassung zu einer entsprechenden Unterlassung
gulieren. Die Menschenrechte (bzw. die Grundrechte) verpflichtet ist. Väter (oder Mütter), die Gewalt gegen-
verpflichten jene, die politische oder staatliche Gewalt über ihrer Familie ausüben, handeln zwar zutiefst un-
ausüben, gegenüber denen, die dieser Gewalt unter- moralisch, weil sie als moralische Privatpersonen zu
worfen sind. Und trotz aller demokratietheoretischen, einer entsprechenden Unterlassung verpflichtet sind,
kontraktualistischen oder auch diskursethischen Legi- sie begehen überdies Straftaten, die polizeilich geahn-
timationsanforderungen auf philosophischer Ebene: In det werden müssen, aber dennoch keine Menschen-
der Empirie politischer Macht- und Herrschaftsbezie- rechtsverletzungen, und zwar selbst dann nicht, wenn
hungen sind diese beiden Gruppen nicht einmal annä- sie von Beruf Polizist sind. Sportlerinnen und Sportler
hernd deckungsgleich. hingegen, die sich im Spiel unfair verhalten, begehen
Gleichwohl halten bis heute viele philosophische weder eine Menschenrechtsverletzung noch versto-
Theorien der Menschenrechte an einer solchen irre- ßen sie gegen die Moral oder das Strafrecht; vielmehr
führenden Analogie zur Moral der Gerechtigkeit fest: machen sie sich lediglich einer unsportlichen Regel-
Wer menschenrechtlich anspruchsberechtigt ist, so verletzung schuldig.
heißt es dann, ist zugleich auch menschenrechtlich Dies illustriert zunächst: Ein und dasselbe Indivi-
verpflichtet – und umgekehrt (exemplarisch: Gewirth duum kann das eine Mal in der Rolle eines Menschen-
1982; Griffin 2009). Für diesen systematischen Trug- rechtsverletzers, ein anderes Mal als Privatperson, die
schluss scheint zunächst der Umstand zu sprechen, gegen die Moral oder das Strafrecht verstößt, ein wie-
dass Pflichten, die mit Menschenrechten einhergehen, der anderes Mal in der Rolle eines unsportlichen oder
weniger an den ›abstrakten‹ Staat als vielmehr konkret ähnlichen Regelverletzers auftreten. Darüber hinaus
an jene adressiert sind, die verantwortliche Aufgaben gilt: Ein und derselbe Tatbestand, z. B. eine Körperver-
45 Menschenrechte und Grundrechte 293

letzung, kann, wie im ersten Fall, die Verletzung eines Bürgerin oder Bürger) ausgerechnet von denen atta-
Menschenrechts darstellen, im zweiten Fall ein unmo- ckiert (z. B. von Polizistinnen und Polizisten, aber
ralisches oder strafrechtliches Vergehen sein und im auch von Gerichten, Verwaltungsangestellten oder
dritten Fall eine unsportliche oder ähnliche Regelver- anderen öffentlichen Funktionsträgern), die ver-
letzung. Das Entscheidende aber ist: Im Fall politisch pflichtet sind, uns Schutz zu gewähren, ergibt sich ein
und juridisch verstandener Menschenrechte überneh- doppelter Verlust des Vertrauens und eine geradezu
men die korrespondierenden Pflichtadressaten die be- potenzierte Verunsicherung: Wer im Privaten geschä-
treffenden Verpflichtungen ausdrücklich nicht in ihrer digt wird, kann sich an öffentliche Instanzen wenden
Rolle als moralische Einzelsubjekte, sondern in ihrer (und damit eben an die Polizei, an Gerichte, Verwal-
Rolle als öffentliche Funktionsträger. Oder anders ge- tungsangestellte etc.). Was aber dann, wenn diese öf-
sagt: Alle Menschen haben Menschenrechte, aber ver- fentlichen Instanzen selbst zu Tätern werden? An wen
gleichsweise wenige haben auch menschenrechtliche wendet man sich dann?
Pflichten. Sie haben solche Pflichten vielmehr nur Dass aber diese doppelte Ungerechtigkeit, die für
dann, wenn sie – ob auf nationaler oder auch auf in- Menschenrechtsverletzungen typisch ist, am Ende
ternationaler Ebene – Repräsentanten öffentlicher Ge- keine Erfahrung der Ungerechtigkeit im engeren Sinn
walten sind. Und für den Fall, dass jeweils nationale mehr ist, auch wenn Schopenhauer dies terminolo-
Staaten bei der Verwirklichung von Menschenrechten gisch nahelegt, lässt sich u. a. daran ablesen, mit wel-
versagen, übernehmen die internationale Staaten- chen ›Emotionen‹ die Opfer entsprechender Diskri-
gemeinschaft und jeweils deren öffentliche Funktions- minierung auf eben diese Benachteiligungen oder gar
träger eine entsprechende Ausfallbürgschaft (zur Be- Schädigungen reagieren. Auch wenn dies auf den ers-
gründung der Letzteren vgl. Beitz 2009). ten Blick ein wenig unphilosophisch klingt: Erfahrun-
Diese systematische Asymmetrie menschenrecht- gen mit (einfacher) Ungerechtigkeit und spezifisch
licher Pflichtrelationen – und damit das, was die Men- menschenrechtliche Verletzungserfahrungen können
schenrechte von der Moral und der Gerechtigkeit un- sich unterschiedlich anfühlen. Während in der Ge-
terscheidet –, lässt sich an einer eher beiläufigen An- rechtigkeitsdebatte inzwischen ein gewisser Konsens
merkung Arthur Schopenhauers illustrieren, der eine herrscht, dass die typische emotionale Reaktion, mit
»doppelte Ungerechtigkeit« diagnostiziert, »wo Je- der wir auf Ungerechtigkeiten reagieren, die ›Empö-
mand ausdrücklich die Verpflichtung übernommen rung‹ ist, die damit ihrerseits zu einer treibenden Kraft
hat, einen Andern in einer bestimmten Hinsicht zu gesellschaftlichen Fortschritts werden kann (Iser
schützen, folglich die Nichterfüllung dieser Verpflich- 2008), drängt sich mit Blick auf die Menschenrechte
tung schon Verletzung des Andern, mithin Unrecht ein ganz anderer Eindruck auf. Betrachtet man proto-
wäre; er nun aber noch überdies jenen Andern, eben typische Beispiele von Menschenrechtsverletzungen –
darin, wo er ihn schützen sollte, selbst angreift und rechtswidrige Demonstrationsverbote, willkürliche
verletzt« (Schopenhauer 1841/2006, 118). Überträgt Verhaftungen, illegale Abhöraktionen, staatliche
man diesen moralphilosophischen Gedanken auf die Wahlmanipulationen, mediale Zensur, rechtswidrige
Menschenrechte und damit auf öffentliche Gewaltver- Abschiebungen, willkürliche Polizeigewalt, Vergewal-
hältnisse, so wäre das Folgende gemeint: Auch Men- tigungen im Krieg, Folter etc. –, so ist zumindest frag-
schenrechtsverletzungen stellen insofern eine doppel- lich, ob diese Ereignisse auf Seiten der Opfer primär
te Ungerechtigkeit dar, als sie stets das Ergebnis von als Erfahrungen empörender Ungerechtigkeit durch-
(öffentlichem) Machtmissbrauch sind. Es ist bereits litten werden.
ungerecht, wenn man zum Opfer ›einfacher‹ Benach- Zwar ist anzunehmen, dass Menschenrechtsverlet-
teiligung oder sogar Gewalt wird. Wenn aber diejeni- zungen – ähnlich wie diskriminierende Ungerechtig-
gen zum Täter werden, denen die (öffentliche) Macht keiten – als Erfahrungen von ›Unrecht‹ erlebt werden,
›geliehen‹ ist, uns nicht zuletzt eben auch gegen (pri- doch die dominierende Gefühlsreaktion dürfte – an-
vate) Benachteiligung und Gewalt zu schützen, so ders als im Fall von politischer oder auch distributiver
kann dies, wie Schopenhauer an selbiger Stelle sagt, Ungerechtigkeit – nicht die Empörung, sondern ein
von den Betroffenen regelrecht als »Verrat« empfun- Gefühl politischer ›Ohnmacht‹ sein; einer politischen
den werden: Die Schutzmacht versagt dann nicht nur Ohnmacht, die sich einstellt, wenn man, um es mit
in ihrer Eigenschaft als Schutzmacht, sie wird nun- Schopenhauer zu sagen, ausgerechnet von jenen ›an-
mehr selbst aktiv und zum schädigenden Täter. Und gegriffen‹ wird, die man zuvor autorisiert hat, als
wird man selbst als schutzbefohlene Person (z. B. als Schutzmacht zu fungieren. Subjektive Erfahrungen
294 IV Gerechtigkeit im Kontext

empörender Ungerechtigkeit einerseits und men- –: Unparteilichkeit in der Moral. In: Klaus Günther/Lutz
schenrechtlicher Ohnmacht andererseits mögen sich Wingert (Hg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Ver-
im konkreten Einzelfall zwar überschneiden; z. B. kön- nunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas.
Frankfurt a. M. 2001, 434–455.
nen staatliche Kürzungen elementarer Sozialleistun- Menke, Christoph/Pollmann, Arnd: Philosophie der Men-
gen entweder als distributive Ungerechtigkeit (›Die an- schenrechte. Zur Einführung. Hamburg 2007.
deren haben so viel mehr!‹) und/oder als politische Nussbaum, Martha: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Berlin
Ohnmacht (›So speist der Staat uns Bürgerinnen und 2014.
Bürger ab!‹) erfahren werden. Dennoch unterscheiden Pogge, Thomas: Weltarmut und Menschenrechte. Berlin
2011.
sich beide Erfahrungen in ihrem phänomenalen Ge-
Pollmann, Arnd: Menschenrechte, Grundrechte, Bürger-
halt: Im ersten Fall hat man den Eindruck, ›zu kurz‹ zu rechte. In: Pollmann/Lohmann 2012, 129–136.
kommen, im zweiten Fall hingegen wird die Willkür –/Lohmann, Georg (Hg.): Menschenrechte. Ein interdiszipli-
der Machthabenden als ›Verrat‹ und damit als eigene näres Handbuch. Stuttgart 2012.
Machtlosigkeit erlebt. Letztere Erfahrung, so wäre ein- Radbruch, Gustav: Gesetzliches Unrecht und übergesetzli-
gehender zu zeigen, ist die für Opfer von Menschen- ches Recht. In: Süddeutsche Juristenzeitung 5/1 (1946),
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Grundrechte. Baden-Baden 1997.
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–: Die unterschiedlichen Menschenrechte. In: Klaus Peter
Fritzsche/Georg Lohmann (Hg.): Menschenrechte zwi-
schen Anspruch und Wirklichkeit. Würzburg 2000, 9–23.
46 Verantwortung und Pflicht 295

46 Verantwortung und Pflicht auf Nahrung, Kleidung und Unterkunft haben, dann
stellt sich die Frage, wer dazu verpflichtet ist, ihnen die
Verantwortung und Pflicht werden manchmal als sy- entsprechenden Güter zur Verfügung zu stellen, sofern
nonyme Begriffe und manchmal als voneinander zu sie aus eigener Kraft dazu nicht in der Lage sind. Wenn
unterscheidende Konzepte verwendet. Einerseits es um die Frage der Beseitigung globaler Übel, wie et-
scheint es möglich, jede Bezugnahme auf Verantwor- wa lebensbedrohlicher Armut (s. Kap. V.56) geht, spal-
tung einfach durch eine Bezugnahme auf Pflichten zu tet sich die Debatte oft in diejenigen, die das globale
ersetzen und die umgekehrte Ersetzung scheint eben- Armutsproblem primär als Hilfsproblem verstehen,
falls zu funktionieren. Man kann beispielsweise eine wie etwa Peter Singer (Singer 1972; vgl. auch Rawls
Pflicht oder eine Verantwortung dafür haben, absolut 1993; Höffe 1999) und diejenigen, die das globale Ar-
armen Menschen zu helfen und es scheint keinen gro- mutsproblem als Gerechtigkeitsproblem klassifizieren.
ßen Unterschied zu machen, welchen Begriff man hier Es handle sich, da Armut primär durch die Folgen des
verwendet. Andererseits gibt es der Meinung mancher Kolonialismus und ein unfaires Weltwirtschaftssystem
Autor_innen nach zumindest in einigen Nuancen verursacht sei, um eine Frage der historischen Gerech-
auch Unterschiede zwischen den beiden Begriffen tigkeit, bzw. um eine Frage der ausgleichenden Ge-
(Feinberg 1966; Beck 2015; Albertzart 2015). Pflichten rechtigkeit (Pogge 2002/2011; Wenar 2003). Entspre-
gelten üblicherweise streng und scheinen auf konkrete chend hätten wir gegenüber den Armen primär Kom-
Handlungen bezogen zu sein. Verantwortung klingt pensationspflichten für Unrecht, das wir begangen,
allgemeiner und eher auf Handlungsbereiche oder von dem wir profitiert oder zu dem wir beigetragen ha-
Rollen bezogen. Einige Autor_innen nehmen diese ben. Ferner kann man darüber hinaus die These ver-
feinen Unterschiede zum Anlass, das eine Konzept treten, dass bereits die Annahme sozialer Menschen-
dem anderen vorzuziehen (Buddeberg/Neuhäuser rechte dazu führt, diejenigen Systeme als ungerecht zu
2015). Allerdings ist auch umstritten, ob diese Unter- klassifizieren, die sie nicht gewährleisten. Hier gehen
schiede wirklich bestehen bzw. relevant sind. Jeden- einige von entsprechenden Institutionalisierungs-
falls lässt sich sagen, dass die Begriffe der Verantwor- pflichten derjenigen Individuen aus, die sich für die
tung und der Pflicht in einigen Gerechtigkeitsdebat- Abschaffung ungerechter Institutionen bzw. für die
ten eine leicht unterschiedliche Rolle spielen, weswe- Etablierung gerechter Institutionen einsetzen können
gen sie hier der Reihe nach vorgestellt werden. (Ashford 2007; Gosepath 2007). Ein Zusammenhang
zwischen Gerechtigkeit und Pflicht besteht auf zweifa-
che Weise. Erstens gibt es bestimmte Pflichten, die von
Pflicht und Gerechtigkeit anderen Pflichten zu unterscheiden sind und die auf
Gerechtigkeit bezogen sind. Zweitens müssen Pflich-
In seiner wegweisenden Theorie der Gerechtigkeit ten selbst auf gerechte Weise verteilt werden.
geht John Rawls nicht nur davon aus, dass jedem Men- Pflichten, die sich auf Gerechtigkeit beziehen, wer-
schen bestimmte Rechte zukommen, sondern auch da- den oft als Gerechtigkeitspflichten bezeichnet. In der
von, dass soziale Systeme abgeschafft oder abgeändert Regel fallen darunter Pflichten, die anderen geschul-
werden müssen, wenn sie ungerecht sind (Rawls 1971). det sind: die Kompensation für begangenes Unrecht
Auch unabhängig von Rawls ist in Bezug auf die Um- (z. B. ein gestohlenes Gut zurückgeben), die Bestra-
setzung von Gerechtigkeitsvorstellungen bzw. in Be- fung begangenen Unrechts (z. B. eine Freiheitsstrafe
zug auf die Abschaffung von Ungerechtigkeiten die für Diebstahl) und andersherum etwa die negative
Frage von zentraler Relevanz, welche Akteure hierfür Pflicht, das Recht auf Eigentum zu respektieren; oder
zuständig sind. Das gilt auch für den Menschenrechts- die beiderseitige Einhaltung von Verträgen. Solche
diskurs. Hier hat Onora O’Neill die These vertreten, Gerechtigkeitspflichten werden oft insbesondere von
dass Menschenrechte so lange bloße Manifestrechte, humanitären Pflichten (Wohltätigkeitspflichten) un-
also zahnlose Papiertiger, Proklamationen und Be- terschieden. Die Pflicht, anderen Gutes zu tun, wäre
hauptungen seien, wie unklar bleibe, wer die korres- demnach keine Gerechtigkeitspflicht, sondern eine
pondierenden Pflichten zu erfüllen habe (O’Neill 1996; Wohltätigkeitspflicht. Auch Freundschaftspflichten
2005). Dies gelte insbesondere für soziale Menschen- oder Pflichten der Liebe gehören nicht dazu. Dabei
rechte, die sie als Leistungsrechte versteht. Wenn Men- wird in der kantischen Tradition die These vertreten,
schen tatsächlich, wie in Artikel 26 der Allgemeinen dass Gerechtigkeitspflichten Vorrang vor Wohltätig-
Erklärung der Menschenrechte formuliert, ein Recht keitspflichten haben (Kersting 1997). Man darf etwa
296 IV Gerechtigkeit im Kontext

fremdes Eigentum nicht beschädigen, um anderen zu und Verletzungen dieser Pflichten sanktionieren darf
helfen (dazu kritisch: Steigleder 2002, 285 f.). Auf der (z. B. bei der Verletzung der Pflicht nicht zu Stehlen
globalen Ebene macht es aus dieser Perspektive einen oder zu Töten wird eine Freiheitsstrafe verhängt). Kant
Unterschied, ob absolut armen Menschen gegenüber geht davon aus, dass nur Rechtspflichten erzwingbar
eine Gerechtigkeitspflicht oder ›nur‹ Wohltätigkeits- sind (ebd., VI, 383). Andere Pflichten gelten zwar auch
pflichten bestehen (Pogge 2006). Diese Unterschei- in dem Sinne als stark, dass man ihnen unbedingt Fol-
dung kann verschiedene Dinge kennzeichnen. ge zu leisten hat; bei Kant bezieht sich der Kategorische
Erstens kann sie der Unterscheidung von negati- Imperativ auch auf Tugendpflichten (AA IV, 421). Aber
ven und positiven Pflichten entsprechen (Mieth es ist nicht die Aufgabe des Rechtsstaates, die Einhal-
2011). Negativ sind Pflichten dann, wenn sie darin tung dieser Pflichten durchzusetzen, bei Tugendpflich-
bestehen, schädigende Handlungen passiv unterlas- ten ist allein die moralische Motivation der Akteure
sen zu müssen. Positiv hingegen sind Pflichten dann, ausschlaggebend (AA VI, 220). Diesem Verständnis
wenn sie darin bestehen, helfende Handlungen aktiv nach wäre eine Hilfe für absolut arme Menschen über
durchführen zu müssen. In der klassischen liberalen das Zahlen von Steuern hinaus keine Gerechtigkeits-
Theorie und insbesondere in ihrer libertären, also pflicht, weil sie nicht rechtlich vorgeschrieben ist und,
ausschließlich auf Freiheitsrechte abstellenden Vari- sofern es sich dabei um eine Tugendpflicht handelt,
ante, können Gerechtigkeitspflichten nur negative auch gar nicht rechtlich vorgeschrieben werden kann.
Pflichten sein. Humanitäre Pflichten hingegen wer- Auch John Stuart Mill vertritt die These, dass zur Wohl-
den als »bloße Tugendpflichten« (vgl. AA VI, 383) tätigkeit kein Rechtsanspruch korrespondiert und die-
verstanden, denen keine korrespondierenden Rechte se daher nicht erzwungen werden kann:
entsprechen (O’Neill 1996), oder sogar nicht einmal
als Pflichten, sondern vielmehr als supererogatori- »Gerechtigkeit bedeutet nicht nur zu tun, was recht
sche Handlungen. Damit ist gemeint, dass sie über wäre, und nicht zu tun, was unrecht wäre, sondern zu
das moralisch Geforderte hinausgehen und es mora- tun, was jemand uns gegenüber als sein moralisches
lisch verdienstvoll ist, wenn man sie ausführt, man Recht geltend machen kann. Niemand hat einen
aber kein Unrecht begeht, wenn man sie nicht aus- Rechtsanspruch auf unsere Großmut und unsere
führt (Urmson 1958). Robert Nozick (Nozick 1974) Wohltätigkeit, da wir nicht moralisch verpflichtet sind,
vertritt beispielsweise diese Position. diese Tugenden jedem Individuum gegenüber zu
Eine zweite Unterscheidung zwischen Gerechtig- üben« (Mill 2006, 149, 151).
keitspflichten und humanitären Pflichten besteht da-
rin, sie in stärkere und schwächere oder, Kant folgend, Wer zeigen möchte, dass es eine Gerechtigkeitspflicht
als vollkommene und unvollkommene Pflichten zu gibt, absolut armen Menschen zu helfen, müsste dafür
bezeichnen. Starke und vollkommene Pflichten kön- argumentieren, dass der Staat diese Hilfeleistung
nen demnach nicht nur negative, sondern auch positi- durchzusetzen hat, etwa, um soziale Menschenrechte
ve Pflichten sein. Entscheidend ist vielmehr, dass ein zu gewährleisten. Hier wäre die Frage, ob man nur ge-
Akteur diesen Pflichten unbedingt nachkommen genüber den eigenen Mitbürger_innen zu sozialen
muss. Schwachen und unvollkommenen Pflichten Leistungen verpflichtet ist (Walzer 2003) oder ob diese
hingegen muss ein Akteur nicht unbedingt nachkom- Pflichten einen globalen Anwendungsbereich haben
men, vielmehr ist es verdienstvoll, wenn er dies tut. und allen gegenüber geschuldet sind (Gewirth 1987).
Kant spricht auch davon, dass unvollkommene Pflich- O’Neill (1996) geht im Anschluss an Kant davon
ten einen »Spielraum« (AA VI, 390) in der Anwen- aus, dass nur negativen Menschenrechten auf Leben,
dung haben. Allerdings stellt sich dann wieder die Freiheit und Eigentum universelle Unterlassungs-
Frage, ob es sich dabei überhaupt um Pflichten oder pflichten korrespondieren. Daher handle es sich auch
eher um supererogatorische Handlungen, bzw. bloße nur hier um echte Menschenrechte im Unterschied
»Anmahnungen« handelt (ebd., XXIII, 380). zu bloßen Manifestrechten. Denn universellen nega-
Drittens lassen sich Gerechtigkeitspflichten von an- tiven Pflichten könne jeder Mensch einfach durch
deren Pflichten dadurch unterscheiden, dass Gerech- Unrechtsunterlassungen (nicht stehlen, nicht töten)
tigkeitspflichten als Rechtspflichten verstanden wer- nachkommen. Dagegen sei nicht klar, wer im Hinblick
den, deren Einhaltung erzwungen werden kann. Sie auf Leistungsrechte die entsprechenden Leistungen zu
gelten dann in dem Sinne stark, dass der Rechtsstaat erbringen habe. O’Neill spricht hier von speziellen
die Einhaltung von Gerechtigkeitspflichten überwacht Universalrechten, deren Realisierung von der Fest-
46 Verantwortung und Pflicht 297

legung der Pflichtenträger abhängig sei (ebd.; O’Neill zukämen, diese Pflichten nicht erfüllen (Shue 2005;
2005; dagegen Ashford 2007). Miller 2011). Umstritten sind in der Pflichtdebatte:
Allerdings stellt sich angesichts komplexer institu- 1. die Reichweite von Leistungspflichten,
tioneller Zusammenhänge in unserer globalisierten 2. die Abgrenzung der Gerechtigkeitspflichten von
Welt bereits eine Skepsis gegenüber der These ein, dass Wohltätigkeitspflichten,
wir negative Pflichten, die den Rechten auf Leben, Frei- 3. die Zuordnung von globalen Übeln wie dem Welt-
heit und Eigentum entsprechen können, gegenüber al- armutsproblem zu Gerechtigkeitspflichten oder
len anderen Menschen durch Unterlassung direkter zu Wohltätigkeitspflichten,
Rechtsverletzungen (nicht stehlen, nicht töten), nach- 4. die Frage nach Kriterien zur gerechten Verteilung
kommen können (Mieth 2013). Denn durch die glo- von Pflichten, die Rechten korrespondieren (be-
bale Wirtschaft sind etwa Bürger_innen der reichen treffen diese nur Mitbürger_innen oder alle Men-
Staaten ohne dies zu intendieren in globales Unrecht schen?),
wie Ausbeutung in der Textilindustrie und die nega- 5. die Frage nach der Institutionalisierung von Leis-
tiven Folgen des Klimawandels verstrickt. Judith Lich- tungsrechten und
tenberg spricht hier von new harms, die nicht inten- 6. die Frage nach der Zuweisung von Pflichten zur
diert, schwer zu vermeiden und schwer zuzurechnen Abschaffung globaler Übel angesichts komplexer
sind (Lichtenberg 2010). Entstehen aus dem Beitra- institutioneller Zusammenhänge.
gen zu und Profitieren von Unrecht (etwa als Konsu-
ment_innen) Gerechtigkeitspflichten, gegen eine un-
gerechte Weltwirtschaftsordnung vorzugehen? Sind Verantwortung und Gerechtigkeit
diese Pflichten stark oder schwach? Wie kann man sie
einzelnen Individuen zuweisen? Auch wenn man von Der Verantwortungsbegriff spielt für Gerechtigkeit in
klassischen Gerechtigkeitspflichten ausgeht, die sich ganz verschiedenen Kontexten eine wichtige Rolle.
darauf beziehen, nicht zu töten und nicht zu stehlen, Dabei kommt oft die große Vielseitigkeit des Verant-
Verträge zu erfüllen und auf ungerechte Weise erwor- wortungsbegriffs zur Geltung. Verantwortung wird
bene Güter dem Geschädigten zurückzugeben, schei- häufig als dreistellig relationaler Begriff verstanden.
nen diese nicht einfach auf komplexe globale institu- Ein Akteur X ist gegenüber einem Adressaten Y für ei-
tionelle Zusammenhänge übertragbar. ne Handlung H verantwortlich (Buddeberg 2011).
Der zweite, eingangs erwähnte Zusammenhang Diese schematische Analyse hilft dabei, den Verant-
von Pflichten und Gerechtigkeit besteht darin, dass wortungsbegriff in ganz verschiedenen Kontexten zur
Pflichten gerecht zu verteilen sind. In Bezug auf die Anwendung zu bringen. Viele Autor_innen fügen
Gewährleistung sozialer Menschenrechte stellt sich noch weitere Relationen hinzu. Es gibt sechs- und so-
hier etwa die Frage der gerechten Besteuerung. Haben gar achtstellig-relationale Analysen des Verantwor-
diejenigen, die mehr zu leisten in der Lage sind, auch tungsbegriffs (Lenk 1992; Lenk/Maring 1993; Beck
mehr Pflichten? Ab wann ist die Erfüllung von Pflich- 2016). Eine vierte Relation, die sehr häufig noch ge-
ten unzumutbar? Die Lage anderer zu verbessern, nannt wird, ist die des normativen Maßstabes (Loh-
kann – so selbst diejenigen Theoretiker_innen, die mann 2002). Sie erlaubt es beispielsweise zwischen
sehr weitreichende moralische Forderungen aufstel- moralischer, politischer, rechtlicher und metaphysi-
len wie Thomas von Aquin – nicht mehr verlangt wer- scher Verantwortung zu unterschieden, wie etwa Karl
den, wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht (ST II- Jaspers es tut, der allerdings von Schuld und nicht von
II, 32, 6; Singer 1972) oder etwas anderes von mora- Verantwortung spricht (Jaspers 1946/2012).
lischer Bedeutung geopfert werden müsste (so Singers Dabei lässt sich annehmen, dass Schuld eine spezi-
anspruchslosere Formulierung seines Hilfsprinzips fische Form von Verantwortung neben anderen ist.
oder auch Kants Idee, dass Tugendpflichten dann Häufig wird Verantwortung auch im Sinne von Haf-
nicht erfüllt werden dürfen, wenn sie mit Rechts- tung oder aber im Sinne einer Sorge verwendet
pflichten kollidieren; vgl. Kersting 1997, 108). Ferner (Arendt 1987; Young 2006; 2011). Darüber hinaus
stellt sich angesichts globaler Übel die Frage, ob Indi- finden sich ganz verschiedene weitere Typen von Ver-
viduen auch dann verpflichtet sind, denen, die von le- antwortung in der Literatur, etwa Aufgabenverant-
bensbedrohlicher Armut betroffen sind, zu helfen, wortung, Folgenverantwortung, Vergangenheitsver-
oder sich für gerechtere Institutionen einzusetzen, antwortung, Zukunftsverantwortung oder Gruppen-
wenn andere, denen diesbezüglich stärkere Pflichten verantwortung. Mithilfe einer mehrstellig-relationalen
298 IV Gerechtigkeit im Kontext

Analyse des Verantwortungsbegriffs und der Unter- rade bei weiter zurückliegendem Unrecht ist das nicht
scheidung in die drei Dimensionen der Schuld, Sorge ohne Weiteres klar, weil man nicht sagen kann, wie die
und Haftung lassen sich all diese verschiedenen Typen Geschichte ohne dieses Unrecht verlaufen wäre. Wenn
von Verantwortung wahrscheinlich kategorisieren. es um Reparationen und insbesondere die Rückgabe
Es sind insbesondere vier Debatten, in denen dieser von Land und anderem Eigentum geht, kann es zudem
vielschichtige Verantwortungsbegriff und Gerechtig- sein, dass andere Menschen an diesem Eigentum legiti-
keit gemeinsam diskutiert werden. Das ist erstens die me Rechte erworben haben (Waldron 1992). Schließ-
Fragen nach der Verantwortung für historisches Un- lich ist es eine kontroverse Frage, wie sich über die Zeit
recht (1.), zweitens das Problem der kollektiven Ver- hinweg überhaupt verantwortliche Akteure finden las-
antwortung für Unrecht und Gerechtigkeit (2.), drit- sen, wenn die eigentlichen Täter bereits verstorben
tens die Frage der Zukunftsverantwortung (3.) und sind. Denn Kinder erben von ihren Eltern nicht die
viertens schließlich das Thema der Verantwortung für Schuld an deren Verbrechen. Es lässt sich aber argu-
globale Gerechtigkeit (4.). mentieren, dass korporative Akteure wie Staaten eine
größere Kontinuität über die Zeit hinweg besitzen und
daher als Subjekte von Verantwortung für lange ver-
Verantwortung für historisches Unrecht
gangenes Unrecht in Frage kommen (Thompson 2002).
Bereits kurz nach dem zweiten Weltkrieg hat Jaspers
im Jahre 1946 das Buch die Die Schuldfrage (1946/2012)
Kollektive Verantwortung für Unrecht
veröffentlicht. Darin beschäftigt er sich mit der Frage,
und Gerechtigkeit
welche Schuld den Deutschen für den Zweiten Welt-
krieg und den Holocaust zukommt. Er unterscheidet Nicht zuletzt vor dem Hintergrund historischen Un-
zwischen rechtlicher, politischer, moralischer und me- rechts, aber auch in gegenwärtigen Kontexten kollek-
taphysischer Schuld. Rechtlich sind Jaspers zufolge nur tiven Handelns stellt sich die Frage, wer Verantwor-
diejenige Deutschen zur Verantwortung zu ziehen, die tung dafür besitzt, Unrecht zu verhindern oder Ge-
tatsächlich auch Verbrechen begangen haben. Poli- rechtigkeit herzustellen. Dabei lassen sich grob drei
tisch hingegen sind alle Deutschen den Siegern gegen- Positionen unterscheiden. Dem ersten streng indivi-
über verantwortlich. Seine moralische Verantwortung dualistischen Ansatz zufolge sind nur individuelle
hingegen muss jeder Deutsche selbst bestimmen. Sie Menschen für ihr eigenes Handeln verantwortlich.
hängt ab von der Verstrickung in das Unrechtsregime, Wenn es beispielsweise um das Unrecht der absoluten
ohne selbst verbrecherisch tätig geworden zu sein. Die Armut geht, dann sind Menschen im Sinne der Schuld
vierte Kategorie der metaphysischen Schuld hat einen nur für diese Armut verantwortlich, wenn sie direkt
klar religiösen Bezug. Sie besteht Jaspers zufolge darin, dazu beitragen. Dieser Ansatz wird beispielsweise von
sich nicht selbst gegen das Unrechtsregime gestellt und Hywel Lewis (1948) oder John L. Mackie (1977/1981)
geopfert zu haben. vertreten. Dem gemäßigt individualistischen Ansatz
Die Überlegungen von Jaspers sind auch für spätere zufolge reicht es bereits aus, an einer Unrechtspraxis
und heutige Auseinandersetzungen mit historischem mitzuwirken, ohne selbst unmittelbar einen kausalen
Unrecht ein zentraler Referenzpunkt. So hat Hannah Beitrag zu dem Unrecht leisten zu müssen, um in der
Arendt (1987) gegen Jaspers stark gemacht, dass vor al- Schuld zu stehen. Im Falle der absoluten Armut ge-
lem die Sorge für die Zukunft und nicht die Zuweisung nügt es demnach, in den Welthandel verstrickt zu
von Schuld oder der Versuch ihr zu entkommen, im sein, ohne selbst aktiv absolute Armut herbeiführen
Mittelpunkt der Verantwortungstheorie stehen sollte. zu müssen. Diese Position vertreten beispielsweise
Michael Schefczyk (2012) möchte gegen Jaspers an ei- Pogge (2006), Julian Nida-Rümelin (2011) und
nem Begriff der Kollektivschuld festhalten, der aller- Schefczyk (2012).
dings verantwortungsindividualistisch funktioniert. Bei dem dritten Ansatz handelt es sich um einen
Auch für Unterlassungen können Mitglieder eines kollektivistischen Ansatz. Demnach ist es so, dass
Kollektivs demnach sowohl politisch als auch rechtlich auch kollektive Gruppen eine Verantwortung besitzen
zur Verantwortung gezogen werden, beispielsweise können. Für die Weltarmut wären dann beispielsweise
wenn sie keinen passiven Widerstand leisten. auch Staaten oder supranationale Organisationen wie
Im Kontext der historischen Verantwortung wird die WTO oder der IWF verantwortlich. Diese Positi-
weiterhin kontrovers diskutiert, wie sich der zu leisten- on vertreten etwa Peter French (1979), Margaret Gil-
de Schadensersatz bestimmen lässt (s. Kap. II.23). Ge- bert (2006), Philip Pettit und Christian List (List/Pettit
46 Verantwortung und Pflicht 299

2011; vgl. auch Neuhäuser 2011). Außerdem ist eine technischen Bereich, in einer Zukunftsverantwortung
Konsequenz dieser Position, dass auch die individuel- zu berücksichtigen sind. Soll man beispielsweise da-
len Mitglieder dieser Gruppen in der Verantwortung rauf setzen, dass es zukünftig mehr und bessere grüne
stehen. Dabei lässt sich entweder annehmen, dass sie Technologien geben wird? Oder sollte man vorsichti-
bereits allein aufgrund ihrer Mitgliedschaft ebenfalls ger sein und das umweltschädliche Wirtschaftswachs-
eine Schuld auf sich laden oder aber zwar individuell tum radikal stoppen? Viele Umweltethiker setzen auf
schuldfrei sein können, aber in jedem Falle mithaften das Vorsichtsprinzip (Roser/Seidel 2013, Kap. 8). Al-
müssen. lerdings kann diese Vorsicht mehr oder weniger
Eine andere Perspektive hat Iris Young (2011) im streng ausfallen. Das Prinzip muss also konkreter ge-
Anschluss an Arendt entwickelt, wenn sie dafür plä- fasst werden, sonst löst es das Problem nicht, sondern
diert, Schuldfragen ganz auszuklammern und statt- benennt es nur: wieviel Vorsicht ist angemessen?
dessen danach zu fragen, wer die Fähigkeit und die Obwohl die Verantwortung als Sorge im Vorder-
Bereitschaft mitbringt, Unrecht abzubauen. Ihr Ver- grund steht, wenn es um die Zukunft geht, lässt sich
antwortungsmodell baut also nicht auf Schuld und natürlich bereits gegenwärtig feststellen, dass Men-
Haftung auf, sondern auf Sorge. Dabei spielt ihrer An- schen durchaus Schuld auf sich laden, wenn sie für die
sicht nach die soziale Verbindung zu dem Unrecht Zukunft keine Sorge tragen und in der Vergangenheit
oder den vom Unrecht betroffenen Menschen eine bereits Schuld auf sich geladen haben, weil sie das
wichtige Rolle. Darüber bestimmt sich normativ wie nicht getan haben. Allerdings können zukünftige Ge-
stark die Verantwortung dafür ausfällt, Sorge für den nerationen heutige Generationen wegen der einseiti-
Abbau des Unrechts zu tragen. gen Linearität des Zeitstrahls für ihr verantwortungs-
loses Handeln nicht in Haftung nehmen. Wenn die
Sorgeverantwortung und die eventuelle Schuld heuti-
Zukunftsverantwortung
ger Generationen mit der Drohung von Haftung und
Bei der Zukunftsverantwortung steht nicht die Schuld- vielleicht auch Strafe verbunden werden sollen, dann
frage im Vordergrund, sondern vielmehr die Frage da- müssten Angehörige der heutigen Generationen also
nach, wer für zukünftige Zustände Sorge zu tragen hat. als Stellvertreter für die zukünftigen Generationen
Insbesondere im Kontext der Umwelt- und Klimaethik agieren. Hier stellt sich noch die schwierige Frage, wer
geht es um diese Frage, weil heutiges Handeln erhebli- berechtigt ist, für die zukünftigen Generationen, ihre
che Auswirkungen auf zukünftige Generationen hat Interessen und Anliegen zu sprechen.
und zum Teil erhebliche Schädigungen bedeuten kann
(Roser/Seidel 2013). Dabei wird kontrovers diskutiert,
Verantwortung für globale Gerechtigkeit
wie genau eine Verantwortung zukünftigen Generatio-
nen gegenüber aussieht und wie weit diese in Zukunft Die Problematik der Zukunftsverantwortung wird
reicht. Ein Problem besteht darin, dass die Angehöri- häufig als Frage der intergenerationellen Gerechtig-
gen zukünftiger Generationen noch nicht als indivi- keit bezeichnet. Dem steht die Frage nach der intrage-
duelle Personen bestimmbar sind und daher nicht klar nerationellen Gerechtigkeit gegenüber, womit eine
ist, ob ihnen auch Personen- und Menschenrechte zu- Verantwortung für globale Gerechtigkeit gemeint ist
kommen. Außerdem ist nicht klar, in welchem Maße (Beck 2016). Es gibt eine gewisse Spannung zwischen
für die Zukunft Sorge zu tragen ist. Muss der heutige der inter- und der intragenerationellen Gerechtigkeit,
Lebensstandard erhalten bleiben oder reicht es, wenn weil die Erfüllung der Gerechtigkeitsansprüche der ei-
eine gewisse Suffizienzschwelle nicht unterschritten nen Gruppe auf Kosten der Gerechtigkeitsansprüche
wird? Dann wäre es beispielsweise so, dass man die der anderen Gruppe gehen könnte. Man könnte bei-
Menschenrechte zukünftiger Generationen sichern spielsweise versuchen, die Gerechtigkeitsansprüche
müsste, aber nicht dafür zu sorgen hätte, dass sie in absolut armer Menschen durch ein globales Konjunk-
Wohlstand leben können (Gosseries 2008). turprogramm und erhebliches Wirtschaftswachstum
Ein weiteres Problem besteht darin, dass auch zu- zu erfüllen. Das geht aufgrund der aller Wahrschein-
künftige Generationen handelnde Akteure sind, die lichkeit damit einhergehenden Umwelt- und Klima-
ihre Umwelt selbst aktiv gestalten und durch tech- schädigungen jedoch auf Kosten der Ansprüche zu-
nische Entwicklungen beeinflussen. Es ist unklar, wie künftiger Generationen.
die Unsicherheit über zukünftige Interessen, aber Die Verantwortung für globale Gerechtigkeit muss
auch zukünftige Möglichkeiten, beispielsweise im also immer auch vor dem Hintergrund anderer Ge-
300 IV Gerechtigkeit im Kontext

rechtigkeitsansprüche bestimmt werden. Dennoch Beck, Valentin: Verantwortung oder Pflicht? Zur Frage der
gilt, dass die Verantwortung absolut armen Menschen Aktualität und Unterscheidbarkeit zweier philosophischer
gegenüber besonders groß ist, weil die Existenz dieser Grundbegriffe. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie
2/2 (2015), 165–202.
Menschen und die Würde ihrer Personalität aufgrund Beck, Valentin: Eine Theorie der globalen Verantwortung.
ihrer großen Armut fundamental bedroht sind Berlin 2016.
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triert sich ein großer Teil der Debatte auf das Problem ter 2007.
der globalen Armut. Daneben, aber auch damit ver- Buddeberg, Eva: Verantwortung im Diskurs. Berlin 2011.
Buddeberg, Eva/Christian Neuhäuser: Einleitung: Pflicht
bunden, gibt es noch weitere Probleme einer Verant-
oder Verantwortung? In: Zeitschrift für Praktische Philoso-
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die Sicherung der Menschenrechte verantwortlich ist: losophical Quarterly 3/2 (1966), 137–144.
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stellen sich für die globale Wirtschaftsordnung, die Si- ship, Commitment, and the Bonds of Society. Oxford 2006.
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schwache oder gescheiterte Staaten. te Hilfspflichten. In: Barbara Bleisch/Peter Schaber (Hg.):
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Gerade mit Blick auf absolute Armut, aber auch in
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Bezug auf andere Gerechtigkeitsprobleme muss be- Journal of Political Philosophy 16/4 (2008), 446–474.
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Pogge, Thomas: Globale Armut: Erklärung und Verantwor- kommt, lässt im Ausnahmefall die Verbindlichkeit des
tung. In: Peter Koller (Hg.): Die globale Frage. Empirische positiven Rechts entfallen. Das soll insbesondere dann
Befunde und ethische Herausforderungen. Wien 2006, 95– der Fall sein, wenn das positive Recht den Anfor-
130.
derungen der Gerechtigkeit in besonders grober Wei-
Pogge, Thomas: Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopoli-
tische Verantwortung und Reformen. Berlin 2011 (engl. se widerspricht und dies Normen von qualifizierter
2002). Bedeutung betrifft (Radbruch 1946, 105–108).
Rawls, John: A Theory of Justice. Harvard 1971. Unabhängig von der Frontstellung zwischen Rechts-
Rawls, John: Political Liberalism. Columbia 1993. positivismus und Naturrecht herrscht weithin Ei-
Roser, Dominic/Seidel, Christian: Ethik des Klimawandels. nigkeit, dass dem Verhältnis von positivem Recht
Darmstadt 2013.
und Gerechtigkeit ein basaler Widerspruch zugrunde
Schefczyk, Michael: Verantwortung für historisches Unrecht.
Berlin 2012. liegt. Einerseits könne zwar die Gerechtigkeit nicht
Shue, Henry: Thickening convergence: Human rights and Wesensmerkmal des positiven Rechts sein. Anderer-
cultural diversity. In: Deen K. Chatterjee (Hg.): The Ethics seits und zugleich komme aber die Bestimmung des
of Assistance. Morality and the Distant Needy. Cambridge positiven Rechts nicht ohne Bezug auf einen Gerech-
22005, 217–241.
tigkeitskern aus. In Auseinandersetzung mit dieser
Singer, Peter: Famine, affluence and morality. In: Philosophy
and Public Affairs 1/3 (1972), 229–243. widersprüchlichen Struktur haben sich unterschiedli-
Steigleder, Klaus: Kants Moralphilosophie. Stuttgart 2002. che Ansätze herausgebildet, die einerseits die Gerech-
Thomas von Aquin: Summa Theologica. Ungekürzte tigkeitsbezüge des nationalen Rechts, andererseits
deutsch-lateinische Ausgabe. Hg. von der Albert-Magnus- aber auch die Gerechtigkeitsanforderungen an trans-
Akademie u. kommentiert von Otto Pesch. Walberberg nationale Rechtsordnungsmuster betreffen.
bei Köln 1974 [ST].
Thompson, Janna: Taking Responsibility for the Past: Repara-
tion and Historical Injustice. Hoboken 2002.
Urmson, James O.: Saints and heroes. In: Abraham Melden Positives Recht
(Hg.): Essays in Moral Philosophy. Washington 1958, 198–
216. Das positive Recht kann allgemein als Gesamtheit all
Waldron, Jeremy: Superseding historic injustice. In: Ethics derjenigen Normen einer Rechtsordnung definiert
103/1 (1992), 4–28.
Walzer, Michael: Spheres of Justice. A Defence of Pluralism
werden, denen deshalb Rechtskraft zukommt, weil sie
and Equality [1983]. New York 2008. rechtmäßig zustande gekommen sind und ihr Inhalt
Wenar, Leif: What we owe to distant others. In: Politics, Phi- rechtlichen Anforderungen nicht widerspricht. Das so
losophy & Economics 2/3 (2003), 283–304. geformte positive Recht setzt sich zusammen aus Ge-
Young, Iris Marion: Responsibility and global justice: a so- setzen (legislative Rechtsetzung), Gerichtsentschei-
cial connection model. In: Social Philosophy & Policy 23/1
dungen (judikative Rechtsetzung) und rechtlichen
(2006), 102–130.
Young, Iris Marion: Responsibility for Justice. Oxford 2011. Handlungsformen der Exekutive, insbesondere der
Verwaltung durch Satzungen, Verordnungen sowie
Corinna Mieth / Christian Neuhäuser Verwaltungsakte (exekutive Rechtsetzung). Schließ-
302 IV Gerechtigkeit im Kontext

lich gibt es etwa in Gestalt privater Verträge, die zwi- Anspruchstransfer: Die Gerechtigkeitsanforderungen
schen Einzelnen und Gruppen geschlossen werden, an das Recht betreffen zunehmend auch solche Are-
auch Formen gesellschaftlicher Rechtsetzung abseits nen transnationaler ›Governance‹, deren Institutio-
der politischen Institutionen (Merkl 1923). nen und Strukturen durch nichtstaatliche Akteure ge-
Der genaue Inhalt des positiven Rechts ist regel- prägt werden.
mäßig umstritten. Da neben legislativ und exekutiv
erlassenen Rechtsnormen auch judikative Entschei-
dungen rechtsgenerierende Wirkung haben und diese Naturrecht und Rechtspositivismus
drei Rechtsquellen wiederum mit Rechtsquellen, die
in gesellschaftlicher Übung (Gewohnheitsrecht) und Eine angemessene Rahmung des Verhältnisses dieses
sozietaler Normsetzung ihren Grund haben, in Ver- in den jeweiligen Ordnungsmustern gebildeten positi-
bindung zu setzen sind, kommt es regelmäßig zu ven (transnationalen) Rechts zu den Anforderungen
Normkollisionen. Die Schwierigkeit, das jeweils in der Gerechtigkeit stellt die zentrale Herausforderung
Rechtskraft erwachsende positive Recht angesichts bei der Bestimmung des Umfangs und der Grenzen
sich widersprechender Geltungsanordnungen zu be- der Autonomie des Rechts dar. Zwar wurde der Begriff
stimmen, spitzt sich im Bereich des transnationalen des positiven Rechts selbst teilweise mit Bezug auf die
Rechts noch zu. Konnten die Widersprüche im Natio- Gerechtigkeit gebildet, d. h. Gerechtigkeit wurde als
nalstaat noch durch die Etablierung von Norm- und konstitutives Merkmal des Begriffs des positiven
Gerichtshierarchien eingegrenzt werden, kann ange- Rechts betrachtet. Allerdings gerät schon bei den So-
sichts der polyzentrischen Struktur des transnationa- phisten das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit in
len Rechts auf diese Mechanismen nur eingeschränkt ein Spannungsverhältnis.
zurückgegriffen werden. Die Relation von Recht und Gerechtigkeit wird re-
Als transnational in einem weiten Sinn sind hierbei gelmäßig dann zum Problem, wenn das Recht positi-
unter Bezugnahme auf eine frühe Begriffsdefinition viert wird. Denn spätestens ab diesem Moment kön-
von Philip C. Jessup diejenigen rechtlichen Ord- nen das, was Recht ist, und das, was gerecht ist, aus-
nungsmuster zu verstehen, die jenseits des staatlichen einanderfallen. Ausgangspunkt der Diskussionen um
Rechts gebildet werden (Jessup 1956). Diese umfassen das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit ist hier-
das internationale Recht, das im Kontext der Europäi- bei die Konfrontation rechtspositivistischer Positio-
schen Union gesetzte Unionsrecht und auch das trans- nen auf der einen und natur- bzw. vernunftrechtlicher
nationale Recht im engeren Sinn, das von privaten Konzepte auf der anderen Seite. Während die Vertre-
Akteuren gesetzt und durch private Schiedsgerichte ter des Naturrechts das geltende Recht aus einem re-
durchgesetzt wird (zum engen und weiten Begriffs- ligiös-, natur- oder vernunftbasierten Apriori ent-
verständnis transnationalen Rechts vgl. die Beiträge in wickeln (exemplarisch: Pufendorf 1672/2001), be-
Calliess 2014). steht der Rechtspositivismus klassischerweise auf ei-
Zwar wird vereinzelt versucht, den Begriff des po- ner Autonomsetzung des positiven Rechts. So hat
sitiven Rechts auch im transnationalen Recht noch Hans Kelsen die Naturrechtslehre als ein sacrificium
unter Bezugnahme auf den Staat oder staatliche Ge- intellectus bezeichnet, weil es eine Illusion sei, dass die
walt zu bestimmen. Dies überzeugt angesichts einer Gerechtigkeitsnorm von Gott, der Natur oder der
sich dramatisch verändernden Rechtswirklichkeit je- Vernunft stamme. Das Recht sei Ergebnis gesell-
doch nicht mehr. Denn die Herausbildung transnatio- schaftlicher Setzung und unabhängig von einem vor-
naler Regelungsarenen (lex mercatoria, lex digitalis geblich natürlichen Apriori (Kelsen 1976, 442).
etc.) und privater Spruchkörper (Schiedsgerichte) ist Es wäre allerdings unzutreffend, wollte man die
Ausdruck einer durch die funktionale Differenzie- Gerechtigkeitsdebatte auf diese überholte Frontstel-
rung ausgelösten fundamentalen Fragmentierung des lung zwischen rechtspositivistischen Theorietraditio-
Weltrechts. Eine Bestimmung des positiven Rechts nen auf der einen Seite und natur- bzw. vernunftrecht-
muss sich in der transnationalen Konstellation des- lichen Positionen auf der anderen verkürzen. Schon
halb von seiner Staatszentrierung lösen, um diese Immanuel Kants vernunftrechtlicher Ansatz fasste das
neuartigen Normierungsformen zu integrieren. Die Problem der Relationierung von Recht und Gerech-
Frage, ob etwa transnationale Unternehmen und in- tigkeit bekanntlich komplexer, indem er mit Blick auf
ternationale Organisationen an Menschenrechte ge- das Widerstandsrecht postulierte, dass dem positiven
bunden sind, offenbart zudem eine Tendenz zu einem Recht regelmäßig auch dann Folge zu leisten sei, wenn
47 Positives Recht und Völkerrecht 303

es nicht als vernünftig wahrgenommen werde (Kant ve Repräsentation der Einheit des Funktionssystems
1797/1977, 337–443). Das positive Recht besitzt also Recht dar. Im rechtlichen Streben nach Gerechtigkeit
selbst schon bei Kant eine gewisse Eigenständigkeit komme der Anspruch des Rechts zum Ausdruck, glei-
gegenüber dem Vernunftrecht. che Fälle gleich zu entscheiden und sich hierbei re-
sponsiv zu den gesellschaftlichen Anforderungen zu
verhalten. Gerechtigkeit wird insofern zur permanen-
Gerechtigkeit als Transzendenzformel ten Quelle der Irritation des autonomen Rechts durch
des Rechts die Gesellschaft (Luhmann 1993, 214–238). Auch in
den dekonstruktiven Analysen Jacques Derridas
Aktuelle Überlegungen zum Verhältnis von positivem kommt das Recht nicht ohne Verweis auf Gerechtig-
Recht und Gerechtigkeit beziehen sich unterschied- keit aus. Denn auch noch die genaueste Fassung einer
lich stark auf rechtspositivistische oder natur- bzw. positiven Rechtsnorm kann die Anwendung dersel-
vernunftrechtliche Theorietraditionen. Weder rein ben, d. h. die Entscheidung nach positivem Recht,
positivistische noch rein naturrechtliche Positionen nicht vorgeben. Die Anwendung des positiven Rechts
sind dabei jedoch vorherrschend. Die aktuellen Bei- ist kein Automatismus. Die Aporien des Rechtsent-
träge in der Diskussion über das Verhältnis von Recht scheidens, der Hiatus zwischen positiver Rechtsnorm
und Gerechtigkeit verbindet vielmehr die – im Einzel- und ihrer Anwendung in der Entscheidung, können
nen freilich unterschiedlich ausgedeutete – Ausgangs- nur mit Hilfe der Gerechtigkeit überwunden werden.
position, dass das Verhältnis von positivem Recht und Eine Entscheidung kann dabei nie gerecht »sein«. Die
Gerechtigkeit widersprüchlich ist. Diese Wider- Gerechtigkeit des Rechts sei vielmehr stets »im Kom-
sprüchlichkeit ergibt sich aus zwei kontradiktorischen men« (Derrida 1991, 46–53).
Befunden: 1) Gerechtigkeit kann kein Wesensmerk-
mal des positiven Rechts sein. 2) Das positive Recht
kann aber zugleich nicht ohne Verweis auf Gerechtig- Gerechtigkeit im transnationalen Recht
keit bestimmt werden.
Der erste Befund, dass Gerechtigkeit kein Wesens- Diese doppelte Einsicht, dass die Bestimmung des po-
merkmal des positiven Rechts sein kann, wird damit sitiven Rechts unabhängig von Gerechtigkeitskrite-
begründet, dass selbst die Körperschaften demokrati- rien erfolgen muss und dass zugleich der Vollzug des
scher Gesetzgebung im Einzelfall ungerechtes Recht positiven Rechts strukturell auf Gerechtigkeit ange-
produzieren können. Nur wenn die Gerechtigkeit wiesen ist, wird theoretisch sehr unterschiedlich um-
nicht konstitutiv für den Begriff des positiven Rechts gesetzt. Dies zeigt sich vor allem auch an der Diskussi-
selbst ist, könne das positive Recht überhaupt im Na- on um die Gerechtigkeit im transnationalen Recht.
men der Gerechtigkeit kritisiert, könne die »ungeheu- Eine bedeutsame Theorietradition des transnatio-
re Kluft, die zwischen Recht und Gerechtigkeit dem nalen Gerechtigkeitsdiskurses bezieht sich auf das
Wesen nach klafft« (Benjamin 1995, 42) sichtbar wer- Kantische Vernunftrecht, adaptiert dies aber in Rich-
den. Es scheint also, dass Gerechtigkeitsanforderun- tung einer diskursethisch fundierten prozeduralen
gen an das positive Recht nur dann gestellt werden Gerechtigkeitsvorstellung. Gerechtigkeit wird so in
können, wenn Letzteres nicht schon je begrifflich als erster Linie als prozedurale Ausgestaltung vernünfti-
gerechtes Recht bestimmt ist. Erst die Konfrontation ger Verfahren und nicht mehr, wie noch in natur- und
des Rechts mit kollidierenden Gerechtigkeitserwar- vernunftrechtlichen Ansätzen, inhaltlich bestimmt.
tungen führt zu der Frage, ob und wann ein Gerech- Die Universalisierbarkeit rationaler Normen bildet
tigkeitsverstoß auf die Geltung der Rechtsnorm für die Vertreter dieser Theorieschule die Grundlage
durchschlägt. für eine gerechte Ausgestaltung des positiven Rechts.
Der zweite – entgegenstehende – Befund besteht Gerade im Völkerrecht werden Ansätze entwickelt,
darin, dass der Begriff des positiven Rechts aber eben- die in der Konstitutionalisierung des Völkerrechts die
so wenig ohne einen immanenten Gerechtigkeits- Antwort auf die Gerechtigkeitsdefizite des globalen
bezug als normatives Element der Bestimmung des Rechts sehen. Hiernach setze eine gerechte Völker-
Rechts auskommt. Konsequenterweise bestimmt Ni- rechtsordnung vor allem voraus, dass es gelinge, deli-
klas Luhmann denn auch die Gerechtigkeit als Kon- berativ-demokratische Legitimationselemente aus
tingenzformel des Rechts. Sie stelle als Selbstbeschrei- dem Nationalstaat in die transnationale Konstellation
bung und Selbstbeobachtung des Systems eine reflexi- zu überführen (Habermas 2004).
304 IV Gerechtigkeit im Kontext

Kantianisch inspirierte Beiträge gehen über dieses salistischen Gerechtigkeitsvorstellungen auseinander


Programm bisweilen hinaus und suchen den Ge- (vgl. z. B. Anghie 2005).
rechtigkeitsbezug des transnationalen Rechts zu ei- In Bezug auf das Völkerrecht schlagen sich alte-
ner militärischen Eingriffsbefugnis oder gar -pflicht ritätsorientierte Gerechtigkeitskonzepte des Rechts
auszudeuten. So wird in der Theorie des gerechten vor allem in den Konzepten eines transnationalen
Krieges die Gerechtigkeit zum außerrechtlichen Rechtspluralismus nieder. Wenn ein gerechtes Recht
Rechtfertigungsgrund für formal völkerrechtswidri- nicht durch Universalisierung erreicht werden kann,
ge militärische Einsätze (zur Kritik: Müller 2013). weil die normative Pluralität als Ausdruck der funk-
Die Legalitätsordnung des Völkerrechts in Gestalt tionalen Differenzierung der Gesellschaft nicht auf-
der Friedenspflicht wird in solchen Ansätzen damit gehoben werden könne, kommt eine Bezugnahme
unter den Vorbehalt extralegaler Legitimitätsanfor- auf Metanormen oder eine übergreifende und ein-
derungen gestellt. Dies widerspricht allerdings der heitsstiftende (Welt-)Verfassung nicht mehr in Be-
prozeduralen Gerechtigkeitsdimension des trans- tracht. Gerechtigkeitsanforderungen müssen dann
nationalen Rechts. So wurde insbesondere im System vor allem darauf abzielen, die Kollision polyzen-
der Vereinten Nationen eine komplizierte Balance trisch organisierter Normierungsformen und Are-
geschaffen, um das globale Gewaltverbot durch- nen abzufedern, indem in den heterarchischen plura-
zusetzen und die Rechtmäßigkeit des Einsatzes mi- len Normordnungen intern Responsivitätspflichten
litärischer Gewalt an die in der UN-Charta festgeleg- etabliert werden, die intern einen adäquaten Umgang
ten Verfahren zu binden. Diese Verfahrensgerechtig- mit den von der jeweiligen Bereichsrechtsordnung
keit kann nicht durch eine materielle Gerechtigkeits- Betroffenen absichern. Es wird dann zur Kernforde-
logik substituiert werden, ohne die freiheitssichernde rung der Gerechtigkeit, durch Recht einen Prozess zu
Funktion der Kompetenzordnung zu gefährden etablieren, der die Rechte von Menschen, ökologi-
(Maus 1999). scher Umwelt und von anderen gesellschaftlichen
Neben den prozedural argumentierenden Gerech- Sektoren so miteinander in Beziehung setzt, dass in-
tigkeitstheorien gibt es im transnationalen Recht eine dividuelle Freiheit und gesellschaftliche Emanzipati-
Vielzahl ganz unterschiedlich gelagerter Ansätze, de- on möglich bleiben.
ren gemeinsamer Ausgangspunkt ihre Alteritätsori- Forschungsperspektivisch hat eine solche Ausdeu-
entierung ist; d. h. nicht die Suche nach universeller tung der Gerechtigkeitsfrage im Recht insbesondere
Gültigkeit, sondern die Einsicht in die unüberbrück- auch Folgen für die Bedeutung von Staatlichkeit: Galt
bare normative Pluralität gesellschaftlicher Verhält- vernunftrechtlich orientierten Ansätzen der Staat und
nisse steht hier im Zentrum. Bei Gunther Teubner er- das politische Gemeinwesen in deliberativ-demokra-
fährt die Kontingenzformel der Gerechtigkeit eine tischer Tradition noch als letztlich entscheidende Le-
dekonstruktive Ausdeutung. Unter Bezugnahme auf gitimationsquelle des Rechts und war der Wille des
Derrida versteht Teubner die transnationale Gerech- Staates in rechtspositivistischen Ansätzen letztlich
tigkeit als einen Prozess der »Selbstbeschreibung im entscheidendes Kriterium für die Entstehung positi-
Recht, der die routinisierte Rekursivität der Rechts- ver völkerrechtlicher Normen, so löst sich der trans-
operationen unterbricht, blockiert, sabotiert, unter- nationale Rechtspluralismus von diesem etatistischen
miniert, der damit das Recht zu seiner Selbsttrans- Reduktionismus. Neben der Festigung von im Staat
zendierung über jeden Sinn hinaus zwingt, der sich organisierten Beteiligungsstrukturen komme es da-
aber sogleich wieder unter den Fortsetzungszwang, rauf an, neue formelle und informelle zivilgesell-
weitere Rechtsoperationen zu produzieren, setzt und schaftliche und subalterne Partizipationsformen im
sich dadurch selbst sabotiert, dass er genau neue Un- Recht zur Geltung zu bringen. Nur wenn das positive
gerechtigkeiten schafft« (Teubner 2014, 347). Nur in Recht gesellschaftliche Selbstbestimmungsmöglich-
der Selbsttranszendierung könne das transnationale keiten jenseits staatlicher Zusammenhänge eröffne,
Recht sich demnach der Gerechtigkeitserfahrung könne es zu einer gerechten rechtlich basierten Ord-
aussetzen. Eine große Nähe haben solche alteritäts- nung der transnationalen Konstellation beitragen. Ge-
orientierten Gerechtigkeitskonzeptionen zudem zu rade weil neben dem Staat zunehmend auch nicht-
den rechtskritischen Ansätzen im Rahmen des so ge- staatliche Akteure öffentliche Gewalt ausübten, müss-
nannten Third World Approach to International Law ten Gerechtigkeitsanforderungen an das Recht auch
(TWAIL). Diese regelmäßig postkolonialen Theorie- in diesen nichtstaatlichen Regelungsarenen zur Gel-
bildungen setzen sich vor allem kritisch mit univer- tung gebracht werden (Teubner 2012).
48 Staat 305

Literatur 48 Staat
Anghie, Antony: Imperialism, Sovereignty, and the Making of
International Law. Cambridge 2005. Der Staat wird in diesem Kapitel nicht nur im engeren
Benjamin, Walter: Notizen zu einer Arbeit über die Katego-
rie der Gerechtigkeit [1916]. In: Frankfurter Adorno Blät-
Sinn des modernen Flächenstaates, sondern allgemein
ter 4 (1995), 41–52. als institutionalisierte Herrschaft verstanden. Philoso-
Calliess, Gralf-Peter (Hg.): Transnationales Recht. Tübingen phische Theorien stehen in Bezug auf das Thema des
2014. Verhältnisses von Staat und Gerechtigkeit weitgehend
Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der im Spannungsfeld von zwei Positionen. Die eine be-
Autorität«. Frankfurt a. M. 1991.
greift Herrschaftsfreiheit als notwendiges Element
Habermas, Jürgen: Der gespaltene Westen. Frankfurt a. M.
2004. von Gerechtigkeit, was eine Inkompatibilität von Staat
Jessup, Philip C.: Transnational Law. New Haven 1956. und Gerechtigkeit impliziert. Die andere Position
Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten [1797]. In: Ders.: sieht in der Gerechtigkeit die normative Grundstruk-
Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. VIII. Hg. von Wilhelm tur der staatlichen Herrschaftsordnung.
Weischedel. Frankfurt a. M. 1977.
Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre [1960]. Wien 21976.
Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt a. M.
1993. Gerechtigkeit als Herrschaftsfreiheit
Maus, Ingeborg: Menschenrechte als Ermächtigungsnormen
internationaler Politik. In: Hauke Brunkhorst/Wolfgang Das Verständnis der Gerechtigkeit als Herrschaftsfrei-
R. Köhler/Matthias Lutz-Bachmann (Hg.): Recht auf Men- heit lässt sich seinerseits in zwei Spielarten unterschei-
schenrechte. Frankfurt a. M. 1999, 274–285. den. Die erste geht von einer Inkompatibilität von
Merkl, Adolf: Die Lehre von der Rechtskraft entwickelt aus
dem Rechtsbegriff. Leipzig 1923. Staat und Gerechtigkeit aus (Inkompatibilitätstheo-
Müller, Harald: Justice and peace: Good things do not al- rie). Die zweite sieht den Staat als Vorstufe einer herr-
ways go together. In: Gunther Hellmann (Hg.): Justice and schaftsfreien Gesellschaft, die notwendig ist, die es
Peace. Interdisciplinary Perspectives on a Contested Relati- aber zu überwinden gilt (Überwindungstheorie).
onship. Frankfurt a. M. 2013, 43–68. Die Inkompatibilitätstheorie erachtet den Staat als
Pufendorf, Samuel: Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht.
Herrschaftsform, der Gerechtigkeit prinzipiell nicht
Frankfurt a. M. 1711, Nachdr. Hildesheim 2001 (lat. De iu-
re naturae et gentium libri octo, Lund 1672). zugeschrieben werden kann (vgl. z. B. Godwin 1793/
Radbruch, Gustav: Gesetzliches Unrecht und übergesetzli- 1993; Proudhon 1840/1867; Stirner 1845/1981; Lan-
ches Recht. In: Süddeutsche Juristenzeitung 1 (1946), 105– dauer 1901; Sartwell 2008; Scott 2012). Es sei nicht
108. möglich, den Staat gerecht zu gestalten oder Gerech-
Teubner, Gunther: Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher tigkeit durch den Staat zu verwirklichen. Die Unge-
Konstitutionalismus in der Globalisierung. Berlin 2012.
–: Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Trans-
rechtigkeit aller Herrschaftsordnung kann gemäß
zendenzformel des Rechts? In: Marc Amstutz/Andreas dieser Theorie auch durch das Verfolgen von guten
Fischer-Lescano (Hg.): Kritische Systemtheorie. Bielefeld Zwecken mit den zwangsbewehrten Mitteln des Staa-
2014, 327–364. tes nicht kompensiert werden.
Es ist nur möglich, diese Position kohärent zu re-
Andreas Fischer-Lescano / Johan Horst
konstruieren, wenn man den Unterschied zwischen
Anarchie und Anomie berücksichtigt. Anarchie ist
ein Zustand ohne auf Zwangsgewalt gestützte Herr-
schaft, Anomie ein Zustand ohne Sittengesetz oder
soziale Normen (Durkheim 1897). In der Inkompati-
bilitätstheorie wird nicht die Idee des Gesetzes als Er-
möglichungsbedingung gleicher Freiheit verworfen –
das zu tun, wäre die Position der Anomie. Vielmehr
wird die zwanghafte Durchsetzung von Gesetzen und
Pflichten durch den Staat als Verletzung der Gerech-
tigkeit betrachtet. Diese Position muss folglich jegli-
chen Zwang und jegliches Gewaltmonopol als inhä-
rent ungerecht betrachten, die Anwendung von
Zwangsgewalt zur Durchsetzung von Gewaltverzicht,
gerechter Zwecke oder zur Bereitstellung öffentlicher
306 IV Gerechtigkeit im Kontext

Güter ablehnen und den Begriff der Neutralität des Noch 1788 schreibt Madison (1788/2003, 316), dass
Staates verwerfen. Der Staat kann nur unter Voraus- Engel keinen Staat benötigen. Diese Position impli-
setzung dieser Punkte nicht als Garant gerechter Ver- ziert nicht, dass moralisch vollkommene Wesen (›En-
hältnisse gedacht und gerechtfertigt werden. Die an- gel‹) untereinander keine Gerechtigkeit verwirk-
archistische Position lässt sich wie folgt zusammen- lichen, sondern dass sie Gerechtigkeit ohne Staat rea-
fassen: Um Herrschaft auszuüben, was auch in der lisieren. Die Überwindungsthese unterstellt ein Telos
minimalistischen Variante bedeutet, Regeln im äuße- moralischer und epistemischer Vollkommenheit.
ren Verhältnis der Menschen durchzusetzen, muss Nur beide zusammen würden den Staat obsolet ma-
der Staat Zwang anwenden und allen anderen Akteu- chen (Kavka 1995). Im Hinblick darauf wird gerechte
ren an physischer Gewalt überlegen sein. Der Staat ist Herrschaft auf der Grundlage eines herrschaftsfreien
ein übermächtiger Akteur in einer Gesellschaft von Ideals beständig zurückgefahren und letztlich über-
Gleichen. Durch die Anwendung von Zwang verletzt wunden. Diese Position findet ihre Ausprägungen in
er Autonomie, denn jegliche staatliche Zwecksetzung einer bestimmten Interpretation von Platons Politeia
dient notwendig partikularen Interessen. Durch den als antipolitische Schrift, der es um eine Reinigung
Staat wird das Trittbrettfahrerproblem (regelwidriges der Seele und nicht um die innerweltliche Verwirk-
Verhalten einzelner oder einer Gruppe auf Kosten all lichung eines gerechten Staates gehe. Letztere werde
jener, die sich an eine Regel halten) nicht gelöst, da in der Politeia ironisiert und ins Absurde geführt. Der
der Staat selbst Partei mit partikularen Interessen ist. letzte Teil der Schrift mit dem Mythos des Schicksals
Vielmehr erhält eine privilegierte Gruppe oder Klasse der Seele bestätige die von Platon vertretene Bestim-
von Menschen ein Trittbrettfahrermonopol. Das mung des Menschen zu herrschaftsfreier Moralität in
heißt, es wird in dieser Position unterstellt, dass vom der Gemeinschaft der Gerechten (Strauss 1964;
Staat zwar allgemein verbindliche Gesetze durch- Bloom 1991; Klosko 1986, 275–293).
gesetzt werden, dass diese aber immer nur jener par- In Augustinus’ De civitate dei ist die Gerechtigkeit
tikularen Gruppe nützen, die den Staat kontrolliert. ein notwendiges Element des Staates. Augustinus
Diese anarchistische Position ist radikaler als die li- schreibt, dass Königreiche ohne Gerechtigkeit nichts
bertäre Rechtfertigung des Minimalstaates (s. Kap. anderes sind als große Räuberbanden (De civ. I, 101).
III.32). Diese staatliche Gerechtigkeit findet erst im Gottes-
In der Überwindungstheorie, der zweiten Spielart staat ihre Vollendung. Die Überwindungstheorie
der anarchistischen Position, wird gerechte Herr- wurde von Marx und Engels in einer innerweltlichen
schaft als notwendige Vorstufe einer normativ höher- Interpretation vertreten. Der Staat ist ein Instrument
wertigen, herrschaftsfreien Ordnung betrachtet. In der Klassenherrschaft. Er wird sich über die notwen-
letzterer erreicht der Mensch den Status eines We- dige Zwischenstufe des sozialistischen Staates (MEW
sens, das der staatlich sanktionierten Gerechtigkeit 19, 224) auflösen, und es wird sich ein Prinzip durch-
nicht mehr bedarf. Es wird in diesem Fall nicht eine setzen, das als kommunistisches Gerechtigkeitsprin-
Inkompatibilität zwischen Gerechtigkeit und Staat zip gelesen werden kann: »jeder nach seinen Fähig-
unterstellt. Sanktion und Herrschaft werden nicht keiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« (ebd., 21).
notwendigerweise als ungerecht betrachtet. Staatliche Der Gegensatz zwischen diesem geschichtsteleologi-
Sanktion gilt als notwendiges Element von Gerechtig- schen Kommunismus und einem strikten Anarchis-
keit zwischen moralisch und epistemisch defizienten mus ist der Gegensatz zwischen der Inkompatibili-
Wesen. Gerechtigkeit wird aber als normative Ord- täts- und der Überwindungstheorie. Die Überwin-
nung betrachtet, der man sich durch Tugend und dungstheorie ist auch in der frühen transzendentalen
Wissen annähern kann und die im Fall einer voll- Sprachpragmatik präsent, der zufolge Herrschaft
kommenen Internalisierung der Gesetze der Gerech- nach Maßgabe einer kontrafaktisch antizipierten,
tigkeit staatliche Sanktion obsolet macht. Der Staat ist herrschaftsfreien Sprechsituation vermindert und in
ein unvollkommenes Heilmittel gegen Unmoral und herrschaftsfreie Verhältnisse überführt werden soll
Unwissen; aufgeklärte Wesen ordnen ihre Gesell- (Habermas 1968, 76). Das normative Telos dieser
schaft im herrschaftsfreien Gespräch durch Handeln Theorie ist nicht gerechte Herrschaft, sondern Herr-
gemäß ihrer Verständigung über das Gute und gemäß schaftsfreiheit. Spätere diskurstheoretische Begrün-
ihrer Einsicht in das Wahre. Aus dieser Perspektive dungen des liberalen Rechtsstaates versuchen dieser
gilt es, den Staat im Hinblick auf das normative Ziel Konsequenz zu entgehen (Apel 1992, 46; Habermas
einer herrschaftsfreien Gesellschaft zu überwinden. 1992).
48 Staat 307

Der Staat als gerechte Herrschaft nisses eine große Bandbreite von Varianten. Die durch
den Staat zu realisierende Gerechtigkeit reicht darin
Die andere Grundposition bezüglich des Verhältnisses von einem friedlichen modus vivendi und einer mini-
von Staat und Gerechtigkeit betrachtet den Staat ent- malen Garantie formaler Freiheitsrechte (Nozick
weder als notwendige Bedingung oder als Institution 1974) bis hin zu einer inhaltlich sehr anspruchsvollen
der umfassenden Verwirklichung einer gerechten egalitaristischen und demokratischen Gesellschafts-
Ordnung. Begriff und Rechtfertigung des Staates sind form (vgl. Habermas 1992; Rawls 1993; Warren 2006).
in dieser Position eng mit Gerechtigkeit verbunden. Diese demokratische Gerechtigkeit des Staates de-
Die Realisierung der Gerechtigkeit im äußeren Ver- finiert sich nicht unbedingt im Gegensatz zu einer li-
hältnis der Menschen ist vom Staat abhängig oder sie beralen. Angesichts einer Pluralität liberaler Interpre-
ist sogar der eigentliche Staatszweck. In der Staatslehre tationen in der Ausgestaltung der Grundrechte wird
von Thomas Hobbes ist der Staat die notwendige Be- postuliert, dass sich Letztere nur über demokratische
dingung der Möglichkeit von Gerechtigkeit. Im staats- Prozesse zu justiziablen Normensystemen konkreti-
freien Zustand der Menschen gibt es aufgrund der ra- sieren können oder dass sie ihre Begründung darin
tionalen Antizipation der immer möglichen Gewalt finden, ein bestimmtes menschliches Gut zu beför-
des Anderen keine Grundlage, zwischen gerechtem dern, das zu seiner Konkretion der demokratischen
und ungerechtem Verhalten zu unterscheiden. Indivi- Entscheidungsfindung bedarf (Sandel 1998).
duen muss zugestanden werden, ihr Überleben zu si- Das Festhalten an den Grundrechten als nicht
chern, wenn nötig mit präventiver Täuschung und Ge- übertrumpfbaren Grundnormen des Staates unter-
walt (Hobbes 1651/1962, 115). Die Möglichkeit der scheidet die liberale Position von republikanischen
Beurteilung gerechter Handlungen und Verhältnisse oder kommunitaristischen, in denen die Gerechtig-
setzt den Staat notwendig voraus. Der Staat erzeugt keit in Abhängigkeit von kollektiven Gütern oder Vor-
durch das Gewaltmonopol und die Garantie des stellungen des Gemeinwohls definiert wird (s. Kap.
Rechts ein Umfeld stabilisierter Erwartungen in Bezug III.36). Wird die Gerechtigkeit als Staatszweck ver-
auf das Handeln der Anderen. Erst die Schutzgarantie standen, fällt dem Staat in dieser kommunitaristi-
des Staates erlaubt es, von Menschen vernünftigerwei- schen Lesart eine umfassende Rolle in der kollektiven
se zu erwarten, dass sie sich im Rahmen des Rechts an Realisierung des guten Lebens oder Gemeinwohls zu
normative Gerechtigkeitsansprüche halten. (Aristoteles 1990; Hegel 1820/1986). Kommunitaristi-
Darüber hinaus kann die Gerechtigkeit als »erste sche Gerechtigkeitstheorien sind aber oft auch anti-
Tugend sozialer Institutionen« (Rawls 1971/2001, 3) staatlich angelegt. Sie sehen im liberalen Staat eine Ur-
oder gar als moralischer Zweck des Staates (Reus-Smit sache der Entfernung von zivilgesellschaftlichen For-
1999) verstanden werden. Es gibt keine normativ be- men des solidarischen Zusammenlebens (Etzioni
gründbare Vorstellung eines legitimen Staates ohne 2009). Oder sie sehen den Staat als sekundär und ab-
Gerechtigkeit. Die Bedeutung, die dem Staat in die- hängig von zivilgesellschaftlich aufgebautem Sozial-
sem Ansatz jeweils zugedacht wird, hängt vom Ver- kapital (Putnam 2001).
ständnis der Gerechtigkeit ab. Die liberale Position
(s. Kap. III.31) betrachtet den Staat als notwendigen
Zwangsapparat mit Gewaltmonopol zur Sicherung Weltstaat als gerechte Herrschaft oder
von Grundrechten und zur weltanschaulich neutralen Gerechtigkeit zwischen Staaten
Ermöglichung der Koexistenz von Menschen und zi-
vilgesellschaftlichen Gruppen mit unterschiedlichen Das Verhältnis von Staat und Gerechtigkeit wird auch
Vorstellungen des guten Lebens. Die Gerechtigkeit in Debatten um die globale Gerechtigkeit diskutiert.
steht gemäß dieser Position an höchster Stelle der nor- Im Rahmen dieser Diskussion findet sich eine abge-
mativen Prinzipien der politischen Ordnung. Sie wird schwächte Form der Überwindungstheorie in post-
aber nicht unbedingt in Funktion der Verwirklichung modernen Positionen, die einer Auflösung des Staates
eines bestimmten Guts verstanden. Unterschiedliche in post-souveräne Regulierungsprozesse das Wort re-
Wertungen haben ihren Platz in der Gesellschaft, in- den (Walker 1993). Es ist allerdings nicht klar, wie da-
sofern sie den formalen und inhaltlichen Prinzipien durch positiv der Gerechtigkeit gedient ist. Die libera-
der Gerechtigkeit nicht widersprechen. Wegen der di- le Variante staatszentrierter Realisierung von Gerech-
vergierenden Positionen in der Ausgestaltung der tigkeit gibt es auch als Theorien des globalen Staates.
Rechte gibt es auch innerhalb des liberalen Verständ- Gemäß dieser Position kann aus prinzipiellen Grün-
308 IV Gerechtigkeit im Kontext

den nur ein auf globaler Ebene realisierter Staat den zu Reziprozität und zur Bildung einer Rechtsgemein-
Prinzipien der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhel- schaft verpflichtet, die verschiedene Aufgaben der
fen. Den souveränen Nationalstaat gilt es als Teilstaat Realisierung von Gerechtigkeit auf unterschiedlichen
in einen Weltstaat zu integrieren. Die meisten welt- Ebenen angeht (Risse 2012; Blake 2012; Sangiovanni
staatlichen Gerechtigkeitstheorien haben ein liberales 2007; Cheneval 2011).
Gepräge. Sie gehen von einem normativen Vorrang
der Gleichheit zentraler menschlicher Gerechtigkeits- Literatur
ansprüche aus. Diese werden durch eine Fragmentie- Apel, Karl-Otto: Diskursethik vor der Problematik von
rung in souveräne Einzelstaaten mit partikularen Recht und Politik: Können die Rationalitätsdifferenzen
zwischen Moralität, Recht und Politik selbst noch durch
Rechten und Pflichten von Bürgern verletzt oder nur die Diskursethik normativ-rational gerechtfertigt werden?
sehr unvollständig eingelöst (Beitz 1999; Pogge 1989; In: Karl-Otto Apel/Matthias Kettner (Hg.): Zur Anwen-
Held 1995; Archibugi 2008; Risse 2012). Es gibt aber dung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft.
auch eine partikularistische Position, die eine Frag- Frankfurt 1992, 29–61.
mentierung in Einzelstaaten unter Anwendung des li- Archibugi, Daniele: The Global Commonwealth of Citizens.
Toward Cosmopolitan Democracy. Princeton 2008.
beralen Prinzips der Gleichbehandlung rechtfertigt
Aristoteles: Politik. Übers. und mit erkl. Anm. vers. von Eu-
(Blake 2001). gen Rolfes. Unver. Nachdr. Hamburg 1990.
Kommunitaristische oder partikularistische Ge- Augustinus, Aurelius: De civitate dei. Corpus Christianorum,
rechtigkeitstheorien sind den Theorien globaler Staat- series latina XLVII. Turnholti 1955 [De civ.].
lichkeit gegenüber kritisch eingestellt und geben ge- Beitz, Charles: Political Theory and International Relations
meinschaftsbezogenen, relationalen, vertraglichen [1979]. Princeton 21999.
Blake, Michael: Distributive justice, state, coercion, and au-
oder assoziativen Pflichten und Verantwortlichkeiten
tonomy. In: Philosophy & Public Affairs 30/3 (2001), 257–
oder einer bestimmten gemeinschaftlich akzeptierten 296.
Konzeption des Guten aus unterschiedlichen Grün- –: Global distributive justice: Why political philosophy
den Vorrang vor Prinzipien globaler Gerechtigkeit needs political science. In: Annual Review of Political Sci-
(diskutiert bei Scheffler 2008, 48–96; Scheffler 2014). ence 15/1 (2012), 121–136.
Allerdings gibt es auch innerhalb der republika- Bloom, Allan: The Republic of Plato [1968]. New York 21991.
Bohman, James: Republican cosmopolitanism. In: The Jour-
nischen und kommunitaristischen Strömung eine nal of Political Philosophy 12/3 (2004), 336–352.
kosmopolitische Schule. Sie knüpft nicht unbedingt Cheneval, Francis: The Government of the Peoples. On the
an die relativistische Variante des Kommunitarismus Idea and Principles of Multilateral Democracy. New York
an, der gemäß Rechte ihren normativen Ursprung in 2011.
der konventionellen Einbettung in eine faktische ge- Durkheim, Émile: Le suicide. Étude de sociologie. Paris 1897.
Etzioni, Amitai: The Monochrome Society. Princeton 2009.
meinschaftliche Anerkennung haben, sondern an die
Godwin, William: Enquiry Concerning Political Justice
Variante, wonach sich Rechte aus bestimmten für alle [1793]. London 1993.
Menschen begründbaren Gütern ergeben, die Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M.
menschheitsgemeinschaftlich realisiert werden sollen 1968.
(vgl. Hicks 1999; Bohman 2004). Methodisch ent- –: Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M. 1992.
gegen steht dieser These eine Position, die die Ablei- Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Grundlinien der Philoso-
phie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im
tung eines normativen Imperativs zur Weltstaatlich- Grundrisse [1820]. In: Ders.: Werke, Bd. 7. Hg. von Eva
keit aus Gerechtigkeitsprinzipien ablehnt, weil sie in Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M.
Anlehnung an Hobbes die Realisierung von egalitaris- 1986.
tischer Gerechtigkeit, vor allem distributiver Gerech- Held, David: Democracy and the Global Order. From the Mo-
tigkeit, von der Effektivität eines politischen Basiskon- dern State to Cosmopolitan Governance. Cambridge 1995.
Hicks, Stephen: International Law and the Possibility of a Just
senses zur Aufrechterhaltung robuster souveräner In-
World Order. An Essay on Hegel’s Universalism. Amster-
stitutionen abhängig macht. Diese werden in der dam/Atlanta 1999.
Theorie der Gerechtigkeit vorausgesetzt und sind als Hobbes, Thomas: Leviathan or the Matter, Form and Power
allgemeine Gerechtigkeitsprinzipien in ihren Grenzen of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil [1651]. Hg.
weder begründbar noch widerlegbar. Sie müssen aber von Michael Oakeshott. London 1962.
elementare humanitäre Pflichten erfüllen, um in ih- Kavka, Gregory S.: Why even morally perfect people would
need government. In: Social Philosophy and Policy 12/1
rem Recht zu sein (Rawls 1999; Nagel 2005). Eine drit-
(1995), 1–18.
te Variante stellt der konstruktivistische Kosmopoli- Klosko, George: The straussian interpretation of Plato’s re-
tismus dar. Staaten sind in ihrem Recht, aber sie sind
49 Mensch, Bürger, moralische Person 309

public. In: The History of Political Thought VII/2 (1986), 49 Mensch, Bürger, moralische
275–293.
Landauer, Gustav: Anarchistische Gedanken über Anarchis-
Person
mus [1901]. In: http://link.springer.com/chap-
ter/10.1007 %2F978–3-322–96246–1_10 (19.1.2015).
Madison, James: Federalist 51. In: Alexander Hamilton/ ›Mensch‹, ›Bürger‹ und ›moralische Person‹ sind
James Madison/John Jay (Hg.): The Federalist Papers mögliche Antworten auf die Frage, wem ein mora-
[1788]. New York 2003. lischer Status zukommt. Ein Wesen besitzt einen mo-
Marx, Karl/Engels, Friedrich: Marx Engels Werke [MEW], ralischen Status, wenn es aus moralischen Gründen
Bd. 19. Berlin 1962.
um seiner selbst willen Beachtung verdient (DeGrazia
Nagel, Thomas: The problem of global justice. In: Philosophy
& Public Affairs 33/2 (2005), 113–147. 2014). Die Frage nach dem moralischen Status ist auch
Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. New York 1974. für die Gerechtigkeit grundlegend bedeutsam, denn
Platon: Politeia. Hamburg 1989. diese ist ein besonderer Teil der Moral. Nur wer über-
Pogge, Thomas: Realizing Rawls. Ithaca NY 1989. haupt einen moralischen Status hat, kann daher einen
Proudhon, Pierre-Joseph: Qu’est-ce que la propriété? [1840]. solchen auch unter dem Gesichtspunkt der Gerechtig-
Paris 1867.
Putnam, Robert D.: Bowling Alone. New York 2001.
keit besitzen. Aber das Umgekehrte muss nicht gelten:
Rawls, John: Political Liberalism. New York 1993. Womöglich gibt es Wesen, die um ihrer selbst willen
–: The Law of Peoples. Cambridge MA 1999. Beachtung verdienen, deren Behandlung aber gleich-
–: A Theory of Justice [1971]. Cambridge MA 2001. wohl nicht in das Geltungsgebiet der Gerechtigkeit
Reus-Smit, Christian: The Moral Purpose of the State. fällt. Das wäre etwa so, wenn zwar jeder Mensch einen
Princeton 1999.
moralischen Status besäße, die Gerechtigkeit aber ein-
Risse, Mathias: On Global Justice. Princeton 2012.
Sandel, Michael: Liberalism and the Limits of Justice [1982]. zig Beziehungen unter Bürgern regelte.
Cambridge 21998. Damit sind begriffliche Fragen berührt, und eine
Sangiovanni, Andrea: Global justice, reciprocity, and the Schwierigkeit ist, dass das Gerechtigkeitskonzept keine
state. In: Philosophy & Public Affairs 35/1 (2007), 3–39. einheitliche Verwendung findet (Ladwig 2011). Klas-
Sartwell, Crispin: Against the State. An Introduction to Anar- sisch ist die Unterscheidung des Aristoteles zwischen
chist Political Theory. New York 2008.
einem allgemeinen und einem besonderen Gebrauch
Scheffler, Samuel: Boundaries and Allegiances. Problems of
Justice and Allegiances in Liberal Thought. Oxford 2008. des Gerechtigkeitsbegriffs. Eine ähnliche Unterschei-
–: The idea of global justice. A progress report. In: The Har- dung spielt noch immer eine Rolle: Grob gesprochen,
vard Review of Philosophy 20 (2014), 1–17. dreht sich das allgemeine Verständnis von Gerechtig-
Scott, James C.: Two Cheers for Anarchism. Princeton 2012. keit heute um Rechtspflichten, während das besondere
Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum [1845]. Stuttgart die verteilende und die ausgleichende Gerechtigkeit
1981.
Strauss, Leo: The City and Man. Chicago 1964. umfasst. Da diese zwei Bedeutungen, die allgemeine
Walker, Rob B. J.: Inside/Outside: International Relations as und die besondere, weder extensional noch intensio-
Political Theory. Cambridge 1993. nal zusammenfallen, sollten wir auch die Statusfrage
Warren, Mark: Democracy and the State. In: John S. Dryzek/ für beide gesondert betrachten. Wer also hat einen ge-
Bonnie Honig/Anne Phillips (Hg.): The Oxford Handbook rechtigkeitserheblichen moralischen Status im all-
of Political Theory. Oxford 2006, 382–399.
gemeinen, wer im besonderen Sinne des Begriffs der
Francis Cheneval Gerechtigkeit? Lautet die Antwort, in der einen oder
auch in der anderen Hinsicht, »jeder Mensch«, so liegt
eine kosmopolitische Position vor. Besagt sie »nur Bür-
ger«, so ist die Position eine partikularistische.
Als wäre das noch nicht kompliziert genug, hängen
die Antworten von einer weiteren begrifflichen Wei-
chenstellung ab; und auch sie ist für jede Verwen-
dungsweise getrennt zu betrachten. Bedarf die Ge-
rechtigkeit einer auslösenden Bedingung in Gestalt
spezieller Beziehungen oder auch Institutionen? Oder
gilt sie von vornherein unter allen Menschen, wo,
wann und wie sie auch leben? Im ersten Fall wäre die
Gerechtigkeit ein assoziatives Konzept, im zweiten
Fall ein nicht-assoziatives. Die nicht-assoziative Sicht-
310 IV Gerechtigkeit im Kontext

weise ist, sofern alle Menschen einen moralischen Sta- genüber dem Verständnis des Aristoteles: Dieser hatte
tus besitzen, von vornherein universalistisch. Aber nicht Ansprüche, sondern Tugenden als grundlegend
auch die assoziative Sichtweise kann auf einen Univer- für die Gerechtigkeit angesehen.
salismus hinauslaufen. Das setzt allerdings voraus, Eine selbst schon klassische Deutung des neuen
dass die relevanten Beziehungen oder Institutionen Verständnisses von allgemeiner Gerechtigkeit gibt im
die ganze Welt umgreifen. 19. Jahrhundert John Stuart Mill (1871/1985). Mit
Die Statusfrage wird heute mit Blick auf die Ge- ›Gerechtigkeit‹ meinen wir demnach, was die Moral
rechtigkeit vor allem im Sinne der Frage gestellt, ob uns in Gestalt von Rechtspflichten aufgibt. Auch die
Menschen als solche oder nur Bürger in und gegen- allgemeine Gerechtigkeit ist folglich nicht das Ganze
über ihren Staaten gültige Ansprüche der Gerechtig- der Moral. Sie bezeichnet nur den zentralen Teil des
keit geltend machen können. Das dritte titelgebende im strengen Sinne Geschuldeten. Kennzeichen der
Konzept dieses Kapitels, ›moralische Person‹, wirkt Gerechtigkeit ist das strikte Entsprechungsverhältnis
demgegenüber wenig vertraut. Es soll daher abschlie- von Rechten und Pflichten. Mill grenzt damit die Ge-
ßend als genuine Alternative zu der Grundunterschei- rechtigkeit vom großen Bereich des moralisch Lo-
dung ›Mensch oder Bürger‹ betrachtet werden. Dabei benswerten, aber Mehr-als-Geschuldeten ab.
wird auch die Frage nach möglichen Gerechtigkeits- Im Anschluss an Kant (1797/1968) könnten wir
ansprüchen von Tieren zur Sprache kommen. Zu- auch sagen: Pflichten der Gerechtigkeit sind vollkom-
nächst aber sei die Grundalternative ›Mensch oder mene Pflichten. Sie gelten unbedingt und sind zeitlich,
Bürger‹ mit Blick auf die allgemeine, sodann auf die sachlich und sozial zureichend bestimmt. Damit ist
besondere Gerechtigkeit näher beleuchtet. zusätzlich gesagt, dass nicht sämtliche Pflichten solche
der Gerechtigkeit sind. Pflichten der Menschenliebe
oder der Wohltätigkeit, die uns dazu anhalten, fremde
Allgemeine Gerechtigkeit: Rechtspflichten Güter zu befördern, sind zeitlich, sachlich und sozial
und moralischer Status nicht zureichend bestimmt. Daher kann auch kein
ganz bestimmter anderer sagen, wir hätten seine gülti-
Aristoteles verstand unter Gerechtigkeit im Allgemei- gen Ansprüche verletzt, indem wir ihm gegenüber
nen eine Regelbefolgung im sozialen Miteinander. Er nicht wohltätig gehandelt haben.
dachte vor allem an das Zusammenleben freier und Die zweite Modifikation im Verständnis der all-
gleicher Bürger einer sich selbst regierenden – atti- gemeinen Gerechtigkeit besteht darin, dass wir
schen – Stadtrepublik. Menschen als solche hatten in Rechtspflichten nicht nur unter Bürgern gelten lassen.
den Augen des Aristoteles keinen moralischen Status: Vielmehr erkennen wir Menschen als solchen Rechte
Manche seien geborene Sklaven, und die allgemeine zu. Dabei unterscheiden wir auch nicht, wie noch
Gerechtigkeit lege fest, was die Bürger eines um Au- Aristoteles, zwischen Menschen im Vollsinne der Be-
tarkie bemühten Gemeinwesens voneinander erwar- stimmung zu einer politisch-bürgerschaftlichen Exis-
ten dürfen. Man könnte sagen, der gerechte Mensch tenz und Menschen im minderen Verständnis wie
im allgemeinen Sinne des Wortes, wie es Aristoteles Frauen oder gar geborenen Sklaven. Daher können
verstand, ist ein guter Sozialpartner. Er verhält sich zu Gerechtigkeitspflichten, wenn wir sie mit Rechts-
seinen Mitbürgern so, wie es diesen gebührt. pflichten gleichsetzen, nicht nur gegenüber Bürgern
Der allgemeine Begriff der Gerechtigkeit ist mit bestehen. Auch erkennen wir an, dass die allgemeine
zwei wichtigen Modifikationen bis heute im moral- Gerechtigkeit einige nicht-assoziative Pflichten um-
philosophischen Gebrauch. Jürgen Habermas (1988) fasst. Wir haben Rechtspflichten der Nichtschädigung
etwa behauptet, heute sei ›Moral‹ im Wesentlichen und auch der Nothilfe, die nicht an besondere Bezie-
gleichbedeutend mit ›Gerechtigkeit‹. Der Grund da- hungen und Institutionen gebunden sind.
für sei, dass seit der Neuzeit Fragen der Moral und Aber nicht für alle Rechtspflichten, denen wir eine
Fragen des guten Lebens auseinandergetreten seien. menschenrechtliche Bedeutung beimessen, muss dies
Die Moral dient demnach vor allem der Regelung in- gelten. Die Rechtspflicht, jedem Kind in Deutschland
tersubjektiver Interessenkonflikte. Ihre Kernfrage lau- eine grundlegende Bildung zu gewährleisten, obliegt
tet, was wir einander allgemein und wechselseitig jedenfalls nicht im gleichen Maße und im selben Sin-
schulden. Dabei verweist das Konzept des Geschulde- ne den Bürgern Dänemarks wie den Bürgern der Bun-
ten im modernen Verständnis auf gültige Ansprüche desrepublik. Und mit ›Bürgerrechten‹ verbinden wir
von Individuen. Darin liegt die erste Modifikation ge- schon begrifflich besondere Beziehungen und Regeln
49 Mensch, Bürger, moralische Person 311

der Mitgliedschaft. Die Frage ist dann, ob manche Was die Menschenrechte von Nichtbürgern angeht,
Bürgerrechte ihrerseits einer kosmopolitischen, alle so ist Hannah Arendts (1986) harsches Urteil, diese
Menschen einbeziehenden Begründung fähig sind. seien praktisch bedeutungslos, heute rechtlich und
Dies wären universalistisch begründete Pflichten, die teilweise auch tatsächlich überholt. Gleichwohl sind,
gleichwohl nur unter der assoziativen Bedingung po- wie die Flüchtlingsdramen an den Grenzen zwischen
litischer Mitgliedschaft ausgelöst würden. Möglich ist wohlhabenden und ärmeren Weltteilen drastisch zei-
aber auch, dass etwa die liberalen Freiheits-, Teilnah- gen, die Ansprüche solcher Menschen in der Wirk-
me- und Teilhaberechte allein als Ansprüche von Bür- lichkeit oft wenig wert. Viele Menschen sind effektiv
gern besonderer, eben liberaler Gemeinwesen be- außerstande, noch so grundlegende Menschenrechts-
gründbar sind, während unter Menschen als solchen güter zu genießen, solange sie nicht in einem funktio-
nur ganz elementare Rechtspflichten wie die Vermei- nierenden Verfassungsstaat leben und in diesem auch
dung von Folter, Versklavung oder Genozid gelten. einen geregelten Aufenthaltsstatus erlangt haben.
So genannte menschenrechtliche Minimalisten ver- Zusammenfassend zur allgemeinen Gerechtigkeit:
treten diese letzte Position. Sie argumentieren, Men- Einige Rechtspflichten gehen direkt aus Ansprüchen
schenrechte sollten als Grundnormen der interna- hervor, die Menschen einfach als solche besitzen. Das
tionalen Beziehungen begriffen werden, deren Verlet- ist eine Implikation der modernen Grundüberzeu-
zung souveränitätserhebliche Eingriffe in die rechts- gung, dass jeder Mensch unbedingte und unverlier-
verletzenden Staaten rechtfertigen könnte (etwa bare Rechte hat. Einige Rechtspflichten hingegen gel-
Ignatieff 2001; abgeschwächt auch Rawls 2002). Das ten direkt nur gegenüber Bürgern, und ihre Erfüllung
gilt am klarsten für die Normen des zwingenden Völ- ist nur diesen geschuldet. Aber auch solche Rechts-
kerrechts (ius cogens). Bürgerliche und politische Frei- pflichten könnten indirekt auf den moralischen Status
heiten werden hingegen nicht von allen Staaten an- von Menschen als solchen zurückverweisen. Ein Men-
erkannt, schon gar nicht als Normen, auf deren Verlet- schenrecht höherer Stufe, das Recht, Bürger eines
zung wirtschaftliche Sanktionen oder militärische In- Staates zu sein, verbindet dann die partikularen Bür-
terventionen folgen dürften. ger- mit den universalen Menschenrechten.
Methodisch berufen sich Minimalisten gewöhnlich
auf die Rolle, die Menschenrechte in der politischen
und völkerrechtlichen Praxis spielen. Unabhängig von Besondere Gerechtigkeit: Wer hat Anspruch
dieser Praxis ließen sich Menschenrechte weder be- auf gerechte Verteilung?
greifen noch begründen. Damit wird zugleich gesagt,
dass auch Menschenrechte in gewissem Sinne assozia- Bereits die allgemeine Gerechtigkeit besitzt auch eine
tiv seien. Sie seien an die Voraussetzung bestimmter distributive Dimension. Menschenrechte sind be-
institutioneller Ordnungen, etwa des Staatensystems grifflich als gleiche Rechte bestimmt. Die Gleichheit
und des internationalen Rechts, gebunden, und uni- ist ein menschenrechtliches Strukturprinzip, das in
versal seien sie nur deshalb, weil diese Ordnungen Gestalt von Diskriminierungsverboten selbst zum
heute globale Geltung beanspruchen und weltweite subjektiven Recht wird. Auch diesen Umstand ver-
Wirkung entfalten. kennen Minimalisten, die mit den Menschenrechten
Doch dieser methodische Grundgedanke, den nur absolute Standards wie die Freiheit von Folter,
menschenrechtliche Minimalisten mit anderen Ver- Genozid und vielleicht auch lebensbedrohender Ar-
tretern politischer Menschenrechtskonzeptionen mut verbinden. Die Menschenrechte bringen aber,
(Beitz 2009; Raz 2010) teilen, spricht eher für einen über ihre vorteilhaften Folgen für grundlegende und
Zusammenhang als für eine Trennung von Men- zentrale Güter hinaus, auch direkt unseren mora-
schen- und Bürgerrechten. Die Menschenrechtspakte lischen Status zum Ausdruck. Dieser Status ist genuin
von 1966 etwa schließen (Bürger-)Rechte auf politi- egalitaristisch (Buchanan 2013). Wir haben einen
sche Beteiligung als genuine Menschenrechte ein. Die menschenrechtlichen Anspruch auf Anerkennung als
maßgeblichen Menschenrechtsdokumente sind in- einander Gleiche.
haltlich nicht minimalistisch. Sie sehen eine Art mo- Die distributive Dimension verweist auf einen be-
ralischer Arbeitsteilung vor, in der die Einzelstaaten sonderen Sinn von ›Gerechtigkeit‹ und damit auf die
zentrale Pflichten der Menschenrechtsverwirklichung zweite Verwendungsweise dieses Konzepts. Eine be-
tragen, von denen einige nur gegenüber Bürgern gel- griffliche Intuition spricht dafür, dass wir mit Gerech-
ten (Ladwig 2014). tigkeit oder Ungerechtigkeit zumeist etwas Spezielle-
312 IV Gerechtigkeit im Kontext

res meinen als die Beachtung oder Verletzung gleich innerhalb eines staatlich geeinten Gemeinwesens zu
welcher Rechtspflichten. H. L. A. Hart (2011, 187) regeln (Miller 2008).
schreibt prägnant, das Besondere der Gerechtigkeits- Eine Besonderheit solcher Gemeinwesen besteht
idee liege darin, »daß die Individuen im Verhältnis zu- darin, dass deren Angehörige einem Gewaltmonopol
einander einen Anspruch auf relative Gleichheit und unterworfen sind, und dies nicht nur zeitweilig und
Ungleichheit haben«. freiwillig, wie Touristen, sondern dauerhaft und zu-
Für die Gerechtigkeit im speziellen Wortverständ- meist von Geburt an. Eine solche Art der Mitglied-
nis ist diese Verhältniskomponente kennzeichnend. schaft geht mit einzigartigen Zumutungen einher.
Von Gerechtigkeit reden wir, wenn wir das richtige Staaten erwarten Gesetzesgehorsam und gebieten
Verhältnis unserer Ansprüche zueinander selbst als über Zwangsmittel zu dessen Durchsetzung, was sie in
ein Gut betrachten. Eine Ungerechtigkeit wäre dem- eine ständige Spannung zur Autonomie der Bürger
entsprechend eine Unordnung in einem solchen Ver- bringt. Daher kann man argumentieren, dass die Mit-
hältnis. Sie ist eine moralische Verfehlung, die für ein glieder, und nur die Mitglieder, eines solchen Gemein-
wesentlich relationales Übel verantwortlich zeichnet: wesens auch einzigartige Ansprüche aneinander und
Jemand steht ungerechtfertigt schlechter da als ein an- an ihren Staat stellen dürfen. Im Sinne Ronald Dwor-
derer; jemand beutet einen anderen aus; jemand ver- kins (2000): Alle Bürger müssen in der Gesetzgebung
weigert einem anderen die geschuldete Korrektur ei- als Gleiche Beachtung finden; alle haben ein Grund-
nes Schadens; jemand herrscht über einen anderen, recht auf gleiche Achtung und Berücksichtigung
ohne dazu autorisiert zu sein. durch die öffentlichen Gewalten, denen sie unterwor-
Mit Blick auf die besondere Gerechtigkeit stellt sich fen sind. Dies schließt neben gleichen Rechten auf de-
die Statusfrage von neuem. Namentlich für die vertei- mokratische Mitwirkung auch weitere Ansprüche
lende Gerechtigkeit ist strittig, ob diese alle Menschen verteilender Gerechtigkeit ein.
unabhängig von besonderen Beziehungen und vor- Folgt man dieser Argumentationslinie, so ist we-
gängigen Institutionen zu etwas verpflichtet. John nigstens nicht evident, dass auch sozial Fremde ver-
Rawls (1975) hat hier weichenstellend gewirkt, indem gleichbare Ansprüche auf eine gerechte Verteilung
er die Gerechtigkeit als erste Tugend sozialer Institu- stellen dürfen. Ob die Geltungsreichweite distributi-
tionen bezeichnete. Die Grundfrage einer Theorie der ver Gerechtigkeit gar global ist, also alle Menschen
Gerechtigkeit laute, wie wir die Rechte und Pflichten einschließt, hängt dann davon ab, ob alle Menschen in
sowie die Früchte der sozialen Zusammenarbeit unter Beziehungen zueinander stehen, die denen unter Bür-
allen Angehörigen eines Gemeinwesens verteilen soll- gern in wenigstens einer für die Verteilungsgerechtig-
ten. Rawls hat damit für die verteilende Gerechtigkeit keit erheblichen Hinsicht gleichkommen. Klar ist,
eine assoziative Sichtweise etabliert. Dabei setzte er dass dies in Abwesenheit eines Weltstaates keine Be-
erstens voraus, dass das jeweilige Gemeinwesen au- ziehungen sein können, die durch gemeinsame Unter-
tark sei und jeder Angehörige ihm von der Geburt bis werfung unter ein einziges Gewaltmonopol gekenn-
zum Tod angehöre, und zweitens, dass jedes Gemein- zeichnet sind. Man müsste daher ein Analogon in Ge-
wesen einen eigenen großen Kooperationszusam- stalt globaler Herrschaftsverhältnisse finden, die auch
menhang bilde. Die beiden Bestimmungen sind lo- ohne Gewaltmonopol genügen, um Ansprüche vertei-
gisch voneinander unabhängig, denn wer etwa zu lender Gerechtigkeit auf Weltebene auszulösen. Dafür
schwer behindert ist, um an der Arbeitsteilung in ei- kommen etwa internationale Organisationen wie der
nem Gemeinwesen mitzuwirken, mag diesem trotz- Internationale Währungsfonds (IWF) und Verein-
dem als Mitglied angehören. Außerdem können Ko- barungen wie das Übereinkommen über handels-
operationsbeziehungen auch bestehen, wo die Bedin- bezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums
gung der Autarkie nicht erfüllt ist. (TRIPS-Abkommen) in Betracht: Sie beeinflussen
Die Kooperationsbedingung gibt eine gewisse Bin- tiefgreifend und umfassend das Leben von Milliarden
dung von Rawls an die kontraktualistische Grundidee Menschen, ohne allen Betroffenen auch nur annä-
zu erkennen, dass wir Gerechtigkeit brauchen, um Be- hernd gleiche Möglichkeiten der Mitwirkung an der
ziehungen des Gebens und Nehmens zum Vorteil aller Regelsetzung zu geben (vgl. die Beiträge in Broszies/
Beteiligten zu regeln (kritisch dazu Nussbaum 2010). Hahn 2010).
Die Mitgliedschaftsbedingung dagegen verweist auf Unter Anhängern assoziativer Sichtweisen ist strit-
eine Grundbedeutung von ›sozialer Gerechtigkeit‹: tig, welche Arten von Beziehungen oder auch Institu-
Diese sei dazu da, die gesellschaftlichen Beziehungen tionen nötig sind, um Pflichten verteilender Gerech-
49 Mensch, Bürger, moralische Person 313

tigkeit auszulösen: Beziehungen der Zusammen- fragwürdiger Weise konservativ: Anstatt bestimmte
arbeit? Verhältnisse der Interdependenz? Auch einsei- für die Verteilung bedeutsame Strukturen und Kräfte-
tiger Abhängigkeit? Macht und Herrschaft? Nur mit verhältnisse vorauszusetzen, stellt sie diese allesamt
oder auch ohne Gewaltmonopol? Hier stehen wesent- auf den Prüfstand einer willkürfreien Rechtfertigung.
lich begriffliche Intuitionen gegeneinander. Strittig ist Diese Überlegungen betreffen den Begriff und die
auch, ob und inwieweit die relevanten Beziehungen Begründung der besonderen Gerechtigkeit. Wenigs-
über die Nationalstaaten hinaus gegeben sind. Dies tens erwähnt sei aber, dass manche Philosophen,
sind empirische Fragen, die abhängig von der norma- wenn sie die Alternative ›alle Menschen oder nur Bür-
tiven Grundüberzeugung, welche Beziehungen oder ger‹ erörtern, vor allem an die Verwirklichungsbedin-
Institutionen für die Gerechtigkeit bedeutsam seien, gungen der verteilenden Gerechtigkeit denken. Für ei-
der Beantwortung bedürfen, wenn man einer assozia- nen Partikularismus könnte sprechen, dass distributi-
tiven Sichtweise verbunden bleiben will. ve Gerechtigkeit auf Weltebene kein realisierbares
Man kann sich solcher Schwierigkeiten aber auch Ideal oder keine »realistische Utopie« (Rawls 2002)
entledigen, indem man eine nicht-assoziative Sicht- sei. Dafür nämlich müssten vier Bedingungen erfüllt
weise vorzieht. Die Grundannahme lautet dann ge- sein: die Bereitschaft der Menschen, für noch so fern
wöhnlich, dass der gleiche moralische Status aller lebende Fremde etwas abzugeben oder auf etwas zu
Menschen auch eine Präsumtion der Gleichverteilung verzichten, ein grundlegendes Einverständnis über
mit sich bringe (Gosepath 2001): Wann immer ein die Güter, Grundsätze und Regeln gerechter Vertei-
moralisch erhebliches Gut unter den Menschen mehr lung, eine zentralisierte Gewalt, um diese flächen-
oder weniger gleich verteilt sein könnte und wir die deckend und unparteiisch umzusetzen, sowie eine Öf-
Möglichkeit haben, es so oder anders zu verteilen, fentlichkeit, die in der Lage wäre, die Zentralgewalt zu
müssen wir es möglichst gleich verteilen, es sei denn, programmieren und zu kontrollieren.
eine ungleiche Verteilung kann unter allen Betroffe- Der bis heute weiteste Bezugsrahmen für eine sub-
nen unparteiisch gerechtfertigt werden. stanzielle ›Solidarität unter Fremden‹ sei aber, so das
Die Existenz der Staaten kann dieser alternativen partikularistische Argument, der Nationalstaat (etwa
Sichtweise zufolge nicht die auslösende Bedingung für Miller 2008). Kosmopoliten könnten dies allerdings
alle möglichen Forderungen verteilender Gerechtig- einräumen und gleichwohl erwidern: Eine Theorie
keit sein. Sie beeinflusst ja selbst, wie moralisch erheb- der Gerechtigkeit sei gerade dazu da, uns zu sagen,
liche Güter, etwa natürliche Rohstoffe oder auch die welcher Bezugsrahmen der für die Gerechtigkeit rich-
Bewegungsmöglichkeiten von Menschen auf Territo- tige wäre und welche Einstellungen, Institutionen und
rien, verteilt sind. Darum bedarf auch sie einer unpar- Verständigungsforen wir darum fördern sollten. Mit
teiischen Rechtfertigung unter allen Betroffenen. Und einem Wort: Strittig ist hier, wie eine zugleich reali-
dies sind zunächst alle Menschen weltweit. Allenfalls tätsbezogene und kritische Konzeption der Gerech-
in einem zweiten Schritt, nach erfolgreicher Rechtfer- tigkeit aussehen könnte.
tigung gewisser Grenzen, mögen dann Bürger inner- Zusammenfassend zur besonderen Gerechtigkeit:
halb dieser Grenzen besondere und weiter reichende Diese handelt von genuin relationalen Gütern und
Forderungen aneinander richten dürfen. Übeln, und ihre Grundfrage lautet, wie wir moralisch
Ein Nachteil der nicht-assoziativen Sichtweise erhebliche Güter (und Übel) verteilen sollten. Dabei
kann darin gesehen werden, dass sie von strittigen In- ist eine Grunddimension, die direkt alle Menschen
tuitionen wie einer global geltenden Präsumtion der einbegreift, die Gleichheit unseres moralischen Status.
Gleichverteilung aller möglichen moralisch erhebli- Was die Verteilung gewöhnlicher Güter angeht, so
chen Güter abhängt. Auch mag man gegen sie einwen- herrscht heute eine assoziative Sichtweise vor. Ihr zu-
den, dass sie uns zu weit von den tatsächlichen Struk- folge stellen sich Fragen verteilender Gerechtigkeit
turen und Machtverhältnissen in der Welt wegführe. nur unter der auslösenden Bedingung besonderer Be-
In der Folge falle es uns schwer, die praktischen Pro- ziehungsformen oder auch Institutionen. Dies kann,
bleme der Gerechtigkeit überhaupt noch zu erkennen, muss aber nicht bedeuten, dass nur Bürger eines Staa-
geschweige denn prinzipiengeleitet auf sie einzuge- tes gegeneinander und gegen ihre gemeinsamen öf-
hen. Drei Vorteile aber besitzt die nicht-assoziative fentlichen Gewalten Ansprüche distributiver Gerech-
Sichtweise: Sie ist argumentativ sparsam; sie zieht eine tigkeit geltend machen können. Möglich ist auch, dass
moralisch attraktive Konsequenz aus der moralischen die besonderen Beziehungen unter Bürgern ein Ana-
Gleichwertigkeit aller Menschen; und sie ist nicht in logon etwa in Gestalt globaler Herrschaftsverhältnisse
314 IV Gerechtigkeit im Kontext

finden, das hinreicht, um vergleichbare Forderungen und selbstbewussten Rechtsgebrauch außerstande


verteilender Gerechtigkeit auf Weltebene auszulösen. sind. Der globale menschenrechtliche Minimalkon-
Alternativ dazu könnte man mittels einer Präsumtion sens sagt etwas anderes: Jedenfalls alle geborenen und
der Gleichverteilung zu Forderungen globaler Vertei- nicht (ganz-)hirntoten Angehörigen unserer Art seien
lungsgerechtigkeit gelangen, die auch imstande wä- moralische und auch juristische Personen. Die Menge
ren, das Staatensystem als solches zu hinterfragen – der moralischen Personen muss demnach größer sein
mit allerdings theoretisch wenig klarem und praktisch als die Menge der normativ zurechnungsfähigen Ak-
fernliegendem Ausgang. (Andererseits: Warum sollte teure, auch wenn sie diese zweite Menge sicher ein-
wahre Gerechtigkeit nicht auch in weiter Ferne liegen schließt. Wir sollten, mit anderen Worten, moralische
können?) Personen nicht mit moralischen Subjekten gleichset-
zen. Moralische Subjekte sind imstande, aus mora-
lischer Einsicht moralisch zu handeln; moralische
Moralische Personen oder: Gerechtigkeit Personen sind mögliche Nutznießer moralisch gebo-
für Menschen und andere Tiere tener Rücksicht und Beachtung.
Das Konzept der moralischen Person muss aber
Bis jetzt habe ich so getan, als gingen wenigstens eini- auch gegenüber dem Begriff des Menschen nicht re-
ge Pflichten der Gerechtigkeit aus den ›angeborenen‹ dundant sein, und dies aus zwei Gründen. Erstens,
Ansprüchen von Menschen als solchen hervor. Doch weil der menschenrechtliche Minimalkonsens eben
zu den Menschen im biologischen Sinne zählen alle nicht alle Menschen im biologischen Sinne dieses
individuellen Träger des zweifachen Chromosomen- Konzepts einbezieht, sondern nur die bereits auf die
satzes menschlicher Eltern. Haben aber Embryonen, Welt gebrachten mit noch lebendigen Hirnteilen.
jedenfalls nach Einnistung in die Gebärmutter, bereits Zweitens, weil wir auch fragen können, ob das biologi-
unverlierbare Rechte? Das ist bekanntlich strittig; und sche Menschsein für einen moralischen Status not-
man kann argumentieren, dass nur erlebensfähige wendig sei. Gewiss wäre es ungewöhnlich, auch von
Subjekte von Interessen auch als Subjekte genuiner anderen erlebensfähigen Tieren zu sagen, sie seien
Rechte in Frage kommen, weil nur sie subjektiv etwas moralische Personen. Aber das liegt wiederum daran,
zu verlieren haben. dass wir mit ›Person‹ zumeist die zusätzliche Vorstel-
Wir können nun das bislang vernachlässigte Kon- lung besonders anspruchsvoller Fähigkeiten verbin-
zept der ›moralischen Person‹ heranziehen, um diesen den. Doch bereits im menschlichen Fall wäre die Vor-
Unterschied zwischen Menschen im biologischen Sin- stellung fatal, dass nur ein Träger solcher Fähigkeiten
ne und Subjekten genuiner Rechte zu verdeutlichen. ein Jemand sein könne. Wäre es da nicht willkürlich,
Dabei meint ›Person‹ nicht unbedingt einen Träger dies für andere Tiere kategorisch auszuschließen, nur
besonders anspruchsvoller Fähigkeiten wie Rationali- weil sie das ›falsche‹ Erbgut aufweisen?
tät, Vernünftigkeit oder Moralität. Wir verwenden et- Besitzt die Art des Erbguts als solche keine mora-
wa den Ausdruck ›juristische Person‹, um zu sagen, lische Relevanz, so müssen andere Eigenschaften zur
dass ein Wesen für das positive Recht nicht nur etwas Begründung dienen, warum manche Wesen nur etwas
ist, sondern jemand: dass es um seiner selbst willen sind, andere hingegen auch jemand. Und bereits unter
zählt. Analog könnten wir auch sagen, dass eine Per- uns Menschen finden wir manche Eigenschaften mo-
son ein Jemand im Sinne eines moralischen Gegen- ralisch erheblich, die wir mit anderen erlebensfähigen
übers ist: dass andere ihr aus moralischen Gründen et- Tieren teilen. Wir sind nicht die einzigen Tiere, die
was schulden. Wie die juristische, so wäre demnach Schmerzen und Furcht empfinden, sich an sinnlichen
auch die moralische Person begrifflich bestimmt als Reizen und freier Bewegung erfreuen oder den Kon-
ein Subjekt genuiner Rechte. takt zu anderen Lebewesen suchen, brauchen und ge-
Damit ist nicht vorentschieden, ob wir genuine nießen. Nicht nur wir kämpfen darum, am Leben zu
Rechtssubjektivität an Bedingungen wie die Möglich- bleiben, wenn wir dieses bedroht fühlen. Dies spricht
keit der Gegenseitigkeit oder eines selbstbewussten für einen moralischen Status aller erlebensfähigen
Rechtsgebrauchs binden sollten. Solche Bedingungen Tiere und nicht nur von Menschen (s. Kap. V.77).
erfüllen nur Personen im besonderen Wortsinne nor- Haben andere Tiere als der Mensch darum aber
mativ zurechnungsfähiger Akteure. Ausgeschlossen auch genuine Ansprüche der Gerechtigkeit? Was die
wären damit aber alle Menschen, die etwa aufgrund besondere Gerechtigkeit angeht, mag man dagegen
schwerer geistiger Behinderung zu einem reziproken einwenden, dass jedenfalls die allermeisten erlebens-
49 Mensch, Bürger, moralische Person 315

fähigen Tiere keinen Sinn dafür haben, in welchen wortung für die Rechte solcher Tiere tragen sollte. Do-
moralischen Relationen sie zu anderen stehen. Sie mestizierte Tiere sollten auch anerkannt werden als
können ihre eigenen Ansprüche nicht verstehen und aktive Mitgestalter der Normen, die ihr Zusammen-
sie darum auch nicht zu den Ansprüchen anderer ins leben mit Menschen regeln. Analog sollten Tiere in
Verhältnis setzen. Folglich spielt Gleichheit als solche der Wildnis als Angehörige souveräner Gemeinschaf-
für sie keine moralische Rolle; und Fragen gerechter ten und Kulturfolger als denizens (Einwohner) An-
Verteilung, gerechten Tausches und gerechter Vergel- erkennung finden.
tung sind für sie, wenn überhaupt, nur instrumentell Damit indes bringen Donaldson und Kymlicka
bedeutsam: im Hinblick auf andere, absolute Güter normativ gehaltvolle Konzepte, die auf Beziehungen
oder Übel wie Wohlbefinden oder leibgebundenes unter Menschen und menschlichen Gemeinschaften
Leiden. Allerdings sind wir selbst, wenn wir als Sub- zugeschnitten sind, auch für Beziehungen zu nicht-
jekte moralischer Überlegung über ihren moralischen menschlichen Tieren zur Geltung. Dagegen lässt sich
Status befinden, an das Gebot willkürfreier Begrün- einwenden, dass die Tiere selbst solche Konzepte nicht
dung gebunden. Wir können und sollten einsehen, verstehen und verwenden können. Sie können sich
dass es ungerecht wäre, ein Wesen in einer für dieses selbst und andere nicht als gleichberechtigte Mitbür-
selbst erheblichen Hinsicht einzig aufgrund seines ger oder etwa als Angehörige souveräner Gemeinwe-
Erbguts schlechter zu behandeln als ein anderes. sen begreifen. Zumindest der aktive Aspekt von Mit-
Eine Grundfrage der besonderen Gerechtigkeit ist bürgerschaft, das gleiche Recht auf Mitwirkung an
die Frage nach dem moralischen Status eines Wesens kollektiv verbindlichen Entscheidungen, ist direkt nur
relativ zu dem aller anderen. Und sofern die Kritik am für Menschen bedeutsam. Diese indes sollten ihre
›Speziesismus‹ als einer Spielart von Diskriminierung Bürgerrolle in dem Bewusstsein ausüben, dass sie da-
analog zu Rassismus oder Sexismus zutrifft (Singer mit Verantwortung auch für andere menschliche wie
1994), besitzen alle erlebensfähigen Wesen den grund- nicht-menschliche Lebewesen tragen, die gültige An-
sätzlich gleichen Status. Unterschiede in der Behand- sprüche der Gerechtigkeit an uns richten.
lung können dann nur willkürfrei gerechtfertigt sein,
soweit sie auf Unterschiede in moralisch erheblichen Literatur
Eigenschaften antworten. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.
Für die allgemeine Gerechtigkeit folgt daraus, dass Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft [1951].
München 1986.
alle erlebensfähigen Tiere, und nicht nur die mensch- Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. München 1991.
lichen, auch Rechtspflichten auszulösen vermögen Beitz, Charles: The Idea of Human Rights. Oxford 2009.
(Cavalieri 2002; Regan 2004). Wir schulden ihnen Broszies, Christoph/Hahn, Henning (Hg.): Globale Gerech-
Rücksicht um ihrer selbst willen mit Blick auf Bedürf- tigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus
nisse und Fähigkeiten, die wir so oder ähnlich mit ih- und Kosmopolitismus. Frankfurt a. M. 2010. Buchanan,
Allen: The Heart of Human Rights. Oxford 2013.
nen teilen und die wir untereinander als moralisch er-
Cavalieri, Paola: Die Frage nach den Tieren. Für eine erwei-
heblich erachten (sollten). Und wie im menschlichen terte Theorie der Menschenrechte. Erlangen 2002.
Fall, so sind auch gegenüber anderen Tieren die DeGrazia, David: Gleiche Berücksichtigung und ungleicher
grundlegenden Rechtspflichten nicht an besondere moralischer Status. In: Friederike Schmitz (Hg.): Tierethik.
Beziehungen und Institutionen gebunden. Generelle Grundlagentexte. Frankfurt a. M. 2014, 133–152.
Pflichten der Nichtschädigung und vielleicht auch der Donaldson, Sue/Kymlicka, Will: Zoopolis. A Political Theory
of Animal Rights. Oxford 2011.
Hilfe in akuten Notlagen sind nicht-assoziativ.
Dworkin, Ronald: Sovereign Virtue. The Theory and Practice
In neuerer Zeit haben allerdings verschiedene Au- of Equality. Cambridge MA/London 2000.
toren auch die moralische Bedeutung besonderer Be- Gosepath, Stefan: The Global Scope of Justice. In: Thomas
ziehungen betont, in denen Menschen zu anderen Pogge (Hg.): Global Justice. Oxford 2001, 145–168.
Tieren stehen (etwa Wolf 2012). Evident ist dies für Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns.
Tiere, deren Lebensbedingungen wir umfassend kon- Frankfurt a. M. 1988.
Hart, Herbert L. A.: Der Begriff des Rechts [1961]. Frankfurt
trollieren und die wir, als Nutztiere oder als Gefähr- a. M. 2011.
ten, von uns abhängig gemacht haben. Sue Donaldson Ignatieff, Michael: Human Rights as Politics and as Idolatry.
und Will Kymlicka (2011) gehen so weit, für domesti- Princeton, NJ 2001.
zierte Tiere einen Status als gleichberechtigte Mitbür- Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten [1797]. In: Ders.:
ger vorzusehen. Damit meinen sie nicht nur, dass je- Werke in zwölf Bänden, Bd. VIII. Hg. von Wilhelm Wei-
schedel. Frankfurt a. M. 1968.
weils ein ganz bestimmter Staat die ultimative Verant-
316 IV Gerechtigkeit im Kontext

Ladwig, Bernd: Gerechtigkeitstheorien zur Einführung. Ham- 50 Politik und Demokratie


burg 2011.
–: Menschenrechte, Institutionen und moralische Arbeits- Der Zusammenhang von Gerechtigkeit, Politik und
teilung. In: Politische Vierteljahresschrift 55/3 (2014), 472–
492. Demokratie beschäftigt die westliche politische Phi-
Mill, John Stuart: Der Utilitarismus. Stuttgart 1985 (engl. losophie seit ihren Anfängen in der griechischen
1871). Antike und steht auch heute noch im Fokus zahlrei-
Miller, David: Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Frankfurt cher Debatten. Hier kann nur ein kurzer Abriss über
a. M. 2008. einflussreiche Verständnisse des Verhältnisses von Po-
Nussbaum, Martha C.: Die Grenzen der Gerechtigkeit – Be-
litik und Gerechtigkeit, die dominante Gerechtig-
hinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Frank-
furt a. M. 2010. keitstheorie des politischen Liberalismus und die Kri-
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. tik an den entpolitisierenden Effekten dieser Theorie
1975 (engl. 1971). gegeben werden, bevor das Spannungsverhältnis zwi-
–: Das Recht der Völker. Berlin 2002 (engl. 1999). schen Gerechtigkeit und Demokratie adressiert wird.
Raz, Joseph: Human rights without foundations. In: Saman-
tha Besson/John Tasioulas (Hg.): The Philosophy of Inter-
national Law. Oxford 2010, 321–338.
Regan, Tom: The Case for Animal Rights. Berkeley/Los An- Gerechtigkeit und Politik
geles ²2004.
Singer, Peter: Praktische Ethik. Neuausgabe. Stuttgart 1994 Prinzipien der Gerechtigkeit werden seit der Antike
(engl.1979). vor allem mit Bezug auf die soziale und politische Or-
Wolf, Ursula: Ethik der Mensch-Tier-Beziehungen. Frankfurt
ganisation von Gesellschaften formuliert, so dass Ge-
a. M. 2012.
rechtigkeit häufig als »erste Tugend sozialer Institu-
Bernd Ladwig tionen« (Rawls 1975, 19) und damit als zentraler nor-
mativer Begriff im Bereich der Politik aufgefasst wird.
Allerdings wird das Verhältnis von Gerechtigkeit und
Politik abhängig von unterschiedlichen Verständnis-
sen von Politik auf sehr unterschiedliche Weise be-
griffen.
Grob vereinfachend lassen sich vier paradigmati-
sche Antworten auf die Frage ›Was ist Politik?‹ unter-
scheiden (vgl. Celikates/Gosepath 2013, Kap. 1.1):
1. Die ›klassische‹, auf die griechische Antike und vor
allem auf Platon und Aristoteles zurückgehende
Antwort begreift Politik als gemeinwohlorientierte
Praxis, also als auf das Gute der Gemeinschaft als
ganzer ausgerichtetes Zusammenhandeln tugend-
hafter Bürger in der Polis. Gerechtigkeit wird in
diesem Zusammenhang noch als Teil einer umfas-
senderen Idee des Guten verstanden und noch
nicht im Sinne der Unterscheidung des Richtigen
vom Guten ausdifferenziert (vgl. Meier 1983).
2. Die mit der neuzeitlichen Vertragstheorie (vor al-
lem bei Locke und Kant) entstehende liberale Ant-
wort speist sich aus Skepsis gegenüber der Mög-
lichkeit allgemeingültiger Aussagen über das Gute,
die Natur des Menschen oder das Gemeinwohl
und geht stattdessen von Individuen aus, die über
bestimmte basale Interessen – etwa an Leben, Frei-
heit und Eigentum (Locke 1689/2000, II, § 123) –
sowie über unveräußerliche Rechte verfügen, die
diese notwendigerweise immer wieder miteinan-
der in Konflikt geratenden Interessen durch die
50 Politik und Demokratie 317

Etablierung eines gemeinsamen moralisch oder tigkeit in politischen Diskursen und Praktiken zu leug-
rechtlich bestimmten Rahmens schützen sollen. nen. Das damit angesprochene Spannungsverhältnis
Politik wird vor diesem Hintergrund als Anwen- ist wiederum nicht ein-, sondern mehrdimensional.
dung moralphilosophischer Prinzipien etwa der Die in der Praxis selbst stattfindende und sowohl
Gerechtigkeit bzw. als Entscheidungsfindung in- aus der Beobachter- als auch aus der Teilnehmerper-
nerhalb dieses rechtlich und/oder moralisch be- spektive vorgenommene Reflexion und Bewertung
stimmten Rahmens verstanden. Daraus folgt unter politischer Institutionen und politischen Handelns
anderem, dass der Schutz individueller Rechte und mit Bezug auf Normen bzw. Prinzipien der Gerechtig-
die Sicherung von Freiräumen, in denen jeder keit, die dabei jedoch ebenfalls unterschiedlich inter-
nach seiner eigenen Vorstellung glücklich werden pretiert, problematisiert und weiterentwickelt wer-
kann, das zentrale Anliegen liberaler Politik ist den, kann als eine erste Dimension dieses Spannungs-
(vgl. etwa Höffe 1989). verhältnisses verstanden werden, aber nicht als die
3. Die ›realistische‹ (unter anderem an Hobbes, Ma- einzige. Es kommen noch mindestens zwei weitere
chiavelli und Weber anschließende) Antwort be- hinzu, die das Bild verkomplizieren und eine bloße
zweifelt, dass sich die vom Liberalismus als pro- Anwendung von Gerechtigkeitsprinzipien auf den Be-
blematisch identifizierten Konflikte wirklich mit reich der Politik als zu einfache Bestimmung des Ver-
Mitteln der Moral und des Rechts überwinden las- hältnisses von Gerechtigkeit und Politik erscheinen
sen, und versteht Politik daher als Fortsetzung des lassen. Die Bezugnahme auf Prinzipien der Gerechtig-
Krieges mit anderen Mitteln und als Kampf um keit kann nämlich zum einen insofern als politisch
Macht. Bezugnahmen auf Gerechtigkeit erschei- verstanden werden, als damit in vielen Fällen auch po-
nen aus dieser Perspektive entweder als naive litische Absichten verfolgt werden, die deutlich über
Idealisierungen aus dem philosophischen Lehn- die unparteiliche Bewertung von Verhältnissen, in die
stuhl oder als ideologische Verschleierungstaktik man selbst nicht involviert ist, hinausgehen und his-
in der politischen Auseinandersetzung, mit der torisch z. B. der politischen Legitimation oder der Dis-
von der ›eigentlichen‹, in Eigeninteresse und ziplinierung oder Exklusion anderer gedient haben
Herrschaftsstreben verankerten Realität politi- (vgl. Geuss 2011). In all diesen Fällen bedarf es nicht
schen Handelns abgelenkt werde (vgl. für eine dif- nur weiterer Gerechtigkeitsdiskurse – substanzieller
ferenziertere Position etwa Geuss 2011). Beiträge zur Debatte darüber, was Gerechtigkeit ist
4. Die vor allem im sozialwissenschaftlichen Kontext oder fordert –, sondern auch einer politischen Kritik
einflussreiche systemtheoretische Antwort be- bzw. Ideologiekritik der (herrschenden Verständnisse
greift Politik deskriptiv als gesellschaftliches Teil- von) Gerechtigkeit und der Verteidigung gegen eine
system zur Herbeiführung und Durchsetzung ge- Kolonialisierung der politischen Praxis durch nur
samtgesellschaftlich bindender Entscheidungen scheinbar neutrale Gerechtigkeitsvorstellungen. Eine
durch staatliche Institutionen des Regierens, de- dritte Dimension dieses Spannungsverhältnisses be-
ren Effizienz und Durchsetzungsvermögen ange- steht zum anderen darin, dass die Auseinanderset-
sichts der für moderne Gesellschaften charakteris- zung um Gerechtigkeit, wie bereits angedeutet, selbst
tischen internen Differenzierung und ihrer Ein- Teil der Politik ist. Damit steht Gerechtigkeit nicht
bindung in globale Zusammenhänge jedoch zu- jenseits und über der Politik, kann aber auch nicht auf
nehmend in Zweifel gezogen werden (vgl. etwa die bloße Instrumentalisierung von Gerechtigkeits-
Luhmann 2000). rhetorik für politische Zwecke reduziert werden. Poli-
Vor diesem Hintergrund erscheint das Verhältnis von tische Akteure orientieren sich in ihren politischen
Gerechtigkeit und Politik als eines, das vor allem auch Entscheidungen und Praktiken (auch) an Gerechtig-
deshalb schwer zu bestimmen ist, weil die entspre- keitsvorstellungen und versuchen, andere Akteure
chenden Prinzipien und Praktiken in einem Span- durch gerechtigkeitsbasierte Argumente von ihrem
nungsverhältnis stehen, das nicht einfach in die eine Standpunkt zu überzeugen.
oder andere Richtung aufgelöst werden kann, ohne Vor diesem Hintergrund erscheint es als zu einfach,
entweder in idealisierende Gerechtigkeitskonzeptio- der Gegenüberstellung von idealisierender Gerechtig-
nen zurückzufallen, die sich vorwerfen lassen müssen, keitstheorie und vermeintlichem Realismus zu folgen
wenig mit der realen Praxis der Politik zu tun zu ha- und politisches Handeln entweder als Verwirklichung
ben, oder in pseudo-realistischer Manier die faktische von Normen der Gerechtigkeit zu verstehen oder aber
Wirksamkeit normativer Prinzipien auch der Gerech- als Kampf um die Macht und die Durchsetzung von
318 IV Gerechtigkeit im Kontext

Interessen. Weder ein rein normatives oder mora- beanspruchen, sich von verschiedenen politischen
lisches, idealistisches noch ein strikt strategisches und weltanschaulichen Grundüberzeugungen aus
oder ›realistisches‹ Politikverständnis ist dazu in der rechtfertigen zu lassen. Die Begründung dieser Prin-
Lage, die Komplexität des Verhältnisses von Gerech- zipien, will sie für eine moderne demokratische Ge-
tigkeit und Politik abzubilden (vgl. Young 2000). sellschaft Geltung beanspruchen, muss Rawls zufolge
Eine mögliche Position, die zwischen ›Moralis- nämlich das Faktum des Pluralismus (unterschiedli-
mus‹ und ›Realismus‹ vermittelt bzw. diese Alternati- cher Weltsichten und Auffassungen des Guten) be-
ve vermeidet, geht davon aus, dass Politik und Ge- rücksichtigen (vgl. v. a. Rawls 1998). Daher müsse
rechtigkeit tatsächlich in einem Verhältnis stehen, sich eine rein politische Gerechtigkeitskonzeption
dass dieses Verhältnis aber nicht als bloße Anwen- wesentlich auf eine allgemein akzeptierbare, stabile
dung eines bereits vollständig spezifizierten Sets an Einigung über die grundlegenden institutionellen
Gerechtigkeitsprinzipien auf die Politik verstanden Prinzipien einer wohlgeordneten, gerechten Gesell-
werden darf. Demnach kann man nicht einfach mit schaft beschränken, in der alle Menschen ihre eigene
der Konstruktion normativer Gerechtigkeitsprinzi- Konzeption des Guten realisieren können, solange
pien beginnen und diese auf das Feld der Politik dann diese nicht im Widerspruch zu den allgemein akzep-
nur noch anzuwenden versuchen. Vielmehr muss tierten Prinzipien steht. Ob eine Theorie der Gerech-
man mit einem tatsächlich realistischen und etwa tigkeit normativ adäquat ist, kann sich unter diesen
auch historisch und soziologisch informierten Ver- Bedingungen nur in ihrer öffentlichen Rechtferti-
ständnis der Bedingungen politischen Handelns an- gung erweisen: Ihre normativen Prämissen und die
setzen, das bestimmt ist durch Uneinigkeit, Konflikt Gerechtigkeitsgrundsätze, die sie aus ihnen ableitet,
und Machtverhältnisse. Politische Akteure haben müssen unter freien und gleichen Bürgern vernünfti-
demnach unterschiedliche Interessen und unter- gerweise zustimmungsfähig sein.
schiedliche normative Auffassungen sowohl vom gu- Rawls’ Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs
ten Leben (s. Kap. IV.42) als auch von Gerechtigkeit. verlangt, dass die Bürgerinnen und Bürger ihr politi-
Aus dieser Sicht kann es in der Politik nicht einfach sches Handeln, z. B. ihr Argumentieren, Entscheiden
um die Verwirklichung vorab bestimmter vermeint- oder Abstimmen, in der Öffentlichkeit nur an ge-
lich allgemeingültiger und vernünftigerweise nicht meinsam geteilten Kriterien, Richtlinien und Infor-
bestreitbarer Normen der Gerechtigkeit gehen, son- mationen orientieren sollen. Man darf sich also in
dern nur darum, unter Bedingungen real existieren- Gerechtigkeitsfragen nicht allein von der eigenen
der Uneinigkeit spezifisch politische, also immer umfassenden Weltanschauung leiten lassen. Nur
auch demokratisch anfechtbare und provisorische dann ist mit einem übergreifenden Konsens solcher
Problemlösungen zu finden, die ganz unterschiedli- Lehren, seien sie religiöser oder säkularer Natur, zu
che Formen – von Konsens über Modus-vivendi- rechnen, die die Gerechtigkeit aus ihrer je eigenen
Kompromisse bis hin zu andauernden Verhandlun- Perspektive bejahen. Politik – insofern sie Legitimität
gen und Auseinandersetzungen – annehmen können beanspruchen kann – findet dieser Konzeption ge-
(vgl. ebd. und Tully 2008). mäß im Rahmen der durch die verfassungsmäßig et-
wa in der Form von Grundrechten institutionalisier-
ten Prinzipien der Gerechtigkeit statt. Dabei ist frei-
Gerechtigkeit und Politik im politischen lich umstritten, 1) ob es tatsächlich möglich ist, eine
Liberalismus politisch neutrale – also von unterschiedlichen politi-
schen Positionen und Verständnissen des Politischen
Die wirkmächtigste Theorie der Gerechtigkeit der aus gleichermaßen akzeptierbare – und dennoch
Gegenwart – John Rawls’ Konzeption von Gerechtig- nicht vollkommen vage, sondern substanzielle Be-
keit als Fairness (Rawls 1975; 1998) – verfolgt freilich gründung und Ausformulierung der Prinzipien der
das anspruchsvolle Ziel, allgemeine Prinzipien der Gerechtigkeit zu geben, und 2) wie groß der Freiraum
Gerechtigkeit zu identifizieren, die sich dennoch ex- für demokratisches politisches Handeln und Ent-
plizit als politisch verstehen lassen, insofern sie sich scheiden angesichts der Rahmung legitimer Politik
nicht nur in ihrem Anwendungsbereich auf die durch die Gerechtigkeitsprinzipien und ihre Aus-
Grundstruktur einer gerechten Gesellschaft be- buchstabierung in der Verfassung im Rawlsschen
schränken (also nicht etwa direkt das Handeln von Modell überhaupt noch ist (vgl. etwa die Kritik in
Individuen zu binden beanspruchen), sondern auch Wolin 1996).
50 Politik und Demokratie 319

Kritik am Liberalismus rung auf individuelle Rechte – machen eine sinn-


hafte Identifikation der Menschen mit ihren sozia-
Aus unterschiedlichen theoretischen Richtungen ist len und politischen Institutionen unmöglich und
Kritik am liberalen Paradigma und der Art und Weise erzeugen ein Gefühl des Machtverlusts.
formuliert worden, wie es die Verbindung zwischen 4. Der Liberalismus verkennt die Bedeutung von
Politik und Gerechtigkeit konzipiert (vgl. auch Celika- Ideologie im Sinne notwendig falschen Bewusst-
tes/Gosepath 2013, Kap. 3). Dabei richtet sich die Kri- seins als Strukturmerkmal kapitalistischer Gesell-
tik – am Liberalismus im Allgemeinen und Rawls’ schaften und Hindernis eines radikalen Wandels,
Konzeption im Besonderen – nicht nur inhaltlich ge- etwa indem er die Präferenzen und Interessen von
gen eine spezifische Interpretation von Gerechtigkeit Individuen als gegeben auffasst anstatt als durch
und deren Reichweite, sondern auch methodologisch ungerechte und ideologische Verhältnisse geprägt
gegen die Orientierung am rationalen Individuum als – Ideologie und Entfremdung aber sind von Un-
Grundeinheit des Politischen und eine rein normati- gerechtigkeit unterschiedene Phänomene und
ve, ausschließlich auf rationale Begründung von poli- können daher auch in einer Gesellschaft mit einer
tischer Herrschaft ausgerichtete politische Philoso- gerechte(re)n Verteilung persistieren.
phie. Aus der Perspektive zahlreicher kritischer An- 5. Liberale Gerechtigkeitstheorien konzentrieren
sätze – etwa marxistischen, feministischen und post- sich einseitig auf Verteilungsfragen und naturali-
kolonialen Zuschnitts – führt dies nicht nur zu einem sieren in Form der so genannten Umstände der
inadäquaten, die Rationalität und Vernünftigkeit von Gerechtigkeit für kapitalistische Gesellschaften
sozialen Verhältnissen überschätzenden Verständnis spezifische Formen der psychologischen Motivati-
unserer politischen Wirklichkeit, sondern auch zu ei- on (beschränkter Altruismus) und spezifische öko-
ner falschen oder unzureichenden Bestimmung des nomische Verhältnisse (künstlich erzeugte Güter-
normativen Ziels, auf das hin sich diese Wirklichkeit knappheit) als unhinterfragte Voraussetzung. Die-
verändern sollte (bzw. auf das hin wir diese Wirklich- sem letzten Einwand zufolge kann es – bildlich ge-
keit verändern sollten) (vgl. aus anderer Perspektive sprochen – nicht nur oder primär darum gehen,
auch Honneth 2011). wie wir ›den Kuchen‹ verteilen sollen, sondern es
muss darum gehen, wer ihn unter welchen Bedin-
gungen produziert hat und wem die Arbeitskraft,
Marxismus
die Arbeitsmittel und das Produkt gehören.
Aus Sicht marxistischer Ansätze leidet das liberale
Verständnis des Verhältnisses von Politik und Gerech-
Feminismus
tigkeit, wiederum schematisch gesprochen (und ohne
Rawls’ deutlich komplexerer Position Gerechtigkeit Auch von feministischer Seite werden Grundannah-
widerfahren zu lassen), an fünf blinden Flecken (vgl. men liberaler Gerechtigkeitstheorien in Frage ge-
für einen guten Überblick Wood 2004): stellt, manchmal mit dem Ziel der Erweiterung dieser
1. Im Liberalismus wird Politik als (im Wesentli- Theorien (etwa mit Blick auf die Einbeziehung sozia-
chen) autonome Sphäre verstanden, deren Grund- ler Machtverhältnisse in Familie und ›Privat‹leben),
struktur (relativ) unabhängig ist von sozialen manchmal mit dem Ziel ihrer Ersetzung durch alter-
Herrschafts- und ökonomischen Ausbeutungsver- native theoretische und normative Modelle von Poli-
hältnissen. tik und Gesellschaft. Einig sind sich diese Ansätze je-
2. Damit einhergehend findet sich in liberalen An- doch erstens darin, dass ein ›geschlechtsneutrales‹
sätzen ein tendenziell formales Verständnis von Verständnis von Gerechtigkeit vor dem Hintergrund
Freiheit und Gleichheit, das die Existenz substan- tiefer und (sowohl in der sozialen Realität als auch im
zieller Unfreiheit und Ungleichheit unter dem gesellschaftlichen und philosophischen Diskurs) tief
Schein gleicher Rechte im liberalen Staat nicht nur verankerter Asymmetrien im Geschlechterverhältnis
verdeckt, sondern funktional zu deren Reproduk- nicht nur unzureichend, sondern Teil des Problems
tion und zur mit ihr zusammenhängenden unfai- ist, da ›Neutralität‹ unter diesen Umständen alles an-
ren Ausnutzung sozialer Abhängigkeitsverhältnis- dere als neutral ist und zur Kaschierung und Repro-
se beiträgt. duktion dieser Asymmetrien beiträgt. Zweitens wird
3. Die vom Liberalismus propagierten gesellschaftli- von feministischen Ansätzen die unkritische Unter-
chen (Rechts-)Verhältnisse – etwa die Fokussie- scheidung von Öffentlichem und Privatem problema-
320 IV Gerechtigkeit im Kontext

tisiert, die etwa in Rawls’ ursprünglichem Entwurf Gemeinschaften erachtet. Jedoch herrscht keineswegs
zum Ausschluss der als privat verstandenen Familie Übereinstimmung in Bezug darauf, was Demokratie
aus dem Anwendungsbereich der Gerechtigkeit ge- genau bedeutet, wie sie zu rechtfertigen, wie sie in der
führt hat (vgl. Okin 1989). Drittens wird infrage ge- politischen Wirklichkeit zu institutionalisieren ist und
stellt, inwiefern ›freiwillige Zustimmung‹ (einschließ- in welchem Verhältnis sie zur Gerechtigkeit steht (vgl.
lich wie auch immer idealisierter Formen solcher Zu- Celikates/Gosepath 2013, Kap. 4.3).
stimmung) unter Bedingungen von Herrschaft, Das wörtliche Verständnis von ›Demokratie‹ als
strukturellen Abhängigkeitsverhältnissen, adaptiven ›Herrschaft des Volkes‹ wirft unmittelbar die Frage
Präferenzen und anderen Formen ideologischer Ver- auf, wer der demos bzw. das ›Volk‹ ist und wie es herr-
zerrung tatsächlich ein adäquates Kriterium für die schen bzw. regieren kann bzw. soll. In der Beantwor-
Legitimität sozialer Relationen darstellt, wie es von tung beider Fragen spielt Gerechtigkeit eine wichtige,
den unterschiedlichen Varianten des Kontraktualis- jedoch alles andere als unumstrittene Rolle.
mus unterstellt wird (vgl. auch Mills/Pateman 2007). Im Hinblick auf die zweite Frage wird Demokra-
tie häufig vor allem im Sinne von Verfahren verstan-
den, die bestimmten Prinzipien der Gerechtigkeit,
Postkolonialismus
wie etwa der Nichtdiskriminierung und politischen
Schließlich ist aus postkolonialer Perspektive gegen Gleichheit der Beteiligten, genügen müssen. Auch
den liberalen Mainstream der Gerechtigkeitstheorie Rechtsstaatlichkeit – also die Garantie von Grund-
eingewendet worden, dass die idealisierende Methode rechten und Verfassungsprinzipien gerade unab-
nicht nur zur Vernachlässigung historisch entstande- hängig von wechselnden Mehrheiten und damit die
ner Machtasymmetrien und anhaltender Unterdrü- Selbstbeschränkung der Demokratie – wird heute
ckungs- und Ausbeutungsverhältnisse führt, sondern gemeinhin als prozedurales und zugleich gerech-
auch dazu tendiert, spezifische Erfahrungen und par- tigkeitsbasiertes Erfordernis der Demokratie ange-
tikulare Verständnisse von Gerechtigkeit (etwa in sehen; daher wird meist von demokratischen
Form individueller Rechtsansprüche) zu universali- Rechtsstaaten oder liberalen Demokratien gespro-
sieren. Damit wird etwas eigentlich historisch und chen (vgl. aus gerechtigkeitstheoretischer Perspek-
kulturell Partikulares als universell und als höherwer- tive etwa Gosepath in Celikates/Kreide/Wesche
tig im Vergleich zu anderen kulturell partikularen 2015, Kap. 10).
Auffassungen ausgegeben, wodurch diese Art des Das Prinzip der Demokratie erschöpft sich jedoch
Universalismus historisch häufig auch als ideologi- nicht in diesen prozeduralen Bestimmungen ihrer
sche Grundlage hegemonialer und imperialer Projek- Entscheidungsverfahren, sondern betrifft auch den
te funktioniert hat (vgl. Kerner 2012; Dübgen 2014). Zugang zu diesen Verfahren. Wer soll gleichberechtigt
partizipieren? Die einfache Antwort lautet: der demos,
Aus Sicht dieser drei alternativen Paradigmen er- also die Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger.
scheint die politische Gerechtigkeitskonzeption, wie Aber wer gehört zu dieser Gemeinschaft oder hat zu-
sie der Rawlssche Liberalismus entwickelt, gerade als mindest einen Anspruch darauf, zu ihr zu gehören?
in einem problematischen Sinn entpolitisierend, da sie Hier tut sich eine erste Spannung auf: Zum einen kann
die Prinzipien der Gerechtigkeit selbst der politischen man nämlich dafür argumentieren, dass alle erwach-
Auseinandersetzung enthebt und ihr vorlagert. Frei- senen und dauerhaft ansässigen Einwohner des ent-
lich bleibt umstritten, inwiefern diese Kritik das libera- sprechenden Territoriums einen Anspruch auf die
le Modell tatsächlich trifft und ob nicht stärker kon- gleiche Beteiligung an den Verfahren haben, von de-
text- und machtsensible Varianten liberaler (und viel- ren Ergebnissen sie wie alle anderen auch in relevanter
leicht sogar kritischer) Gerechtigkeitstheorie im An- Weise betroffen sind (etwa dadurch, dass sie den staat-
schluss an Rawls möglich sind (vgl. etwa Forst 2007). lichen Gesetzen unterliegen oder dass sie Steuern zah-
len). Zum anderen wird jedoch häufig die These ver-
treten, die politische Gemeinschaft habe selbst ein
Gerechtigkeit und Demokratie Recht, darüber zu entscheiden, wen sie als neues Mit-
glied aufnehmen möchte (vgl. etwa Miller 2005). Die-
Demokratie wird heute sowohl in der politischen Pra- ses Recht berechtigt aus demokratietheoretischer
xis als auch in der Theorie fast ausnahmslos als die Sicht aber nicht einfach zu willkürlichen Ausschlüs-
einzig rechtfertigbare Organisationsform politischer sen, etwa aufgrund bestimmter kultureller oder sexis-
50 Politik und Demokratie 321

tischer Kriterien, sondern muss die legitimen Ansprü- wesentlich in öffentlicher Deliberation im Sinne des
che derjenigen berücksichtigen, die von den Gesetzen freien und vernünftigen Austauschs von Argumenten
in relevanter Weise betroffen sind. Der demos de- auf der Suche nach der richtigen oder zumindest ei-
finiert sich also nicht primär über eine gemeinsame ner begründeten Antwort auf ein zur politischen Ent-
vorpolitische Identität, beispielsweise im Sinne der scheidung anstehendes Problem begriffen werden
Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder kulturellen sollte (Habermas 1992). An die Adresse dieses delibe-
Gemeinschaft, sondern als genuin politische Gemein- rativen Demokratiemodells wird der Vorwurf eines
schaft (vgl. Carens 2013, Teil I): An den demokrati- gewissen Elitismus erhoben, der den gut ausgebilde-
schen Entscheidungsprozessen sind idealerweise alle ten, angemessen informierten und sich vernünftig
die beteiligt, die zugleich von den beschlossenen Re- austauschenden Bürger zum Modell- und/oder Stan-
geln des Zusammenlebens in relevanter Weise betrof- dardfall erklärt und damit zum einen überspannte
fen sind (vgl. zu den Problemen dieses Prinzips etwa Erwartungen an die Rationalität der Diskursteilneh-
Näsström 2011; s. Kap. V.70). Insofern ist die Forde- mer formuliert, zum anderen der Vernachlässigung
rung, dass alle Adressaten der Gesetze sich – in einem von Faktoren wie Machtasymmetrien und Ideo-
näher zu spezifizierenden Sinn – auch als deren Auto- logien, die den Diskurs unter realen, nicht idealen Be-
ren verstehen können müssen, für die Idee der Demo- dingungen verzerren, den Weg bereitet (vgl. auch die
kratie grundlegend (Habermas 1992; vgl. mit Blick auf Weiterentwicklung des deliberativen Modells in
die Vermittlung von Gerechtigkeit und Demokratie Young 2000).
auch Benhabib 2008). Der agonalen bzw. radikalen Demokratiekonzepti-
Was die so verstandene ›Herrschaft‹ des Volkes on zufolge kann Demokratie nicht als institutioneller
bzw. Selbstregierung der Bürgerinnen und Bürger als Mechanismus zur Umsetzung von vorab philoso-
Freie und Gleiche aber praktisch bedeutet und wie sie phisch identifizierten Gerechtigkeitsprinzipien ver-
institutionell umzusetzen ist, wird von verschiedenen standen werden, da es sich um einen offenen Prozess
Demokratiemodellen – die von direkten bzw. partizi- der Demokratisierung handle, der das Ergebnis sozia-
patorischen über repräsentative und deliberative bis ler und politischer Kämpfe gegen den Ausschluss von
hin zu agonalen bzw. radikalen Verständnissen rei- Individuen und Gruppen aus der institutionalisierten
chen – sehr unterschiedlich bewertet. Die vermutlich politischen Ordnung oder auch gegen deren diskrimi-
stärksten Spannungsverhältnisse zwischen Demokra- nierenden Einschluss sei. Darin freilich kann gerade
tie und (vor allem liberalen Konzeptionen von) Ge- auch der Kern eines politisch radikaleren – über die
rechtigkeit kommen dabei in der agonalen bzw. radi- Anerkennung liberaler Rechte hinausgehenden – Ge-
kalen Demokratietheorie zum Ausdruck, für die die rechtigkeitsbegriffs gesehen werden, an dem sich
Teilnahme an sozialen und politischen Kämpfen um zahlreiche Emanzipationsbewegungen orientiert ha-
politische Teilhabe und an Konflikten um grund- ben und noch immer orientieren. Der Modus politi-
legende Werte und Normen (auch der Gerechtigkeit) schen Handelns ist eher Konflikt und Dissens als Deli-
im Zentrum steht und die daher die Idee zurückweist, beration und Konsens – auch auf der Ebene der Iden-
dass es Prinzipien der Gerechtigkeit gibt, die sich un- tifikation und Ausformulierung von Prinzipien und
abhängig von diesen Konflikten identifizieren ließen nicht allein auf der Ebene von deren Anwendung oder
und diesen dann als selbst nicht anfechtbarer Rah- Interpretation. Auch der radikalen Demokratietheo-
men vorgeordnet werden könnten. In diesen Ansät- rie zufolge muss der Konflikt allerdings auf nichtmili-
zen wird der Grundgedanke der direkten bzw. partizi- tärische Weise ausgetragen werden, um noch als poli-
patorischen Demokratie – nämlich dass die Bürgerin- tischer Konflikt gelten zu können; in diesem Konflikt
nen und Bürger als Freie und Gleiche unmittelbar an stehen also nicht auf die Vernichtung des jeweils ande-
der Selbstregierung der Gemeinschaft teilnehmen – ren zielende Feinde einander gegenüber, sondern
aufgegriffen und radikalisiert (vgl. etwa Mouffe 2013 Gegner, mit denen man in eine politische Auseinan-
sowie die Beiträge von Douzinas und Marchart in Ce- dersetzung, in einen Streit, eintreten kann und die
likates/Kreide/Wesche 2015). Dabei grenzen sie sich sich insoweit wechselseitig als legitime Akteure an-
auch von deliberativen Demokratiekonzeptionen ab, erkennen (vgl. Mouffe 2013). Auf diese Weise scheint
die sich in den letzten Jahrzehnten in der politischen dann doch wieder ein Bezug auf bestimmte Normen
Praxis ebenso wie in der Theorie als gegenüber der re- oder Prinzipien nötig, deren Status im Rahmen dieses
präsentativen Demokratie anspruchsvollere Alterna- Modells allerdings unklar oder zumindest ambivalent
tive etabliert haben und denen zufolge Demokratie bleiben muss.
322 IV Gerechtigkeit im Kontext

Politisierung und Demokratisierung Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt
der Gerechtigkeit? a. M. 2000.
Meier, Christian: Die Entstehung des Politischen bei den Grie-
chen. Frankfurt a. M. 1983.
Mit Bezug auf das Verhältnis von Politik und Demo- Miller, David: Immigration. The case for limits. In: Andrew
kratie zu Gerechtigkeit muss man den hier rekonstru- Cohen/Christopher Heath Wellman (Hg.): Contemporary
ierten Alternativen und Ergänzungen zur liberalen Debates in Applied Ethics. Oxford 2005, 193–206.
Gerechtigkeitstheorie entnehmen, dass ein Festhalten Mills, Charles/Pateman, Carole: Contract and Domination.
am Gerechtigkeitsbegriff dessen Politisierung und Cambridge 2007.
Mouffe, Chantal: Agonistics. London 2013.
Demokratisierung ebenso erfordert, wie es Politik
Näsström, Sofia: The challenge of the all-affected principle.
und Demokratie unter den Anspruch stellt, sich auch In: Political Studies 59/1 (2011), 116–134.
im Register der Gerechtigkeit befragen zu lassen (vgl. Okin, Susan Moller: Justice, Gender, and the Family. New
Young 2000). Eine demokratische Politik der Gerech- York 1989.
tigkeit wäre dann vielleicht am ehesten als selbstrefle- Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
xiver Prozess zu verstehen, der in dem Spannungsfeld 1975.
–: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998.
zwischen der (potenziell) universellen Bedeutung von Tully, James: Public Philosophy in a New Key. 2 Bde. Cam-
Gerechtigkeitsprinzipien und -ansprüchen und ihrer bridge 2008.
je lokalen und historisch, sozial und politisch spezi- Wolin, Sheldon: The liberal/democratic divide. In: Political
fischen Artikulation operiert und damit immer auch Theory 24/1 (1996), 97–119.
gegen die etablierten Diskurse, Institutionen und Wood, Allen: Karl Marx. London 2004.
Young, Iris M.: Inclusion and Democracy. Oxford 2000.
Praktiken der Gerechtigkeit, der Politik und der De-
mokratie mobilisiert werden kann (vgl. etwa Tully Robin Celikates
2008; Balibar 2012 und Ingram 2013). Zum Verständ-
nis dieses Prozesses wären dann aber neben den hier
besprochenen philosophischen Ansätzen auch eher
empirisch und soziologisch informierte Beiträge nö-
tig, also eine Überwindung des auch in der Gerechtig-
keitstheorie noch immer bestehenden Grabens zwi-
schen Philosophie auf der einen und Geschichte sowie
Sozialforschung auf der anderen Seite.

Literatur
Balibar, Étienne: Gleichfreiheit. Berlin 2012.
Benhabib, Seyla: Kosmopolitismus und Demokratie. Frank-
furt a. M. 2008.
Carens, Joseph: The Ethics of Immigration. Oxford 2013.
Celikates, Robin/Gosepath, Stefan: Politische Philosophie.
Stuttgart 2013.
Celikates, Robin/Kreide, Regina/Wesche, Tilo (Hg.): Trans-
formations of Democracy. London 2015.
Dübgen, Franziska: Was ist gerecht? Frankfurt a. M. 2014.
Forst, Rainer: Das Recht auf Rechtfertigung. Frankfurt a. M.
2007.
Geuss, Raymond: Kritik der Politischen Philosophie. Ham-
burg 2011.
Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M.
1992.
Höffe, Otfried: Politische Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
1989.
Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Berlin 2011.
Ingram, James: Radical Cosmopolitics. New York 2013.
Kerner, Ina: Postkoloniale Theorien zur Einführung. Ham-
burg 2012.
Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Frank-
furt a. M. 2000 (engl. 1689).
51 Gesellschaft und Kultur 323

51 Gesellschaft und Kultur Anlass der Straftat waren oder durch sie ausgelöst wur-
den. Gerechtigkeit im Sinne von Rechtsförmigkeit
Ist die Forderung nach Gerechtigkeit eine allgemein- wird durch das Bild der Justitia mit den verbundenen
menschliche Forderung? Und verstehen die Men- Augen repräsentiert: Eine Rechtsentscheidung ist ge-
schen in ihren verschiedenen kulturellen und sozialen recht, insofern die Richter unparteilich vorgehen, je-
Kontexten darunter etwas Vergleichbares? Geht man den gleich behandeln, nicht das Recht ›beugen‹ usw.
von den alten aristotelischen Begriffen der Gerechtig- Ein nichtstaatliches Recht, das nicht durch unparteili-
keit aus wie der distributiven Gerechtigkeit, wonach je- che Richter nach fixierten Normen gesprochen, son-
der von einem Gut so viel bekommen sollte, wie ihm dern von den Parteien ad hoc nach eher flexiblen Re-
(nach Verdienst, Würde oder anderen Kriterien) zu- geln verhandelt wird, erscheint aus dieser Sicht als ein
steht, der kommutativen Gerechtigkeit, wonach jeder hölzernes Eisen, ein nur scheinbares Recht, das in
Schaden oder jede Verletzung, den eine Person oder Wahrheit einen Hobbesschen Zustand des Krieges al-
Gruppe anderen Personen oder Gruppen zufügt, pro- ler gegen alle verdeckt, in dem Konflikte nicht anders
portional ausgeglichen werden soll, und der Gerech- als durch mehr oder weniger verdeckte Gewalt und Er-
tigkeit im Sinne von Rechtsförmigkeit, dann kann man pressung gelöst werden können.
sich schwer vorstellen, dass es menschliche Gemein- Mit der ethnologischen Erforschung traditioneller
schaften geben könnte, in denen diese Grundelemente Rechtssysteme und dem Verfall der Kolonialherr-
der Gerechtigkeit nicht zumindest implizit in den zwi- schaft setzte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts jedoch
schenmenschlichen Reaktionen präsent sind. Damit allmählich die Einsicht durch, dass das traditionelle
ist jedoch noch nicht die Frage beantwortet, ob es sich Recht in nichteuropäischen Kontexten nicht nach
hierbei wirklich um Prinzipien handelt, die in allen dem Maßstab des differenzierten europäischen
kulturellen Kontexten gleichermaßen Geltung be- Rechtssystems bewertet werden kann, da es andere
anspruchen dürfen, oder nur um abstrakte Konstruk- Rechtsziele verfolgt und daher anders strukturiert ist,
tionen, aus denen wenig über konkrete kulturelle Vor- insbesondere in nichtstaatlichen Gesellschaften. Mitt-
stellungen von Gerechtigkeit und Praktiken folgt. lerweile wird kaum noch die Auffassung vertreten,
dass das Recht einer Gesellschaft homogen und mit
staatlichem Recht gleichzusetzen sei. Vielmehr geht
Gerechtigkeit aus der Perspektive man von unterschiedlichen Rechtskontexten aus. Wäh-
der Rechtsanthropologie rend der Rechtsanthropologe Leopold Pospisil diese
noch als hierarchisch geordnet verstand (Pospisil
Die Befunde der Kulturanthropologie des 20. Jahrhun- 1971, 124–126), verwenden die meisten Rechts-
derts haben deutlich gemacht, dass nicht nur die Ant- anthropologen heute eher horizontale Modelle (Lam-
worten auf die Fragen, wem was zusteht und wie ein pe 1992, 134; Moore 2001, 95–116).
Unrecht ausgeglichen werden kann, je nach kulturel- Die Unterschiede zwischen der Struktur und Funk-
lem Kontext variieren, sondern auch der Gedanke des tion des modernen europäischen Rechts und den
Rechts bzw. der Institutionen und Verfahrensweisen, Rechtskontexten nichtstaatlicher Gesellschaften er-
die für Gerechtigkeit sorgen und individuelle Willkür geben sich aus der Aufgabe des Rechts. So wird ein
bestrafen sollen. Auch wenn es mittlerweile einen in- Normverstoß in nichtstaatlichen Gesellschaften in ers-
terkulturellen Rechtsdiskurs gibt, der nach den Grund- ter Linie als eine Missachtung der Person wahrgenom-
lagen eines interkulturellen Strafrechts sucht (Höffe men, nicht als eine Missachtung des Rechts oder der
1999), sind die Unterscheidungen moderner west- Gemeinschaft als solcher (Wesel 1985, 321). Entspre-
licher Gesellschaften zwischen (staatlichem) Recht chend liegt die Aufgabe der Rechtsinstitutionen vor al-
und Moral sowie innerhalb des Rechts zwischen Straf- lem in der Konfliktlösung bzw. der Wiederherstellung
recht und Zivilrecht nicht ohne weiteres auf traditio- einer nachhaltig funktionierenden sittlichen Form des
nelle Gesellschaften übertragbar. Das gilt auch für die Zusammenlebens (Lotter 2012, 249–278). Diese Auf-
Funktion und Struktur der Rechtsinstitutionen. Das gabe wird nicht immer durch professionelle Richter,
moderne europäische Strafrecht steht im Dienste des sondern oft durch Laien und mitunter durch die Par-
Staates und hat die Aufgabe, der Rechtsordnung durch teien selbst wahrgenommen. Ihre Verfahrensweise be-
die Bestrafung von Gesetzesbrüchen Geltung zu ver- steht nicht in der strikten Anwendung von Normen;
schaffen; zu seinen Aufgaben gehört nicht die gerechte die Rechtsansprüche sind oft eher Einsätze in der
Lösung der sozialen Konflikte, die Hintergrund oder Hand feilschender Parteien (Wesel 1985, 331–334).
324 IV Gerechtigkeit im Kontext

Entsprechend fehlt in manchen staatenlosen Gesell- grund der rechtlichen Flexibilität viel eher die institu-
schaften wie bei den Arusha im nördlichen Tansania tionellen Voraussetzungen zur Findung einer Lösung
ein Verständnis von Gerechtigkeit bzw. Rechtsförmig- gegeben sind, die allen Beteiligten ›recht‹ und daher
keit, das über die jeweils erzielte faktische Einigung im nachhaltig ist, was nur möglich ist, wenn sie der indivi-
Falle von Normenverletzungen und Konflikten hi- duellen Situation, den momentanen Machtverhältnis-
nausgeht. Ein klassisches Beispiel hierfür ist der Pro- sen und Interessen aller Parteien Rechnung trägt.
zess eines Mannes gegen seinen Schwiegersohn wegen Das Rechtsziel der (Wieder-)Herstellung einer
einer nicht geleisteten Brautpreiszahlung, der damit nachhaltig funktionierenden Form des sozialen Zu-
endet, dass Ersterer sich auf dem Wege einer sehr un- sammenlebens spiegelt sich auch im traditionellen afri-
konventionellen Normenauslegung faktisch mit einer kanischen Prozessrecht wider, wie es in den klassischen
sehr viel geringeren Zahlung als der üblichen einver- rechtsanthropologischen Untersuchungen des Juristen
standen erklärt (Gulliver 1963, 252). Eine solche Eini- und Ethnologen Max Gluckman über das traditionelle
gung, die nicht nur die Ansprüche des Klägers, son- Gericht der Barotse im damaligen Nordwestrhodesien
dern die Interessen aller Betroffenen berücksichtigt, in der letzten Phase der Kolonialherrschaft an vielen
gilt als sittliche Errungenschaft, die gewisse Tugenden Fällen illustriert wird. Das Gericht konzentriert sich
erfordert: Während das unflexible Beharren auf nicht auf die Anklagepunkte, sondern berücksichtigt
Rechtsansprüchen, die in der momentanen Macht- alle Erklärungen, Vorwürfe und Klagen, welche die Be-
und Verhandlungskonstellation zwischen den Parteien teiligten während des Prozesses vorbringen (Gluck-
faktisch nicht durchsetzbar sind, als unangebracht gilt, man 1965, 7), um zu ermitteln, wer sich unangemessen
wird die Bereitschaft der Vermittler und Beteiligten in den sozialen Beziehungen verhalten hat und somit
zum ›kreativen‹ Umgang mit den Normen und zum als Ursache des Konflikts zu betrachten ist. Das Pro-
Kompromiss außerordentlich hoch geschätzt (ebd., zessrecht schließt nicht aus, während dieses Verfahrens
242). In solchen Rechtskontexten können die recht- die Anklage zu verändern oder gar den Kläger zum An-
lichen Folgen von Normverletzungen daher je nach geklagten zu machen wie im Falle eines Prozesses, den
Anlass, Status der Betroffenen, ihren verwandtschaftli- ein Ortsvorsteher gegen seine Schwestern wegen
chen Beziehungen etc. sehr unterschiedlich ausfallen, rechtswidriger Nutzung von Grundstücken und Fi-
was Ethnologen als ›strukturale Relativität‹ bezeich- schereianlagen angestrengt hatte. Da das Gericht durch
nen: Je enger die Beziehungen zwischen Täter und Op- die Ermittlung anderer, weit zurückliegender familiä-
fer sind, desto leichter ist es für das Opfer, eine Ent- rer Streitpunkte zu der Einschätzung kam, dass er selbst
schädigung zu erhalten, da die Verwandten starkes In- die Hauptursache des familiären Konfliktes war, wur-
teresse an einer baldigen Lösung eines Konfliktes ha- den nicht die Schwestern, sondern er zur Kompensati-
ben, der auch sie affizieren kann; desto geringer fällt on genötigt (Gluckman 1955, 198). Die britische Kolo-
allerdings auch die Entschädigung aus, weil alle Be- nialmacht hatte kein Verständnis für diese, aus Sicht
troffenen mitreden und der Druck zur Wiederherstel- europäischer Juristen, plan- und ziellose Anhörung ir-
lung der Harmonie größer ist als die Empörung über relevanter Details und übte starken Druck auf die Ge-
das Unrecht. Hingegen verringert sich die Aussicht, richte aus, sich auf die (für das britische Recht einzig
Recht zu erhalten, mit zunehmender verwandtschaftli- relevanten) Anklagepunkte zu beschränken. Umge-
cher und räumlicher Entfernung, da der Druck der kehrt muss den Barotse die Vorstellung der Kolonial-
Gemeinschaft auf den Schädiger fehlt; wenn der Ge- macht, ein Gericht habe nur die Anklagepunkte zu un-
schädigte es aber doch erreicht, Unterstützung für eine tersuchen und sich nicht um die Hintergründe der je-
Einigung zu mobilisieren, steigt die Aussicht auf eine weiligen Konflikte zu kümmern, ethisch und juristisch
hohe Entschädigung, weil der Druck fehlt, die Interes- bizarr erschienen sein; denn wie sollte auf diese Weise
sen des Schädigers zu berücksichtigen (Evans-Prit- eine (sozial) gerechte Lösung gefunden werden?
chard 1940, 155–162; Wesel 1985, 271). Wenn man
vom europäischen Rechtsverständnis ausgeht, bedeu-
tet diese strukturale Relativität eine strukturelle Unge- Gerechtigkeit im Kontext: Neuere
rechtigkeit, da sie statusschwache Personen ohne hin- philosophische Diskussionen
reichende Kontakte benachteiligt. Mit Blick auf die an-
deren Rechtsziele des traditionellen afrikanischen Die Frage, inwieweit die Bedeutung und der Geltungs-
Rechts – das Rechtsziel der nachhaltigen Konfliktlö- anspruch moralischer Ideen an partikulare soziale und
sung – muss man jedoch berücksichtigen, dass auf- kulturelle Kontexte gebunden sind, reicht bis in die
51 Gesellschaft und Kultur 325

Philosophie der Antike zurück und wird in der neu- einzelnen Individuums, eigenes Handeln unter Ge-
zeitlichen Philosophie des späten 18. und des 19. Jahr- sichtspunkten der Fairness und Gerechtigkeit zu be-
hunderts neu gestellt. Während G. W. F. Hegel in seiner trachten, setze institutionell oder traditionell ein-
Rechtsphilosophie die Analyse partikularer histori- geübte Kommunikations- und Verfahrensweisen vo-
scher Moral- und Rechtsauffassungen in den Entwick- raus, mithilfe derer diese Perspektiven und die ihnen
lungsgang der Vernunft einordnet und ihnen dadurch zugrunde liegenden Normen expliziert und durch-
eine sowohl partikulare als auch universale Bedeutung gesetzt werden könnten. Nur als Mitglied einer Ge-
verleiht (Hegel 1820/1970), zielt die genealogische Me- meinschaft sei der Mensch überhaupt fähig, zwischen
thode in der Tradition von Friedrich Nietzsche und gerecht und ungerecht zu unterscheiden und über die
Michel Foucault in die umgekehrte Richtung einer De- Prinzipien und Maßstäbe der Gerechtigkeit zu reflek-
konstruktion von Legitimität in emanzipatorischer Ab- tieren (Sandel 1982). Ein anderer Einwand beruft sich
sicht: Die historische Kontextualisierung soll die Kon- auf die Vielfältigkeit der Bedeutungen und Gesichts-
tingenz moralischer Ideen aufzeigen, um ihnen ihre punkte von Gerechtigkeit in wirklichen sozialen und
Selbstverständlichkeit und Verbindlichkeit zu neh- kulturellen Kontexten, die nicht auf die Rawlsschen
men, und so »die Möglichkeit auffinden, nicht länger Grundsätze reduzierbar seien. Dabei unterscheidet
das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun Walzer auch innerhalb von Kulturen verschiedene
oder denken« (Foucault 1990, 49). Sphären der Gerechtigkeit, in denen unterschiedliche
Eine spezielle philosophische Debatte zum Begriff Projekte verfolgt werden und nicht dieselben Maßstä-
›Gerechtigkeit‹ im Kontext von Gesellschaft und Kul- be gelten (Walzer 1983). Ein weiterer Einwand betrifft
tur hat sich jedoch erst aus der Kritik an John Rawls’ die Brauchbarkeit der Konstruktion einer ideal ge-
Theorie der Gerechtigkeit (1979) entwickelt, wo dem rechten Gesellschaft als Matrix zur Beurteilung der
Begriff ›Gerechtigkeit‹ wieder eine ähnlich zentrale Gerechtigkeit konkreter Praktiken. So liegt schon aus
Rolle für die politische Philosophie und Ethik zuge- rechtsethnologischer Perspektive gegen Rawls der
wiesen worden war wie schon bei Platon. Diese Theo- Einwand nahe, dass die Frage, ob eine Praxis wie das
rie der Gerechtigkeit knüpft freilich nicht an die anti- Recht der Barotse oder der Arusha gerecht ist, sich oft
ken Diskussionen, sondern an die neuzeitliche Ver- schon durch ein genaues empirisches Studium beant-
tragstheorie an (s. Kap. III.30). Rawls geht bei der Be- worten lässt, indem man etwa die Vor- und Nachteile
stimmung der Gerechtigkeit nicht nur von der Frage verschiedener Rechtsformen für die Betroffenen ver-
aus, nach welchen Kriterien Güter und Aufgaben zu gleicht. Hingegen ist nicht ersichtlich, welche Hilfe
verteilen sind, sondern setzt voraus, dass gerecht nur das künstliche Vertragsmodell, in dessen Lichte jede
eine gesellschaftliche Verfassung sein kann, bei der die reale Gesellschaft ungerecht erscheint, bei der Beur-
Interessen aller Mitglieder als Freie und Gleiche unter teilung realer Institutionen und Praktiken leisten
Bedingungen, die ihre Individualität und ihr Eigen- könnte. Für MacIntyre und Geuss ist daher eine
interesse ausblenden, in den Regeln und Institutionen Ethik, die abgetrennt von Geschichte, Soziologie und
berücksichtigt werden (Rawls 1979, 28). Dagegen ha- Ethnologie anhand spezieller normativer Argumen-
ben Kritiker des Liberalismus Einwände erhoben, die tationsformen Themen wie Gerechtigkeit studiert
sich gegen den Anspruch richten, die Frage, was ge- und daraus herleitet, wie sich Menschen zueinander
recht sei, könne unter Absehung von kulturellen und verhalten sollten, im besten Falle ein nutzloses Unter-
sozialen Kontexten beantwortet werden; dazu gehö- nehmen, weil sie Menschen mit konkreten Gerechtig-
ren nicht nur ›Kommunitaristen‹ wie Michael Sandel, keitsproblemen nichts zu sagen hat (MacIntyre 1997,
Alasdair MacIntyre, Charles Taylor, Michael Walzer 9; Geuss 2008, 7).
u. a., die die Bedeutung von Gerechtigkeit mit den Umgekehrt stellt sich die Frage, was philosophische
geteilten Auffassungen von kulturellen Gemeinschaf- Ansätze, die auf einer kontextbezogenen Unter-
ten gleichsetzen (s. Kap. III.36), sondern auch Auto- suchung der Gerechtigkeit insistieren, überhaupt über
ren wie Bernard Williams und Raymond Geuss, die die empirische Erfassung faktischer Auffassungen von
nicht dem Kommunitarismus zuzuordnen sind. Gerechtigkeit und den empirischen Vergleich hinaus
Ein Einwand richtet sich gegen die Entkontextuali- leisten können. Das betrifft sowohl die Frage, ob dem
sierung des moralischen Subjekts. Allein von abstrak- Begriff ›Gerechtigkeit‹ überhaupt eine kulturüber-
ten Vorstellungen von Rationalität und Eigeninteres- greifende oder nur eine partikulare Bedeutung zu-
se ausgehend könne niemand verstehen, was Gerech- geschrieben werden kann, als auch die normative Fra-
tigkeit bedeutet (Geuss 2008, 6). Die Fähigkeit des ge, auf welcher Grundlage es gerechtfertigt ist, gegebe-
326 IV Gerechtigkeit im Kontext

ne Auffassungen von Gerechtigkeit als ungerecht zu in kulturellen Kontexten geteilte Auffassungen von
kritisieren. Gerechtigkeit gibt, die durch ihre Rolle für die Selbst-
Walzers Antwort auf die erste Frage lautet: beides. verständigung legitimiert sind. Während nach den
Das ist kein Widerspruch, denn Walzer unterscheidet neuzeitlichen Wertvorstellungen, an die Rawls mit
im Rückgriff auf Clifford Geertz zwischen einem kul- seinem Modell anknüpft, feudale Vorrechte oder ge-
tur- und kontextübergreifenden ›minimalen‹ oder schlechterspezifische Privilegien, die der Norm der
›dünnen‹ Verstehen von Gerechtigkeit und dem ›ma- gleichen Mitbestimmung aller widersprechen, unge-
ximalen‹ und ›dichten‹ Verstehen eines Insiders, das recht erscheinen, können sie nach soziologischen und
auf der persönlichen Vertrautheit mit den emotiona- kommunitaristischen Maßstäben in einer traditionel-
len und praktischen Bedeutungen eines Begriffs be- len Kastengesellschaft durchaus eine selbst unhinter-
ruht (Geertz 1973). Beispielsweise kann, Walzer zufol- fragte Grundlage für die Kritik von Ungerechtigkeiten
ge, ein Amerikaner die Demonstranten im Prag von abgeben (Corsten/Rosa/Schrader 2005, 10; Walzer
1989 durchaus verstehen, die Transparente mit den 1983, 312–316).
Aufschriften ›Wahrheit‹ und ›Gerechtigkeit‹ hochhal- Gegen die kommunitaristische Annahme, die An-
ten, auch wenn er gar nicht mit den politischen und sprüche der Gerechtigkeit müssten sich auf die im kul-
religiösen Gruppierungen in Prag und der Vor- turellen Kontext jeweils geteilten Auffassungen von
geschichte des Konflikts vertraut ist. Er versteht, dass Gerechtigkeit berufen, erheben sich verschiedene Ein-
die Leute ihre Unzufriedenheit mit der Ungerechtig- wände. Erstens sind moralische Ideen auch in tradi-
keit und Verlogenheit der politischen Verhältnisse tionellen Gesellschaften nicht unbedingt homogen,
und Umgangsformen demonstrieren wollen. Das be- konfliktfrei und abgeschottet gegenüber Neuerungen
deutet nicht, dass er sagen könnte, warum sie diese – wer bestimmt dann, welche die geteilten sind? Zwei-
und nicht andere moralische Begriffe gewählt haben, tens liegt der ideologiekritische Einwand nahe, dass
was sie dabei unter Gerechtigkeit verstehen, um wel- solche Auffassungen, auch wenn es keinen offenen
che Vorkommnisse und welche Güter es dabei geht, Konflikt gibt, mitunter nur in dem Sinne geteilt sind,
etc. Obgleich in solchen Fällen durchaus ein kultur- dass manche benachteiligte Bevölkerungsgruppen –
übergreifendes Verständnis vorliegt, ist es sehr dünn etwa Frauen – sich daran gewöhnt haben, dass sie
im Vergleich zu dem Verständnis eines Insiders; es be- nichts Eigenes zu sagen und zu denken haben. Drit-
steht weitgehend in einer Abstraktion von den ent- tens stellt sich die Frage, wann man überhaupt von
sprechenden dichten Erfahrungen der eigenen Tradi- kulturell verankerten Auffassungen – im Unterschied
tion und in der Konzentration auf Merkmale, die ihm zur Verfolgung persönlicher Interessen auf der
in diesem Moment ganz selbstverständlich universal Grundlage etablierter Machtverhältnisse – sprechen
scheinen. Dünne Begriffe von Gerechtigkeit sind nach kann. Nicht alle Gewohnheiten und Selbstverständ-
Geertz und Walzer nicht ohne weiteres als ethische lichkeiten beruhen auf explizierbaren Auffassungen.
Universalien zu verstehen, die als Ausdruck einer all- Menschen haben oft keine begründbare Vorstellung
gemeinmenschlichen Vernunft, allgemeiner anthro- davon, bei welchem Teil ihrer Überzeugungen und
pologischer Eigenschaften oder allgemeinmensch- Wünsche es sich um ethische Prinzipien handelt, bei
licher Beziehungen den dichten Begriffen partikularer welchem Teil um persönliche Interessen. Das sollten
Kontexte vorausliegen; sie bezeichnen zunächst Ge- wir nach Raymond Geuss nicht als ein epistemisches
sichtspunkte, unter denen sich dichte Begriffe zu ei- Versagen betrachten, das man im Prinzip heilen könn-
nem bestimmten Zeitpunkt überschneiden (Walzer te, sondern als einen inhärenten Zug des mensch-
1994, 3–32). lichen Lebens (Geuss 2008, 3). Wenn man jedoch den
Das ist vielleicht eine zu schwache Deutung von gegebenen Gerechtigkeitsauffassungen nicht allein
dünnen Begriffen. So zeigt die Formel suum cuique – schon aufgrund ihrer Faktizität auch Geltung zu-
jedem das, was ihm zusteht – nicht nur momentane schreibt, stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage
Überschneidungen an. Aus ihrer universalen An- ihre Geltungsansprüche ermittelt und kritisiert wer-
wendbarkeit folgt jedoch noch nicht viel, denn was es den können.
konkret heißt, einer Person zu geben, was ihr zusteht, Die kommunitaristische Perspektive schließt eine
ergibt sich nach kommunitaristischer Auffassung erst normative Kritik an kulturell verankerten Vorstellun-
daraus, was einer Person nach dem kulturellen Ver- gen nicht grundsätzlich aus. Voraussetzung legitimer
ständnis ihrer Gemeinschaft gebührt, das von lokalen Kritik ist jedoch, dass sie nicht von einer gänzlich ex-
Traditionen geprägt ist. Dabei wird unterstellt, dass es ternen Auffassung von Gerechtigkeit ausgeht, son-
51 Gesellschaft und Kultur 327

dern an lokale Kategorien der Selbstverständigung den Südstaaten, die Sklaven als ebenbürtige Men-
anschließt. Schon der Soziologe Émile Durkheim, auf schen betrachtete, die sich nur darin von einem selbst
den das auch von kommunitaristischer Seite oft im- unterschieden, dass sie im Krieg Unglück gehabt hat-
plizit unterstellte Konzept eines kollektiven Bewusst- ten (Williams 1985, 164). Dass es im antiken Athen
seins zurückgeht, wies darauf hin, dass Probleme der unter Sklavenhaltern faktisch keine Reformbewe-
Gerechtigkeit im Kontext einer Kultur nicht auf das gung gegen die Sklaverei gegeben hat und Aristoteles
reduzierbar sind, was faktisch zu einem Zeitpunkt le- es für angebracht hielt, sie ethisch zu legitimieren, be-
gal ist oder aufgrund einer vorherrschenden Traditi- weist daher nicht, dass sie nicht als ein moralisches
on als legitim gilt. So ist nach Durkheim eine alte Tra- Übel hätte wahrgenommen werden können. Es belegt
dition wie die Vererbung von Eigentum im heutigen nur, dass man solche Gedanken, wenn sie denn auf-
europäischen kulturellen Kontext latent ungerecht, kamen, nicht sehr weit verfolgte und sie ohne Kon-
obgleich sie sowohl die Tradition als auch das Recht sequenzen für das Handeln blieben, möglicherweise
auf ihrer Seite hat; denn sie behindert die konsequen- weil man die Sklaverei ökonomisch für unverzichtbar
te Verwirklichung anderer, ebenfalls kulturell ver- hielt. Umgekehrt lässt sich die Abschaffung der Skla-
ankerter Wertvorstellungen wie der Gleichberechti- verei in den Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert
gung aller, auch wenn diese Ungerechtigkeit vielleicht nicht allein auf ein durch öffentliche Diskussion ver-
nur einer Minderheit ausdrücklich bewusst ist (Durk- breitetes Unrechtsbewusstsein zurückführen, konnte
heim 1991, 297–300). Ähnlich hat Bernard Williams sie doch nur mit Hilfe nördlicher Staaten durch-
mit Blick auf die Sklaverei argumentiert: Aus dem gesetzt werden, in denen sie eine im Vergleich zu den
Faktum, dass in einem kulturellen Kontext Sklaven Südstaaten viel geringere ökonomische Rolle spielte.
gehalten wurden, folgt mitnichten, dass die Sklaven-
halter dies zwangsläufig auch als gerecht betrachtet Literatur
haben müssen und außerstande gewesen wären, da- Corsten, Michael/Rosa, Hartmut/Schrader, Ralph: Die Ge-
ran zu zweifeln (Williams 1993, 123–127). Warum rechtigkeit der Gesellschaft. Wiesbaden 2005.
Durkheim, Émile: Physik der Sitten und des Rechts. Frank-
sollten sie nicht, wie wir auch, unter Umständen ge- furt a. M. 1991.
lebt haben, die ihnen zumindest teilweise als unge- Evans-Pritchard, Edward: The Nuer. A Description of the Mo-
recht und schlecht erschienen, ohne dass sie jedoch des of Livelihood and Political Institutions of a Nilotic
wussten, wie sie es hätten besser machen können, oh- People. Oxford 1940.
ne auf Dinge zu verzichten, die ihnen unverzichtbar Foucault, Michel: Was ist Aufklärung? In: Eva Erdmann/
Rainer Forst/Axel Honneth (Hg.): Ethos der Moderne.
schienen? Im Unterschied zur Theorie führt im wirk-
Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1990, 55–
lichen Leben eine komplexe Gemengelage aus öko- 69.
nomischen Gründen, Machtinteressen, Mangel an Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures. Harper 1973.
politischer Phantasie u. a. gewöhnlich dazu, dass Fra- Geuss, Raymond: Philosophy and Real Politics. Princeton
gen der Gerechtigkeit vernachlässigt oder mittels in- 2008.
tellektueller Rationalisierungen entschärft werden, Gluckman, Max: The Judicial Process among the Barotse of
Northern Rhodesia. Manchester 1955.
falls man sich nicht ohnehin bewusst mit der Unge-
–: The Ideas in Barotse Jurisprudence. London 1965.
rechtigkeit arrangiert. So hätten sich in den Südstaa- Gulliver, P. H.: Social Control in an African Society. A Study
ten des frühen 19. Jahrhunderts allein aus den christ- of the Arusha: Agricultural Masai of Northern Tanganyika.
lichen Grundüberzeugungen genügend Gründe ge- Boston 1963.
gen die Sklaverei entwickeln lassen, was die Pfarrer je- Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder
doch, wie Mark Twain anschaulich berichtet, in der Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse [1820].
In: Ders.: Werke, Bd. 7. Hg. von Eva Moldenhauer und
Regel ebenso wenig unternahmen wie ihre Gemein- Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970.
de, bei der die Gewohnheit und Normalität der Skla- Höffe, Otfried: Gibt es ein interkulturelles Strafrecht? Frank-
venhaltung, in Verbindung mit den großen Vorteilen, furt a. M. 1999.
die sie auch ärmeren Sklavenbesitzern bot, gewöhn- Lampe, Ernst-Joachim: Entwicklungslinien in der rechts-
lich Zweifel an ihrer Legitimität gar nicht erst auf- anthropologischen Forschung. In: Werner Maihofer/Ger-
hard Sprenger (Hg.): Praktische Vernunft und Theorien der
kommen ließ (Twain 1924, 123). Ebenso hätte im an-
Gerechtigkeit. Stuttgart 1992, 232–236.
tiken Athen – einer Kultur, die großen Wert auf Frei- Lotter, Maria-Sibylla: Scham, Schuld, Verantwortung. Über
heit und Selbständigkeit legte – die Sklaverei von die kulturellen Grundlagen der Moral. Berlin 2012.
Kriegsgefangenen als ein moralisches Übel wahr- MacIntyre, Alasdair C.: Der Verlust der Tugend. Frankfurt
genommen werden können, zumal man, anders als in a. M. 1997.
328 IV Gerechtigkeit im Kontext

Moore, Sally F.: Certainties undone: fifty turbulent years of 52 Anerkennung und Toleranz
legal anthropology 1949–1999. In: The Journal of the Royal
Anthropological Institute 7 (2001), 95–116. Etwa seit den 1960er Jahren, ausgehend von der Frau-
Pospisil, Leopold: Anthropology of Law. A Comparative
Theory. New York 1971. en- und Bürgerrechtsbewegung in den USA, setzen
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. sich soziale Bewegungen von gesellschaftlich Benach-
1979 (engl. 1971). teiligten und Minderheiten – darunter nationale, eth-
Sandel, Michael J.: Liberalism and the Limits of Justice. Cam- nische, religiöse und geschlechterspezifische Gruppen
bridge 1982. – für Toleranz und Anerkennung sowohl als Gleiche
Twain, Mark: Autobiography, Bd. 1. New York 1924.
als auch als Besondere ein. Dabei ist zu unterscheiden
Walzer, Michael: Spheres of Justice. A Defence of Pluralism
and Equality. New York 1983. zwischen Kämpfen um traditionelle Gerechtigkeits-
–: Thick and Thin. Moral Argument Home and Abroad. Notre prinzipien wie gleichberechtigte Teilhabe und Umver-
Dame, London 1994. teilung auf der einen Seite und Kämpfen um die An-
Wesel, Uwe: Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesell- erkennung der je partikularen, z. B. kulturellen Iden-
schaften. Frankfurt a. M. 1985. tität, die bei den sozialen Kämpfen zunehmend in den
Williams, Bernard: Ethics and the Limits of Philosophy. Cam-
bridge 1985.
Vordergrund gerückt ist, auf der anderen Seite.
–: Shame and Necessity. Cambridge 1993. Der normative Begriff der Anerkennung bedeutet
zunächst einmal allgemein gesprochen, dass man an-
Maria-Sibylla Lotter dere in einer bestimmten Weise wahrnimmt und po-
sitiv bestätigt. In welcher Hinsicht, das haben An-
erkennungstheorien vor dem Hintergrund jener so-
zialen Bewegungen ausdifferenziert und damit den
klassischen Gerechtigkeitstheorien etwas entgegen-
oder an die Seite gestellt, so dass diese mindestens er-
weitert wurden. Anerkennungstheorien im Anschluss
an vor allem G. W. F. Hegel erweitern die klassischen
Theorien des Individualismus und des Liberalismus
um kommunitaristische Aspekte bzw. ersetzen sie
durch ein kommunitaristisches Modell: Sie sehen den
Menschen eingebettet in soziale und kulturelle Kon-
texte, welche für ein gerechtes und gutes Leben als
normativ relevant angesehen werden. Dabei gerät
nicht zuletzt die jeweilige Diversität der Menschen
und Gemeinschaften in den Blick von Gerechtigkeits-
theorien.
Auch gegenwärtige Ansätze zur Toleranz – die das
Akzeptieren anderer Wertvorstellungen und Lebens-
formen implizieren – reagieren auf den Pluralismus
heutiger Gesellschaften und sind als normative, ge-
rechtigkeitstheoretische Antwort auf die Bedürfnisse
der wegen ihrer Differenz von der Norm diskrimi-
nierten Minderheiten zu verstehen, wobei das Tole-
ranzprinzip weniger einen Gegenpol zu klassischen li-
beralistischen Gerechtigkeitstheorien bildet als viel-
mehr aus diesen heraus entsteht und daher in der Tra-
dition des Liberalismus steht. Da es sich demnach um
zwei verschiedene Theoriegebäude handelt, werden
im Folgenden zunächst der Begriff der Anerkennung
in seinen verschiedenen Bedeutungen, dann der Be-
griff der Toleranz beleuchtet.
52 Anerkennung und Toleranz 329

Formen der Anerkennung Liberalismus paart sich hier mit der Überzeugung,
dass die klassische Theoriesprache zutiefst männlich
Anerkennungstheorien haben vor allem im deutsch- geprägt und damit ungerecht schon in ihrer basalen
sprachigen und angloamerikanischen Raum Kon- Ausrichtung ist.
junktur, in der Geschichte der Philosophie und der Anerkennungstheorien sind in der Regel teleolo-
Gegenwartsphilosophie gibt es aber auch diskursprä- gisch und tugendethisch charakterisiert, indem es ih-
gende Beiträge aus der französischen Philosophie, die nen um die Bedingungen für ein gutes Leben geht, das
vor allem als kritische Stimmen auftreten und Proble- ein gerechtes Leben integriert. Anders als klassische
me von Anerkennung aufdecken (vgl. zu den Syner- Gerechtigkeits- und Moraltheorien, die in der Traditi-
gien und Dissonanzen zwischen europäisch-kon- on Immanuel Kants stehen und für die in der Phi-
tinentaler, angloamerikanischer und französischer losophie des 20. Jahrhunderts John Rawls federfüh-
Anerkennungstheorie Bankovsky/Le Goff 2012). rend ist, geht es Anerkennungstheorien um mehr als
Nach einem der führenden Theoretiker in der An- das minimal Geschuldete. Sie sind substanzieller und
erkennungsdebatte, Axel Honneth, wird Anerkennung reichhaltiger, was die Kriterien für ein gelingendes Le-
im Anschluss an Hegel in drei Formen differenziert: ben und für stabile Gesellschaften betrifft. Vor dem
Respekt, Wertschätzung und Liebe/Fürsorge. Aner- Hintergrund einer Konzeption positiver Freiheit for-
kennung richtet sich dabei erstens in der Form des mo- mulieren sie Bedingungen – wie kulturelle Zugehörig-
ralischen Respekts auf einen universellen Wert wie die keit –, die ein gutes und würdevolles Leben überhaupt
gleiche Würde eines jeden Menschen und seine mora- erst ermöglichen sollen.
lischen Rechte, zweitens als soziale Wertschätzung, je Anerkennung hat somit eine psychologische und
nach Diskussionskontext, auf partikulare Eigenschaf- eine normative Dimension (Iser 2008, 216). In psy-
ten und Fähigkeiten wie die kulturelle, religiöse oder chologischer Hinsicht wird intersubjektive Anerken-
Geschlechtsidentität oder auf sozialkonstitutive Leis- nung als konstitutiv für unser Selbstbewusstsein und
tungen wie Arbeit, schließlich drittens in Gestalt der unsere Identität angesehen: Nur indem wir anerkannt
Liebe und Fürsorge auf die elementaren Bedürfnisse werden, können wir ein positives Verhältnis zu uns
des Menschen in personalen Nahbeziehungen. selbst entwickeln und behalten sowie eigene Ziele ver-
Alle Bereiche können mit dem klassischen Paradig- folgen. In normativer Hinsicht gilt Anerkennung als
ma der Gerechtigkeit in Verbindung gebracht werden: konstitutiv für unseren moralischen Status innerhalb
Geht es im einen Fall darum, was allen Menschen oder der Gesellschaft: Wenn jemand in seinem mora-
Gesellschaftsmitgliedern auf der Grundlage des Res- lischen Status anerkannt wird, heißt das, dass er als
pekts vor ihrer gleichen Würde und ihrem Anspruch, gleichberechtigtes Subjekt innerhalb der moralischen
ein autonomes, freies Leben zu führen, geschuldet ist, Gemeinschaft zählt, und dies wiederum bedeutet,
so geht es in den anderen Bereichen darum, was ihnen dass auf seine moralisch berechtigten Ansprüche
aufgrund ihrer jeweiligen Partikularität zukommen Rücksicht genommen wird (Schmetkamp 2012). Dass
sollte: So geht es etwa in der Identitätspolitik – ein Be- beide Dimensionen zusammengehören, dafür argu-
griff, der für die sozialen Kämpfe um Anerkennung mentieren u. a. Axel Honneth und Charles Taylor
der partikularen Identität steht – um die Überzeu- (Honneth 2010; Taylor 1992).
gung, dass Gerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft
überhaupt nur über affirmative, politische Anerken-
nung bestimmter Identitätsdimensionen – wie etwa Monistischer und dualistischer Ansatz
Sprache, Kultur, Nationalität, Religion – hergestellt
werden kann (Taylor 1992; Kymlicka 1999). Dass Ar- Für Honneth sind Kämpfe um Gerechtigkeit über-
beitsleistungen finanziell angemessen anerkannt wer- haupt als Kämpfe um Anerkennung zu analysieren
den, gehört wiederum zu einer gerechten Lohngesell- (vgl. Honneth 2010): Menschliche Gesellschaften
schaft. Eine ›Politik der Fürsorge‹ argumentiert darü- sind Konglomerate wechselseitiger Anerkennungs-
ber hinaus – vor allem diskutiert in der feministischen verhältnisse und gar nicht fähig, sich zu entwickeln
Philosophie –, dass z. B. Familienarbeit wirtschaftlich und stabil zu bleiben, gäbe es nicht Formen von An-
und politisch anerkannt, oder umgekehrt, dass das erkennung. Umgekehrt liefert verweigerte Anerken-
Recht von Frauen auf gerecht bezahlte Arbeit außer- nung die motivationale und legitimatorische Basis so-
halb des Hauses respektiert werden müsse (Baier zialer Kämpfe, welche nach Honneth zwar Gerechtig-
1994; Krebs 2002). Die Kritik am Individualismus und keitskämpfe sind, aber ebenso mit dem Begriff der
330 IV Gerechtigkeit im Kontext

Anerkennung vollständig eingefangen werden kön- und kulturelle Anerkennung – als gleichursprüng-
nen: Moralische Ansprüche und Gerechtigkeits- liche und wechselseitig nicht reduzierbare Größen
ansprüche erwachsen aus den Erfahrungen negierter von Gerechtigkeit begriffen werden sollen (Fraser
Anerkennungsansprüche. 2003). Die praktisch orientierte Norm, die in Frasers
Allerdings konzentrieren sich Anerkennungstheo- Konzeption leitend ist, ist die partizipatorische Pari-
retiker wie Honneth dabei nicht auf die Anerkennung tät: die gleichberechtigte Teilnahme aller Gesell-
moralischer Rechte allein, sondern differenzieren, wie schaftsmitglieder am öffentlichen Leben und Diskurs.
oben angegeben, mehrere Formen von Anerkennung: Mangelnde Anerkennung und Ungleichverteilung
Honneth unterscheidet mit Liebe/Fürsorge, Respekt sind demnach zwei verschiedene Arten von Hinder-
sowie Wertschätzung bzw. Solidarität entsprechend nissen für die demokratische Teilhabe. Diese Hinder-
die gesellschaftlichen Sphären der Familie/Freund- nisse sind zum einen soziale Ungleichheit und zum
schaft, des Rechts und der Gesellschaft. Durch die je- anderen die Missachtung von Differenz.
weils erfüllten Anerkennungsansprüche entwickelt Fraser zufolge richtet sich Umverteilung auf die so-
das Individuum Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein ziale Klasse, Anerkennung auf den sozialen Status von
und Selbstwertgefühl. Indem Honneth alle Gerechtig- Mitgliedern einer Gesellschaft: In die Klassendefiniti-
keitsfragen auf Anerkennungsfragen zurückführt, on sollen nach Fraser auch klassisierte Immigranten-
vertritt er einen monistischen Ansatz. Honneths zen- gruppen oder ethnische Minderheiten einbezogen
trale Thesen sind: 1) Was theoriesprachlich als Unge- werden, die im Bereich der bezahlten Arbeit benach-
rechtigkeit bezeichnet wird, wird von den Betroffenen teiligt sind. Die Umverteilung hat dann nichts mit ih-
als eine Verletzung von begründeten Ansprüchen auf rer Gruppenidentität zu tun. Aber auch Anerkennung
Anerkennung erfahren. 2) Verteilungsungerechtig- richtet sich nach Frasers Auffassung nicht auf kul-
keiten müssen als institutioneller Ausdruck von sozia- turelle Identität, sondern auf den Status der Gruppen-
ler Missachtung oder ungerechtfertigten Anerken- mitglieder als gleichberechtigte Teilnehmer sozialer
nungsverhältnissen begriffen werden. 3) Ohne Vor- Interaktion (Fraser 2003, 25–41).
griff auf eine Konzeption des guten Lebens lassen sich Als Beispiele, in denen Gerechtigkeit in einer Ver-
diese gegenwärtigen Ungerechtigkeiten nicht an- knüpfung einer Politik der Umverteilung mit einer Po-
gemessen kritisieren (Honneth 2003, 135, 159–162). litik der Anerkennung aufgeht, nennt Fraser unter an-
In einer Debatte mit Honneth hat sich die politi- derem rassistische Ungerechtigkeiten: Diese gehen so-
sche Philosophin Nancy Fraser kritisch dazu ge- wohl auf ökonomische Benachteiligung als auch auf
äußert, ob Anerkennung tatsächlich all dies einfangen mangelnde Anerkennung zurück. Ethnische Minder-
könne oder ob andere Gerechtigkeitsbegriffe wie der heiten z. B. weisen eine unverhältnismäßig hohe Ar-
der Umverteilung weiter berücksichtigt werden soll- beitslosenquote und einen hohen Anteil an unterbe-
ten: Theorien distributiver Gerechtigkeit (s. Kap. zahlten Hilfsarbeiterjobs auf. Hier muss eine Politik
II.12) plädieren für den Weg der Verteilung materiel- der Umverteilung greifen. Die mangelnde Anerken-
ler und sozialer Ressourcen, um politische und soziale nung zeigt sich dagegen in der Stigmatisierung der
Gerechtigkeit herzustellen. Dabei ist der Hauptgedan- Mitglieder anderer Kulturen als minderwertige Gesell-
ke der, dass alle sozialen Primärgüter – nicht nur ma- schaftsmitglieder, etwa im alltäglichen Umgang in
terielle Güter, sondern auch Freiheit, Chancen, Rech- Form von Schikane, tätlicher Bedrohung oder herab-
te, Pflichten und die Grundlagen der Selbstachtung – lassendem Verhalten. Dagegen hilft eine Politik der
gleich zu verteilen sind, es sei denn, eine Ungleichver- Anerkennung. Welche Politik in welchem Fall jeweils
teilung irgendeines oder aller dieser Güter kommt den angewendet werden soll, muss in der Praxis partikular
am wenigsten Begünstigten zugute. Grundlage zur und kontextual entschieden werden. Allerdings ist das,
Verwirklichung der Verteilungsgerechtigkeit ist die was Fraser hier unter Anerkennung versteht, eher das,
wechselseitige Achtung der Gesellschaftsmitglieder was der basale Respekt normativ umfasst: Die Achtung
als Freie und Gleiche, ausgestattet mit dem gleichen des moralischen Status, der Würde und Autonomie des
Paket an Rechten, Pflichten und Freiheiten. So das bis- Individuums fordert, dass dieses als gleichberechtigt
herige Paradigma. Dass Honneth alle Gerechtigkeits- anerkannt wird. Anerkennung der Identität impliziert
fragen auf Anerkennung zurückführt, ist also zugleich aber darüber hinaus, dass die identitäts- und persön-
ein Paradigmenwechsel. lichkeitskonstitutiven Merkmale anerkannt werden.
Fraser schlägt daher einen perspektivischen Dua- Insofern verwendet Fraser einen anderen bzw. engeren
lismus vor, in dem beide Paradigmen – Umverteilung Anerkennungsbegriff als Honneth.
52 Anerkennung und Toleranz 331

Multikulturalistischer Ansatz wie etwa Kymlicka, Taylor oder auch Joseph Raz dem
Individualismus als solchem aber nicht den Rücken
In multikulturalistischen Theorien, wie sie Charles zu, sie transzendieren ihn vielmehr und inkorporie-
Taylor oder Will Kymlicka vertreten, steht die soziolo- ren ihn in eine neue liberalistisch-kommunitaristi-
gische Kategorie der Gruppe im Vordergrund. Wäh- sche Konzeption (vgl. Raz 1994, 174). Raz etwa insis-
rend Fraser die kulturelle Identität durch den gesell- tiert ähnlich wie Taylor darauf, dass die Autonomie
schaftlichen Status ersetzt wissen will, wenden multi- des Individuums – hier: die Freiheit, zwischen ver-
kulturalistische Ansätze das Identitätsargument zur schiedenen Formen des guten Lebens zu wählen – eng
Begründung von Minderheitenrechten von Gruppen an die Zugehörigkeit zu einer Kultur, an die Entwick-
an: Es geht um Fragen der Bedeutung kultureller Mit- lung dieser Kultur und an die Anerkennung, die ande-
gliedschaft und des Schutzes von kulturellen und in re dieser Kultur entgegenbringen, gekoppelt ist.
der Regel kollektiven Identitäten und damit verbun- In der Begründung von Minderheitenrechten wer-
den um gruppendifferenzierte Rechtsansprüche von den kulturelle Gemeinschaften und ihre Bestätigung
ethnokulturellen, nationalen oder anderen Minder- durch Anerkennung bzw. durch Vermeidung von De-
heiten. Der kulturellen Mitgliedschaft kommt für die mütigung als konstitutive, soziale und moralische Be-
Identität und die Selbstachtung des Individuums eine dingungen für die Entwicklung, die Identität und die
signifikante Rolle und ein Wert zu (Taylor 1992). Selbstachtung des Individuums – als lebenswichtig für
Theoriegeschichtlich verbunden ist damit eine Trans- die einzelnen Personen – angesehen und zum Maß-
formation vom traditionellen Liberalismus, der sich stab für eine gerechte Gesellschaft erhoben.
für einen streng neutralen Staat einsetzt, hin zu einem Werden nun innerhalb einer pluralistischen bzw.
kultursensitiven Liberalismus, der zulässt, dass sich multikulturellen Gesellschaft die Optionen der Mehr-
ein Staat für den Fortbestand und das Gedeihen (flou- heit den ethnischen, religiösen und anderen Minder-
rishing) nationaler, kultureller oder religiöser Ge- heiten oder den von der Mehrheit in ihren Werten ab-
meinschaften einsetzt (vgl. Walzer 1993, 109 f.). weichenden Gruppen oktroyiert, sind Minderheiten-
Ein viel diskutiertes Beispiel der Multikulturalis- rechte bzw. kulturelle Rechte notwendig, um die Auf-
mus-Debatte in der politischen Philosophie ist die Si- rechterhaltung des kulturimmanenten Horizonts und
tuation der frankophonen Québécois in Kanada, spe- die damit verbundenen je eigenen Optionen zu ge-
ziell ihr Streben nach kultureller und sprachlicher währleisten – und zwar nicht bloß aus Gründen einer
Anerkennung und damit zusammenhängenden Ver- psychologisch begründeten Anerkennung der Iden-
fassungsreformen. Das Interessante hieran ist: Recht- tität, sondern auch aus Gerechtigkeitsüberlegungen.
liche Diskriminierung oder ökonomische Ungleich- Vor allem das Identitätsargument betreffend gibt es
heiten liegen nicht vor. Es geht hier demnach nicht viel Kritik. So betonen Anerkennungstheoretiker, die
um klassische Gerechtigkeit. Die nationalistischen in der französischen Theorietradition stehen – in der
Bestrebungen der Québécois scheinen dagegen »fast Jean-Paul Sartre bekanntlich den identitätszementie-
vollständig von dem Wunsch nach Anerkennung und renden »Blick« kritisiert hat (ebd. 2008, 467) –, dass es
dem Ausdruck ihrer nationalen Identität getragen zu ›die Identität‹ nicht gebe, sondern diese dauernd in
sein« (Kymlicka 1999, 9). Die Québécois selbst setz- Bewegung sei (Bedorf 2010, 9). Durch identifikations-
ten sich mit ihrem Sonderstatus dem Vorwurf des gebundene Anerkennung könnten Identitäten auch fi-
Ethnonationalismus aus. Gesetze der Regierung in xiert und dadurch neue Ungerechtigkeiten geschaffen
der Sprachpolitik führten sogar dazu, dass Kindern werden (Bedorf 2010; Butler 2005; Fraser 2003). Auch
von Einwanderern aus frankophonen Gebieten vor- liberalistische Theorien kritisieren, dass die Betonung
geschrieben war, ausschließlich französischsprachige der Anerkennung der Differenz umgekehrt auch zu
Schulen zu besuchen (vgl. Benhabib 1999, 44, 73; einem Argument für Benachteiligung werden könne
Taylor 1992). (Fraser 2003). Ein anderes Problem ist die optimisti-
Die Vertreter des liberalen Multikulturalismus sind sche Sichtweise der meisten Anerkennungstheorien,
sich dahingehend einig, dass sie der kulturellen Ge- dass der Kampf um Anerkennung abschließbar sein
meinschaft einen hohen Wert für die Identitätsent- und die Beziehung von einer asymmetrischen in eine
wicklung und für die Selbstachtung des Individuums symmetrische überführt werden könnte (vgl. Bert-
zusprechen und sich von dem traditionell-liberalisti- ram/Celikates 2013). Ferner gibt es grundsätzliche
schen Prinzip des kulturell neutralen Staates ver- Kritik dahingehend, ob eine Anerkennungsgesell-
abschieden. Dabei kehren liberale Multikulturalisten schaft nicht ein zu anspruchsvolles Ziel sei, das über
332 IV Gerechtigkeit im Kontext

eine gerechte Gesellschaft noch hinausgehe: Schließ- (Margalit 2011, 51–83, 84–107). Margalit greift diesen
lich entspricht – wie insbesondere das Beispiel der Gedanken mit dem Begriff des Kompromisses auf
Liebe zeigt – nicht allen Anerkennungserwartungen (den er neben der Toleranz als die zweite Seite einer
ein moralisches Recht. Medaille des liberalen Denkens bezeichnet, vgl. Mar-
galit 2011, 195): Ein blutleerer Kompromiss (anemic
compromise) ist dann einer, der rein prudentiell-tak-
Toleranz tisch ist. Ein Vollblutkompromiss (sanguine compro-
mise) ist demgegenüber einer, bei dem der Standpunkt
Toleranz ist neben der Anerkennung eines der zentra- des anderen, z. B. eines Verhandlungspartners, als be-
len Stichworte unserer Zeit geworden, vor allem im po- rechtigt anerkannt bzw. toleriert wird.
litischen Kontext. Toleranz impliziert unter anderem Eine ebenso politische und rechtfertigungstheo-
die Idee, dass andere Lebensformen und (religiöse, kul- retische Konzeption entwickelt Rainer Forst: Anders
turelle, moralische) Ansichten akzeptiert oder politi- als die klassische, mit Honneth vorgestellte Anerken-
sche Gegner anerkannt werden. Eine solche Toleranz – nung bestätigt nach Forst Toleranz den Menschen
die sich anspruchsvoll von reiner Duldung abheben soll nicht in mehreren Hinsichten wie in seinen Bedürf-
– ist ein grundlegendes Prinzip pluralistischer, demo- nissen, Leistungen oder Identitätseigenschaften affir-
kratischer Gesellschaften und historisch im Geiste des mativ, sondern ist zum einen auf die Frage nach dem
Liberalismus entstanden. Wie Rawls vor allem in Politi- Umgang mit divergierenden Lebensformen und da-
scher Liberalismus (1998) ausführt, ist die Toleranz da- mit verbundenen Einstellungen, Überzeugungen,
bei die Tugend des Pluralismus, welcher darin besteht, Traditionen etc. beschränkt (d. h. wir sprechen nicht
dass verschiedene religiöse, philosophische und mora- davon, jemandes Bedürfnis auf Fürsorge zu tolerieren)
lische Modelle einander zwar inhaltlich ausschließen und lehnt diese zum anderen ab bei gleichzeitiger Ak-
können, aber vernünftig in einem overlapping consen- zeptanz, was als Paradox der Toleranz bezeichnet wird
sus toleriert werden. Vertikal-institutionell wird die (Nussbaum 2012; Forst 2003; Scanlon 2003). Der An-
Toleranz manifest in der Religionsfreiheit, der Gewis- erkennung fehlt demgegenüber die Komponente der
sens- und Meinungsfreiheit oder auch in Verhandlun- Ablehnung, was sie aber zugleich zum moralisch an-
gen politischer Gruppen, Nationen etc. untereinander; spruchsvolleren Konzept macht.
horizontal zeigt sie sich in individuellen Einstellungen Rainer Forst, der eine umfangreiche und debatten-
von Individuen und innerhalb von Gruppen. prägende Studie zur Toleranz in der Tradition von
Zwar gibt es in der Geschichte der Toleranz ver- Habermas’ Diskurstheorie und Rawls’ Gerechtigkeits-
schiedene Konzeptionen (Forst 2003), vorherrschend theorie vorgelegt hat, hat als normative Rahmenbe-
ist heute aber die normative Begründung der Toleranz dingung der Toleranz ein »Recht auf Rechtfertigung«
über den basalen Respekt: Wer Personen in ihrer Au- in seiner Toleranzkonzeption etabliert (Forst 2003,
tonomie achtet, so lautet das zentrale Argument, der 615, 622, 626; Rawls 1998). Nach dem Rechtferti-
muss auch ihre Überzeugungen tolerieren. Oder an- gungsprinzip müssen die Normen, denen alle Gesell-
ders formuliert: Wer andere toleriert, tut dies aus der schaftsmitglieder unterworfen sind, ihnen gegenüber
normativen Überzeugung heraus, dass sie ein Recht und durch sie allgemein und reziprok gerechtfertigt
darauf haben, als Person respektiert und darum auch werden. Nur wechsel- und allseitig teilbare Gründe
in ihren Meinungen, Lebenseinstellungen etc. tole- beanspruchen Legitimität und damit auch Toleranz.
riert zu werden (Forst 2003; Nussbaum 2012).
Eine Konzeption, die sich gewissermaßen zwischen
Anerkennung und Toleranz situieren lässt und darum Grenzen der Toleranz
hier zuerst betrachtet werden soll, ist die von Avishai
Margalit: Anders als Honneth in seiner Anerken- Es wäre irreführend, Toleranz und Anerkennung als
nungstheorie, welche die gesellschafts- und identitäts- konzeptionell getrennte Bereiche zu betrachten. In ei-
konstitutive Rolle der Anerkennung fokussiert, aber ner gerechten Gesellschaft gehen sie Hand in Hand:
auch anders als Forst, dessen Toleranztheorie den mo- Wenn diskutiert wird, ob das Tragen der Burka oder des
ralischen Kern des Respekts betont, geht es Margalit Nikap verboten werden soll, so geht es in diesen Dis-
um eine politische Anerkennung bzw. Toleranz, wel- kussionen auch darum, welche Werte in einer Gesell-
che prudentiell ›um des Friedens willen‹ zwischen po- schaft vorrangig sind: die Religionsfreiheit, der Wert
litischen Verhandlungsträgern zum Zuge kommt öffentlich zum Ausdruck gebrachter kultureller Tradi-
52 Anerkennung und Toleranz 333

tionen für das individuelle Selbstverständnis, die Auto- Bankovsky, Miriam/Le Goff, Alice (Hg.): Recognition Theory
nomie der Frau, die Offenheit oder die Sicherheit etc. and Contemporary French Moral and Political Philosophy.
Wird die Bedeutung der kulturellen Tradition an- Reopening the Dialogue. Manchester 2012.
Bedorf, Thomas: Verkennende Anerkennung. Frankfurt a. M.
erkannt, so drückt sich dies praktisch-politisch in einer 2010.
Toleranz aus. Wird die Tradition als Verletzung eines Benhabib, Seyla: Kulturelle Vielfalt und demokratische
anderen Werts – wie der Autonomie – gesehen, so stößt Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globali-
die Toleranz an ihre Grenzen, weil hier die Autonomie sierung. Frankfurt a. M. 1999.
des Individuums als missachtet interpretiert wird: Der Bertram, Georg W./Celikates, Robin: Towards a conflict
theory of recogition: On the constitution of relations of
Anspruch auf externen Respekt ethisch-kultureller
recognition in conflict. In: European Journal of Philosophy
Differenz ist nicht mit deren interner Regression ver- 23 (2015), 838–861.
einbar (Forst 2003, 746–748). Nach Margalit sind die Butler, Judith: Giving an Account of Oneself. New York 2005.
Grenzen der Toleranz und der Kompromisse dann er- Forst, Rainer: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und
reicht, wenn damit Institutionen – er konzentriert sich Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt a. M.
auf den politischen Bereich – unterstützt werden, die 2003.
Fraser, Nancy: Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Iden-
Grausamkeit und Erniedrigung etabliert haben und titätspolitik. Umverteilung, Anerkennung und Betei-
Menschen nicht als Menschen behandeln. Margalit be- ligung. In: Axel Honneth/Nancy Fraser: Umverteilung
titelt dieses Phänomen als »faulen Kompromiss« (Mar- oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontro-
galit 2011, 10). Dieser ist, da moralisch verwerflich, verse. Frankfurt a. M. 2003, 15–128.
»um jeden Preis« zu vermeiden (ebd., 143–170). Honneth, Axel: Umverteilung als Anerkennung. Eine Er-
widerung auf Nancy Fraser. In: Nancy Fraser/Axel Hon-
Ein ganz anderer wichtiger Kritikpunkt an Toleranz
neth: Umverteilung oder Anerkennung. Eine politisch-phi-
ist, dass sie in vielen Bereichen, wie oben angespro- losophische Kontroverse. Frankfurt a. M. 2003, 129–224.
chen, gar nicht das angemessene Prinzip ist. Wenn –: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik so-
Menschen mit Behinderungen bzw. beeinträchtigten zialer Konflikte [1992]. Frankfurt a. M. 62010.
geistigen und körperlichen Fähigkeiten am gesell- Iser, Matthias: Empörung und Fortschritt. Grundlagen einer
schaftlichen Leben teilhaben können sollen, so reicht kritischen Theorie der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2008.
Krebs, Angelika: Arbeit und Liebe. Die sozialen Grundlagen
es nicht aus, ihre Fähigkeiten zu tolerieren (Schmet-
der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 2002.
kamp 2012, 99–101). Hier bedarf es Umstrukturierun- Kymlicka, Will: Multikulturalismus und Demokratie. Über
gen, die es ermöglichen, dass diese Menschen gemäß Minderheiten in Staaten und Nationen. Hg. von Otto Kall-
ihren Ansprüchen integriert werden, was eine Form scheuer. Hamburg 1999 (engl. 1997).
der Anerkennung ihrer Bedürfnisse darstellt und nicht Margalit, Avishai: Über Kompromisse und faule Kompromis-
eine bloße Toleranz. An diesem Punkt scheint es daher se. Berlin 2011.
Nussbaum, Martha C.: Toleranz, Mitleid und Gnade. In:
angebracht, ein weiteres mit Respekt, Anerkennung Rainer Forst (Hg.): Toleranz. Philosophische Grundlagen
und Toleranz verbundenes Prinzip einzubeziehen, und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend.
nämlich das der Rücksicht: Eine stabile Gesellschaft Frankfurt a. M. 2000, 144–161.
bzw. ihre Mitglieder muss auch einfühlend auf Beson- –: The New Religious Intolerance. Overcoming the Politics of
derheiten ihrer (Ko-)Mitglieder als konkrete Andere Fear in an Anxious Age. Harvard 2012.
Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998
Rücksicht nehmen, wenn gewährleistet sein soll, dass
(engl. 1993).
alle gerechtermaßen am gesellschaftlichen Leben teil- Raz, Joseph: Multiculturalism: A liberal perspective. In:
haben können (Benhabib 1999; Schmetkamp 2012; Ders.: Ethics in the Public Domain. Essays of Law and Po-
Nussbaum 2000). Oder anders gesagt: Der Respekt vor litics. Oxford 1994, 155–176.
der Würde des Anderen impliziert nicht nur die nega- Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer
tive Achtung und Toleranz im Sinne der Nichtein- phänomenologischen Ontologie. Reinbek bei Hamburg
142008 (frz. 1943).
schränkung der Freiheit, sondern auch die positive Scanlon, Thomas: The Difficulty of Tolerance. Essays in Politi-
Achtung und Anerkennung, um ein Leben in Würde cal Philosophy. Cambridge 2003.
überhaupt zu ermöglichen, und dazu gehört auch, die Schmetkamp, Susanne: Respekt und Anerkennung. Pader-
Bedingungen der persönlichen Identität zu sichern. born 2012.
Taylor, Charles: Multiculturalism and ›The Politics of Reco-
gnition‹. Hg. von Amy Gutmann. Princeton 1992.
Literatur
Walzer, Michael: Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Ge-
Baier, Annette: Wir brauchen mehr als bloß Gerechtigkeit.
sellschaftskritik. Frankfurt a. M. 1993.
In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42/2 (1994), 225–
236. Susanne Schmetkamp
334 IV Gerechtigkeit im Kontext

53 Macht Das Gerechte als Vorteil der Mächtigen

Es gibt mindestens so viele Machtbegriffe wie es Ge- Die Herausbildung eines genuin philosophischen
rechtigkeitsvorstellungen gibt, aber in einem ganz Konzepts von Gerechtigkeit erfolgte seit Platon in Re-
allgemeinen Sinne bezeichnet ›Macht‹ all diejenigen aktion auf sophistische Positionen, die bezweifelten,
Faktoren und Kräfte, die in einem sozialen Feld be- dass Gerechtigkeit eine machtunabhängige Idee mit
wirken, dass etwas geschieht. Der Rekurs auf Macht absoluter Geltung sein könne. Die Sophisten hatten
erläutert bestimmte Handlungen oder Prozesse, die darauf insistiert, dass alle Vorstellungen von Gerech-
von sich aus nicht oder anders verlaufen wären, tigkeit machtgetränkt und eigeninteressiert sind und
und ist oft (aber nicht immer) mit der Behauptung die Durchsetzung von bestimmten Gerechtigkeitsvor-
verbunden, dass es den Fähigkeiten spezifischer, stellungen selbst oft keine gewaltfreie Handlung ist.
eben mächtiger Akteur_innen zuzuschreiben sei, Das Gerechte ist demnach kein ahistorisches und
dass Handlungen vollzogen werden, sich bestimmte machtunabhängiges ideales Konzept, sondern er-
Ordnungsmuster etablieren oder bestimmte Über- scheint vielmehr als das Ergebnis machtförmiger Prak-
zeugungen herrschen (vgl. Scott 2001). In einem en- tiken und Kalküle zum »Vorteil des Stärkeren« (Pol.,
geren Sinn wird Macht darum gemeinhin als Syno- 32, 338 c), wie es Thrasymachos in Platons Staat para-
nym für ungleiche und asymmetrische Sozialver- digmatisch formuliert.
hältnisse verstanden. Gerechtigkeit mit Macht in Dieses gerechtigkeitsskeptische Motiv wird in der
Verbindung zu bringen, bedeutet entsprechend, ihre Moderne sowohl in ideologiekritischer als auch in ge-
reine Idealität infrage zu stellen und zu erkunden, nealogischer Form weitergeführt und hat die einfluss-
auf welchen sozialen Voraussetzungen der Appell an reichen Versuche, ein philosophisch und normativ ge-
(die Norm der) Gerechtigkeit beruht, sowie darauf haltvolles Gerechtigkeitsverständnis zu entwickeln,
zu insistieren, dass sich die Geltung dieser Norm immer wieder herausgefordert. In ideologiekritischer
nicht unabhängig von ihren machtvollen Bedingun- Absicht wird aufgezeigt, dass der Rekurs auf Gerech-
gen versteht. tigkeit den Mächtigen zur Wahrung ihrer spezifischen
Ideengeschichtlich gesehen hat der kritische Hin- Interessen dient und dass dieser Zusammenhang zu-
weis auf die Verstrickung von Macht und Gerechtig- gleich verschleiert wird, indem Gerechtigkeit enthis-
keit den Gerechtigkeitsdiskurs seit der Antike wie torisiert, universalisiert und entkontextualisiert wird.
ein Schatten begleitet. Im Folgenden werden vier Diese Kritik, prominent bei Karl Marx und im An-
Ansätze unterschieden, mit denen sich das systema- schluss bei Antonio Gramsci und in der gesamten
tische Verhältnis von Macht und Gerechtigkeit fas- marxistischen Tradition, entlarvt sowohl die bürger-
sen lässt, wobei die einzelnen Positionen teilweise in- liche Moral, die sich als allgemeine Moral ausgebe,
einander übergehen: Ein im weitesten Sinne ideo- aber einseitig den Interessen des Kapitals zuarbeite
logiekritischer Strang von Positionen entlarvt die Re- und ihre Funktion als Instrument von Partikularinte-
de von der Gerechtigkeit als machtverschleiernd und ressen verschleiere (vgl. Jaeggi 2009; Balibar 2013, 75–
denunziert damit die Gerechtigkeitsidee als solche 100), als auch die humanistische Ideologie universaler
(s. Kap. I.10). Einzelne sophistische Positionen set- Menschenrechte, die von den Kolonialmächten zur
zen darüber hinaus Macht und Gerechtigkeit in affir- Manipulation kolonialisierter Subjekte und zur Un-
mativer Weise gleich, indem sie Macht als Ausdruck terdrückung antikolonialer Revolutionen eingesetzt
des Gerechten deuten. Egalitaristische und demokra- werde (Fanon 1981).
tietheoretische Positionen wiederum versuchen, die In einer genealogischen Perspektive zeigt sich der
Machtelemente der Gerechtigkeit normativ einzuhe- Zusammenhang zwischen Macht und Gerechtigkeit
gen und zu minimieren. Machtkritische Positionen daran, dass Gerechtigkeitsvorstellungen in Form von
schließlich erkennen die unaufhebbare Macht und Moral, Religion oder sittlichen Normen die Heraus-
Asymmetrie sozialer Verhältnisse an und revidieren bildung von Subjektivität, Gewissen, Bewusstsein und
entsprechend das Gerechtigkeitsideal. Diese unter- Individualität in einem Feld sozialer Hierarchien und
schiedlichen Strategien machen deutlich, dass sich exkludierender Normen so strukturieren, dass die
Macht und Gerechtigkeit nie vollständig versöhnen normierten Subjekte die Machtverhältnisse in ihrem
lassen und dass ihr Verhältnis konstitutiv span- Denken und Handeln reproduzieren (vgl. im An-
nungsvoll bleibt. schluss an die Überlegungen Nietzsches etwa Foucault
1977; Butler 2001; Saar 2007; kritisch dagegen Haber-
53 Macht 335

mas 1985; Honneth 1985; Fraser 1994). Die grund- herkömmlichen Sinne ist hier weniger ihre Blindheit
sätzliche Dimension der ideologiekritischen und ge- für die Machtkontexte, aus denen sie stammt, als ihre
nealogischen Kritik an Gerechtigkeitsdiskursen hängt Ausblendung der wesentlichen – und für Positionen
also davon ab, dass diese das Gerechte als machtunab- in dieser Traditionslinie grundsätzlich werthaften –
hängig und ahistorisch behaupten. Je stärker Gerech- Ungleichheiten, um deren Anerkennung es geht.
tigkeit dagegen als immer schon historisches und kon-
textualisiertes Phänomen begriffen wird, desto mehr
verliert der Hinweis auf die Machtbedingtheit von Ge- Gerechtigkeit als Vertrag unter Gleichen:
rechtigkeit seine grundsätzliche gerechtigkeitskriti- die demokratische Zähmung der Macht
sche Dimension.
Nicht jeder Hinweis auf die Machtbedingtheit und
Gleichheitsunterstellung von Gerechtigkeitsvorstel-
Das natürliche Recht des Stärkeren lungen bedeutet, dass der Gerechtigkeitsbegriff per se
obsolet oder Macht und Gerechtigkeit ununterscheid-
Der sophistische Aufweis der Machtbedingtheit und bar würden. So gibt es eine ebenfalls bis auf Thukydi-
Machtbezogenheit von Gerechtigkeitsvorstellungen, des zurückreichende Denktradition, die Gerechtigkeit
oft als Einwand gegen jede Orientierung an der Norm an die Herstellung eines Machtgleichgewichts knüpft
der Gerechtigkeit vorgebracht, wird in anderen Posi- und sie damit implizit als Aushandlungsverfahren un-
tionen affirmativ und ostentativ bejaht. Demnach ist es ter gleich Mächtigen definiert (vgl. Thukydides 2004).
gerecht, dass die wenigen Starken und Mächtigen die In der Frühen Neuzeit etabliert vor allem der Thuky-
Gesetze nach ihrer Willkür schaffen und das ›Recht des dides-Kenner Thomas Hobbes gegen die aristotelische
Stärkeren‹ im Sinne eines Naturgesetzes zur Geltung und scholastische Tradition die These, dass Gerechtig-
bringen. Diese Position, die Thukydides im Melierdia- keit eine menschlich geschaffene Errungenschaft sei,
log den athenischen Gesandten in den Mund legt die an Institutionen des Rechts und des Staates gebun-
(Thukydides 2004, Bd. V, 456, 84–116), wird promi- den und als Ergebnis eines Gesellschaftsvertrags unter
nent auch von der Kunstfigur Kallikles in Platons Gor- Gleichen zu fassen sei: Gerechtigkeit bezieht sich »auf
gias vertreten, die in diesem Sinn die Natur (d. h. das den in der Gesellschaft [...] befindlichen Menschen«,
Recht des Stärkeren) gegen das Gesetz (d. h. die Moral es gibt sie erst im und durch den Staat (Hobbes
der Schwachen) setzt (Gorg., 256 f., 482 e). Nach Kalli- 1651/1984, 98). Dies bedeutet, dass Gerechtigkeit nun
kles machen die von den Schwachen gesetzten und für prinzipiell historisch, relativ und machtbedingt zu
alle gleichen moralischen Gesetze die Starken knech- denken ist und dass es gerade keine ›natürliche‹ Ge-
tisch. Der Starke dagegen schüttle alle widernatürli- rechtigkeit gibt.
chen Gesetze ab, und eben in dieser Selbstbehauptung Vor diesem Hintergrund verschiebt sich das Inte-
eines natürlichen Vor-Rechts zeige sich das eigentliche resse neuzeitlicher und frühmoderner Gerechtigkeits-
»Recht der Natur« (ebd., 258, 484 b). theorien darauf, die Idee der Gerechtigkeit mit ihrer
Friedrich Nietzsche bezieht sich in Zur Genealogie Machtabhängigkeit zu versöhnen, indem die Bedin-
der Moral implizit auf diese Position, wenn er schreibt: gungen der Gerechtigkeitsbestimmungen universali-
»Wer befehlen kann, wer von Natur ›Herr‹ ist, wer ge- siert und demokratisiert werden: Gerechtigkeit kann
waltthätig in Werk und Gebärde auftritt – was hat der nur entstehen, wo ursprüngliche Gleichheit der Rech-
mit Verträgen zu schaffen! Mit solchen Wesen rechnet te und der Vermögen herrscht. Und sie kann nur um-
man nicht« (Nietzsche 1988, Bd. 5, 324). Auch für gesetzt werden, wo die Teilnahme aller an der Fest-
Nietzsche ist die Idee einer universalen und Gleichheit legung der Spielregeln des gerechten Zusammen-
schaffenden Verteilung absurd und ein »Reich der Ge- lebens gesichert wird. Die frühneuzeitlichen politi-
rechtigkeit und Eintracht auf Erden [...] das Reich der schen Theorien (vgl. Spinoza 1670/2004; Locke
tiefsten Vermittelmässigung und Chineserei« (Nietz- 1690/1977) und die demokratietheoretischen Ent-
sche 1988, Bd. 3, 629). Er transformiert das Recht des würfe der frühen Moderne (vgl. besonders Rousseau
Stärkeren allerdings in die existenzielle und ästheti- 1762/2003) liegen in dieser Linie.
sche Figur der Selbstermächtigung im Sinne eines Damit wird die Gleichheit an Macht nicht nur kon-
»Künstler-Egoismus« (Nietzsche 1988, Bd. 5, 325), in trafaktisch als Voraussetzung der Gerechtigkeit rekla-
der sich erst ›das jedem Einzelnen Angemessene‹ ar- miert, sondern selbst zum normativen Kriterium der
tikulieren kann. Das Problem der Gerechtigkeit im Gerechtigkeitsidee, deren Funktion darin liegt, asym-
336 IV Gerechtigkeit im Kontext

metrische Machtverhältnisse zu zähmen und norma- dikalisieren. Aus feministischer und postkolonialer
tiv einzuhegen. Dabei ist die Vorstellung leitend, dass Perspektive wird kritisiert, dass die in vertragstheo-
sich nur unter den Bedingungen der Neutralisierung retischen Gerechtigkeitsmodellen vorgenommenen
verzerrender Macht- und Ungleichheitsverhältnisse Unterscheidungen von öffentlich und privat, von kul-
die für Gerechtigkeit relevanten normativen Dimen- turell und natürlich oder von aufgeklärt und traditio-
sionen menschlicher Existenz – wie Freiheit oder Ver- nell den Gegenstand von (zu verhandelnden) Gerech-
nunft – aktualisieren können. Nur wo sich Freie und tigkeitsfragen einengen und damit patriarchale, hete-
Gleiche in einem Raum relativer Machtabwesenheit rosexistische und rassistische Herrschaftsverhältnisse
(im Sinne der Abwesenheit von Ungleichheitsverhält- reproduzieren (vgl. Pateman 1988; Okin 1989; Wittig
nissen) treffen können, können sich gerechte Verhält- 1992; Mills 1997; Butler 2009). Kritisiert wird auch,
nisse ergeben; dies ist wohl die leitende normative In- dass mit dem (liberalen) Fokus auf abstrakte Indivi-
tuition der dominanten politischen Philosophie der duen als Vertragspartner_innen politischer Gerech-
Moderne sowohl liberaler als auch republikanischer tigkeit die strukturellen Gewalt- und Herrschaftsfor-
Spielart (vgl. etwa Rawls 1979; Arendt 1981; Haber- men wie ökonomische Marginalisierung, Kultur-
mas 1996; Benhabib 2008). imperialismus und vergeschlechtlichte und rassifi-
Die egalitäre Demokratisierung der Macht im Na- zierte Arbeitsteilung verkannt und damit weiter
men der Gerechtigkeit ist demnach eine Antwort auf tradiert werden (Young 1990).
die elitäre und aristokratische Affirmation des Rechts Die Demokratisierung des Macht-Gerechtigkeit-
der Stärkeren. Die skeptische These, dass es eine Ge- Nexus kann entsprechend solchen Diagnosen – bei al-
rechtigkeit jenseits menschlicher sozialer und politi- len methodisch-konzeptionellen Unterschieden der
scher Machtzusammenhänge nicht geben könne, wird einzelnen Ansätze – nur gelingen, wenn die struktu-
zwar anerkannt, aber ohne dass damit der Gerechtig- rellen Machtverhältnisse, die als materielle Ermögli-
keitsbegriff selbst aufgelöst würde, wie dies die ideo- chungs- und Ausschlussbedingungen in Gerechtig-
logiekritischen und genealogischen Lesarten dieses keitsdiskursen wirksam sind, erkannt und der Kritik
Zusammenhangs implizieren. und Veränderung zugänglich gemacht werden. Es er-
gibt sich somit der Bedarf eines komplexen und mehr-
dimensionalen Gerechtigkeitsbegriffs, der die Macht-
Machttheoretische Erweiterung blindheit der herkömmlichen Gerechtigkeitstheorien
der Gerechtigkeit überwindet, indem er nicht nur die Anerkennung von
Gleichheit artikuliert, sondern auch die historisch
Nun ist die Grenzziehung zwischen einem ›gerechten‹, vielfältigen und normativ ambivalenten Formen von
d. h. machtfreien Gesellschaftsvertrag und einer ver- Differenz und Partikularität mit einbezieht (vgl. Fra-
traglich instituierten Ordnung, die bloß dem Vorteil ser 2003; Young 2011).
des Stärkeren dient, grundsätzlich umstritten. Schon
Jean-Jacques Rousseau (1762/2003) und Baruch de
Spinoza (1670/2004) opponieren gegen Hobbes’ Un- Gerechtigkeit und Macht in Spannung
terwerfungsvertrag; John Stuart Mill und Alexis de
Tocqueville kritisieren an demokratischen Machtord- Die bisher genannten Ansätze stellen Versuche dar,
nungen, dass sie Gefahr laufen, die »Tyrannei der Gerechtigkeit von der Macht her zu denken, und zwar
Mehrheit« (vgl. Tocqueville 1840/1985, 139–150) und entweder um die Schwäche der Gerechtigkeitsnorm
soziale Konformität zum Maßstab von Recht und Ge- darzulegen oder um sie im Gegenteil machtkritisch,
rechtigkeit zu machen und damit einem auf problema- d. h. demokratisch und egalitär zu reformulieren. Alle
tische Weise demokratischen, nämlich majoritären Varianten, selbst die komplexen, stellen sich das Ver-
Recht des Stärkeren zu folgen (vgl. Mill 1859/2009). hältnis tendenziell als einen Gegensatz vor, der sich in
In der Sozialtheorie und politischen Philosophie die eine oder andere Richtung auflösen oder relativie-
der Gegenwart findet sich dieser Einwand in vielfa- ren lässt: Die skeptische Variante besagt, dass hinter
cher Weise wieder; er läuft auf die Mahnung hinaus, der Gerechtigkeit nichts als Macht sei; die optimisti-
die Machtwirkungen und die Machtbestimmtheit sche behauptet, dass hinreichend komplex gefasste
konkreter Gerechtigkeitsvorstellungen anzuerken- Gerechtigkeit bestehende Ungleichheits- und Macht-
nen und die Forderung nach wirklich inklusiven und verhältnisse überwinden oder minimieren könne.
demokratischen Formen des Zusammenlebens zu ra- In beiden Versionen wird damit ein mögliches
53 Macht 337

Spannungsverhältnis zwischen beiden Polen ent- Benhabib, Seyla: Die Rechte der Anderen. Frankfurt a. M.
schärft. Es steht allerdings zu befürchten, dass solche 2008 (engl. 2004).
Modelle noch zu kurz greifen und einer existenziellen Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt [1920/21]. In: Ge-
sammelte Schriften, Bd. II.1. Hg. von Rolf Tiedemann und
Erfahrung im Umgang mit dem Normativen nicht ge- Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991, 179–
recht werden: Gerechtigkeit und Macht stehen in ei- 203.
ner komplexeren Beziehung als der zwischen gutem Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwer-
Ideal und problematischer Wirklichkeit. Oft genug fung. Frankfurt a. M. 2001 (engl. 1997).
braucht Moral Macht und ist Macht bezogen auf die –: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des
Menschlichen. Frankfurt a. M. 2009 (engl. 2004).
Moral. Auch die Moral erscheint in dieser Perspektive
Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der
als von dieser Welt. Sie ist nichts rein Ideales, gerade Autorität«. Frankfurt a. M. 1991 (engl. 1990).
wenn und weil sie diese Welt verändern will. Zugleich Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt a. M.
verändert dieses Weltlichwerden und Mächtigwerden 1981 (frz. 1961).
die Moral selbst. Geltung (der Moral) und Faktizität Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille
(der Macht) durchdringen und bedingen einander al- zum Wissen. Frankfurt a. M. 1977 (frz. 1976).
Fraser, Nancy: Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs,
so tiefgreifender, als es der Moralphilosophie und Po- Geschlecht. Frankfurt a. M. 1994 (engl. 1989).
litischen Theorie recht sein kann. –: Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspolitik.
Im Anschluss an einige heterodoxe Überlegungen Umverteilung, Anerkennung und Beteiligung. In: Dies./
zum Verhältnis von Macht, Gewalt, Recht und Ge- Axel Honneth: Umverteilung oder Anerkennung? Eine po-
rechtigkeit (vgl. Benjamin 1991; Menke 2011) und zur litisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt a. M. 2003,
13–128.
grundsätzlichen Kontingenz des Politischen (vgl. Le-
Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne.
fort 1990; Meyer 2012) ließe sich deshalb ein span- Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1985.
nungsreiches und schwerer aufzulösendes Verhältnis –: Drei normative Modelle der Demokratie. In: Ders.: Die
denken: Macht und Gerechtigkeit stehen in einem Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie.
konstitutiven Spannungsverhältnis, das nur um den Frankfurt a. M. 1996, 277–292.
Preis von Zynismus oder Idealismus negiert werden Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt ei-
nes kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. von Iring Fet-
kann und das in seiner – vielleicht sogar tragischen –
scher. Frankfurt a. M. 1984 (engl. 1651).
Dimension ausgehalten werden muss. Macht ist für Honneth, Axel: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kriti-
Gerechtigkeit konstitutiv, damit sie zu einer gesell- schen Gesellschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1985.
schaftlichen Vorstellung und Praxis werden kann; mit Jaeggi, Rahel: Was ist Ideologiekritik? In: Dies./Tilo Wesche
ihr schreibt sich aber auch ein Moment von Kontin- (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt a. M. 2009, 266–295.
genz und Willkür in die Gerechtigkeit ein. Lefort, Claude: Menschenrechte und Politik. In: Ulrich Rö-
del (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie.
Im Horizont dieser unauflöslichen Spannung wird Frankfurt a. M. 1990, 239–280 (frz. 1981).
Gerechtigkeit zu einem »unendlichen« Anspruch (vgl. Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Frank-
Derrida 1991, 51) und zu einer unabschließbaren Auf- furt a. M. 1977 (engl. 1690).
gabe einer demokratischen Gemeinschaft, die sich Menke, Christoph: Recht und Gewalt. Berlin 2011.
diesem Anspruch verschreibt, ohne ihn je vollständig Meyer, Katrin: Demokratie ohne Menschenrechte? Das Pro-
blem der normativen Unbestimmtheit von Demokratien
erfüllen zu können. Ihre Gerechtigkeit bewährt sich
nach Platon, Lefort und Arendt. In: studia philosophica.
daran, dass sie sich ihrer eigenen Kontingenz und Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft
Macht bewusst bleibt und sich sowohl der optimisti- 71 (2012), 107–127.
schen als auch der pessimistischen Gleichsetzung von Mill, John Stuart: Über die Freiheit. Hg. von Bernd Gräfrath.
Macht und Gerechtigkeit verweigert. Das unauflösli- Stuttgart 2009 (engl. 1859).
che Konstitutionsverhältnis von Macht und Gerech- Mills, Charles: The Racial Contract. Ithaca 1997.
Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft [1882]. In:
tigkeit kann so zum Ausgangspunkt einer kritischen Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA),
Haltung werden, die immer wieder an die normativen Bd. 3. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari.
Grenzen des Machbaren und die faktische Begrenzt- München 1988.
heit des Rechten erinnert. –: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887]. In:
Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA),
Bd. 5. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari.
Literatur
München 1988.
Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Mün-
Okin, Susan Moller: Justice, Gender, and the Family. New
chen 1981 (engl. 1958).
York 1989.
Balibar, Étienne: Marx’ Philosophie. Berlin 2013 (frz. 1993).
Pateman, Carole: The Sexual Contract. Stanford 1988.
338 IV Gerechtigkeit im Kontext

Platon: Der Staat. Übers. von Rudolf Rufener, mit einer Einl. Scott, John: Power. London 2001.
von Thomas Alexander Szlezák und Erläuterungen von Spinoza, Baruch de: Theologisch-politischer Traktat. Übers.
Olof Gigon. München 1991 [Pol.]. und hg. von Wolfgang Bartuschat. Hamburg 2004 (lat.
–: Gorgias. In: Ders.: Die großen Dialoge. Übers. von Rudolf 1670).
Rufener, mit einer Einführung und Erläuterungen von Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Übers. und hg. von
Thomas Alexander Szlezák. München 1991, 193–327 Helmuth Vretska und Werner Rinner. Ditzingen 2004.
[Gorg.]. Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika. Hg.
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. von J. P. Mayer. Stuttgart 1985 (frz. 1835/40).
1979 (engl. 1971). Wittig, Monique: The Straight Mind and Other Essays. Bos-
Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder ton 1992.
Grundsätze des Staatsrechts. Stuttgart 2003 (frz. 1762). Young, Iris Marion: Justice and the Politics of Difference.
Saar, Martin: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie Princeton 1990.
des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt a. M./ –: Responsibility for Justice. Oxford 2011.
New York 2007.
Katrin Meyer / Martin Saar
V Anwendungsfragen

A. Goppel et al. (Hrsg.), Handbuch Gerechtigkeit, DOI 10.1007/978-3-476-05345-9_5,


© Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2016
54 Alter modellen ganz unterschiedlich eingeschätzt. Allge-
mein scheint den Alten vor allem in vormodernen Ge-
Unter dem Eindruck des demographischen Wandels meinschaften oft wie selbstverständlich ein besonderer
der westlichen Industrienationen erscheint das höhe- moralischer bzw. rechtlicher Status und eine entspre-
re Lebensalter in den ethischen und politischen Dis- chend abweichende Behandlung zuteilzuwerden. Im
kussionen der Gegenwart vielfach vorrangig als ein Horizont des modernen Egalitarismus wird eine Be-
gesellschaftliches Problem, das die gerechte Vertei- vorzugung oder Benachteiligung von Menschen auf-
lung von Gütern und Lasten zwischen den Generatio- grund ihres (fortgeschrittenen) Lebensalters dagegen
nen betrifft. Damit wird die gerechtigkeitsethische überwiegend kritisch betrachtet.
Perspektive auf das Alter allerdings vorschnell auf Fra- In traditionalen, hierarchisch geprägten Verhält-
gen der Verteilungsgerechtigkeit (s. Kap. II.12) und nissen nehmen ältere Menschen als Träger der Über-
der fairen Gestaltung intergenerationeller Beziehun- lieferung, Wächter über den Zugang zu politischer
gen (s. Kap. II.20) verengt. Darüber hinaus machen Macht und sozialem Kapital sowie Hüter des kulturel-
sich unter dem Deckmantel populistischer Szenarien len und ökonomischen Erbes nicht selten eine heraus-
einer ›Überalterung der Gesellschaft‹ und eines gehobene Stellung ein. In gerontokratischen Ordnun-
›Kampfs der Generationen‹ vielfach auch negative gen kommt ihnen als Oberhäuptern gemäß dem Se-
und polemische Altersbilder breit. nioritätsprinzip sowohl auf familiärer als auch auf
Unter diesen Vorzeichen wird leicht verkannt, dass gesellschaftlich-politischer Ebene eine besondere Au-
das Alter gerechtigkeitsethisch durchaus grundlegen- torität, Machtfülle und Entscheidungsbefugnis zu
de Probleme aufwirft und in verschiedenen Sach- (Luh 2003, 305 f.). Auch als Vermittler gesellschaftlich
gebieten eine moralisch, politisch und rechtlich sig- grundlegender Wissensbestände und Fertigkeiten ge-
nifikante Rolle spielt. Das zeigt sich insbesondere im bührt ihnen hohe Wertschätzung. Schließlich stehen
Hinblick auf Recht und Gleichberechtigung, Alters- sie im mythisch-rituellen Bezugsrahmen des Ahnen-
vorsorge und soziale Sicherung sowie Medizin und kultes in nächster Verbindung mit den geheiligten
Gesundheitsversorgung. In allen diesen Bereichen er- Altvorderen und verdienen daher Ehrerbietung. Al-
fordert eine angemessene Erörterung der jeweils ein- lerdings erscheint jede nostalgische Verklärung eines
schlägigen gerechtigkeitsethischen Fragen bezüglich ›goldenen Zeitalters der Alten‹ unangemessen (ebd.).
des Alters nicht zuletzt eine grundsätzliche Verständi- Zum einen hängt die soziale Position einer alten
gung darüber, was es überhaupt bedeutet, alt zu wer- Person immer auch von zusätzlichen Gesichtspunk-
den und zu sein. ten wie Geschlechts-, Familien- oder Standes- bzw.
Schichtenzugehörigkeit ab. Und zum anderen kann
gerade in einfacheren Gemeinschaften durchaus auch
Von der hierarchischen Stufung zum eine systematische Zurücksetzung oder Ausschlie-
modernen Egalitarismus ßung älterer Menschen als legitim und gerecht gelten,
bis hin zu Vernachlässigung, Aussetzung oder gar ri-
Versteht man Gerechtigkeit zunächst allgemein im tueller Tötung (Senizid; ebd.).
Sinne der intersubjektiv gefassten Fragestellung, was Im Zuge der Modernisierung beginnt sich die Lage
wir einander in einem strikten Sinne schuldig sind, der Alten grundlegend zu wandeln (Cowgill/Holmes
welche Rechte und Pflichten wir also im Verhältnis zu- 1972). An die Stelle überlieferter hierarchischer Rang-
einander und im Umgang miteinander haben (Höffe ordnungen tritt ein universalistischer Egalitarismus
2007, 28 f.), so ergibt sich mit Blick auf das höhere allgemeiner Rechte und Pflichten. Damit verliert auch
Lebensalter ein ausgesprochen heterogenes Bild: Was das höhere Lebensalter jede moralische und rechtliche
wir älteren Personen moralisch oder politisch schul- Sonderstellung. Die aufklärerischen Ideale universel-
den (und vice versa), wurde und wird in Abhängigkeit ler Freiheit und Gleichheit untergraben seine traditio-
von den jeweils zugrunde gelegten Altersbildern, nelle Autorität (Fischer 1977). Der wissenschaftlich-
Rollenerwartungen und gesellschaftlichen Ordnungs- technische Fortschritt entwertet seine überlieferten
54 Alter 341

Kenntnisse. Die Industrialisierung begünstigt junge Diesseits der Grundrechtsebene ist das mensch-
Arbeitskräfte und führt mit dem Ausscheiden der Al- liche Leben freilich in den meisten modernen Rechts-
ten aus dem Erwerbsleben zu ökonomischer Abhän- systemen einem dichten Raster altersbezogener Re-
gigkeit und sozialem Prestigeverlust (Cowgill/Holmes gelungen unterworfen (Ruppert 2010). Insbesondere
1972). Die auf wechselseitige Zuneigung gegründete Altersschwellen und -grenzen hinsichtlich rechtlicher
bürgerliche Kleinfamilie löst den dynastischen, gene- Ansprüche, Erlaubnisse, Gebote und Verbote kommt
rationenumspannenden Familienzusammenhang auf dabei eine wichtige Bedeutung zu. Sie weisen natürli-
und relativiert die in ihm begründete Stellung der Alt- chen Personen einen je spezifischen Rechtsstatus zu
vorderen. Andererseits entzieht der moderne Egalita- und definieren so nicht nur den gesellschaftlichen An-
rismus allerdings auch jeder Zurücksetzung den Bo- wendungsbereich gesetzlicher Normen, sondern spie-
den. Die Gleichstellung der Alten erscheint als weiterer len im Rahmen moderner Wohlfahrtsstaaten auch ei-
Schritt zur Einlösung des universellen Anspruchs der ne konstitutive Rolle bei der sozialen Standardisie-
Menschenrechte. Missachtung oder Benachteiligung rung, Strukturierung und Segmentierung des Lebens-
alter Menschen gelten zunehmend als unzulässig. Die- verlaufs (ebd.). Besonders markante Zäsuren bzw.
se Perspektive wird auch in Ethik und politischer Phi- Statuspassagen bilden in Deutschland die Erlangung
losophie wirksam. So fordert Simone de Beauvoir der Volljährigkeit mit Vollendung des 18. sowie der
(1970) die Gleichberechtigung der Alten und klagt Eintritt in den Ruhestand mit Vollendung des 65.
Vorurteile und Ungerechtigkeiten an. In den USA wird (bzw. künftig 67. oder höheren) Lebensjahres. Mit
zeitgleich der Ageismus, die Diskriminierung von Blick auf ältere Menschen sind insbesondere sozial-
Menschen aufgrund ihres Lebensalters, zum politi- rechtliche Anwartschaftsschwellen wie das Renten-
schen Thema (Butler 1969; Fredman/Spencer 2003). eintrittsalter und arbeits- bzw. berufsrechtlich de-
finierte Höchstalter, wie z. B. die Grenze von 70 Jahren
für die Notartätigkeit, von Bedeutung. Inwiefern
Recht durch altersbezogene Regelungen eine Altersdiskri-
minierung stattfindet, wird kontrovers diskutiert und
Im Recht schlägt sich dieser egalitäre Gedanke erst hängt nicht zuletzt von jeweils zugrundeliegenden
verhältnismäßig spät nieder. Zwar hatte schon die Dé- Annahmen bezüglich des Alters und der Generatio-
claration des Droits de l’ Homme et du Citoyen 1789 pos- nenbeziehungen ab (Bouchouaf 2010).
tuliert, »die Menschen werden frei und gleich an Rech-
ten geboren und bleiben es« (eigene Hervorh.), und da-
mit im Prinzip auch in zeitlicher Hinsicht jede gra- Altersvorsorge und soziale Sicherung
duelle Abstufung über den Lebensverlauf eingeebnet.
Doch während Bemühungen um die Durchsetzung Während die Versorgung im höheren Lebensalter bis
von Kinderrechten über 100 Jahre zurückreichen, sind ins 19. Jahrhundert weitgehend individueller Eigen-
Bestrebungen zur Explikation des normativen Gehalts verantwortung oder familiärer Fürsorge überlassen
der Menschenrechte mit Blick auf ältere Menschen erst blieb, wurde sie im Zuge der Industrialisierung zu ei-
seit etwa 30 Jahren zu verzeichnen (Ruppert 2013; ner öffentlichen, staatlich zu regelnden Aufgabe. Die
Roth 2013). Im Anschluss an den UN-Aktionsplan zur im Deutschen Reich 1891 als Invalidenversicherung
Frage des Alterns fordern die United Nations Principles eingeführte gesetzliche Rentenversicherung bildet den
for Older Persons 1982 Möglichkeiten zur Selbstentfal- Prototyp eines teilstaatlichen Alterssicherungssys-
tung, Anspruch auf respektvolle Behandlung sowie tems. Durch sie erfolgte die Abgrenzung und Definiti-
Zugang zu Pflege und Gesundheitsversorgung. Im on des Alters als Ruhestand, d. h. als einer eigenen,
Kontext der Europäischen Sozialcharta erscheint 1988 durch berufliche und soziale Entpflichtung geprägten
das Recht älterer Menschen auf sozialen Schutz. Die Lebensphase (Conrad 1994). Im Zuge des demogra-
Charta der Grundrechte der Europäischen Union ver- phischen Wandels verändert sich mit der zugrundelie-
bietet jede Diskriminierung nach dem Lebensalter genden ›Standardbiographie‹ allerdings auch das Ver-
und enthält einen Artikel zu Rechten älterer Menschen hältnis der Generationen in Familie und Gesellschaft.
(Art. 21 und 25). Seit 2010 prüft die UN-Open-ended Die steigende Lebenserwartung führt zur stärkeren
Working Group on Ageing den internationalen Rechts- Überlappung aufeinanderfolgender Generationen, die
rahmen mit Blick auf die Rechte Älterer, identifiziert mit Blick auf Pflege- und Versorgungsleistungen eine
Lücken und macht Handlungsbedarf geltend. Mehrfachbelastung der mittleren ›Sandwich-Genera-
342 V Anwendungsfragen

tion‹ nach sich zieht (Lettke 2002). Der im Verhältnis vermutlich nicht mit dem chronologischen Lebens-
zur versicherungspflichtig beschäftigten Bevölkerung alter, sondern mit der zeitlichen Nähe zum Tod kor-
wachsende Anteil älterer Menschen lässt im Rahmen relieren (Werblow/Felder/Zweifel 2007) und der An-
umlagebasierter Systeme Zweifel an der künftigen Fi- stieg der Lebenserwartung mit einer Ausdehnung
nanzierbarkeit bisheriger Rentenniveaus und -ein- der gesunden Lebenszeit einhergehen dürfte (Fries/
trittsalter aufkommen. Damit erscheint die ins kon- Bruce/Chakravarty 2011), rücken oft die Alten als
traktualistische Bild des Generationenvertrags gefasste vermeintliche Verursacher der Systemkrise ins Visier
Idee von Generationengerechtigkeit (s. Kap. II.20) be- (Schweda 2013). Unter diesen Vorzeichen wird über
droht (Véron/Pennec/Légaré 2007). die Bedeutung des Lebensalters für Verteilungsent-
Vor diesem Hintergrund rückt die Frage der ge- scheidungen und über den ökonomischen Sinn
rechten und mit Blick auf künftige Generationen und die ethische Legitimität einer altersabhängi-
nachhaltigen Gestaltung der sozialen Sicherungssys- gen Begrenzung medizinischer Versorgung dis-
teme in den Fokus öffentlicher und politischer Aus- kutiert (Marckmann 2003). Zugunsten einer solchen
einandersetzungen. Dabei steht nicht nur die traditio- Altersrationierung wird das pragmatische Argument
nelle Verteilung von Rechten und Pflichten zwischen angeführt, das Lebensalter stelle ein eindeutiges Allo-
den Generationen, sondern auch die zwischen Indivi- kationskriterium dar, das alle gleichermaßen betreffe,
duum, Familie und Gesellschaft zur Diskussion. Ins- da schließlich (fast) jeder einmal alt wird (Breyer
besondere wirft die im Namen einer ›aktivierenden 2005). Utilitaristen (s. Kap. III.34) argumentieren zu-
Sozialpolitik‹ vielfach verstärkte Betonung individuel- dem, die Kosteneffektivität medizinischer Behand-
ler Eigenverantwortung und familiärer Fürsorge mit lung und damit ihr volkswirtschaftlicher Nutzen falle
Blick auf das höhere Lebensalter durchaus gerechtig- bei älteren Menschen niedriger aus (Brock 2003).
keitsethische Fragen auf. Zum einen sind die Kapazi- Aus kommunitaristischer Sicht (s. Kap. III.36) wird
täten zur privaten Altersvorsorge ungleich verteilt, so das Alter als wesentliche Stufe des natürlichen Le-
dass sich Effekte bestehender sozialer Ungleichheit benszyklus gefasst, die es anzunehmen und sinnvoll
und prekärer Erwerbsbiographien über den Lebens- zu gestalten gelte, statt sie medizinisch zu bekämpfen
verlauf akkumulieren und besonders auf das höhere (Callahan 1995). Doch auch egalitaristisch lässt sich
Lebensalter durchschlagen, z. B. in Gestalt zunehmen- eine Ungleichbehandlung aufgrund des Lebensalters
der Altersarmut (Vogel/Motel-Klingebiel 2013). Da- rechtfertigen, sofern sie der Gleichstellung in einer
rüber hinaus folgt die Aufteilung von Pflegearbeit und moralisch relevanteren Hinsicht dient. In diesem
Versorgungsleistungen in der Familie vielfach noch Sinne wird angenommen, dass jedem eine faire
wie selbstverständlich traditionellen Geschlechterrol- Chance auf Vollendung der Lebensspanne zusteht,
lenverteilungen, was auch das Problem der Gleichbe- weshalb Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor
rechtigung der Geschlechter berührt (Backes/Wolfin- sich haben, bei der Gesundheitsversorgung bevor-
ger/Amrhein 2008). Schließlich wirft das Prinzip der zugt werden dürften (Harris 1985, 91). Liberale argu-
Subsidiarität der sozialen Sicherung allgemein die mentieren im Anschluss an John Rawls, wenn ver-
Frage auf, inwieweit sich intergenerationelle Fürsor- fügbare Mittel hinter einem Schleier des Nichtwis-
ge- und Versorgungspflichten im Zeichen zunehmen- sens über die eigene Lebensspanne einzuteilen wä-
der Individualisierung noch rechtfertigen und gerecht ren, gebiete die Klugheit, den Großteil für frühere
gestalten lassen. Lebensphasen vorzuhalten, so dass eine solche Ver-
teilung auch allgemein zustimmungsfähig sein müss-
te (Daniels 1988). Gegner wenden ein, chronologi-
Medizin und Gesundheitswesen sche Altersgrenzen stellten bloß willkürliche Setzun-
gen dar, die angesichts der großen Variationsbreite
Auch in Medizin und Gesundheitswesen (s. Kap. des Alters jeder sachlichen Grundlage entbehren. Ei-
V.63) spielt die Frage der gerechten Verteilung mit ne Altersrationierung verstoße gegen traditionelle
Blick auf das Alter eine zentrale Rolle. Es wird be- Werte wie christliche Nächstenliebe, Fürsorge und
fürchtet, dass der demographische Wandel zum An- gesellschaftliche Solidarität (Müller 2010). Sie stehe
stieg der Gesundheitsausgaben bei gleichzeitigem auch im Widerspruch zum egalitären Grundzug mo-
Rückgang des Beitragsaufkommens führt und damit dernen moralischen Denkens. Einigen Personen bloß
zur Mittelknappheit im öffentlichen Gesundheits- wegen des kontingenten Faktums ihres Geburts-
wesen beiträgt. Auch wenn die Gesundheitskosten datums Ansprüche zu bestreiten, die anderen ohne
54 Alter 343

weiteres zugestanden werden, erscheint als ungerech- Callahan, Daniel: Setting Limits. Medical Goals in an Aging
te Diskriminierung (Giordano 2005). Society [1987]. Washington D. C. 1995.
Conrad, Christoph: Vom Greis zum Rentner. Der Struktur-
wandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930.
Göttingen 1994.
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Im Zeichen der steigenden Lebenserwartung und des Daniels, Norman: Am I My Parents’ Keeper? An Essay on Jus-
demographischen Wandels rückt das Alter in den Fo- tice between the Young and the Old. New York 1988.
Fischer, David H.: Growing Old in America. New York 1977.
kus ethischer und politischer Auseinandersetzungen.
Fredman, Sandra/Spencer, Sarah (Hg.): Age as an Equality
Dabei wird es vor allem als Herausforderung ein- Issue. Legal and Policy Perspectives. Oxford/Portland 2003.
gespielter Verteilungsprinzipien im Rahmen sozial- Fries, James F./Bruce, Bonnie/Chakravarty, Eliza: Compres-
staatlicher Sicherungssysteme wie der gesetzlichen sion of morbidity 1980–2011: A focused review of para-
Renten- und Krankenversicherung thematisiert. Al- digms and progress. In: Journal of Aging Research (2011),
lerdings gehen vielfach ungesicherte empirische und article 261702.
Giordano, Simona: Respect for equality and the treatment of
normative Vorannahmen hinsichtlich der Bedeutung the elderly: Declarations of human rights and age-based
des Alters im individuellen Lebenszyklus und der fa- rationing. In: Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics
miliären bzw. gesellschaftlichen Generationenfolge 14/1 (2005), 83–92.
sowie der spezifischen Verfassung und Lage alter Harris, John: The Value of Life. An Introduction to Medical
Menschen in die Diskussion ein. Die Beschäftigung Ethics. New York 1985.
Höffe, Otfried: Gerechtigkeit. Eine philosophische Einfüh-
mit gerechtigkeitsethischen Fragen des Alters bedarf
rung [1991]. München 32007.
daher einer grundsätzlichen Verständigung darüber, Lettke, Frank: Pflegen wollen, sollen, müssen oder dürfen?
was es überhaupt bedeutet, alt zu werden und zu sein. Zur Ambivalenz von Generationenbeziehungen im Alter.
Sie hat ein normativ reflektiertes und empirisch infor- In: Andreas Motel-Klingebiel/Hans-Joachim von Kondra-
miertes Verständnis der zeitlichen Erstreckung und towitz/Clemens Tesch-Römer (Hg.): Lebensqualität im
Verlaufsstruktur des menschlichen Lebens zugrunde Alter. Wiesbaden 2002, 71–94.
Luh, Andreas: Das »Goldene Zeitalter der Alten«? Alter in
zu legen und dafür auch einschlägige biologisch-me-
historischer Perspektive. In: Zeitschrift für Gerontologie
dizinische, psychologische und sozial- bzw. kulturwis- und Geriatrie 36/4 (2003), 303–316.
senschaftliche Forschungsergebnisse einzubeziehen Marckmann, Georg (Hg.): Gesundheitsversorgung im Alter.
(Schweda 2014). Erst auf dieser Grundlage wird eine Zwischen ethischer Verpflichtung und ökonomischem
angemessene Auseinandersetzung darüber möglich, Zwang. Stuttgart 2003.
was wir alten Menschen schulden (und vice versa). Müller, Lucius B.: Grenzen der Medizin im Alter? Sozialethi-
sche und individualethische Diskussionen. Zürich 2010.
Roth, Markus: Die internationale Entwicklung des Rechts
Literatur der Älteren. In: Ulrich Becker/ Markus Roth (Hg.): Recht
Backes, Gertrud M./Wolfinger, Martina/Amrhein, Ludwig: der Älteren. Berlin 2013, 69–82.
Geschlechterungleichheiten in der Pflege. In: Ulrich Bau- Ruppert, Stefan: Lebensalter und Recht. Zur Segmentierung
er/Andreas Büscher (Hg.): Soziale Ungleichheit und Pflege. des menschlichen Lebenslaufs durch rechtliche Regelun-
Beiträge sozialwissenschaftlich orientierter Pflegeforschung. gen seit 1750. In: Ders. (Hg.): Lebensalter und Recht. Zur
Wiesbaden 2008, 132–153. Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs durch recht-
Beauvoir, Simone de: La Vieillesse. Paris 1970. liche Regelungen seit 1750. Frankfurt a. M. 2010, S. VII–
Bouchouaf, Ssoufian: Altersdiskriminierung durch recht- XXXIII.
liche Altersgrenzen aus verfassungsrechtlicher Perspekti- –: Die Geschichte des Rechts der Älteren. In: Ulrich Becker/
ve. In: Stefan Ruppert (Hg.): Lebensalter und Recht. Zur Markus Roth (Hg.): Recht der Älteren. Berlin 2013, 27–48.
Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs durch recht- Schweda, Mark: Zu alt für die Hüftprothese, zu jung zum
liche Regelungen seit 1750. Frankfurt a. M. 2010, 241–260. Sterben? Die Rolle von Altersbildern in der ethisch-politi-
Breyer, Friedrich: Rationierung von GKV-Leistungen nach schen Debatte um eine altersabhängige Begrenzung medi-
dem Alter? Pro. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift zinischer Leistungen. In: Gunnar Duttge/Markus Zim-
130/7 (2005), 349–350. mermann-Acklin (Hg.): Gerecht Sorgen. Verständigungs-
Brock, Dan: Ethik und Altersrationierung in der Medizin: prozesse über einen gerechten Einsatz knapper Ressourcen
Ein konsequentialistischer Standpunkt. In: Georg Marck- bei Patienten am Lebensende. Göttingen 2013, 149–167.
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ethischer Verpflichtung und ökonomischem Zwang. Stutt- Lebensverlaufs. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie
gart 2003, 89–115. 1/1 (2014), 185–232.
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344 V Anwendungsfragen

Véron, Jacques/Pennec, Sophie/Légaré, Jacques: Ages, Gene- 55 Arbeit und Einkommen


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Vogel, Claudia/Motel-Klingebiel, Andreas (Hg.): Altern im Unabhängig von ihrer spezifischen Beschaffenheit er-
sozialen Wandel: Die Rückkehr der Altersarmut? Wiesba-
den 2013. kennen die meisten Moral- oder Gerechtigkeitstheo-
Werblow, Andreas/Felder, Stefan/Zweifel, Peter (2007): Po- rien an, dass erstens Arbeit und Einkommen Güter
pulation ageing and health care expenditure: A school of sind, deren Umfang und Vorhandensein weitgehend
»Red Herrings«? In: Health Economics 16 (2007), 1109– von der Einrichtung der Gesellschaft abhängen, dass
1126. zweitens die zentralen Steuerungsprinzipien einer Ge-
Mark Schweda sellschaft deren Mitgliedern gegenüber moralisch
oder politisch gerechtfertigt werden müssen und des-
halb drittens der Umgang mit Arbeit und Einkommen
einer solchen Rechtfertigung bedarf.
Damit ist bereits klar, dass man sich einer normati-
ven Debatte über die Verteilung dieser Güter nicht mit
dem Hinweis entziehen kann, deren Verteilung voll-
ziehe sich in modernen Gesellschaften nach Markt-
prinzipien und sei eben deshalb keiner weiteren Recht-
fertigung zugänglich und bedürftig. Zu rechtfertigen
ist gerade, weshalb und wie weit die Verteilung dieser
Güter einem Marktprozess anvertraut werden darf.
Der philosophische Streit geht denn auch nicht darum,
ob hier etwas einer Rechtfertigung bedarf, sondern da-
rum, was als eine zufriedenstellende Rechtfertigung
angesehen werden kann, welche Verteilung dieser Gü-
ter als gerechtfertigt oder gerecht gelten kann. Die hier
streitenden Überzeugungen lassen sich in zwei Grup-
pen unterteilen:
1) Prozedurale Theorien: In diesen wird eine Güter-
verteilung dadurch gerechtfertigt, dass sie sich im
Rahmen eines normativ bestimmten Verfahrens er-
geben hat. So gilt in vertragstheoretischen Konzeptio-
nen eine Verteilung typischerweise dann als gerecht-
fertigt, wenn sie aus einer freien Übereinkunft der
Subjekte entstanden ist. Diesen Ansätzen zufolge gibt
es keine normativen Kriterien für das Resultat solcher
Austauschprozesse. Die hier bevorzugte Verteilungs-
prozedur ist das Geschehen auf einem freien Markt.
Gerecht ist dann jede Verteilung, die sich aus akzep-
tablen Ausgangsbedingungen in einem solchen Markt
herausbildet.
2) Teleologische Theorien: In diesen wird eine Gü-
terverteilung von dem in der Theorie favorisierten
Globalziel her gerechtfertigt. Diese Globalziele sind
durch zwei Elemente charakterisiert: durch ein Set
von relevanten Gütern – etwa Ressourcen, Freiheiten,
Fähigkeiten, Chancen, Wohlbefinden oder eine Kom-
bination derselben – sowie durch ein Aggregationsziel
hinsichtlich dieser Güter. Gemäß den prominenten
Aggregationszielen gilt eine Verteilung der relevanten
Güter dann als moralisch richtig oder gerecht, wenn
diese entweder insgesamt möglichst umfangreich vor-
55 Arbeit und Einkommen 345

handen sind oder wenn sie möglichst gleich verteilt als den Tätigen stiftet. Und hinreichend anerkennens-
oder so verteilt sind, dass die Schlechtestgestellten wert sind sicher alle Tätigkeiten im öffentlichen
möglichst gut dastehen, oder auch so, dass niemand Raum, die nur unter der Voraussetzung erbracht wer-
unterhalb eines Basislevels der Versorgung mit diesen den, dass es dafür eine Gegenleistung gibt.
Gütern leben muss. Diskutiert werden auch Hybrid- Zwischen beiden Kriterien liegen in einer Grauzo-
prinzipien, die verschiedene Aggregationsziele für ne diejenigen Tätigkeiten, die zwar einen signifikan-
verschiedene Klassen von Gütern kombinieren (etwa ten Nutzen für andere stiften, aber nicht unter der
Walzer 1992; Miller 2008, Kap. 2). Voraussetzung erbracht werden, dass es eine Gegen-
Auch die seit der Antike prominente Gerechtig- leistung dafür gibt. Die wichtigsten Tätigkeiten in die-
keitsvorstellung, der zufolge eine Verteilung dann ge- ser Gruppe sind gegenwärtig die Erziehung von Kin-
recht ist, wenn zwischen den Leistungen und den Ein- dern und die Pflege von Angehörigen. Für die An-
kommen der Subjekte eine proportionale Gleichheit erkennung dieser Tätigkeiten als ökonomisch zu
besteht, kann als eine Variante einer teleologischen entgeltende spricht, dass es einen gesellschaftlichen
Theorie, genauer eines teleologischen Egalitarismus, Substitutionsbedarf gibt, wenn diese nicht mehr un-
verstanden werden, da auch diese Proportion einen entgeltlich erbracht werden (Krebs 2002, 57–59). Kin-
Zielzustand beschreibt (Aristoteles 2000, 214 f.). Glei- der und andere Personen, die ohne Eigenverschulden
ches gilt auch für die von Marx propagierte Forde- in Not sind und die Unterstützung anderer benötigen,
rung, jeden nach seinen Bedürfnissen am gesellschaft- haben in allen am Wohl der Personen orientierten
lichen Reichtum zu beteiligen (Marx 1972, 25). Moralen einen Anspruch darauf, dass ihnen geholfen
Sobald man anerkennt, dass die jeweils vorhande- wird. Dann ist es aber unfair, wenn etwa Söhne oder
nen gesellschaftlichen Mechanismen nichts Natur- Kinderlose solche normativ gebotenen Leistungen
wüchsig-Unabänderliches sind, sondern eben Men- nicht erbringen und auch zu deren Finanzierung
schenwerk und damit prinzipiell änderbar und recht- nicht herangezogen werden. Die Pflicht zur Erbrin-
fertigungsbedürftig, stellen sich drei Fragen: gung solcher Hilfeleistungen kann allerdings auch
1. Welche Tätigkeiten verdienen einen ökonomi- subsidiär verstanden werden: Daraus, dass Kinder ei-
schen Ausgleich? nen Anspruch auf angemessene Betreuung haben,
2. Nach welchen Prinzipien sollen die als ökonomi- folgt nicht unmittelbar, dass auch Kinderlose zur Fi-
sche oder Erwerbsarbeit anerkannten Tätigkeiten nanzierung dieser Betreuung verpflichtet sind. Kin-
verteilt werden? der können wie ein privates Projekt der Eltern ver-
3. Nach welchen Prinzipien sollen die als ökonomi- standen werden, für dessen moralisch zufriedenstel-
sche oder Erwerbsarbeit anerkannten Tätigkeiten lende Durchführung diese auch primär verantwort-
entlohnt werden? lich sind. Erst im Fall des Versagens hätte dann die
Gesellschaft die notwendige Betreuung sicherzustel-
len und alle Beitragsfähigen zu deren Finanzierung
Welche Tätigkeiten verdienen einen heranzuziehen. Eine weitergehende Beteiligungs-
ökonomischen Ausgleich? pflicht aller entsteht aber dann, wenn alle Gesell-
schaftsmitglieder in ein vereinheitlichendes Wohl-
Menschen sind auf vielfache Weise tätig. Sie reinigen fahrtssystem einbezogen sind, welches Kinder ab-
ihre Wohnung, kümmern sich um Angehörige, arbei- sichtlich als sozialisierte Güter behandelt, indem es
ten in einer Fabrik, führen die Vereinskasse oder trös- (etwa durch ein entsprechendes Rentensystem) dafür
ten einen Freund. Wenn es um die Verteilung von Ar- sorgt, dass alle von den Mühen der Kindererziehung
beit und Arbeitseinkommen geht, ist deshalb zuerst zu profitieren (Olsaretti 2013, 248 f.).
klären, welche dieser Tätigkeiten hier zu berücksichti- Da die Mitglieder der entwickelten Gesellschaften
gen sind. Es geht darum, einen Arbeitsbegriff zu fin- in einem so strukturierten Wohlfahrtssystem leben
den, der diejenigen menschlichen Tätigkeiten aus- und überwiegend auch leben wollen, sind in solchen
zeichnet, die eine gesellschaftlich-ökonomische An- Gesellschaften die Erbringer der Betreuungsleistun-
erkennung verdienen (Krebs 2002, 23 f.). Für einen gen auch finanziell angemessen zu entlohnen.
solchen Arbeitsbegriff gibt es ein notwendiges und ein
hinreichendes Kriterium. Notwendig für eine öko-
nomische Anerkennung ist, dass eine Tätigkeit we-
nigstens einen nicht-marginalen Nutzen für andere
346 V Anwendungsfragen

Nach welchen Prinzipien sollen die als öko- zu dem Preis anzubieten, den seine Mitbürger für die-
nomische oder Erwerbsarbeit anerkannten se Leistung zu zahlen bereit sind.
Tätigkeiten verteilt werden? Da der nachfragegerechte Preis von Arbeitsleistun-
gen nicht notwendig existenzsichernd ist, müssen in
Zur Beantwortung der Frage ist zuerst zu klären, in- denjenigen dieser Theorien, die ein positives Recht auf
wiefern die Erwerbsarbeit ein Gut darstellt. Die Betei- Leben anerkennen, die Arbeitseinkommen durch ge-
ligung an der Sphäre des arbeitsteilig organisierten sellschaftliche Transferleistungen ergänzt werden. Mit
Leistungsaustausches ist – zumindest für die meisten geringem Verwaltungsaufwand könnte dies in Form
Angehörigen des abendländisch geprägten Kultur- einer negativen Einkommensteuer realisiert werden
kreises – aus wenigstens drei Gründen ein Gut. (Friedman 2004, 228 f.). Solche Zusatzleistungen blei-
Arbeit ist erstens eine Betätigung der eigenen Fä- ben allerdings nicht so marktwirtschaftlich neutral,
higkeiten, eine elementare Form des Am-Leben- wie deren Vertreter gehofft haben. Sobald Unterneh-
Seins, der Vitalität. Für Personen besteht ein wichtiger men wissen, dass die von ihnen gezahlten Gehälter
Teil des ihnen möglichen guten Lebens in der Betäti- nicht unbedingt zur Existenzerhaltung ausreichen
gung ihrer spezifischen Fähigkeiten. Dementspre- müssen, ist es für alle Arbeitgeber rational, zu ver-
chend wird eine erzwungene Stillstellung solcher Be- suchen, einen Teil ihrer Kosten auf die Gemeinschaft
tätigung als Qual empfunden. abzuwälzen. Es kommt zu einer Lohn-Abwärtsspirale.
Sodann ist die Arbeit in mehreren Hinsichten mit Ein weiteres Problem solcher Lohnergänzungsleistun-
dem Selbstwertgefühl verknüpft: Sie ist etwas, für des- gen besteht in der Erzeugung einer Motivationsfalle
sen gute Ausführung sich Menschen selbst schätzen (Parijs/Vanderbrought 2005, 75 f.). In dem Einkom-
können und von anderen geschätzt werden. Jenseits mensbereich, in dem die Arbeitseinkommen ohnehin
der speziellen Schätzung für besondere Kunstfertig- durch Sozialtransfers aufgestockt werden, besteht für
keit werden wir von anderen Menschen auch schon deren Bezieher keine Motivation, ihr Arbeitseinkom-
dafür geschätzt, dass wir ihnen überhaupt einen Nut- men zu verbessern. Wird das Arbeitseinkommen
zen erweisen. Schließlich sichert ein Arbeitseinkom- durch Teilzeitarbeit erzielt, sind viele auch dann nicht
men für die meisten den Zugang zu einer normalen motiviert, eine Vollzeitarbeit anzunehmen, wenn die-
Konsumtion. Einschränkungen dieser Konsumtion se ihr Einkommen über das sozial garantierte Mini-
sind nicht nur mit Frustration verbunden, es entsteht mum heben würde. Das Verhältnis von Mehraufwand
auch ein Gefühl der Deklassierung. und Mehrertrag erscheint dann insbesondere bei Ar-
Die bisher genannten Beschädigungen sind schließ- beiten, die ihrer intrinsischen Qualität nach eher ab-
lich oft nur der Anfang weiterer Leiden: Infolge der er- stoßend sind, nicht verlockend.
zwungenen Untätigkeit und der Verluste an Selbst- Diesem Motivationsverlust verspricht das Modell
sicherheit nimmt die Reizbarkeit der Menschen zu. eines bedarfsunabhängigen Grundeinkommens (vgl.
Arbeitslosigkeit führt fast immer zu Beziehungspro- z. B. Klesczewski 2013) entgegenzuwirken. Eben weil
blemen, oft zu Trennungen und in etlichen Fällen auch das garantierte Grundeinkommen nicht mit anderen
zu Alkoholismus oder zu genereller Depressivität. Einkommen verrechnet wird, lohnt sich die Aufnah-
Da Arbeitslosigkeit also als ein gravierendes Übel me einer jeden bezahlten Arbeit. Ein solches Grund-
empfunden wird, ist zu prüfen, ob eine Gesellschaft ei- einkommen scheint jedoch gegen eine zentrale Ge-
nem Teil ihrer Mitglieder dieses Los zumuten darf. rechtigkeitsintuition zu verstoßen: Es sei unfair, wenn
Hier stehen typischerweise marktwirtschaftliche Sys- Arbeitsfähige nicht für ihren Lebensunterhalt arbeite-
teme unter Rechtfertigungszwang, weil sie eine ten und sich diesen Lebensstil von ihren arbeitenden
zwangsweise Ausgliederung aus der Arbeitswelt nach Mitbürgern subventionieren ließen (Parijs 1991, 103).
Maßgabe ökonomischer Notwendigkeiten erlauben. Zwar beziehen auch die Arbeitenden das Grundein-
Allerdings ist für libertäre Anhänger dieser Wirt- kommen, doch werden sie zugleich so hoch belastet,
schaftsform schon die Frage nach der Zumutbarkeit dass aus ihren Steuern auch das Grundeinkommen
falsch gestellt, weil es ihnen zufolge in einer Markt- der Nichtarbeitenden finanziert werden kann. In mo-
wirtschaft gar keine erzwungene Arbeitslosigkeit gibt. dernen Gesellschaften kann ein solcher Transfer aller-
Wer in einer solchen überhaupt über Fähigkeiten ver- dings auch als Kompensation für einen Verzicht auf
fügt, mit denen er sich für andere nützlich machen die produktive Nutzung natürlicher Ressourcen be-
kann, und gleichwohl nicht arbeitet, ist freiwillig ar- griffen werden. Diese Argumentation basiert auf der
beitslos. Er ist einfach nicht bereit, seine Arbeitskraft Lockeschen These, dass die private Aneignung einer
55 Arbeit und Einkommen 347

herrenlosen Sache nur dann gerechtfertigt ist, wenn im Leistungsaustausch kann deshalb bei den Global-
dabei für alle anderen ebenso viel von gleicher Quali- theorien auch nicht unabhängig von den anderen Le-
tät zur Aneignung übrig bleibt (Locke 1689/1974, Kap. bensbereichen bestimmt werden. Wenn es im Rah-
V). Da in heutigen Gesellschaften keine herrenlosen men einer Globaltheorie etwa wichtig ist, Chancen-
natürlichen Ressourcen mehr zur Aneignung und gleichheit herzustellen, dann ist es für die Frage der
Nutzung zur Verfügung stehen, kann ein Grundein- Einkommensgerechtigkeit relevant, ob der Zugang zu
kommen als Kompensation für die Ausschließung Bildungseinrichtungen aus dem Arbeitseinkommen
von solchen Ressourcen gerechtfertigt werden (Parijs finanziert werden muss oder ob dieser durch andere
2005, 88 f.). In dieser Rechtfertigung wird jedoch ein gesellschaftliche Mechanismen sichergestellt wird. Zu
wichtiges Element ausgeblendet. Auch wenn jeder ein klären ist aus einer umfassenden Perspektive ferner,
gleiches Recht auf die Partizipation an den natürli- wie Arbeitsunfähige zu behandeln sind und wie die
chen Gütern hat, erfordern solche Güter stets Mühen Absicherung gegen Krankheitsrisiken erfolgt. In
der Aneignung oder Bearbeitung, um für jemanden Wirtschaftsordnungen, die einen Privatbesitz von
nützlich zu werden. Eben dieser Arbeitseinsatz wird Produktionsmitteln zulassen, entsteht zudem ein er-
in der Kompensationstheorie des Grundeinkommens heblicher Teil der Einkommen gar nicht aus Arbeit,
aber vernachlässigt, denn dieses sollen ja auch die er- sondern als Kapitalrendite oder infolge von erhebli-
halten, die schlicht keine Lust haben zu arbeiten. Das chen Erbschaften. Auch die so möglichen Ungleich-
Grundeinkommen kann so das Stigma des unverdien- heiten sind in einer umfassenden Gerechtigkeitstheo-
ten Vorteils nicht abstreifen. rie zu berücksichtigen. Jede Theorie des gerechten Ar-
Den Vorwurf der ungerechtfertigten Vorteilsge- beitseinkommens bedarf also der Ergänzung und Ein-
währung vermeiden alle Theorien, die nicht ein Er- bettung in andere Prinzipien. Sowohl die Frage nach
satzeinkommen, sondern die Arbeit selbst gerecht ver- dem gerechten Arbeitseinkommen wie die über den
teilen wollen. Diese gehen davon aus, dass in den meis- unmittelbaren Leistungsaustausch hinausgehenden
ten modernen Gesellschaften soziale Anerkennung Fragen werden von den konkurrierenden Globaltheo-
und Zugehörigkeit von dem Einschluss in die Arbeits- rien entsprechend ihren zentralen Axiomen – der
welt abhängig sind. Da die soziale Zugehörigkeit zu ei- Theorie der moralrelevanten Güter und dem Aggrega-
ner menschenwürdigen Existenz gehört, kann in sol- tionsprinzip – beantwortet. Der Streit zwischen die-
chen Gesellschaften ein Recht auf Arbeit kulturspezi- sen Theorien ist deshalb zuletzt als Streit über die Vor-
fisch begründet werden (Krebs 2002, Kap.VI; Schloth- züglichkeit eines dieser Axiome zu führen.
feldt 1999, Kap. IV). Ein solches Recht auf Arbeit kann Die Frage nach der Gerechtigkeit von Arbeitsein-
auch in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaf- kommen kann als isolierte Frage nur insofern behan-
ten in Form eines Rechts auf die Umverteilung von Ar- delt werden, als es um die Vergegenwärtigung von Ge-
beit realisiert werden. Hierbei wird nur die im Markt sichtspunkten geht, die für alle oder viele Theorien
tatsächlich nachgefragte Arbeit kostenneutral umver- hinsichtlich der Frage nach der spezifischen Gerech-
teilt. Wer von seiner Arbeitszeit abgeben muss, damit tigkeit von Arbeitseinkommen relevant sind. Diese
andere integriert werden oder bleiben, muss auch ent- Gesichtspunkte werden erkennbar, wenn man der fol-
sprechende Einkommenseinbußen akzeptieren. Dazu genden Frage nachgeht: Angenommen, die aus einer
ist allerdings zu zeigen, dass die infolge der Umvertei- umfassenden moralischen Perspektive notwendig zu
lung durch suboptimale Ressourcenallokation eintre- gewährleistenden Güter (Freiheiten, Chancen, Schutz
tenden Effizienzverluste sowie die dazu notwendigen vor Krankheit etc.) wären bereits durch gesellschaftli-
Beschränkungen der Vertragsfreiheit durch die Vortei- che Mechanismen in moralisch zufriedenstellendem
le überwogen werden (vgl. Pfannkuche 1996). Umfang gesichert, nach welchen Prinzipien sollen
dann die Arbeitseinkommen verteilt werden?
Hier sind vor allem die drei folgenden Gesichts-
Nach welchen Prinzipien sollen die als öko- punkte wichtig:
nomische oder Erwerbsarbeit anerkannten
Tätigkeiten entlohnt werden? Autonomie
Aus der Perspektive der Globaltheorien ist der öko- In allen modernen Moraltheorien spielt die Berück-
nomisierte Leistungsaustausch nur einer der gerecht sichtigung der Autonomie der Subjekte eine zentrale
zu regulierenden Lebensbereiche. Die Gerechtigkeit Rolle. Diese begreifen ihre Selbstbestimmung als ei-
348 V Anwendungsfragen

nen Wert, der in der Sphäre des Leistungsaustausches Anfangsverteilung voraus (Gosepath 2004, 84). Im
als Freiwilligkeit des Tauschens zu schützen ist: Jeder Zentrum stehen dabei die von den Subjekten angeeig-
muss die Gelegenheit haben, seinen Mitbürgern die neten und genutzten Ressourcen. Kontraktualistische
Leistungen anzubieten, die er gern erbringen möchte, Moralkonzeptionen benötigen deshalb eine Theorie
und jeder muss frei sein, die Leistungen eines anderen der gerechtfertigten primären Aneignung sowie der
in Anspruch zu nehmen oder nicht. Infolge dieser re- gerechtfertigten Weitergabe über Generationen (vgl.
lativen Freiheit der Nachfrager muss jeder für die von Nozick 1974, Kap. 7).
ihm produzierten Güter oder Dienstleistungen den
Preis akzeptieren, den seine Käufer freiwillig dafür zu
Eigenverantwortlichkeit
entrichten bereit sind. Bei einer Vielzahl von Anbie-
tern und Nachfragern von Arbeitsleistungen wird der Akteure unterscheiden zwischen Dingen, die ihnen
freie Austausch am ehesten und effizientesten durch zustoßen, und Zuständen, die sich infolge ihres eige-
einen von Monopolen freien Markt gewährleistet. nen Abwägens und Handelns für sie ergeben. Sie sind
Märkte sind nicht nur für Kontraktualisten essenziell, eher bereit, die Konsequenzen ihres Handelns zu tra-
sie sind auch für teleologische Theorien unverzicht- gen, als sie bereit sind, das Bestimmtwerden durch
bar, weil sich erst in den Interdependenzen marktför- Faktoren zu akzeptieren, die sie nicht zu verantworten
miger Strukturen zeigt, wie die Subjekte ihre Präferen- haben, wenn sie es für möglich halten, die Wirkungen
zen hierarchisieren. Erst in Märkten wird klar, wer an- dieser Faktoren zu neutralisieren. Hinsichtlich des
gesichts knapper Ressourcen was zu welchem Preis zu Leistungstausches sind dabei angeborene Talente und
leisten und zu kaufen bereit ist (vgl. Dworkin 1981, die Wirkungen des sozialen Umfelds von entschei-
286 f.). Hier tritt allerdings ein zentraler Unterschied dender Bedeutung. Beide Faktoren sind für die Ent-
zwischen kontraktualistischen und teleologischen wicklung von Fähigkeiten zentral. In marktwirtschaft-
Theorien hervor. lich organisierten Gesellschaften werden heraus-
In Letzteren hat der Marktprozess als ganzer nur ei- ragende Fähigkeiten bedeutsam für das erzielbare Ar-
nen instrumentellen Wert. Die Marktmechanismen beitseinkommen, denn in Marktprozessen wird der
sind nur insoweit akzeptabel, als sie der Realisierung Einsatz höherer Fähigkeiten ökonomisch gratifiziert,
des Globalzieles dienen. Die Orientierung an einem wenn sich mit diesen größere Werte schaffen lassen.
solchen Ziel kann dabei in Spannung zur Freiheit der Die Arbeit eines Verfahrenstechnikers, der einem Un-
tauschenden Subjekte geraten. Denn wann immer ei- ternehmen Energiekosten in Millionenhöhe erspart,
ne vorliegende Verteilung im Sinn eines teleologi- ist ökonomisch wertvoller als die eines Lagerarbeiters.
schen Prinzips gerechtfertigt ist, kann sie durch frei- Es ist deshalb für ein Unternehmen rational, dem
willige Tauschakte der Subjekte wieder aufgehoben Techniker ein vielfach höheres Gehalt als dem Lager-
werden. Teleologische Theorien müssen deshalb ver- arbeiter zu zahlen, sofern sich nicht ein anderer findet,
suchen, die im Markt möglichen Tauschprozesse von der eine gleichwertige Arbeitsqualität billiger anbietet.
vornherein so zu limitieren, dass die Abweichungen Diese prinzipiell nur durch das Grenzprodukt limi-
von der Idealverteilung möglichst klein bleiben. Er- tierte Talentrendite ist in einer Lesart der proportions-
gänzend kommen korrigierende Eingriffe in Frage, orientierten Gerechtigkeitsauffassung auch berech-
die die Freiheit der täglichen Tauschakte am wenigs- tigt: Wenn Leistung als ökonomischer Ertrag verstan-
ten behindern. So kann bei der Weitergabe von Ver- den wird, dann hat derjenige, der ökonomisch mehr
mögen an die nächste Generation die im Sinn der zum gesellschaftlichen Wohlstand beiträgt, auch mehr
Theorie erwünschte Verteilung durch ein entspre- Einkommen verdient. Aus der Autonomieperspektive
chendes Erbrecht befördert werden. stellt dies jedoch eine Benachteiligung der weniger Ta-
Dagegen ist in kontraktualistischen Theorien die lentierten infolge eines von ihnen nicht verantworte-
freie Übereinkunft der Subjekte das alleinige Legitimi- ten Umstands dar. Auf diese Weise werden die Subjek-
tätskriterium. Die in einem freien Markt hergestellte te in einem vermeidbaren Ausmaß der Lotterie der
Verteilung ist eo ipso gerecht. Um dem freien Aus- Natur oder der der Sozialisation unterworfen (Rawls
tausch eine so stark legitimierende Kraft zuschreiben 1971, § 12). Was sowohl aus der Autonomie- wie aus
zu können, müssen solche Theorien allerdings sicher- der Proportionsperspektive zu rechtfertigen ist, ist nur
stellen, dass die Subjekte das, was sie in den Tausch eine leistungsbezogene Einkommensdifferenzierung,
einbringen, auf moralisch einwandfreie Weise erwor- bei der Leistung als Anstrengung verstanden wird
ben haben. Tauschgerechtigkeit setzt eine gerechte (vgl. Dworkin 1981, 311 f.). Das ist mit einer markt-
55 Arbeit und Einkommen 349

wirtschaftlichen Ordnung partiell kompatibel, denn den Spielraum für spätere Umverteilungen vergrö-
was im Markt gratifiziert wird, sind in aller Regel nicht ßern. Auf einer zweiten Ebene kann dieses Motivati-
einfach Talente, sondern ausgereifte Fähigkeiten. Und onsgesetz aber nicht einfach als unveränderliche Ge-
deren Entwicklung liegt wenigstens partiell in der gebenheit hingenommen werden. Moralisch wün-
Verantwortung der Träger der Talente. Da der Markt schenswert ist es vielmehr, den Subjekten, wenn mög-
aber auch entwickelte Talente nicht entsprechend der lich, eine Handlungsdisposition anzuerziehen, die sie
darin investierten Anstrengung, sondern nur den befähigt, ihre Fähigkeiten auch ohne Distinktions-
ökonomischen Wert einer Tätigkeit gratifiziert, müs- gewinne einzusetzen.
sen anstrengungsfrei erworbene Vorteile verhindert Umstritten ist zudem, ob so gerechtfertigte Un-
oder korrigiert werden. Das Bestreben, solcherart un- gleichheiten noch mit der Gerechtigkeit vereinbar
verdiente Einkommen zu verhindern, wird jedoch da- sind oder ob es sich dabei um nur prudentielle Effi-
durch erschwert, dass eine präzise Bestimmung des zienzerwägungen handelt (Tugendhat 1993, 385 f.).
selbstverantworteten Anteils am Umfang der eigenen Zur effizienten Ressourcenallokation ist schließlich
Fähigkeiten kaum möglich ist. Daraus können zwei auch das Theorem des abnehmenden Grenznutzens
Konsequenzen gezogen werden: zu berücksichtigen. Dieses besagt, dass ein Ressour-
Einerseits kann man die Suche nach einem reinen cenzuwachs das Wohlbefinden einer Person umso we-
Anstrengungs- und Leistungskern, nach einer ver- niger vermehrt, je mehr eine Person bereits von dieser
dienstbegründenden Lichtung der Selbstverantwor- Ressource besitzt. Das gilt auch für die Universalres-
tung im Dickicht der kausalen Kontingenzen für ver- source Geld. Zwar können mit dieser eine Vielzahl
fehlt halten und demzufolge ganz darauf verzichten, von Bedürfnissen und Wünschen befriedigt werden,
die ökonomischen Erfolge oder Misserfolge ganzheit- aber innerhalb jeder Bedürfnisart ist dann wieder das
lich zu verstehender Persönlichkeiten einer egalisie- Phänomen des abnehmenden Nutzens zu beobachten.
renden Gerechtigkeitskorrektur zu unterwerfen (Kers- Unabhängig davon, ob das normative Ziel einer Theo-
ting 2000, 226 f.). rie nun darin besteht, den Gesamtnutzen zu maximie-
Anderseits kann man trotz unsicherer Grenzen an ren oder alle auf möglichst hohem Niveau gleich gut
der Korrekturbedürftigkeit der unverdienten Vor- zu stellen, bei der Einkommensverteilung ist das
und Nachteile festhalten und eine pauschale Redistri- Grenznutzentheorem zu beachten. Dessen Berück-
butionsstrategie anwenden, die etwa der Vermutung sichtigung erschwert die Rechtfertigung größerer Res-
folgt, dass der Anteil des durch Eigenleistung verdien- sourcenungleichheiten. Je größer diese sind, desto un-
ten Anteils am Einkommen umso geringer ist, je hö- wahrscheinlicher ist es, dass sie nötig sind, um das Ziel
her das Einkommen ist (Gosepath 2004, 404). Für die der Moral zu erreichen.
letztere Sicht spricht, dass die meisten auch im Straf-
recht die Konstruktion von Zonen der Verantwort-
lichkeit, innerhalb derer eine Strafe als verdient gilt, Ausblick
für vertretbar halten.
Der gegenwärtig geführte Streit um die richtige Ver-
teilung von Einkommen und Arbeit ist zum größten
Effizienz
Teil auf zugrunde liegende und voneinander abwei-
Unabhängig davon, wie es mit der Verantwortlichkeit chende Theorien zurückzuführen. Da eine Überwin-
der Subjekte für ihr Handeln steht, scheint es empi- dung der fundamentalen Differenzen nicht zu erwar-
risch plausibel, dass die Zulässigkeit von marktgene- ten ist, scheint es mittelfristig lohnend, die zwischen
rierten Ungleichheiten die Leistungsmotivation der den Theorien mögliche Überlappungszone zu iden-
Wirtschaftssubjekte erhöht. Solange an den dadurch tifizieren und nach Möglichkeiten zu deren Auswei-
erzeugten Vorteilen alle partizipieren, wäre die Ver- tung zu suchen. Das erscheint umso dringender, als
hinderung der entsprechenden Einkommensdifferen- im Zeitalter der Globalisierung nicht nur Theorien he-
zen ein Akt des levelling down – man gäbe für alle terogener Kulturen zu berücksichtigen sind, sondern
mögliche Vorteile um größerer Gleichheit willen auf. zugleich auch normativ stark voneinander abwei-
Wenn Individuen mehr leisten, wenn bestimmte Un- chende Gesellschaftsordnungen in größere funktio-
gleichheiten erlaubt sind, dann ist es auf einer ersten nale Abhängigkeiten eintreten. Hier kommt es ver-
Ebene sogar für Egalitaristen sinnvoll, solche Un- mehrt zu Warentransfers, die zugleich die Grenzen
gleichheiten zuzulassen, weil die so erzeugten Güter moralischer Erwartungen überschreiten. Dabei treten
350 V Anwendungsfragen

Systeme mit unterschiedlich hohen oder abweichend 56 Armut


akzentuierten sozialen Absicherungsleistungen und
-erwartungen in ökonomische Konkurrenz zueinan- Armut und die Frage nach sozialer Gerechtigkeit
der. Wenn die Austauschprozesse zwischen solchen (s. Kap. II.18) stehen zweifellos in einem engen Zu-
Systemen der Logik des Marktes überlassen werden, sammenhang. Wie dieser genau konzipiert werden
erzwingt dies mittelfristig eine Angleichung der So- muss, ist jedoch umstritten und Gegenstand einer
zialordnungen. Aber wie weit ist solche Angleichung umfangreichen Debatte. Zwar wird mehrheitlich zu-
moralisch wünschenswert? In welchem Umfang muss gestanden, dass vermeidbare Armut ein Gerechtig-
und kann die Möglichkeit soziokultureller Selbst- keitsproblem darstellt. Kontrovers diskutiert wird da-
bestimmung gewahrt bleiben, wenn Individuen und gegen, wann genau sie vorliegt und welche Akteure
Kapital sich zunehmend der Einbindung in national- aus Gründen der Gerechtigkeit oder aus anderen mo-
staatliche Verteilungsordnungen entziehen (vgl. Mil- ralischen Gründen welche Verantwortung für ihre Be-
ler 2008, Kap. 12)? Was wären insbesondere im Hin- kämpfung tragen. Diese Uneinigkeit ist gewiss auch
blick auf die moralisch geforderte Integration aller in darauf zurückzuführen, dass der Gerechtigkeitsbegriff
die Arbeitswelt die Prinzipien eines legitimen Protek- sowie der Begriff der Armut jeweils zu den wesentlich
tionismus sowohl hinsichtlich der Güter wie hinsicht- umstrittenen Termini (vgl. dazu Gallie 1955/56) gehö-
lich migrationswilliger Personen? ren. Trotz ihrer unterschiedlichen Abstraktionsgrade
und Verwendungslogiken ist der Gehalt beider Begrif-
Literatur fe umkämpft, da sie in Form von evaluativen und prä-
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. v. Olof Gigon. Zü- skriptiven Urteilen Verwendung finden, die als solche
rich/München 2000. kontrovers sind, und da sie jeweils auf komplexe so-
Dworkin, Ronald: What is equality? Part 2: Equality of re-
sources. In: Philosophy and Public Affairs 10/4 (1981),
ziale Zusammenhänge beziehbar sind und sich his-
283–345. torisch wandeln. Wie Urteile über die (Un-)Gerech-
Friedman, Milton: Kapitalismus und Freiheit. München 2004 tigkeit eines Weltausschnittes haben daher auch Ur-
(engl. 1962). teile über real existierende Armut nicht nur eine em-
Gosepath, Stefan: Gleiche Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. pirische, sondern stets auch eine irreduzible normative
2004.
Komponente.
Kersting, Wolfgang (Hg.): Politische Philosophie des Sozial-
staates. Weilerswist 2000. Weil der Begriff der Armut umstritten ist, fällt es
Klesczewski, Diethelm (Hg.): Von der Idee des Gemeinbesit- schwer, eine nicht kontroverse Definition anzugeben.
zes zum Projekt eines unbedingten Grundeinkommens. Armut lässt sich zwar allgemein als ein Mangelzustand
Münster 2013. von Gesellschaftsmitgliedern definieren. Doch der
Krebs, Angelika: Arbeit und Liebe. Frankfurt a. M. 2002. Preis für den konsensualen Charakter dieser Definiti-
Locke, John: Über die Regierung. Stuttgart 1974 (engl. 1689).
on ist ihre Vagheit, denn sie ist in mehrfacher Hinsicht
Marx, Karl: Kritik des Gothaer Programms. Berlin 1972.
Miller, David: Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Frankfurt unterbestimmt. Erstens wird mit ihr noch offengelas-
a. M./New York 2008 (engl. 1999). sen, woran es Gesellschaftsmitgliedern genau man-
Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. New York 1974. geln muss, um als arm zu gelten. Offensichtlich wird
Olsaretti, Serena: Children as public goods. In: Philosophy Armut aber nicht durch jede Form des Mangels, son-
and Public Affairs 41/3 (2013), 226–258. dern nur durch ganz bestimmte Entbehrungen im Le-
Parijs, Phillippe van: Why surfers should be fed. In: Philoso-
phy and Public Affairs 20/2 (1991), 101–131.
bensstandard konstituiert, für die zusätzliche Krite-
–/Vanderbrought, Yannick: Ein Grundeinkommen für alle? rien in Anschlag zu bringen sind. Zweitens ist zu klä-
Frankfurt a. M./New York 2005. ren, ob Armut stets ein absoluter Mangel an etwas ist,
Pfannkuche, Walter: Gibt es ein Recht auf Arbeit? In: Rechts- wie im Fall des von Entwicklungspolitikern geprägten
philosophische Hefte 5 (1996), 97–113. Begriffs der absoluten Armut, oder ob es sich im Rah-
Rawls, John: A Theory of Justice. Cambridge MA 1971.
men einer Auslegung des Begriffs der relativen Armut
Schlothfeldt, Stephan: Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethi-
sches Problem. Freiburg 1999. auch um einen Zustand der relativen Entbehrung
Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M. handeln kann, der aus einem bestimmten Ungleich-
1993. heitsverhältnis zwischen den in Armut und den nicht
Walzer, Michael: Sphären der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. in Armut lebenden Menschen innerhalb ein und des-
1992. selben sozialen Kontextes herrührt.
Walter Pfannkuche Mit Blick auf all diese Fragen gibt es ein breites
Spektrum von divergierenden Positionen. Im Folgen-
56 Armut 351

den geht es zunächst um Kriterien der Armutsvermes- heit hat keinen sicheren Zugang zu lebenswichtigen
sung und damit darum, wie der durch absolute und re- Medikamenten (vgl. WHO 2004, 61). Diesen extre-
lative Armut konstituierte Mangelzustand genauer men Entbehrungen steht ein spektakulärer materieller
theoretisch zu fassen ist. Anschließend stehen Krite- Überfluss am anderen Ende des Einkommensspek-
rien der Armutsverantwortung im Fokus, die spezifi- trums gegenüber. Vermutlich gab es in der Geschichte
zieren sollen, wer durch Armut aus Gründen der Ge- der Menschheit noch nie so viel Reichtum und Wohl-
rechtigkeit und/oder aus anderen moralischen Grün- stand wie heute und dementsprechend auch noch kei-
den zum Handeln aufgefordert ist. ne quantitativ ähnlich gewaltige materielle Ungleich-
heit. Die globale Einkommensungleichheit zwischen
Individuen ist derzeit mit einem geschätzten Gini-Ko-
Kriterien der Armutsvermessung effizienten von 0,7 extrem hoch – höher als die Un-
gleichheit in Südafrika und Brasilien, die im Moment
Wie viele Menschen leben derzeit in Armut? Diese die Liste der Länder mit den größten Einkommens-
schlichte Frage stellt sowohl die empirische Sozialfor- ungleichheiten anführen (vgl. Milanovic 2011, 151;
schung als auch die normative Theoriebildung vor be- gemäß der Definition des Gini-Koeffizienten bezeich-
trächtliche Herausforderungen. Denn für die Vermes- net der Minimalwert 0 einen Zustand vollkommener
sung von Armut bedarf es bezeichnenderweise nicht Gleichheit und der Maximalwert 1 jenen Zustand der
nur verlässlicher empirischer Daten, sondern auch der größtmöglichen Ungleichverteilung, in dem eine Per-
Konzipierung und Anwendung einer überzeugenden son alles besäße und die anderen gar nichts). Ein wei-
Armutsmetrik im Rahmen einer Theorie darüber, wo- terer Indikator für die extreme weltweite Einkom-
ran es Menschen in Armut genau mangelt. Auf einer mensungleichheit zwischen Individuen ist, dass die
noch vortheoretischen Ebene fehlt es jedoch gewiss obersten zehn Prozent derzeit 56 Prozent und die un-
nicht an einprägsamen Beispielen für Armut und die tersten zehn Prozent gerade einmal 0,7 Prozent des
mit ihr verbundenen Arten von teils extremen Ent- globalen Gesamteinkommens beziehen (vgl. ebd.,
behrungen. Durch global vernetzte Medien und neue 152). Diese beispielhaft angeführten Daten geben auf-
Technologien wird die Menschheit heute mit Bildern grund der mit globalen Schätzungen dieser Art ver-
und Informationen über Armut in einem bis dato bundenen Unsicherheiten keine genauen Größen,
noch nicht bekannten Ausmaß konfrontiert. Das be- sondern nur eine grobe Tendenz an. Auch müssten sie
trifft nicht nur die mediale Berichterstattung über durch andere Zahlen insbesondere zu innerstaatlicher
akute und häufig menschengemachte Katastrophen Armut und Ungleichheit ergänzt werden, um ein fa-
und ihre Folgen wie Bürgerkriege, Hungersnöte, pre- cettenreicheres Bild der Lage zu Beginn des 21. Jahr-
käre Behausungen, Epidemien und Flüchtlingsströme hunderts zu zeichnen. Doch spätestens an dieser Stelle
(s. Kap. V.69) über Kontinente hinweg. Auch chro- ist den theoretischen Grundlagen für die systemati-
nische und relative Armut, die nur bedingt zur Sensa- sche Bewertung solcher und anderer Datenerhebun-
tionsberichterstattung taugt, wird in ihren unter- gen nachzugehen.
schiedlichen Formen auf vielfältige Weise medial the- Eine Armutsmetrik ist ein evaluativer Standard, auf
matisiert und wissenschaftlich untersucht. dessen Grundlage sich Populationen in arme und
Wie gravierend die Lage der weltweit am schlech- nicht arme Menschen einteilen lassen, wobei es sich
testen gestellten Menschen ist, lässt sich mit folgenden um einen Schwellenstandard oder auch um einen
Daten exemplarisch veranschaulichen: Laut Weltbank komparativen, d. h. auf Ungleichheiten innerhalb von
mussten im Jahr 2008 weltweit 2471 Millionen Men- Populationen bezogenen Standard handeln kann. Mo-
schen mit weniger als 2 Dollar pro Tag und 1289 Mil- netäre Metriken, wonach Menschen in Armut leben,
lionen mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag auskom- wenn sie eine bestimmte Einkommensgrenze unter-
men (Chen/Ravaillon 2012, 6). Die Zahl der unter- schreiten oder wenn ihre Konsumausgaben unter ei-
ernährten Menschen bewegt sich seit Jahrzehnten na- ner festgelegten Grenze liegen, stellen trotz aller an ih-
he der Grenze von einer Milliarde (FAO 2010, 8). Ca. nen immer wieder geäußerten Kritik vermutlich im-
884 Millionen Menschen fehlt es am Zugang zu saube- mer noch die am häufigsten verwendete Art von Ar-
rem Trinkwasser, 2,5 Milliarden am Zugang zu sanitä- mutsmaßstab dar. Ein bekanntes Beispiel sind die
ren Einrichtungen (UNICEF/WHO 2008, 32 bzw. 7). Weltbank-Armutsgrenzen von 1,25 Dollar pro Tag
Geschätzte 774 Millionen Erwachsene sind Analpha- bzw. 2 Dollar pro Tag, die schon allein deshalb bedeut-
beten (UNESCO 2014, 4). Fast ein Drittel der Mensch- sam sind, weil sie derzeit den einzigen durchgängigen
352 V Anwendungsfragen

Standard bilden, der dem Anspruch nach die Zahl der aber der relativen Armut. Relative Armut und mate-
weltweit in extremer bzw. schwerer Armut lebenden rielle Ungleichheit müssen in der Tat begrifflich aus-
Menschen angibt. Diese beiden im Laufe der Zeit einandergehalten werden (vgl. Sen 1981, 15). Dies be-
mehrmals modifizierten Armutsziffern werden häufig deutet aber weder, dass Armut gar keine komparative
für die Beurteilung eines vermeintlichen Fortschritts Dimension hat, wodurch der Begriff der relativen Ar-
bei der Reduzierung von globaler Armut herangezo- mut hinfällig würde, noch dass eine materielle Un-
gen. Ihre Aussagekraft ist jedoch in Zweifel gezogen gleichheit auf hohem Niveau stets unproblematisch
worden (vgl. die Diskussion in Anand/Segal/Stiglitz ist. Weil Menschen ihre Lebensqualität stets auch in
2010 und Wisor 2011). Erstens wird moniert, dass die einem Vergleich mit ihren Mitmenschen beurteilen
Zahlen von in extremer bzw. schwerer Armut leben- und weil mit bestimmten Formen der materiellen Un-
den Individuen mit Hilfe so genannter Kaufkraftpari- gleichheit problematische Formen der Exklusion der
täten ermittelt werden, deren Berechnung Warenkör- Schlechtergestellten einhergehen, sind für die Bemes-
be zugrunde liegen, die für das Leben von Menschen sung von Armut relative Entbehrungen ergänzend zu
in extremer Armut nicht repräsentativ sind, da diese absoluten Entbehrungen in den Blick zu nehmen, wo-
viele der in ihnen enthaltenen Güter gar nicht kon- bei letztere den Kern des Phänomens ausmachen (vgl.
sumieren können. Zweitens basieren die Weltbank- ebd., 17). Noch wichtiger ist aber, dass die monetäre
zahlen auf Haushaltsbefragungen, was zur Kaschie- Dimension von Armut weder hinsichtlich absoluter
rung von Ungleichverteilungen innerhalb der Haus- noch relativer Entbehrungen verabsolutiert werden
haltseinheit zuungunsten schwächerer Familienmit- darf. Denn bei der Vermessung von Armut müssen
glieder und insbesondere von Frauen und Kindern insbesondere auch nicht rein monetär erfassbare As-
führen kann. Drittens setzt die Weltbank die Armuts- pekte wie der Zugang zu angemessener Nahrung und
grenzen sehr niedrig an und trägt dadurch womöglich Bekleidung und zu kollektiven Gütern wie sauberer
zur allgemeinen Unterschätzung des Weltarmutspro- Luft und Trinkwasser und nicht zuletzt die Gesund-
blems bei. Viertens lassen selbst die verlässlichsten In- heit (s. Kap. V.63) und Bildung (s. Kap. V.58) von Men-
formationen über das Einkommen von Individuen schen erfasst werden. Monetäre Indikatoren sind da-
nur bedingt Schlüsse auf die Lebensqualität dieser her in das richtige Verhältnis zu anderen Gesichts-
Menschen zu, weil Unterschiede in der individuellen punkten für die Lebensqualität von Menschen in Ar-
Veranlagung und im gesellschaftlichen Umfeld be- mut zu bringen.
trächtlichen Einfluss darauf haben, welche Finanzmit- Amartya Sen ist ein Pionier der Kritik an ein-
tel jeweils tatsächlich für ein menschenwürdiges Le- dimensionalen monetären Armutsmetriken und hat
ben vonnöten sind. besonders durch den in Zusammenarbeit mit Martha
Dieser vierte Kritikpunkt ist allgemeiner Art. Er Nussbaum entwickelten Fähigkeitenansatz (Capability
betrifft nicht nur die Weltbankmetrik und die ihr zu- Approach) dazu beigetragen, dass Armut heute in der
grunde liegende Art der Datenerhebung, sondern mo- Entwicklungs- und Sozialpolitik zunehmend als
netäre Armutsmetriken generell – auch solche zur Be- multidimensionales Phänomen und Problem begrif-
messung von relativer Armut. Diese wird häufig ge- fen wird (vgl. für einen Überblick Sen 2000; Nuss-
mäß einer Verhältnisbestimmung zum jeweiligen baum 2011). Der Fähigkeitenansatz dient nicht nur als
Durchschnittseinkommen in einer Gesellschaft er- Maßstab für die Bemessung von Armut, sondern von
mittelt, wobei dann diejenigen als relativ ›arm‹ gelten, menschlichem Wohlergehen insgesamt. Er steht in
deren Einkommen etwa um 50 oder 60 Prozent unter Kontrast zu einer Reihe konkurrierender Armuts-
dem Durchschnitt liegt. An dieser Art der Bemessung und Wohlergehensmetriken, darunter neben den
der Zahl der in relativer Armut lebenden Menschen schon diskutierten monetären Metriken besonders
wird manchmal kritisiert, dass sie nicht universal an- welfaristische, güterbasierte und bedürfnisbasierte Be-
wendbar ist, da ansonsten auch diejenigen Gesell- messungsstandards.
schaftsmitglieder in einem hypothetischen Szenario Abgesehen von den in ihrer Verabsolutierung be-
als arm und in der Tat als ärmer als zuvor gelten müss- reits diskreditierten monetären Metriken ist der Kon-
ten, deren Einkommen auf sehr hohem Niveau sta- trast zwischen dem Welfarismus und dem Fähigkei-
gniert, während das gesellschaftliche Durchschnitts- tenansatz am größten. Welfaristische Ansätze sehen
einkommen anwächst. In diesem nicht besonders rea- die grundlegende Maßeinheit im individuellen Nut-
litätsnahen Beispiel handelte es sich jedoch nur um ei- zen. Aus der Sicht der Fähigkeitentheoretikerin ist die
ne Vergrößerung der Einkommensungleichheit, nicht Orientierung am Nutzen (bzw. an Lust oder Glück in
56 Armut 353

älteren Formulierungen) jedoch aufgrund der Subjek- um Möglichkeiten der Realisierung von für ein gutes
tivität dieser Kategorie problematisch. Denn Men- Leben unentbehrlichen Funktionsweisen geht, de-
schen passen ihre Präferenzen und Glücksvorstellun- finiert er Armut als einen Mangel an Fähigkeiten zur
gen ihren jeweiligen Umständen an, was in der Ent- Realisierung ebendieser basalen Funktionsweisen
wicklungsökonomie als Problem der adaptiven Präfe- (vgl. Sen 2000, 110).
renzen bekannt ist. Nicht zuletzt bei Menschen am Bedürfnisbasierte Armutsmetriken weisen eine ge-
Rande des Existenzminimums lässt sich eine Anpas- wisse Nähe zur Fähigkeitenperspektive auf, wenn Be-
sung von Präferenzen an widrige Lebensumstände be- dürfnisse nicht einfach subjektivistisch als das ver-
obachten. In diesem Fall kann jedoch selbst unter Be- standen werden, was Menschen faktisch jeweils wol-
dingungen der generellen Abwesenheit von äußerem len, sondern objektivistisch als darauf bezogen, was
Zwang plausiblerweise nicht mehr von Freiheit in ei- sie zum guten Leben (s. Kap. IV.42) benötigen, wobei
nem anspruchsvollen Sinn (von ›positiver‹ im Gegen- auch soziale und politische Umstände Berücksichti-
satz zu bloß ›negativer‹ Freiheit) gesprochen werden, gung finden (vgl. die Aufsätze in Brock 1998). Auf-
da die Wahl zwischen einzelnen Handlungsoptionen grund dieser Nähe ist es nicht erstaunlich, dass auch
auf gravierende Weise selbst extern beschränkt ist die Fähigkeitentheoretikerin Nussbaum den Bedürf-
(vgl. Sen 2000, 81 f.). Deshalb reicht die Orientierung nisbegriff selbst häufiger affirmativ verwendet (vgl.
an der Erfüllung subjektiver Präferenzen für die Be- Nussbaum 1999, 260). Dennoch kann gegenüber be-
messung des Lebensstandards nicht aus. Vielmehr be- dürfnisbasierten Theorien der Einwand erhoben wer-
darf es einer objektiven Maßeinheit, die eine bessere den, dass die grundlegende Orientierung am Bedürf-
Richtschnur für die Bemessung des Lebensstandards nisbegriff im Gegensatz zum Fähigkeitenbegriff zur
in verschiedenen sozialen Arrangements liefert. Zwar problematischen Degradierung von Menschen zu
hat es auch im Rahmen des Welfarismus seit An- passiven Empfängern von Hilfeleistungen führt. Der
beginn Versuche gegeben, ›Glück‹ bzw. ›Nutzen‹ ob- Kontrast zu güterbasierten Ansätzen ist in jedem Fall
jektiv zu bestimmen (vgl. dazu schon John Stuart klarer und anders gelagert. Gesellschaftlicher Fort-
Mills Version des qualitativen Utilitarismus). Aus der schritt oder Rückschritt wird innerhalb güterbasierter
Perspektive des Fähigkeitenansatzes sind jedoch Ansätze an der individuellen Verfügbarkeit bestimm-
menschliche Fähigkeiten (engl. capabilities) die geeig- ter Bündel materieller und nicht-materieller Güter
nete Metrik zur Bestimmung des Lebensstandards. (bzw. ›Ressourcen‹, s. Kap. V.71) festgemacht. Ein pro-
Fähigkeiten werden dabei als Möglichkeit der Reali- minentes Beispiel für einen güterbasierten Ansatz ist
sierung bestimmter als wertvoll angesehener Funk- die von John Rawls im Rahmen seiner politischen Ge-
tionsweisen verstanden, wie u. a. eine angemessene rechtigkeitskonzeption eingesetzte Grundgüterme-
Nahrungsmittelversorgung zu haben, medizinisch be- trik, die soziale Allzweckgüter formuliert, die für die
treut zu werden, lesen und schreiben zu können und Verfolgung ganz unterschiedlicher Lebenspläne nütz-
ein möglichst langes Leben zu führen. Dem Fähigkei- lich sind (vgl. z. B. Rawls 1975, 111–115). Damit liegt
tenansatz geht es jedoch letzten Endes nicht darum, der Schwerpunkt in Rawls’ Theorie nicht auf intrin-
dass Menschen stets im Einklang mit solchen intrin- sisch wertvollen Lebensvollzügen, sondern auf der
sisch wertvollen Funktionsweisen leben, sondern dass Verteilung instrumentell wertvoller Güter. Auch die
sie die Fähigkeiten im Sinne positiver Freiheiten dazu Grundgütermetrik erfüllt auf ihre Weise das Desiderat
haben. Denn Menschen können sich auch aus freien einer multidimensionalen Perspektive, da Rawls zu
Stücken dafür entscheiden, eine grundlegende Funk- den Grundgütern (primary goods) nicht nur materiel-
tionsweise nicht zu realisieren, obwohl sie die Mög- le Güter wie Einkommen und Vermögen, sondern
lichkeit dazu haben. Ein prominentes Beispiel, das Sen auch immaterielle Güter zählt, darunter eine Reihe
und Nussbaum zur Erläuterung dieser Unterschei- von politischen und sozialen Grundrechten und
dung häufiger anführen, sind die Fälle von fastenden Grundfreiheiten und in Gestalt von beruflichen Er-
oder freiwillig in den Hungerstreik tretenden Per- folgschancen sowie den sozialen Grundlagen der
sonen, die jeweils die Fähigkeit haben, sich angemes- Selbstachtung auch zwei genuin komparative Grund-
sen zu ernähren, was sie von Hunderten von Millio- güterkategorien.
nen von Unterernährten auf dieser Erde unterschei- Die Frage nach den Vorzügen und Nachteilen des
det, die durch ihre Lebensumstände zum Hungern ge- Fähigkeitenansatzes im Vergleich zu güterbasierten
zwungen sind (vgl. u. a. Sen 2000, 97, 346; Nussbaum Ansätzen werden kontrovers diskutiert (s. Kap. IV.43).
2011, 25). Da es dem Fähigkeitenansatz zufolge also Sen und Nussbaum kritisieren an der Grundgüterme-
354 V Anwendungsfragen

trik, dass diese nicht sensitiv genug sei für die indivi- nem gesellschaftlichen Kontext verteilt sein soll
duelle Konvertierbarkeit von Grundgütern in Funk- (s. Kap. II.12). Uneinigkeit besteht in der zeitgenössi-
tionsweisen durch verschiedene Gesellschaftsmitglie- schen Diskussion nicht nur über die Metrik der Ge-
der. Körperlich stark behinderte Menschen benötigen rechtigkeit (ob also z. B. Grundgüter, Fähigkeiten oder
z. B. andere materielle Güter, um mobil zu sein, als Bedürfnisse die Bemessungsgrundlage darstellen sol-
Nicht-Behinderte, was die Frage aufwirft, ob solche len) und die angemessene Verteilungsfunktion, son-
Gerechtigkeitsprobleme mit der Grundgütermetrik dern auch darüber, ob die Reichweite von Normen so-
angemessen konzeptualisiert werden können. Im Ge- zialer Gerechtigkeit in Zeiten der Globalisierung
genzug wird der Grundgüteransatz bisweilen mit dem überhaupt noch auf einzelne, ehemals meist in einem
Verweis darauf verteidigt, dass nur er eine Metrik be- nationalstaatlichen Kontext konzipierte Gesellschaf-
reitstelle, die die Neutralitätsanforderungen einer ge- ten eingeschränkt werden kann und welche Gerech-
nuin politischen Gerechtigkeitskonzeption erfülle, tigkeitsnormen eine globale Reichweite haben (s. Kap.
während der Fähigkeitenansatz keine genuin politi- II.17). Das Spektrum der in der Theorie und Praxis
sche normative Metrik darstelle, da in der Praxis eine vorgeschlagenen normativen Standards für die ge-
essentialistische Rangordnung verschiedener Fähig- rechte Gestaltung sozialer Kontexte ist dementspre-
keiten nötig werde. Im Unterschied zu Nussbaum (vgl. chend breit. Es umfasst mit Blick auf die Verteilungs-
u. a. Nussbaum 2011, 33 f.) hat Sen jedoch ausdrück- funktion einerseits Schwellenstandards unterschiedli-
lich keine konkrete Fähigkeitenliste vorgeschlagen chen Inhalts, wonach ein vertikales Minimum für alle
und in späteren Arbeiten die Rolle des öffentlichen Gesellschaftsmitglieder notwendig und hinreichend
Vernunftgebrauchs für die Anwendung des Fähigkei- für die Realisierung von Gerechtigkeit im jeweiligen
tenansatzes betont (vgl. u. a. Sen 2010). sozialen Kontext ist, und andererseits komparative
Trotz aller Differenzen besteht zwischen dem Fä- Standards, wonach soziale Kontexte bestimmte und
higkeitenansatz, bedürfnisorientierten und güterori- zum Teil recht anspruchsvolle Verteilungsvorgaben
entierten Ansätzen auch ein großes Einigungspoten- für erlaubte und nicht erlaubte Ungleichheiten erfül-
tial. Sie alle erfüllen auf ihre Weise das Desiderat der len müssen. Auch zur Reichweite und zu den Gel-
Multidimensionalität und teilen die Ansicht, dass Le- tungsgründen von Gerechtigkeitsnormen gibt es eine
bensqualität in verschiedenen Dimensionen wie Er- ganze Bandbreite unterschiedlicher Positionen (vgl.
nährung, Gesundheit, Bildung und politischer Mit- hierzu u. a. Broszies/Hahn 2010; Beck 2016).
bestimmung ermöglicht werden muss. Sie alle for- Der Zusammenhang von Armut und Gerechtigkeit
dern, dass es der Gestaltung sozialer Strukturen be- ist jedoch wohlgemerkt weniger umstritten als Ge-
darf, die Zugang zu Gütern gewährleisten, so dass rechtigkeitsfragen insgesamt. Denn trotz aller tiefgrei-
grundlegende Fähigkeiten realisiert und elementare fenden theoretischen Streitpunkte stellt es einen weit-
menschliche Bedürfnisse erfüllt sind. Uneinigkeit be- gehenden Konsens dar, dass vermeidbare Armut eine
steht allein darüber, welcher dieser drei Aspekte in Ungerechtigkeit markiert, auch wenn es umstritten
diesem Zusammenhang die grundlegende Einheit zur bleibt, aus welchen Gründen dies so ist. Während auf
Bemessung von Lebensqualität – bzw. von Armut als der Grundlage von Schwellenkonzeptionen erst die
einem Mangel an derselben – darstellt. Unterschreitung einer Schwelle das Gerechtigkeits-
problem darstellt, bildet aus der Perspektive kompara-
tiver Konzeptionen bereits das durch Armut entstan-
Kriterien der Armutsverantwortung dene Ausmaß der Ungleichheit ein solches Problem –
wobei Ungleichheiten demnach selbst dann ein Ge-
Im Folgenden geht es zunächst um das Verhältnis von rechtigkeitsproblem markieren können, wenn keine
Gerechtigkeit und Armut und anschließend um die Armut im absoluten oder relativen Sinn mehr vor-
Frage nach der Reichweite und dem Gewicht von Ar- liegt. Robert Nozicks Libertarismus (s. Kap. III.32)
mutsverantwortung bzw. von Pflichten gegenüber stellt vielleicht die einzige ernsthaft diskutierte zeitge-
Menschen in Armut (für die komplexe und kontrover- nössische Position dar, der zufolge selbst schwere Ar-
se Frage nach dem Verhältnis des Pflichtbegriffs zum mut nicht zwangsläufig ein Gerechtigkeitsproblem
Verantwortungsbegriff vgl. Beck 2016, Kap. II). Ein darstellen muss – nämlich genau dann nicht, wenn die
Gerechtigkeitsstandard enthält in der Regel Angaben Menschen, denen es am Notwendigsten mangelt, auf-
zur Metrik sowie zur Verteilungsfunktion, die be- grund ›gerechter‹ Aneignungs- und Übertragungs-
stimmt, wie die jeweilige Bemessungsgrundlage in ei- vorgänge keine libertaristisch begründeten Eigen-
56 Armut 355

tumsansprüche an die Gemeinschaft oder einzelne (vgl. besonders Singer 2007 und 2009 sowie zur kriti-
Mitglieder derselben stellen können (vgl. Nozick schen Diskussion die Beiträge in Bleisch/Schaber
1974). Nozicks Kritiker haben auf die fehlende Plausi- 2007; Bleisch 2010; Mieth 2012; Beck 2016). Bes-
bilität seiner Grundannahmen verwiesen sowie da- sergestellte sind nach Singer moralisch dazu ver-
rauf, dass seine libertäre Theorie unter den von ihr pflichtet, einen beträchtlichen Anteil ihrer materiel-
selbst formulierten Bedingungen für Aneignungs- len Ressourcen für die Bekämpfung von extremer
und/oder Übertragungsungerechtigkeit, die in der und schwerer Armut einzusetzen – paradigmatisch in
Weltgeschichte offenbar den Regelfall darstellt, jede Form von Geldspenden an einschlägige Hilfsorga-
diagnostische Aussagekraft verliert. nisationen. Für diese Schlussfolgerung hat Singer u. a.
Die inhaltliche Bestimmung von Armutsverant- die berühmt-berüchtigte Teichanalogie herangezo-
wortung ist stark mit der theoretischen Diskussion gen, wonach die Relation Bessergestellter zu Men-
rund um die Metrik, die inhaltlichen Standards, die schen in extremer und schwerer Armut in moralischer
Reichweite und die Geltungsgründe von Gerechtig- Hinsicht analog zur Relation eines Passanten zu einem
keitsnormen verbunden. Armutsverantwortung stellt Kind zu beurteilen sei, das in einem Teich zu ertrin-
sich mit anderen Worten anders dar, je nachdem, wel- ken drohe (erstmalig in Singer 2007). Ist diese absicht-
cher übergreifende Standpunkt zu diesen gerechtig- lich provokante und zum Nachdenken anregende
keitstheoretischen Unterfragen genau vertreten wird. Analogie jedoch auch angemessen? Wird sie den in
Dabei ist zumindest der Rahmen von Armutsverant- moralischer Hinsicht relevanten Aspekten beider ›Si-
wortung innerhalb von politischen Einheiten wie dem tuationen‹ gerecht? Es gibt eine Reihe von Gründen,
Nationalstaat aufgrund des skizzierten Einigungs- die dafür sprechen, dass die beiden ›Situationen‹ in
potentials darüber, dass Armut ein Gerechtigkeitspro- moralischer Hinsicht nicht analog sind, darunter die
blem darstellt, noch vergleichsweise konsensual be- unterschiedliche Erfolgsgewissheit und Zahl von po-
stimmbar. In vager Anlehnung an John Rawls’ Modell tentiellen Helfern bzw. Spendern und Hilfebedürfti-
der natürlichen Pflichten der Gerechtigkeit (vgl. Rawls gen. Der wohl wichtigste Unterschied liegt jedoch da-
1975, v. a. § 19 und 51) kann allen Gesellschaftsmit- rin, dass das Verhältnis von Privilegierten gegenüber
gliedern eine Verantwortung zur Erhaltung und För- Menschen in extremer Armut letzten Endes schon
derung gerechter Institutionen zugeschrieben wer- deshalb nicht mit interpersonalen Szenarien dieser
den, was vor dem Hintergrund der meisten Gerechtig- Art veranschaulicht werden sollte, weil dies dem
keitskonzeptionen die Verantwortung zur Bekämp- strukturellen Charakter des Armutsproblems gar
fung und Abschaffung von Armut impliziert. Damit nicht gerecht werden kann. Dies spricht keineswegs
bleibt aber noch eine ganze Bandbreite von An- dagegen, dass Gutsituierte Hilfspflichten gegenüber
schlussfragen ungeklärt, darunter solche zur Ausdiffe- Menschen in extremer Armut haben, wohl aber dafür,
renzierung des Verhältnisses von Kollektiv- und Indi- dass für sie anders argumentiert werden muss. Bei
vidualverantwortung (vgl. u. a. die Beiträge in Gerber/ Singer macht sich eine gewisse Strukturvergessenheit
Zanetti 2010) und zu Szenarien unvollständiger Kon- bemerkbar; diese ist gerade angesichts wirkmächtiger
formität, in denen eine signifikante Zahl von Verant- Interdependenzen wirtschaftlicher und ökologischer
wortungssubjekten den ihnen jeweils zukommenden Art, die auch implizite Rollenzuweisungen wie dieje-
Part nicht übernimmt (vgl. Miller 2011). nige der Helfer und Hilfebedürftigen in Zweifel zie-
Noch komplexer und zugleich kontroverser wird hen, problematisch. Singers präferenzutilitaristische
die Debatte über Armutsverantwortung bei der Be- Perspektive auf das Weltarmutsproblem ist rein ergeb-
stimmung von Verantwortungsbeziehungen über nisorientiert und blendet die Frage nach den Ursa-
kleinere und größere politische Einheiten hinweg. Ei- chen für die Entstehung und Perpetuierung von Ar-
nen Schwerpunkt bildet in der zeitgenössischen Dis- mut zunächst aus, auch wenn diese Frage in der Beur-
kussion die Frage, welche Verantwortung bzw. Pflich- teilung der Effektivität von Hilfe auch im Rahmen sei-
ten die Privilegierten dieser Welt gegenüber den Men- nes Ansatzes am Ende eine Rolle spielt. Während es
schen in extremer Armut haben. Peter Singers nun bei Singer keine klare Trennlinie zwischen einer Ar-
schon einige Jahrzehnte altes Argument für an- mutsverantwortung aus Humanitäts- und aus Gerech-
spruchsvolle und umfangreiche Hilfspflichten von tigkeitsgründen gibt, wird dieser Unterschied in der
Gutsituierten gegenüber Menschen in akuten und zeitgenössischen Theoriebildung zu Fragen globaler
chronischen Notlagen bildet dabei immer noch einen Gerechtigkeit intensiv diskutiert.
wichtigen, aber auch vielkritisierten Referenzpunkt In diese Diskussion gehört auch Thomas Pogges
356 V Anwendungsfragen

These, dass es zunächst einmal um die Anerkennung schen und politischen Beziehungen im globalen Zeit-
der Verletzung negativer Pflichten durch Besser- alter einen nicht zu vernachlässigenden Anteil an der
gestellte gegenüber Menschen in extremer Armut ge- Reproduktion von extremer und schwerer Armut ha-
he (vgl. Pogge 2011). Pogge wird oft etwas missver- ben. Ergänzend oder auch alternativ zu globalen Schä-
ständlich als Antipode zu Singer dargestellt, obwohl er digungsrelationen wird zudem das Profitieren von der
gar nicht bestreitet, dass es positive Pflichten zur Ar- Weltarmut bzw. von ihren strukturellen Hintergrund-
mutsbekämpfung gibt (vgl. u. a. Pogge 2005, 66). Viel- bedingungen bei der Bestimmung der moralischen
mehr könne bei einer Reaktion auf eine Schädigungs- Relation von Privilegierten zu Menschen in extremer
relation aufrichtigerweise auch nicht von ›Hilfe‹ im Armut in den Blick genommen (vgl. Pogge 2011;
genuinen Sinn, sondern allenfalls von Kompensation Bleisch 2010, 128–134).
gesprochen werden. Diese Schädigungsthese geht auf Unklar ist, ob die Verteidigung der Schädigungs-
zwei Grundmotive zurück. Pogge macht erstens gel- these tatsächlich nur auf solche Prämissen minimaler
tend, dass die Pflichten Privilegierter gegenüber Men- Art angewiesen ist, auf die sich selbst Libertäre eini-
schen in extremer Armut schwerwiegender sind, gen können. Denn bei genauerem Hinsehen stützt
wenn sie nicht nur positiver, sondern auch negativer sich diese These auf gerechtigkeitstheoretische An-
Art sind. Zweitens soll die Schädigungsthese für eine nahmen, die zumindest für hartgesottene Libertäre,
Erweiterung der argumentativen Ressourcen sorgen, die wie Nozick die Orientierung an Prinzipien der
durch die selbst libertär Gesinnte, die dem Gedanken strukturierten Verteilung anprangern, nicht mehr
von Hilfspflichten kritisch gegenüberstehen, von ihrer akzeptabel sein dürften (vgl. Nozick 1974, 155–164).
Verpflichtung gegenüber Menschen in extremer Ar- Da das rechtslibertäre Denken offenbar nicht einmal
mut überzeugt werden könnten. als Orientierungspunkt für die Formulierung eines
Pogges Argumentationsstrategie geht jedoch dem kleinsten gemeinsamen Nenner taugt, ist es vermut-
Anschein nach nicht ganz auf. Zwar wird deutlich, lich besser, ihm von Beginn an den Status eines ernst
dass die Konzeptualisierung des Verhältnisses Privile- zu nehmenden Konterparts abzusprechen und seine
gierter zu Menschen in extremer Armut allein in Be- inakzeptablen Prämissen klar zu benennen.
griffen der gebotenen Hilfe irreführend ist. In diesem
Punkt ist Pogge recht zu geben. Denn die angekreidete
Perspektive blendet die Verflechtung von Pflichtsub- Aktuelle Herausforderungen für die Theorie
jekten und -adressaten in ein System gemeinsam ge- der Armutsbemessung und Armutsverant-
teilter ökonomischer und politischer Institutionen wortung
aus, das einen Anteil an der Perpetuierung von extre-
mer Armut hat und das deshalb bei der Vermessung Es zeigte sich, dass nicht erst die Zuschreibung von
von Armutsverantwortung Berücksichtigung finden Armutsverantwortung, sondern schon die Vermes-
muss. Dies ist zunächst einmal ein begrifflicher Punkt, sung von Armut auf normative Kriterien angewiesen
der unabhängig von der stärker empirieabhängigen ist, die als solche vermutlich immer bis zu einem ge-
Frage ist, welchen genauen Anteil die von Pogge ins wissen Grad umkämpft bleiben. In der aktuellen De-
Visier genommene globale institutionelle Ordnung an batte geht es diesbezüglich vermehrt um Fragen der
der Reproduktion von Armut hat. Aus der richtigen Ausdifferenzierung einzelner Bemessungsgrundlagen
Distanzierung von einem ›explanatorischen Nationa- und ihr Verhältnis zueinander (vgl. u. a. Brighouse/
lismus‹ (vgl. u. a. Pogge 2011, 177–183), der Armut al- Robeyns 2010). Für die genauere Messung von globa-
lein auf politische und wirtschaftliche Bedingungen in ler Armut muss eine alternative multidimensionale
Nationalstaaten zurückführt, folgt jedenfalls keines- Armutsmetrik etabliert werden, welche die aus den
wegs schon die zweite Extremposition, wonach jedes skizzierten Gründen unbefriedigende monetäre Welt-
Auftreten von extremer Armut auf die Eigenschaften bankmetrik ablösen kann. Zwar gibt es in Gestalt des
der Weltordnung zurückgeht. Einen solchen ›explana- Human Development Index (HDI) und des Gender-re-
torischen Globalismus‹ weist jedoch selbst Pogge, lated Development Index (GDI) schon seit Längerem
wenn auch etwas halbherzig, zurück (vgl. Pogge 2005, zwei verwandte Metriken, die keine rein monetäre Be-
76). Trotz der offenen Frage nach den genauen struk- messungsgrundlage haben und auch die Gesundheit
turellen Ursachen der Weltarmut bleibt die Transzen- und den Bildungsstand in einzelnen Ländern (und im
dierung der Sprache der Hilfe ein wichtiges Anliegen, Fall des GDI sogar geschlechtsspezifische Ungleich-
solange es als sicher gelten kann, dass die ökonomi- heiten) mit berücksichtigen. Der HDI und GDI sind
56 Armut 357

jedoch nicht auf Individuen, sondern auf den Ent- den Ländern gehen, sondern diese muss zur Verant-
wicklungsstand einzelner Länder bezogen und kön- wortung von kollektiven und korporativen Akteuren
nen zudem innerstaatliche materielle Ungleichheiten wie Staaten, Nichtregierungsorganisationen und Un-
nicht angemessen abbilden. Der gesuchte alternative ternehmen (s. Kap. V.78) in ein richtiges Verhältnis
Bemessungsstandard muss nicht nur sensitiv für ge- gesetzt werden. Trotz der tiefgreifenden Meinungs-
schlechtsspezifische Unterschiede (s. Kap. V.62) sein, unterschiede in diesem Diskurs besteht Grund zu der
sondern auch eine verlässliche Grundlage für die Ein- Hoffnung, dass zumindest eine Einigung auf eine Mi-
schätzung der chronologischen Entwicklung der Zahl nimalverantwortung individueller und kollektiver
der in extremer und schwerer Armut lebenden Indivi- Subjekte möglich ist, die einen Konsens über die an-
duen abgeben. Die praktische Bedeutung eines sol- haltende Dringlichkeit des Weltarmutsproblems ein-
chen Projekts kann gar nicht genug hervorgehoben schließt.
werden. Denn die genauere Messung von globaler Ar-
mut wird auch zu einem besseren Verständnis ihrer Literatur
vielfältigen Ursachen und der mit ihr einhergehenden Alkire, Sabina/Foster, James E./Seth, Suman/Santos, Maria
existenziellen Probleme führen, was wiederum eine Emma/Roche, Jose M./Ballon Paola: Multidimensional
Poverty Measurement and Analysis: Chapter 5 – The Alki-
Vorbedingung für die Implementierung von effekti- re-Foster Counting Methodology. Oxford Poverty & Hu-
veren Strategien der Armutsbekämpfung ist. In Ge- man Development Initiative Working Paper No. 86
stalt z. B. der Alkire-Foster Method (vgl. Alkire et al. (2015). In: http://www.ophi.org.uk/multidimensional-po-
2015) wurde jüngst eine neue Bemessungsgrundlage verty-measurement-and-analysis-chapter-5-the-alkire-
vorgeschlagen, die den skizzierten Anforderungen an foster-counting-methodology/ (27.1.2015).
Anand, Sudhir/Segal, Paul/Stiglitz, Joseph (Hg.): Debates on
die Bemessung von globaler Armut wie insbesondere
the Measurement of Global Poverty. Oxford 2010.
ihrer Multidimensionalität besser gerecht werden soll. Beck, Valentin: Eine Theorie der globalen Verantwortung.
Auch die Bestimmung von Armutsverantwortung Was wir Menschen in extremer Armut schulden. Berlin
und besonders der grenzüberschreitenden normati- 2016.
ven Relationen von Bessergestellten zu Menschen in Bleisch, Barbara: Pflichten auf Distanz. Berlin 2010.
extremer Armut erwies sich in gleich mehrfacher –/Schaber, Peter (Hg.): Weltarmut und Ethik. Paderborn
2007.
Hinsicht als ein komplexes Unterfangen. Erstens sollte
Brighouse, Harry/Robeyns, Ingrid (Hg.): Measuring Justice.
die Zuschreibung von Armutsverantwortung auf ei- Primary Goods and Capabilities. Cambridge 2010.
ner konsensfähigen Armutsdefinition sowie idealer- Brock, Gillian (Hg.): Necessary Goods. Our Responsibilities to
weise auch auf gesicherten empirischen Erkenntnis- Meet Others’ Needs. Oxford 1998.
sen über die Ursachen von extremer, schwerer und re- Broszies, Christoph/Hahn, Henning (Hg.): Globale Gerech-
lativer Armut aufbauen, wobei innerstaatliche und tigkeit. Berlin 2010.
Chen, Shaohua/Ravaillon, Martin: An update to the World
globale Ursachen und Hintergrundbedingungen in Bank’s estimates of consumption poverty in the develo-
ein angemessenes Verhältnis zu bringen sind. Zwei- ping world (2012). In: http://siteresources.worldbank.org/
tens verweist die Frage nach Armutsverantwortung INTPOVCALNET/Resources/Global_Poverty_Up-
letzten Endes auf die weit verästelte Debatte über die date_2012_02-29-12.pdf (4.8.2016).
Subjekte, die Geltungsgründe, die Reichweite, die Food and Agriculture Organization (FAO): The State of Food
Insecurity in the World 2010. Rom 2010.
Metrik, die Inhalte und Adressaten von Gerechtig-
Gallie, W. B.: Essentially contested concepts. In: Proceedings
keitsforderungen in einer globalisierten Welt (vgl. für of the Aristotelian Society 56 (1955/56), 167–198.
einen Überblick die Beiträge in Broszies/Hahn 2010 Gerber, Doris/Zanetti, Veronique (Hg.): Kollektive Verant-
sowie Beck 2016). Auch diese Debatte ist keineswegs wortung und internationale Beziehungen. Berlin 2010.
ausgeschöpft und reproduziert auch nicht nur norma- Mieth, Corinna: Positive Pflichten. Über das Verhältnis von
tive Differenzen, wie sie in der Diskussion über inner- Hilfe und Gerechtigkeit in Bezug auf das Weltarmutspro-
blem. Berlin 2012.
staatliche Gerechtigkeit seit jeher zutage treten. Un- Milanovic, Branko: The Haves and the Have-Nots. New York
geklärt sind beispielsweise noch immer das genaue 2011.
Verhältnis und das jeweilige Gewicht von Gerechtig- Miller, David: Taking up the slack? Responsibility and justi-
keitsforderungen zwischen den Mitgliedern kleinerer ce in situations of partial compliance. In: Zofia Stemplow-
politischer Einheiten und solchen zwischen Weltbür- ska/Carl Knight (Hg.): Responsibility and Distributive Jus-
tice. Oxford 2011, 230–245.
gern über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Dabei
Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. New York 1974.
kann es auch nicht nur um die Theoretisierung der Nussbaum, Martha: Nicht-relative Tugenden: Ein aristote-
Verantwortung ›gewöhnlicher Bürger‹ in wohlhaben-
358 V Anwendungsfragen

lischer Ansatz. In: Dies.: Gerechtigkeit oder Das gute Le- 57 Behinderung
ben. Hg. von Herlinde Pauer-Studer. Frankfurt a. M. 1999,
227–264 (engl. 1993). Historisch betrachtet wird das Thema Behinderung
–: Creating Capabilities. The Human Development Approach.
Cambridge MA 2011. in der Philosophie, deren Mainstream sich auf das
Pogge, Thomas: Severe poverty as a human rights violation. Konzept des rationalen und autonomen Menschen
In: Ethics & International Affairs 19/1 (2005), 55–83. konzentriert, stiefmütterlich behandelt. Insbesondere
–: Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopolitische Verant- Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen er-
wortung und Reformen. Berlin 2011 (engl. 2008). scheinen in philosophischen Gerechtigkeitstheorien
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
nicht als aktive Träger und Subjekte moralischer An-
1975 (engl. 1971).
Sen, Amartya: Poverty and Famines. An Essay on Entitlement sprüche, sondern allenfalls als Mitglieder eines Per-
and Deprivation. New York 1981. sonenkreises, der Anspruch auf Kompensation un-
–: Ökonomie für den Menschen. München 2000 (engl. 1999). verdienter Nachteile hat. Ausführlich diskutiert wird
–: Die Idee der Gerechtigkeit. München 2010 (engl. 2009). das Thema Behinderung vorwiegend in der Tier- und
Singer, Peter: Hunger, Wohlstand und Moral. In: Barbara Bioethik (Buchanan et al. 2000; McMahan 2005; Scul-
Bleisch/Peter Schaber (Hg.): Weltarmut und Ethik. Pader-
born 2007, 37–51 (engl. 1972).
ly 2008; Singer 2009), häufig allerdings in abgrenzen-
–: The Life You Can Safe. Acting Now to End World Poverty. der Absicht. Peter Singer (2009) etwa versucht durch
New York 2009. den Vergleich der kognitiven Fähigkeiten höher ent-
United Nations Children’s Fund (UNICEF)/World Health wickelter Tiere mit denen kognitiv beeinträchtigter
Organization (WHO): Progress on Drinking Water and Menschen für Tierrechte zu argumentieren.
Sanitation – Special Focus on Sanitation. New York 2008.
Die Marginalisierung des Themas Behinderung in
United Nations Educational, Scientific and Cultural Organi-
zation (UNESCO): Education for All Global Monitoring Gerechtigkeitstheorien hat damit zu tun, dass in klassi-
Report. Teaching and Learning: Achieving Quality for All. schen Gerechtigkeitstheorien überwiegend davon aus-
Paris 2014. gegangen wird, dass ein Kriterium für Anerkennung
World Health Organization (WHO): The World Medicines von Gerechtigkeitsansprüchen Reziprozität oder zu-
Situation. Geneva 2004. mindest Kooperationsfähigkeit ist. John Rawls bei-
Wisor, Scott: Measuring Global Poverty. Toward a Pro-Poor
Approach. London 2011.
spielsweise geht sowohl in seiner Theorie der Gerechtig-
keit (1971/1979) als auch in seiner Schrift Politischer
Valentin Beck Liberalismus (1996/1998) davon aus, dass die Parteien,
die im Urzustand über die Gerechtigkeitsprinzipien
entscheiden und die Verteilung von Rechten und
Chancen regulieren, keine Behinderungen aufweisen.
Von normalen Fähigkeiten auszugehen, erlaubt seiner
Ansicht nach »einen klaren und unverstellten Blick auf
das, was für uns die grundlegende Frage politischer
Gerechtigkeit ist: Welche ist die angemessenste Ge-
rechtigkeitskonzeption, um faire Kooperationsbedin-
gungen für Bürger zu formulieren, die als freie und
gleiche und lebenslang uneingeschränkt kooperative
Gesellschaftsmitglieder betrachtet werden?« (Rawls
1998, 86). Um als Subjekte von Gerechtigkeitsansprü-
chen gelten und moralische Rechte in Anspruch neh-
men zu können, müssen Menschen in dieser Sichtwei-
se also moralische Akteure sein und gegebenenfalls
auch die Pflichten zur Gerechtigkeit übernehmen. Ins-
besondere Menschen mit kognitiven Beeinträchtigun-
gen erscheinen so nicht als Subjekte von Gerechtig-
keitsansprüchen. Wenn sie bei der Verteilung von Res-
sourcen und Gütern theoretisch überhaupt berück-
sichtigt werden, dann ergeben sich die Forderungen
nicht aus Gerechtigkeitserwägungen, sondern viel-
mehr aufgrund von Mitleidsüberlegungen.
57 Behinderung 359

In jüngster Zeit wird die weitgehende Marginalisie- angeborene Behinderungen im Blick haben und diese,
rung von Menschen mit Behinderungen in Gerechtig- basierend auf einem medizinischen Modell von Be-
keitstheorien allerdings immer häufiger kritisiert hinderung, als Form unverschuldeten Pechs, als so ge-
(Carlson 2009; Eurich 2008; Feder Kittay 1999; Grau- nanntes bad brute luck betrachten (Dworkin 1981).
mann 2011; Nussbaum 2010; Reinders 2000; Wolff Behinderung ist ein individuelles Schicksal. Men-
2009). Um diese Kritik in ihrem Kontext verstehen zu schen mit Behinderungen können nichts dafür, dass
können, werden in einem ersten Schritt zwei in der sie behindert sind, und weil sie aufgrund ihrer Behin-
Debatte häufig angeführte Behinderungsmodelle vor- derung an unverdienten Folgen wie Arbeitslosigkeit
gestellt und hinsichtlich ihrer Konsequenzen für Ge- leiden, sollen sie hierfür eine Kompensation erhalten,
rechtigkeitstheorien thematisiert. Anschließend kom- beispielsweise in Form einer Rente. In Gerechtigkeits-
men die groben Leitlinien einer ›inklusiven‹ Gerech- theorien erscheinen sie damit häufig einzig als Objek-
tigkeitstheorie zur Sprache. Als Beispiel eines solchen te respektive Empfänger von Gerechtigkeit und nicht
Zugangs wird der Capability Approach (Fähigkeiten- als Subjekte, die ihre Ansprüche autonom geltend ma-
ansatz) von Amartya Sen und Martha Nussbaum vor- chen können und sowohl Rechte als auch Pflichten ha-
gestellt. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf ben. Denn durch die Annahme einer gleichen Aus-
offene Fragestellungen im Kontext von Behinderung gangslage aller Beteiligten – beispielsweise im Rawls-
und Gerechtigkeit. schen Urzustand – und der Verschiebung der Thema-
tik der Aushandlung von Gerechtigkeitsansprüchen
auf die Ebene der Praxis gelten Menschen mit Behin-
Modelle von Behinderung derung auf der Ebene der Theorie nicht mehr als mo-
ralische Subjekte in einem starken Sinne. Behin-
Alltagssprachlich haben wir ein ausreichend genaues derung wird als praktisches und als individuelles Pro-
Verständnis davon, was eine Behinderung ist: Wir blem betrachtet, dessen Linderung oder Lösung
identifizieren eine Person mit sichtbarem Down-Syn- hauptsächlich in der Kompensation für erlittenes Leid
drom als behindert, während wir eine Person, die kei- gesucht wird.
ne Auffälligkeiten zu haben scheint, nicht ohne weite- Problematisch an dieser Sichtweise sind nach An-
res als behindert bezeichnen würden. Auf den zweiten sicht der Vertreter eines dem medizinischen Modell
Blick allerdings ist weit weniger klar, was eine Behin- kritisch gegenüberstehenden ›sozialen Modells von
derung ist: Sozialrechtlich betrachtet ist Behinderung Behinderung‹ (Oliver 1996) vor allem zwei Dinge:
etwa an eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben Erstens wird Behinderung von ihren sozialen Bezü-
in der Gemeinschaft geknüpft (Welti 2005). Da aber gen weitgehend entkoppelt. Umweltfaktoren treten
umstritten und kontingent ist, wann die Teilhabe einer weder als für eine Behinderung ursächliche noch als
Person am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt beeinflussende Faktoren auf. Die Ausprägung einer
ist und wann nicht, wird das Problem mit Rückgriff auf Behinderung ist aber keineswegs zwingend stabil und
rehabilitative Kategorien und medizinisches Wissen im Individuum verankert. Sie kann beeinflusst wer-
gelöst (Felkendorff 2003). In der Literatur wird dieser den, beispielsweise durch die endogene Entwicklung
Zugang meist als ›medizinisches Modell von Behin- der Person, durch einen Wechsel in einen anderen so-
derung‹ bezeichnet. Eine Behinderung ist demnach zialen Kontext, durch therapeutische, technische oder
ein stabiles, intrinsisch bedingtes und individuelles pädagogische Eingriffe oder durch den Wandel der
Merkmal eines Menschen, das von einer als normal er- Normalitätserwartungen innerhalb eines bestimmten
achteten Funktionsfähigkeit abweicht. So ist Hören Kontextes sowie der merkmalsbezogenen Normen
oder Sehen eine Funktionsfähigkeit des menschlichen selbst (Felkendorff 2003). Ferner sind Fälle vorstellbar,
Körpers, und da blinde oder gehörlose Menschen diese in denen tatsächlich umweltbedingte oder soziale
Funktionsfähigkeit nicht aufweisen, gelten sie als be- Faktoren ursächlich für eine Behinderung sind. Zu
hindert respektive als in der Teilhabe am Leben in der nennen sind hier beispielsweise Fälle extremer
Gesellschaft, die zu weiten Teilen von einer sehenden Schüchternheit, die sich zu einer sozialen Phobie und
und hörenden Mehrheit geprägt ist, beeinträchtigt. damit einer Form psychischer Behinderung ent-
Auch wenn klassische Gerechtigkeitstheorien ihre wickeln kann. Zweitens sind auch die gerechtigkeits-
Auffassung von Behinderung nicht offen thematisie- theoretischen Folgen dieser Sichtweise nach dem so-
ren respektive den Begriff Behinderung meist nicht zialen Modell problematisch: Denn als Gerechtig-
definieren, kann ihnen entnommen werden, dass sie keitsforderung im engeren Sinn taucht höchstens
360 V Anwendungsfragen

noch die Kompensation des unverdienten Pechs auf. Gerechtigkeitstheorien ist, dass Gerechtigkeitsansprü-
Dies wiederum ist aus zwei Gründen fragwürdig: Ers- che auch dann verletzt sind, wenn elementare Grund-
tens scheint Kompensation nicht alle Gerechtigkeits- bedürfnisse von Menschen nicht erfüllt sind. Men-
forderungen zu umfassen. Forderungen nach Nicht- schen benötigen bestimmte Güter zu ihrer Subsistenz,
diskriminierung oder Umgestaltung der Umwelt, so zu ihrer grundlegenden Erhaltung und als Grund-
dass sie zugänglich ist für Menschen mit Behinderun- bedingung dafür, überhaupt ein den menschlichen Be-
gen, sind damit nicht gemeint. Und zweitens kann dürfnissen angemessenes Leben führen zu können.
Kompensation selbst als diskriminierend und stigma- Die Art und Weise der Befriedigung von Grund-
tisierend erlebt werden. Insbesondere Elizabeth An- bedürfnissen kann nicht oder nur in begrenztem Maße
derson (1999) hat in ihrer Kritik des ›Luck Egalitaria- frei gewählt werden.
nism‹ (s. Kap. III.39) darauf hingewiesen, dass in vie- Die Sphäre sozialer Gerechtigkeit ist daher in in-
len Gerechtigkeitsansätzen eine herablassende Hal- klusiven Gerechtigkeitstheorien weiter als in einer
tung gegenüber Menschen mit Behinderungen zum klassischen Ausrichtung. Sie beginnt nicht erst dort,
Ausdruck kommt. Den Vertretern des Luck Egalita- wo Subjekte die Kriterien für Reziprozität erfüllen,
rianism zufolge, so Andersons Argumentation, müss- sondern bereits bei den Voraussetzungen, die für ein
ten Menschen mit Behinderungen zuerst beweisen, gutes Leben notwendig sind. Aus einer so ausgerichte-
dass sie keine Verantwortung dafür tragen, in dieser ten Gerechtigkeitstheorie müssen Menschen mit Be-
Lage zu sein, und deswegen ein Anrecht auf angemes- hinderungen nicht zuerst exkludiert werden, um sie
sene Kompensation haben. Dies versetze sie in die Po- dann in einem zweiten Schritt über Kompensation für
sition von Bittstellern, die auf Gnade hoffen können. unverdientes Pech oder über gerechtigkeitsfremde
Überdies beruhe diese Auffassung auf kontroversen Motive wie Mitleid wieder zu inkludieren. Sie sind
Annahmen über die Verantwortlichkeit für die eigene von vornherein eingeschlossen. Die Antwort auf die
Lebenssituation. Ihrer Ansicht nach sollte die Frage, Frage, wer als Gerechtigkeitssubjekt anzuerkennen ist,
welche Ressourcen Menschen aus Gründen sozialer hat also weitreichende Folgen für Menschen mit Be-
Gerechtigkeit zugestanden werden sollen, direkt auf hinderungen sowie auch direkt für die Ausgestaltung
das Leben gerichtet sein, das Menschen führen kön- von Gerechtigkeitstheorien.
nen, und damit nicht von der Beantwortung der Frage Eine solchermaßen konzeptualisierte Gerechtig-
nach einem möglichen Verschulden abhängig sein. keitstheorie ist beispielsweise der von Amartya Sen
und Martha Nussbaum (Nussbaum 2006/2010; Sen
2009/2010) entworfene Capability Approach, der ak-
Grundzüge inklusiver Gerechtigkeits- tuell große Verbreitung findet.
theorien

Einige Gerechtigkeitstheorien, die alle Menschen mit Der Capability Approach als Beispiel
Behinderungen als Träger moralischer Ansprüche se- einer inklusiven Gerechtigkeitstheorie
hen, setzen als Ziel sozialer Gerechtigkeit die Ermögli-
chung eines guten Lebens (Schramme 2006; Wolff Im Zentrum der Theorie von Sen und Nussbaum
2009). Adressaten von Gerechtigkeitsforderungen steht die Befähigung zu einem guten menschlichen
sind in solchen Theorien alle Wesen, die substanziell Leben. Die Vorstellung von Gerechtigkeit als aus-
leiden können. Diese Auffassung von Gerechtigkeit ist schließlich austeilender und ausgleichender Gerech-
anders als in klassischen Theorien nicht reziprozitäts- tigkeit wird abgelehnt. Sen und Nussbaums Theorie
orientiert, sondern direkt an Subjekten und ihren Be- ist demgegenüber getragen von der Überzeugung,
dürfnissen ausgerichtet (Buchanan 1990). Das heißt, dass Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit die Diver-
sie stellt den Menschen als Wesen mit bestimmten Be- sität menschlicher Lebensformen berücksichtigen
dürfnissen und daraus folgenden Ansprüchen auf de- müssen und nicht erst in einem zweiten Argumenta-
ren Befriedigung ins Zentrum ihrer Überlegungen tionsschritt hinzunehmen dürfen. Der Capability Ap-
und trägt infolgedessen nicht die Beweislast, zeigen zu proach richtet seinen Blick daher direkt darauf, was
müssen, dass Menschen die für Gerechtigkeitsansprü- Menschen mit den Gütern, die sie erhalten, tun und
che notwendigen Fähigkeiten wie Kooperations- oder sein können, sowie darauf, welche substanziellen
Reziprozitätsfähigkeiten besitzen. Freiheiten sie haben, ein Leben ihrer Wahl zu führen.
Die intuitive Annahme hinter solchen inklusiven Es zählen nicht nur die Güter und Ressourcen, die
57 Behinderung 361

Menschen mit Behinderungen zur Verfügung stehen, Ungerechtigkeit aufgrund ihrer sozialen Stellung in
sondern auch ihr Gebrauch: Für viele Menschen mit der Gesellschaft. Durch die Art und Weise, wie ver-
Behinderungen spielt nicht nur eine Rolle, ob ihr An- schiedene Institutionen und Praktiken der Gesell-
teil an einem Gut in einem abstrakten Sinne gerecht schaft funktionieren, sind die Möglichkeiten behin-
ist, sondern auch, was sie damit wirklich anfangen derter Menschen beim Erreichen eines guten Lebens
können. Dies ist die Frage nach substanzieller Ge- eingeschränkt. Versteht man die Herausforderungen,
rechtigkeit. Menschen mit Behinderungen haben bei- denen Menschen mit Behinderungen bei der Füh-
spielsweise häufig ein Konversionsproblem (Kuklys rung eines guten Lebens gegenüberstehen, als man-
2005). Das bedeutet, dass sie mit derselben Menge gelnde Übereinstimmung zwischen den Vorausset-
und demselben Inhalt an Gütern weniger anfangen zungen und Merkmalen der Personen (wie ihren Ta-
können als andere Menschen. Aus diesem Grund be- lenten oder körperlichen wie psychischen Fähigkei-
nötigen sie andere und auch mehr Güter. Der Capabi- ten) und der dominanten sozialen Struktur der
lity Approach lenkt die Aufmerksamkeit hin zu ver- Gesellschaft, ihren Praktiken, Normen und ästheti-
schiedenen Formen externer Ressourcen. Diese sind schen Standards, dann rücken gerade auch letztere
dann nicht einzig als kompensatorischer Ausgleich an Strukturen in den Fokus von Gerechtigkeitsüber-
die Folgen einer Schädigung geknüpft – wodurch legungen. Die Beseitigung von Ungerechtigkeit bein-
Menschen mit Behinderung tendenziell in einen infe- haltet laut Young dann auch das Herausfordern von
rioren Status versetzt werden, weil sie als Bittstellerin- Normen und Regeln von Institutionen, welche die
nen und Bittsteller Güter einfordern müssen –, son- Freiheitsgrade und Lebenschancen von Menschen
dern direkt an die Voraussetzungen für ein gutes Le- prägen und die Lebenswirklichkeit betroffener Men-
ben für alle Bürger einer Gesellschaft, bei denen die schen als abweichend charakterisieren.
Ausgangslagen ungleich sind, die aber alle Anrecht Eine Gerechtigkeitstheorie, welche auf die substan-
auf das Erreichen eines gelingenden oder guten Le- ziellen Freiheiten von Menschen zum Erreichen von
bens haben. Wohlergehen fokussiert, muss daher auch die tatsäch-
Zweitens wirft der Ansatz ein Licht darauf, dass lichen Möglichkeiten zur Entwicklung persönlicher
Menschen mit Behinderungen auch an einer Einbuße Fähigkeiten und Fertigkeiten analysieren und die Fra-
jener substanziellen Freiheit leiden, ein Leben nach ge beantworten, wie und in welcher Weise diese gesell-
ihrer Wahl zu führen. Nur ein Teil dieses Mangels an schaftlich-strukturell geprägt werden.
substanzieller Freiheit ist einem Mangel an internen
Ressourcen (wie Talent oder physischer Kraft) oder ei-
nem Mangel an externen Ressourcen (wie Einkom- Ausblick
men oder Bildung) geschuldet (Hull 2009). Zu einem
bedeutenden Teil sind die Probleme, ein gutes Leben Gerade das Beispiel Behinderung verdeutlicht, dass
führen zu können, auch der Struktur der Gesellschaft, Fragen der Anerkennung von Menschen, der Macht
den Einstellungen von Menschen sowie dem Aufbau von Menschen und Institutionen über andere Men-
verschiedener Institutionen der Gesellschaft geschul- schen sowie die Grundlagen interpersoneller Verglei-
det. So sind etwa die Zugänglichkeit von Gebäuden che von erheblicher Relevanz für Fragen der Gerech-
und Dienstleistungen und die Regelungen dieses Zu- tigkeit, ja für die Vorstellung und Reichweite von Ge-
gangs mitverantwortlich dafür, ob und wie jemand am rechtigkeitsforderungen überhaupt sind. Nicht zuletzt
Prozess der Verteilung von Gütern überhaupt teilneh- die jüngere Kritik an klassischen Gerechtigkeitstheo-
men kann. In den klassischen Theorien sozialer Ge- rien zeigt, dass diese angereichert und ergänzt werden
rechtigkeit wird häufig übersehen, dass die Wahl des sollten, insbesondere durch phänomenologische Zu-
gesellschaftlichen Rahmens, also der Art und Weise, gänge sowie durch empirisches Wissen über die tat-
wie sich eine Gesellschaft hervorbringt, selbst mitent- sächliche Lebenssituation behinderter Menschen.
scheidend dafür ist, wer behindert ist und wer nicht, Denn nur mit dichten Beschreibungen und einem
respektive wer inkludiert ist und wer nicht. vertieften Verständnis davon, was es heißt, ein Leben
Damit sind auch Fragen der Macht und (struktu- mit Behinderung zu leben, ist man fähig, gerechtig-
reller) Ungleichheit angesprochen. Nach Iris Marion keitsrelevante Ansprüche in ihren Wechselwirkungen,
Young stellen Menschen mit Behinderungen eine Dynamiken und Komplexitäten zu erfassen. Besteht
strukturell benachteiligte Gruppe innerhalb der Ge- nur ein abstrakter oder dünner Begriff von Behin-
sellschaft dar (Young 2008). Sie erleiden demnach derung, ist eine Gerechtigkeitstheorie nicht in der La-
362 V Anwendungsfragen

ge, die Heterogenität von Behinderungen zu erfassen Schramme, Thomas: Gerechtigkeit und soziale Praxis. Frank-
sowie zu verstehen, was eigentlich genau behindernd furt a. M. 2006.
ist an einer Behinderung und worin die Relevanz für Scully, Jackie Leach: Disability Bioethics – Moral Bodies, Mo-
ral Difference. Plymouth 2008.
Fragen der Gerechtigkeit besteht. Gerechtigkeitstheo- Sen, Amartya: Die Idee der Gerechtigkeit. München 2010
rien laufen dann Gefahr, ein schablonenartiges Bild (engl. 2009).
von Behinderung zu entwerfen, das unter Gerechtig- Singer, Peter: Speciesism and moral status. In: Metaphiloso-
keitsaspekten exkludierende Wirkung entfaltet. Noch phy 40/3–4 (2009), 567–581.
aber fehlen, von einigen Ausnahmen abgesehen (Scul- Welti, Felix: Behinderung und Rehabilitation im sozialen
Rechtsstaat. Tübingen 2005.
ly 2008; Wolff/De-Shalit 2007), Gerechtigkeitsansätze,
Wolff, Jonathan: Disability among equals. In: Kimberley
die phänomenologisches und empirisches Wissen Brownlee/Adam Cureton (Hg.): Disability and Disadvan-
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58 Bildung 363

58 Bildung Bildung und Chancengleichheit

Aufgrund des erheblichen Einflusses, den Bildung Die Forderung, im Bildungssystem für Chancengleich-
auf die beruflichen Möglichkeiten, die gesellschaftli- heit zu sorgen, ist auch im öffentlichen Diskurs sehr
che Stellung, die Anerkennung anderer und das indi- verbreitet. Zwei Varianten dieser Forderung können
viduelle Wohlergehen hat, ist Bildung ein zentraler unterschieden werden: einerseits die Forderung nach
Anwendungsbereich für Forderungen nach Gerech- Chancengleichheit durch Bildung und andererseits die
tigkeit. Forderung nach gleichen Chancen auf Bildung.
Im zeitgenössischen Sprachgebrauch ist ›Bildung‹ Chancengleichheit durch Bildung nimmt Bildung
oftmals Bestandteil von zusammengesetzten Sub- vorrangig als Mittel zum Zweck des Erreichens ande-
stantiven, wie etwa in ›Bildungssystem‹ oder ›Bil- rer Güter in den Blick (etwa beruflicher Perspektiven
dungspolitik‹. Zudem wird dem Wort ›Bildung‹ oft- oder monetärer Güter). Eine Diskussion dieser Forde-
mals ein spezifizierendes Adjektiv vorangestellt. So rung müsste also zunächst die allgemeine Forderung
ist von der ›schulischen Bildung‹ und der ›universitä- nach Chancengleichheit theoretisch erhellen und
ren Bildung‹ die Rede. Bei einer Übersetzung in an- dann zeigen, inwiefern Bildung dazu beiträgt, diese
dere Sprachen wird das deutsche Wort ›Bildung‹ allgemeine Forderung einzulösen. Eine solche all-
meist mit ›Erziehung‹ übersetzt, so z. B. die akademi- gemeine Forderung ist etwa die Forderung nach glei-
sche Bildung mit ›higher education‹ oder ›university chen Chancen auf Wohlergehen (vgl. Arneson 1989).
education‹. Es wäre also zu zeigen, in welchem Zusammenhang
Die Wörter ›Bildung‹ und ›Erziehung‹ haben aller- Bildung und individuelles Wohlergehen stehen und
dings im Deutschen nicht dieselbe Bedeutung. ›Bil- welchen Beitrag Bildung zur Einlösung der so verstan-
dung‹ verweist nicht nur auf den Prozess, sondern denen Forderung nach Chancengleichheit leistet.
auch auf die Zwecke der Erziehung. Zudem kann man Die Rede von Chancen auf Bildung drückt sich et-
sich zwar auch selbst bilden, nicht aber selbst erzie- wa in der Forderung nach gleichen Chancen auf das
hen. ›Bildung‹ wurde durch Wilhelm v. Humboldt Erreichen eines bestimmten Bildungsabschlusses un-
zum Grundbegriff der deutschsprachigen Pädagogik. abhängig von der sozialen Herkunft aus. Hier handelt
Ausgehend von Humboldt rückt der Bildungsbegriff es sich um eine genuine Forderung der Bildungs-
das Individuum in den Fokus der Bildungspolitik. gerechtigkeit. Schlechtere Aussichten auf das Errei-
Heute wird auf diesen Begriff daher oftmals im Kon- chen solcher Bildungsziele lassen sich auf das Vorlie-
text einer Kritik an bestimmten Zwecken der Bil- gen bestimmter Hindernisse zurückführen, die dem
dungspolitik verwiesen, welche die individuelle Bil- Erreichen dieses Ziels entgegenstehen oder es er-
dung vernachlässigen und stattdessen ausschließlich schweren. Ein Beispiel dafür sind sprachliche Defizite
gesamtgesellschaftliche Zwecke in den Fokus rücken. aufgrund eines Migrationshintergrundes. Darüber hi-
Eine solche kritische Perspektive ergibt sich auch naus gibt es eine Vielzahl weiterer Hindernisse auf
aus Forderungen der Gerechtigkeit. Statt die Bil- dem Weg der einzelnen Individuen zu ihren Bildungs-
dungspolitik allein an der Steigerung des gesamt- zielen. Dazu zählen die direkte Diskriminierung be-
gesellschaftlichen Nutzens auszurichten, solle man stimmter sozialer Gruppen und die Erhebung von
sich dabei auch an Forderungen der Gerechtigkeit Schulgeld, welches Kindern aus einkommensschwa-
orientieren. Zwei Varianten solcher Forderungen chen Elternhäusern den Zugang zu bestimmten Bil-
sind in der philosophischen Diskussion unterschie- dungseinrichtungen verwehrt. Es geht hier aber nicht
den worden: Der egalitaristischen Perspektive zufolge lediglich um monetäre Güter. Auch der vergleichswei-
ist das Bildungssystem so einzurichten, dass jedes In- se niedrige Bildungshintergrund der Eltern kann dem
dividuum gleich gute Bildungsmöglichkeiten hat. Aus Erreichen bestimmter Bildungsziele im Weg stehen
der Perspektive eines Adäquatheitsansatzes wird da- oder es zumindest erschweren.
gegen gefordert, das Bildungssystem so einzurichten, Je weiter man die potenziellen Einschränkungen
dass jedes Individuum genug Bildung bekommt. Bei- von Chancengleichheit an dieser Stelle fasst, desto
de Perspektiven konvergieren im Ergebnis jedoch in fragwürdiger erscheint jedoch der Versuch, die daraus
vieler Hinsicht, und aus beiden Perspektiven wird die resultierende Ungleichheit gänzlich beheben zu wol-
Forderung nach Chancengleichheit (s. Kap. II.26) im len. Hier ergeben sich klassische Konflikte zwischen
Bildungssystem erhoben. Eingriffen in die Freiheit und Forderungen der Ge-
rechtigkeit, etwa hinsichtlich der Frage, ob man den
364 V Anwendungsfragen

Besuch einer Kindertagesstätte (mit den entsprechen- Ressourcen für ihre Bildung benötigen. Statt von
den Bildungsangeboten) von staatlicher Seite verbind- gleich vielen Ressourcen für Bildung ist daher von
lich vorschreiben soll. Darüber hinaus sind Einwände gleich guten Bildungsmöglichkeiten die Rede. Ande-
dagegen erhoben worden, Eltern in ihrer Entschei- rerseits ist auch die Angleichung von Bildungsergeb-
dung, welche Bildungsangebote sie ihren Kindern ma- nissen aus mehreren Gründen kein adäquates Ziel.
chen, um der Gerechtigkeit willen einzuschränken. Erstens geht man nicht davon aus, dass angesichts der
Dabei wird betont, dass die elterlichen Bemühungen unterschiedlichen Talente und Fähigkeiten die Egali-
zum Wohle der Kinder für beide Seiten einen hohen sierung von Bildungsergebnissen erreichbar ist, ohne
Wert haben. Zudem scheint eine gewisse Parteilich- diejenigen, die mehr erreichen könnten, darin erheb-
keit zugunsten der eigenen Kinder durchaus gerecht- lich zu beschneiden. Zweitens hat Bildung offenbar ei-
fertigt zu sein. nen individuellen Anteil. Das Individuum trägt auch
Diesen Bedenken ließe sich Rechnung tragen, selbst zu seiner Bildung bei, und die Forderung nach
wenn keine Bildungsmöglichkeiten beschnitten, son- gleichen Bildungsergebnissen läuft dieser Vorstellung
dern lediglich denen, die diese sonst nicht hätten, von eines zumindest in Teilen selbstbestimmten Bildungs-
staatlicher Seite zusätzliche Angebote eröffnet wür- prozesses entgegen. Die Rede von Bildungschancen
den. Dabei entsteht jedoch das Problem, dass dies greift dies auf. Doch inwiefern sollten die Bildungs-
nicht in vollem Umfang zu leisten ist. Man müsste im- chancen oder Bildungsmöglichkeiten nun gleich sein?
mer dann, wenn Eltern ihren Kindern zusätzliche Bil-
dungsmöglichkeiten offerieren, von staatlicher Seite
dafür sorgen, dass allen anderen Kindern diese Mög- Gleich gute Bildungsmöglichkeiten
lichkeiten ebenfalls offenstehen. Damit, so die Kritik,
werde das Bildungssystem jedoch zu einem Fass ohne Als Egalitarist könnte man betonen, dass es ungerecht
Boden, und es sei nicht zu rechtfertigen, derartig viele sei, wenn die einen mehr von dem Gut Bildung be-
Ressourcen im Bildungsbereich einzubringen, die kommen als andere. Zur Begründung dieser Forde-
dann an anderer Stelle (etwa im Gesundheitswesen) rung ließe sich darauf verweisen, dass eine Gesell-
fehlen (Gutmann 1999, 131). schaft so einzurichten sei, dass alle Güter gleich ver-
Es lässt sich also offenbar nicht dafür sorgen, dass teilt sind. Egalitaristen führen jedoch die Tatsache,
alle Kinder faktisch die gleichen Aussichten auf eine dass die Bildungsmöglichkeiten unterschiedlich gut
gleich gute Bildung haben, wenn man dabei gleichzei- sind, meist nicht als direkten Grund dafür an, für ei-
tig an grundlegenden liberalen Werten festhalten will nen Ausgleich zu sorgen. Stattdessen wird als Grund
(Satz  2007, 634). Doch obwohl sich die Forderung angeführt, dass diese Unterschiede Effekte haben, ge-
nach gleichen Bildungschancen nicht umfänglich ein- gen die aus einer gerechtigkeitstheoretischen Perspek-
lösen lässt, lässt sich zumindest für mehr Chancen- tive weitere Bedenken formuliert werden können.
gleichheit sorgen als gegenwärtig gegeben ist. Selbst Harry Brighouse und Adam Swift verweisen in die-
wenn also zuzugeben ist, dass dem Ideal gleicher Bil- sem Zusammenhang darauf, dass Bildung ein positio-
dungschancen andere Werte entgegenstehen, die die- nales Gut ist, dessen Wert davon abhängt, wie viel an-
ses Ideal in seine Schranken weisen, so muss dies den- dere von diesem Gut haben. Eltern, die ihren Kindern
noch nicht auf dessen Preisgabe hinauslaufen (Brig- zusätzliche Möglichkeiten eröffnen, machen die Le-
house/Swift 2014). Daher lohnt es sich, die Forderung bensaussichten der anderen Kinder zuweilen dadurch
nach gleichen Bildungschancen zu präzisieren und schlechter, als sie es ansonsten wären. Wenn einige
möglichen Begründungen für diese Forderung näher Kinder schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt
nachzugehen. Diese Forderung lässt sich auf unter- haben, weil anderen Kindern eine bessere Bildung zu-
schiedliche Weise interpretieren, und sie wird auch teilwird, dann seien somit keine fairen Wettbewerbs-
unterschiedlich begründet (für eine Kritik an der da- bedingungen gegeben (Brighouse/Swift 2006a, 476).
mit einhergehenden Unklarheit vgl. Jencks 1988). Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist kompetitiv, so dass
Zunächst stellt sich die Frage, warum von gleichen bessere Chancen der einen Gruppe (z. B. derjenigen,
Chancen auf Bildung und nicht von gleichen Bil- die eine gute Privatschule besuchen konnten) schlech-
dungsressourcen oder Bildungsergebnissen die Rede tere Chancen der anderen Gruppe nach sich ziehen
ist. Gegen die Forderung nach einer Gleichheit von (z. B. derjenigen, die nur eine qualitativ schlechtere
Ressourcen spricht, dass Kinder abhängig von ihren staatliche Schule besucht haben). Hier werde man da-
unterschiedlichen Fähigkeiten unterschiedlich viele her auf das Gebot der Fairness (s. Kap. II.27) verwie-
58 Bildung 365

sen. Die gesellschaftlichen Institutionen sollten für ser eine zentrale Funktion bei, und dies trifft auch auf
faire Wettbewerbsbedingungen sorgen. Das betreffe die Forderung nach Chancengleichheit zu. Zugleich
auch, und sogar insbesondere, den Bildungsbereich. ist es fragwürdig, ›Leistungsbereitschaft‹ und ›Motiva-
Manche Bildungsmöglichkeiten haben allerdings tion‹ als unveränderliche individuelle Konstanten zu
keine offensichtlichen Auswirkungen auf die Chan- betrachten, die unabhängig von den Einflüssen der El-
cen auf dem Arbeitsmarkt und auch keine Effekte auf tern und des jeweiligen sozialen Umfeldes bestehen.
das Leben derjenigen, die nicht von diesen zusätzli- Man muss sich daher fragen, inwiefern die individuel-
chen Möglichkeiten profitieren. Man denke etwa an le Motivation tatsächlich in den Verantwortungs-
den privaten Musikunterricht. Wie also sind die zu- bereich der Individuen fällt (insbesondere wenn es
sätzlichen Möglichkeiten einzuordnen, die nicht nur sich um Kinder handelt).
bessere Berufsaussichten eröffnen, sondern das Le- Ein weiterer Einwand besteht darin, die empirisch
ben in anderer Weise bereichern? Ein egalitärer An- angenommenen positiven Effekte für diejenigen in
satz müsste hier eine umfassendere Forderung nach Frage zu stellen, die angeblich von der Begabtenför-
Chancengleichheit ins Spiel bringen. Man würde den derung profitieren (Giesinger 2008). Erstens lässt sich
Wert von Bildung und dessen Beitrag zum je indivi- bestreiten, dass die Begabtenförderung faktisch zu
duell guten Leben (s. Kap. IV.42) dann im Rahmen den erwünschten positiven Effekten führt. Zweitens
der allgemeinen Forderung nach gleich guten Le- kann angezweifelt werden, dass davon auch diejeni-
bensaussichten betrachten (vgl. dazu auch Meyer gen mit eher niedrigen Bildungsabschlüssen profitie-
2011, 164 f.). ren. Fraglich wird das z. B., wenn man bezweifelt, dass
Diese Forderung ist nicht unumstritten, öffnet aber die durch die Begabtenförderung potenziell erwirt-
inhaltlich den Blick für mögliche Differenzen zwi- schafteten monetären Zugewinne tatsächlich umver-
schen der Forderung nach gleich guten Bildungsmög- teilt werden.
lichkeiten und gleich guten Lebensaussichten. So Generell sollten die potenziellen Differenzen zwi-
könnte man etwa behaupten, dass eine (so genannte) schen der Forderung nach gleich guten Bildungs-
Begabtenförderung zwar leistungsstarken Individuen möglichkeiten und gleich guten Lebensaussichten of-
zusätzliche Bildungsangebote macht und daraus un- fenbar zugunsten der Letzteren entschieden werden.
terschiedlich gute Bildungsmöglichkeiten resultieren. Um dies zu bestreiten, könnte man in Anlehnung an
Aus der Perspektive derjenigen, die die vergleichswei- John Rawls (1979) auf den lexikalischen Vorrang der
se schlechteren Bildungsmöglichkeiten haben, muss Chancengleichheit verweisen und behaupten, dass
dies aber nicht der entscheidende Grund gegen eine auch dann gleiche Bildungsaussichten bestehen soll-
Begabtenförderung sein. Denn es wird behauptet, ten, wenn ungleiche Bildungsaussichten tatsächlich
dass die Begabtenförderung auch für diejenigen letzt- mit dem Differenzprinzip (s. Kap. II.25) vereinbar
lich vorteilhaft ist, die insofern schlechtere Bildungs- wären. Demnach wären etwa Qualitätsunterschiede
möglichkeiten haben. Die durch die Begabtenför- zwischen einzelnen Schulen auch dann nicht hin-
derung zusätzlich hervorgebrachten Güter kämen zunehmen, wenn die Beibehaltung dieser Unterschie-
letztlich allen zugute, z. B. durch die direkte Umver- de den Schlechtestgestellten tatsächlich zugutekäme.
teilung monetärer Güter oder durch die steigende Der lexikalische Vorrang ist jedoch oftmals kritisiert
Qualität bestimmter Leistungen (wie etwa eine bes- worden, und diejenigen, die in der zeitgenössischen
sere medizinische Versorgung). Gegen diese Argu- Philosophie der Erziehung eine egalitaristische Posi-
mentation gibt es jedoch eine Reihe von Einwänden. tion vertreten, halten nicht an dem lexikalischen Vor-
Ein Einwand besteht in der Problematisierung des rang der Chancengleichheit fest (vgl. z. B. Brighouse/
hier oftmals zugrunde gelegten Begabungsbegriffs, Swift 2006a).
der zu sehr auf der fragwürdigen Annahme basiert, Brighouse/Swift betonen unter Verweis auf Fair-
dass Leistungsunterschiede umfänglich auf so ge- nessüberlegungen dennoch die grundsätzliche Be-
nannten ›natürlichen‹ Begabungen basieren. Stattdes- deutung gleicher Bildungsmöglichkeiten (s. o.). Im
sen ist in einem sehr viel stärkeren Ausmaß, als oft- Ergebnis unterscheiden sie sich damit nur wenig von
mals suggeriert wird, die soziale Herkunft für die Leis- denen, die aus einer nicht an Fairness, sondern eher
tungsunterschiede verantwortlich (vgl. Meyer/Streim an Adäquatheit orientierten Perspektive ebenfalls da-
2013). Dies gilt im Übrigen auch für die Bewertung für argumentieren, gleiche Bildungsmöglichkeiten zu
der individuellen Leistungsbereitschaft und Motivati- eröffnen (vgl. z. B. Anderson 1999 und 2007; Satz 2007
on. Der Glücksegalitarismus (s. Kap. III.39) misst die- und 2012).
366 V Anwendungsfragen

Adäquate Bildungsmöglichkeiten kein Problem darin, dass manche Eltern ihre Kinder
durch private Investitionen zusätzlich in dem Erler-
Charakteristisch für eine solche Perspektive ist die nen von Fremdsprachen unterstützen. Nimmt man
Annahme, dass sich Forderungen nach Bildungs- dagegen die Perspektive von Brighouse/Swift ein, so
gerechtigkeit nicht im Kern darauf richten sollten, lässt sich argumentieren, dass diese Eltern ihren Kin-
gleich gute Bildungsmöglichkeiten zu verlangen. dern dadurch unfaire Wettbewerbsvorteile auf dem
Stattdessen sei gefordert, Bildungsmöglichkeiten so Arbeitsmarkt verschaffen. An dieser Stelle bringen
zu gestalten, dass bestimmte andere Forderungen er- die Unterschiede in den theoretischen Positionen also
füllt werden, wie etwa die Möglichkeit, am gesell- tatsächlich eine unterschiedliche Haltung zu privaten
schaftlichen Leben gleichberechtigt teilzunehmen. Bildungsinvestitionen mit sich. Neben solchen Un-
Vertreter eines Adäquatheitsansatzes postulieren da- terschieden gibt es aber auch viele Gemeinsamkeiten.
her, dass es nicht um Gleichheit, sondern um Ad- So argumentiert etwa Satz (2012) aus der Perspektive
äquatheit gehe. Das Ziel sei letztlich nicht, dass alle ei- eines Adäquatheitsansatzes für den Wert von Chan-
ne gleich gute Bildung erhalten, sondern dass alle ge- cengleichheit. Das Prinzip der fairen Chancengleich-
nug Bildung erhalten (vgl. z. B. Satz 2007). heit sei eng mit der Vorstellung verwoben, dass der
Diese Ansätze schließen ebenfalls an bestimmte Staat all seinen Mitgliedern die volle Inklusion in die
Überlegungen bei Rawls an, jedoch stärker an seine Gesellschaft schulde. Es sei daher zentral für eine de-
Überlegungen in Politischer Liberalismus. Dort betont mokratische Gesellschaft von Gleichen.
Rawls, der Staat habe insofern ein Interesse an der Er- Mit Blick auf die Förderung so genannter Leis-
ziehung der Kinder, als diese zukünftige Bürger seien tungseliten argumentiert auch Anderson (2007) für
(Rawls 1998, 298). Ähnlich wie Rawls argumentiert die Bedeutung von Chancengleichheit. Anderson be-
Amy Gutmann (1999, 42–44.). Sie meint, die staatli- tont, dass andere nur dann von den Errungenschaften
che Erziehung solle die Werte unserer modernen De- der Leistungseliten profitieren können, wenn diese
mokratien vermitteln. Gutmann bezeichnet die be- Eliten mit bestimmten Fähigkeiten ausgestattet sind,
wusste soziale Reproduktion als den zentralen Wert die sie für diese Positionen qualifizieren. Dazu zähle
der Demokratie. Eine Gesellschaft, die diesen Wert aber z. B. auch die Fähigkeit, die Perspektive bestimm-
befördern will, müsse daher die Kinder so erziehen, ter sozialer Gruppen adäquat zu erfassen und darauf
dass sie die Fähigkeit erlernen, an der bewussten Ge- entsprechend zu reagieren. Diese Fähigkeiten könn-
staltung ihrer Gesellschaft teilzunehmen. ten jedoch nur erworben werden, wenn die Ausbil-
Auch Anderson (1999) meint, dass im Bildungssys- dung der Leistungseliten so erfolgt, dass für eine so-
tem bestimmte Fähigkeiten vermittelt werden müss- ziale Durchmischung gesorgt ist. Damit rückt Ander-
ten, die nötig sind, um in einem demokratischen Staat son den instrumentellen Wert gleicher Bildungsmög-
als Bürger gleich dazustehen. Dabei versteht sie lichkeiten in den Blick. Nur wenn die soziale Herkunft
Gleichheit allerdings als soziales Verhältnis, nicht als keine entscheidende Rolle für den Zugang zu höheren
Verteilungsstruktur. Daher müssten die Fähigkeiten Bildungseinrichtungen spielt, können die Leistungs-
vermittelt werden, die nötig sind, um sich allen For- eliten tatsächlich das leisten, was sie leisten sollen. Nur
men der Unterdrückung in sozialen Beziehungen ent- wenn diese Gruppe selbst sozial durchmischt ist, kann
gegenzustellen und allen Bürgern den Status als Glei- sie diesen Anforderungen genügen.
che in der Zivilgesellschaft zu sichern (Anderson
1999, 316). Diese Fähigkeiten sollten alle Menschen
gleichermaßen haben. Jeder solle beispielsweise die Konkrete Forderungen
Möglichkeit haben, lesen und schreiben zu lernen.
Doch einige andere in der Schule vermittelte Fähig- Empirische Studien zeigen immer wieder, dass der
keiten sind laut Anderson von dieser Forderung nicht Bildungserfolg sehr stark mit der sozialen Herkunft
erfasst. Dazu zählt sie z. B. im US-amerikanischen verknüpft ist (vgl. z. B. die PISA-Studien). Maßnah-
Kontext das Erlernen einer Fremdsprache (ebd., 319). men, die dem entgegenwirken, lassen sich nicht von
An dieser Stelle wird deutlich, dass es in der Reich- philosophischer Seite bestimmen. Es liegt aber nahe,
weite der Forderungen nach Bildungsgerechtigkeit dass bestimmte Formen des gemeinsamen Lernens
durchaus Unterschiede gibt, die auf die verschiede- Abhilfe schaffen können, weil Formen der schu-
nen theoretischen Perspektiven zurückzuführen sind. lischen Segregation für diese großen Unterschiede
Andersons Ansatz zufolge besteht zunächst einmal mitverantwortlich sind. Bei einem segregierten
58 Bildung 367

Schulsystem ist es darüber hinaus besonders wichtig, Begabtenförderung an Gymnasien. Wiesbaden 2008, 271–
bestimmte Hindernisse abzubauen, etwa bei den Bil- 291.
dungsübergängen. Solche Hindernisse führen dann Gutmann, Amy: Democratic Education. Princeton NY 1999.
Jencks, Christopher: Whom must we treat equally for educa-
auch zu dem erheblichen Einfluss der sozialen Her- tional opportunity to be equal? In: Ethics 98/3 (1988),
kunft auf den Erwerb der Zugangsberechtigung zu 518–533.
den Universitäten. Und selbst unter den Jugend- Meyer, Kirsten: Bildung. Berlin 2011.
lichen, die eine Studienberechtigung erreicht haben, –/Streim, Benjamin: Wer hat, dem wird gegeben? Hoch-
variiert die Anzahl derjenigen, die ein Studium auf- begabtenförderung und Gerechtigkeit. In: Zeitschrift für
Pädagogik 59/1 (2013), 112–130.
nehmen, mit dem Bildungshintergrund im Eltern-
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
haus (selbst bei gleicher Schulleistung, vgl. z. B. Bil- 1979 (engl. 1971).
dungsberichterstattung 2012, 125). –: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993).
Den Ursachen für diese jeweiligen empirischen Zu- Satz, Debra: Equality, adequacy, and education for citizen-
sammenhänge ist freilich näher nachzugehen, und sie ship. In: Ethics 117/4 (2007), 623–648.
sind darauf hin zu überprüfen, ob sie aus einer gerech- –: Unequal chances: Race, class and schooling. In: Theory
and Research in Education 10/2 (2012), 155–170.
tigkeitstheoretischen Perspektive problematisch sind.
Insofern dies der Fall ist, wäre weiterhin zu klären, wie Kirsten Meyer
weit man bei der Einlösung der Forderung nach einer
Angleichung von Bildungsmöglichkeiten gehen sollte
und was dem entgegensteht. Hier stellen sich Fragen
nach einer gerechtfertigten Form von elterlicher Par-
teilichkeit, nach dem Wert von familiären Beziehun-
gen und den Grenzen legitimer staatlicher Eingriffe.
Es geht also darum, inwiefern Eltern ihren Kindern
hier tatsächlich ungerechtfertigte Vorteile verschaffen
und ob (und, falls ja, wie) man dem entgegenwirken
darf und sollte (vgl. dazu Brighouse/Swift 2006b).
Jenseits dieser Fragen, denen Konflikte zwischen
unterschiedlichen Normen und Werten zugrunde lie-
gen, gibt es jedoch offenbar eine berechtigte Kritik am
deutschen Bildungssystem, welches nachweislich und
mehr als vergleichbare Alternativen die soziale Her-
kunft über den Bildungserfolg entscheiden lässt.

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59 Demokratie und tutionell umzusetzen ist, wird von verschiedenen De-


Selbstbestimmung mokratiemodellen – die von direkten bzw. partizipato-
rischen über repräsentative und deliberative bis hin zu
agonalen bzw. radikalen Verständnissen reichen – sehr
Demokratie wird heute sowohl in der politischen Pra- unterschiedlich bewertet (Benhabib 1996). In allen
xis als auch in der Theorie fast ausnahmslos als die diesen Modellen kann Demokratie jedoch nicht mit
einzig rechtfertigbare Organisationsform politischer ihrer institutionellen Umsetzung in Form eines be-
Gemeinschaften erachtet. Jedoch herrscht keineswegs stimmten Regierungssystems gleichgesetzt werden.
Übereinstimmung in Bezug darauf, was Demokratie Das ist auch deshalb relevant, weil die Idee der Demo-
genau bedeutet, wie sie zu rechtfertigen ist, wie sie in kratie als kollektive Selbstbestimmung der Bürgerin-
der politischen Wirklichkeit zu institutionalisieren ist nen und Bürger heute mit einer Reihe von Herausfor-
und in welchem Verhältnis sie zur Gerechtigkeit steht derungen konfrontiert ist, die es nötig machen, auf in-
(s. Kap. IV.50; Celikates/Gosepath 2013, 4.3). stitutioneller Ebene mit verschiedenen Mischformen
Das wörtliche Verständnis von ›Demokratie‹ als der eben angeführten Modelle zu experimentieren,
›Herrschaft des Volkes‹ verbindet die Idee der Demo- ohne dabei den normativen Kern der Demokratie auf-
kratie unmittelbar mit der Idee der Selbstbestimmung zugeben.
bzw. Selbstregierung des Volkes, wirft jedoch ebenso Auf einer ganz allgemeinen Ebene sehen sich natio-
unmittelbar die Frage auf, wer der demos bzw. das nalstaatlich (und damit über das Territorialitätsprin-
›Volk‹ ist und wie es herrschen bzw. sich selbst bestim- zip) organisierte Demokratien von zwei Seiten mit He-
men oder regieren kann bzw. soll. Der Zusammen- rausforderungen konfrontiert: zum einen ›von oben‹
hang von Demokratie und Selbstbestimmung ist vor bzw. ›außen‹ durch Prozesse der Globalisierung bzw.
diesem Hintergrund ein doppelter: Zum einen wird Denationalisierung – diese Herausforderung national-
Demokratie als politische Organisationsform verstan- staatlicher Steuerungsfähigkeit ist bedingt durch die
den, die es den zur politischen Gemeinschaft gehören- Erosion staatlicher Souveränität und die Entstehung
den Bürgerinnen und Bürgern erlaubt, sich als Freie transnationaler Problemlagen, die der Möglichkeit der
und Gleiche auf wie auch immer vermittelte und indi- institutionalisierten Selbstbestimmung einer politi-
rekte Weise gemeinsam selbst zu bestimmen und schen Gemeinschaft auf Ebene des Nationalstaats die
nicht durch andere fremdbestimmt zu werden und in Grundlage zu entziehen scheinen, und kann deshalb
diesem gemeinsam bestimmten Rahmen individuell nach Meinung zahlreicher Autoren nur durch die
selbstbestimmt zu leben, so dass im Ideal der Demo- Etablierung transnationaler politischer Institutionen
kratie (bzw. des demokratischen Rechtsstaats) private aufgefangen werden (vgl. etwa Bray/Slaughter 2015);
bzw. individuelle und öffentliche bzw. kollektive Auto- zum anderen ›von unten‹ bzw. ›innen‹ durch Prozesse
nomie, Freiheit und Gleichheit als verbunden gedacht der sozialen Differenzierung (man denke nur an die
werden (Habermas 1992; vgl. zur Begründung der zunehmende Autonomie gesellschaftlicher Funktions-
Demokratie aus dem Ideal der sozialen Gleichheit, das systeme wie Wirtschaft und Technologie, aber auch an
unvereinbar ist mit politischen Machtasymmetrien, Prozesse der Individualisierung und Auflösung tradi-
Kolodny 2014); zum anderen scheint diese Idee von tioneller Bindungen), die schon innerhalb national-
Demokratie als Selbstbestimmung des Volkes voraus- staatlich verfasster Gesellschaften die Wirksamkeit
zusetzen, dass Völker – wie auch immer diese dann hierarchischer Steuerung untergraben und die es des-
genauer bestimmt werden – die relevanten politischen halb als unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass eine
Einheiten sind, denen ein Recht auf Selbstbestim- einfache Verlagerung solcher Steuerungsmechanis-
mung zukommt. men auf eine höhere Ebene zu einer sowohl demokra-
tisch legitimen als auch effektiven Problemlösung bei-
zutragen vermag (vgl. etwa Offe 2003).
Demokratie als kollektive Die transnationalen Herausforderungen, mit de-
Selbstbestimmung nen nationalstaatliche Demokratien konfrontiert
sind, wie etwa Klimawandel und globale Finanzkri-
Was die den Kern der Demokratie ausmachende kol- sen, schaffen einen Handlungs- und Regelungsbedarf
lektive Selbstbestimmung bzw. Selbstregierung der auf globaler Ebene, der auch globale Formen der Re-
Bürgerinnen und Bürger bzw. die so verstandene Herr- gulierung zu erfordern scheint, deren demokratische
schaft des Volkes praktisch bedeutet und wie sie insti- Einbettung und Kontrolle jedoch kaum dem national-
59 Demokratie und Selbstbestimmung 369

staatlichen Muster folgen können wird. Zugleich ent- den Prozess der Entscheidungsfindung). Im Unter-
steht aus der Perspektive der nationalstaatlichen De- schied zu einer solchen, den Zusammenhang zwi-
mokratien das über das Regulierungsproblem hinaus- schen Demokratie und Gerechtigkeit wesentlich pro-
gehende normative Problem der Berücksichtigung zedural verstehenden Perspektive begreift die Output-
und Einbeziehung der von weitreichenden Entschei- orientierte Perspektive, die insbesondere mit Bezug
dungen Betroffenen. Gemäß dem Grundprinzip der auf die demokratische Legitimität der EU häufig ins
Demokratie, dass alle von einer Entscheidung in sig- Spiel gebracht wird, Demokratie primär als ›Herr-
nifikanter Weise Betroffenen an dieser Entscheidung schaft für das Volk‹ und knüpft die Legitimität politi-
beteiligt werden müssen, müsste bei politischen Ent- scher Entscheidungen daran, dass sie effektive Pro-
scheidungen zunächst gefragt werden, wer in signifi- blemlösungen bereitstellen, das Gemeinwohl fördern
kanter Weise betroffen sein könnte, um diese Per- und damit (eine freilich oft recht minimalistisch ver-
sonen dann in die Entscheidungsfindung mit ein- standene) Gerechtigkeit in einem substanziellen Sinn
zubeziehen. Diese Forderung der demokratischen In- realisieren (vgl. Schmidt 2012).
klusion geht deutlich über das Gebot der Gerechtigkeit Dabei gerät aber nicht nur aus dem Blick, dass de-
hinaus, die Interessen der Betroffenen in der Entschei- mokratische Politik etwas anderes als Governance und
dungsfindung auf angemessene (nicht unbedingt po- Legitimität von Effizienz und Effektivität zu unter-
litische Beteiligung erfordernde) Weise zu berück- scheiden ist. Zudem werden in der Output-Perspekti-
sichtigen. Sowohl die Ermittlung (des Grades) der Be- ve substanzielle gegen prozedurale Gerechtigkeitsfor-
troffenheit als auch die Einlösung der Forderung nach derungen ausgespielt und es wird vorausgesetzt, was
Mitbestimmung stellen die Demokratie in Theorie in einer Demokratie eigentlich nicht vorausgesetzt
und Praxis vor ernst zu nehmende Schwierigkeiten, werden kann: dass sich Politikergebnisse objektiv, et-
die in großen Teilen des akademischen, insbesondere wa an ihrem Beitrag zum Gemeinwohl, dem öffent-
aber des politischen Diskurses noch nicht einmal als lichen Interesse oder anderen vermeintlich objektiven
solche anerkannt werden (vgl. Goodin 2007; Fraser substanziellen Gerechtigkeitsindikatoren messen las-
2008). Besonders deutlich werden diese Schwierigkei- sen. Was das Gemeinwohl, das öffentliche Interesse
ten wiederum angesichts des Problems des Klimawan- oder Gerechtigkeit in einem substanziellen Sinn aus-
dels und der damit zusammenhängenden Frage der macht, ist aber selbst Teil des demokratischen Prozes-
Berücksichtigung der Interessen und Rechte zukünfti- ses und Ergebnis der politischen Auseinandersetzung;
ger Generationen (s. Kap. V.80), aber auch der Folgen es kann nicht zum externen Maßstab von Politik ge-
für Bürger anderer Staaten, deren Interessen nicht re- macht werden, weil es, zumal in pluralistischen Ge-
präsentiert werden bzw. denen keine Möglichkeit ein- sellschaften, selbst politisch umstritten, ja umkämpft
geräumt wird, sich an der Entscheidungsfindung zu und in seinen konkreten Bestimmungen stets nur
beteiligen (vgl. Moellendorf 2015; mit Bezug auf den temporär gültiges Ergebnis von Auseinandersetzun-
politischen Status von nicht-menschlichen Tieren gen in der politischen Öffentlichkeit ist, an denen sich
identifizieren Donaldson/Kymlicka 2011 ein weiteres alle Betroffenen direkt beteiligen können müssen (vgl.
Demokratiedefizit, das hier jedoch nicht weiter dis- Habermas 1992, Kap. VII–VIII; Tully 2008, Kap. I.4).
kutiert werden kann; s. Kap. V.77). Hinzu kommt, dass es mit Bezug auf die meisten poli-
Unter dem Eindruck dieses doppelten Problem- tischen Grundsatzfragen ohnehin kein gesellschaft-
drucks durch Denationalisierung und Komplexitäts- lich (oder auch nur innerhalb des Wissenschaftssys-
steigerung ist es vor allem in der politikwissenschaftli- tems) wirklich unumstrittenes Wissen gibt, so dass
chen Diskussion zu einer Umstellung von Input- auf sich immer die Frage nach der Neutralität und Objek-
Output-Legitimation sowie von Government auf Go- tivität jenes Wissens stellt, das etwa in Form von Sach-
vernance gekommen, die auch in der Politik – vor al- verständigengutachten, Expertenkommissionen, Po-
lem auf der Ebene der Europäischen Union – einigen litikberatung etc. in den politischen Prozess ein-
Einfluss entfaltet hat, aus demokratietheoretischer gespeist wird. Aus der radikaldemokratischen Per-
Perspektive aber äußerst problematisch ist. Die Input- spektive ist zudem jede Bürgerin und jeder Bürger
orientierte Perspektive versteht Demokratie als ›Herr- gleichermaßen dazu befähigt und berechtigt, nicht
schaft durch das Volk‹ und knüpft die Legitimität po- nur zur Bestimmung des Gemeinwohls beizutragen,
litischer Entscheidungen an die Beteiligung der Bür- sondern sich als Freie und Gleiche auch an der Praxis
gerinnen und Bürger bzw. der Betroffenen (und nicht der Selbstregierung zu beteiligen (Rancière 2011).
allein an die Einbeziehung von deren Interessen in Angesichts dieser Situation bestehen zahlreiche
370 V Anwendungsfragen

Demokratietheoretiker darauf, dass Demokratie kol- wer nicht (Benhabib 2008). Dass die Frage, wer Mit-
lektive Selbstbestimmung heißt und eine Vielfalt von glied in einer politischen Gemeinschaft sein oder wer-
Orten erfordert, an denen die Möglichkeit der effekti- den soll, von dieser Gemeinschaft selbst beantwortet
ven Mitsprache besteht, und damit eine Kombination werden muss, wird immer wieder als Element demo-
von Elementen direkter, deliberativer und repräsenta- kratischer Selbstbestimmung verstanden, bringt aber
tiver Demokratie (Young 2000). In diesem Kontext ist die faktische – und normativ nicht weniger bedeut-
über Formen der direkten Mitbestimmung nach- same – Gefahr der Verteidigung bestehender Privile-
zudenken, die ihren Ort sowohl innerhalb wie auch gien und Exklusionen gegen die berechtigten Ansprü-
außerhalb der etablierten Institutionen haben kön- che von ›Neuankömmlingen‹, der Missachtung basa-
nen. Zu den Voraussetzungen einer demokratischen ler Forderungen von Gerechtigkeit und Demokratie
Kultur gehören dabei neben einem funktionierenden und damit eines Rückfalls in einen nationalistisch ge-
und minimale Gerechtigkeitsstandards nicht unter- wendeten Feudalismus mit Rechtssubjekten unter-
laufenden Bildungssystem eine funktionierende Öf- schiedlicher Klassen mit sich (vgl. Carens 2013, Teil I).
fentlichkeit und eine pluralistische Medienlandschaft. Der demos – also das politische Subjekt der Demo-
Insofern ist die Öffentlichkeit ein zentraler Ort der kratie – scheint sich als territorial lokalisierte Gemein-
Demokratie, an denen die Bürgerinnen und Bürger schaft gleicher Staatsbürger verstehen zu müssen. Dies
politische Konflikte als solche erkennen und diskursiv kann jedoch auf sehr unterschiedliche Weisen gesche-
austragen können (Habermas 1992, Kap. VIII). hen, die der normativen Forderung, dass alle Adressa-
Konflikte sind in dieser Perspektive gerade nicht als ten der Gesetze sich auch als deren Autoren verstehen
Gefahr für die Demokratie zu betrachten, sondern als können müssen, mal mehr und mal weniger gerecht
Quelle ihrer Vitalität. Sie zu unterdrücken und ihnen werden. Auch in liberalen Demokratien wird zahlrei-
legitime Ausdrucksformen zu verwehren, kann zu ei- chen Gruppen der Zugang zu grundlegenden politi-
ner nicht mehr kontrollierbaren Eskalation führen, schen Rechten und damit zur tatsächlichen Fähigkeit,
die politische Konflikte zu gewaltförmigen Auseinan- öffentlich für die eigenen Rechte einzutreten und da-
dersetzungen werden lässt und sie zum Spielfeld ins- mit überhaupt in einem politischen Sinn zu existieren,
besondere rechter Populisten macht (Mouffe 2013). verwehrt oder erheblich erschwert (vgl. die Beiträge
Demokratie muss deshalb auch über die staatlichen von Goppel, Celikates und Zurbuchen in Cassee/Gop-
Institutionen hinaus Praktiken der Konfliktaustra- pel 2012). Viele Angehörige dieser Gruppen haben
gung und der Kontestation umfassen, die – wie etwa mit rassistischer Diskriminierung zu kämpfen, die sie
der zivile Ungehorsam – es den Bürgerinnen und Bür- auf Dauer zu ›Ausländern‹ und ›Migranten‹ macht
gern erlauben, sich direkt an der Gestaltung des öf- und ihnen damit den Status eines gleichberechtigten
fentlichen Lebens zu beteiligen und ihnen einseitig Mitgliedes der politischen Gemeinschaft trotz dauer-
auferlegte politische Entscheidungen anzufechten, hafter Ansässigkeit verwehrt (vgl. Laborde 2008).
nicht nur im Namen substanzieller Gerechtigkeits- Können sich die Adressaten der Gesetze nicht zu-
normen, also etwa der verfassungsmäßig verbrieften gleich als deren Autoren verstehen, sind sie aber poli-
Grundrechte, sondern auch in Reaktion auf Defizite tisch fremdbestimmt und also unfrei, denn alle einer
und Dysfunktionalitäten des formell demokratischen Regierungsstruktur Unterworfenen – ob sie nun for-
politischen Systems und damit im Namen der über mell Mitglieder des Gemeinwesens sind oder nicht –
ihre jeweilige institutionelle Realisierung hinausrei- müssen gleich ›zählen‹, und das heißt: ein politisches
chenden Idee der Demokratie und der von ihr im- Mitspracherecht haben, will der fragliche Staat tat-
plizierten prozeduralen Gerechtigkeitsanforderungen sächlich demokratische Legitimität für sich in An-
(vgl. Smith 2013). spruch nehmen können. Die Verknüpfung der Kon-
zepte von Nation, politischer Gemeinschaft, Staats-
bürgerschaft und Bürgerrechten funktioniert daher
Grenzen der Demokratie längst nicht mehr so einfach wie weithin angenom-
men (vgl. Benhabib 2008). Es gibt befristete und un-
Jede Demokratie ist mit der Frage ihrer inneren und befristete Aufenthaltstitel; man kann Bürger der EU
äußeren Grenzen konfrontiert, denn sie muss ent- und gleichzeitig Bürger eines einzelnen Landes sein;
scheiden, wer als Bürgerin und Bürger zum demos ge- auf kommunaler Ebene dürfen EU-Bürger anderer
hört – und damit Zugang zu den Verfahren und Insti- Länder schon mitwählen, andere langjährig Ansässige
tutionen der politischen Selbstbestimmung hat – und nicht, und auch das allgemeine Wahlrecht ist nicht
59 Demokratie und Selbstbestimmung 371

überall an die Staatsbürgerschaft gekoppelt. In einer len Staatenwelt führen. Heute stellen entsprechende
Demokratie jedenfalls muss das Recht zu bleiben das Bewegungen auch eine Herausforderung für die terri-
Recht, politisch mitzubestimmen, implizieren, wenn toriale Integrität etablierter liberaler Nationalstaaten
in der Idee der Selbstbestimmung auch weiterhin der wie Spanien (Baskenland, Katalonien) und Kanada
normative Kern der Demokratie gesehen wird. (Quebec) dar. Damit tritt das potenzielle Spannungs-
verhältnis zwischen der territorialen Integrität bzw.
Souveränität des Staates und dem Selbstbestim-
Selbstbestimmungsrecht der Völker mungsrecht der Völker zutage.
als Prinzip des modernen Völkerrechts Vor diesem Hintergrund ist ebenfalls umstritten
(zumindest außerhalb des Kontexts von Kolonialis-
Die zweite Weise, in der die Idee der Demokratie mit mus und Dekolonialisierung), unter welchen Umstän-
der Idee der Selbstbestimmung verknüpft ist, folgt aus den das Recht auf Selbstbestimmung ein (unilaterales)
der Annahme, dass ›Völker‹ die relevanten politischen Recht auf Sezession begründet oder aber im Rahmen
Einheiten sind, denen im internationalen Bereich, al- existierender Staatlichkeit realisiert werden muss. Ei-
so im Verhältnis zu anderen politischen Einheiten ner zunehmend populären Position zufolge haben zu-
bzw. Staaten, ein Recht auf Selbstbestimmung zu- mindest unterdrückte Völker ohne Aussicht auf an-
kommt. Die Idee eines Selbstbestimmungsrechts der gemessene Formen der Autonomie innerhalb eines
Völker entwickelte sich zunächst im Zuge der nationa- unterdrückerischen und die basalen Menschenrechte
len Unabhängigkeitsbestrebungen innerhalb der Viel- ihrer Mitglieder verletzenden Staates angesichts der
völkerreiche des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ihnen zugefügten extremen Ungerechtigkeit ein Recht
dann nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem im Rah- auf Sezession als eine Art Notrecht, das sich aus ihrem
men des formalen Dekolonialisierungsprozesses. Recht auf Selbstbestimmung ergibt (Buchanan 2004).
Heute ist dieses Recht in der Charta der Vereinten Na- Die Frage, ob es auch ein Recht auf Sezession von de-
tionen (Art. 1 Abs. 2: Grundsatz der Gleichberechti- mokratischen, also die Mitbestimmungsrechte aller
gung und Selbstbestimmung der Völker), im Interna- Bürgerinnen und Bürger in adäquater Weise schüt-
tionalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zenden Staaten gibt, bleibt dagegen weiterhin umstrit-
(Art. 1 Abs. 1: Alle Völker haben das Recht auf Selbst- ten (vgl. Dietrich 2010).
bestimmung) und im Internationalen Pakt über wirt- In Reaktion auf diese komplexe historische und po-
schaftliche, soziale und kulturelle Rechte (hier eben- litische Realität hat es in jüngerer Zeit auch Versuche
falls im Art. 1 Abs. 1) verbrieft. Allerdings bleibt auch gegeben, Selbstbestimmung anders denn als Selbst-
im Völkerrecht umstritten, wer genau das Subjekt die- regierung einer homogenen Gruppe über ein von ihr
ses Rechts ist, unter welchen Umständen eine Gruppe exklusiv kontrolliertes zusammenhängendes Territo-
also als Volk zählt und wie unterschiedliche Völker rium zu denken und damit der Tatsache Rechnung zu
voneinander zu unterscheiden sind. Zudem kann das tragen, dass Völker bzw. ethnische Gruppen in vielen
Selbstbestimmungsrecht der Völker in unterschiedli- Fällen zusammen auf einem Territorium leben, das
cher (z. B. auch föderaler oder konföderaler) Form manchmal zudem fragmentiert ist und keine klare
realisiert werden und muss sich nicht immer in voll- Grenzziehung zulassen würde (Young 2005). In sol-
umfassender Souveränität über ein Territorium mani- chen Kontexten können etwa verschiedene Formen
festieren, woraus sich neue Herausforderungen nicht des Föderalismus an Attraktivität gewinnen, die sich
nur für das Völkerrecht, sondern auch für die politi- nach Maßgabe unterschiedlicher Dimensionen als
sche Philosophie ergeben (Roepstorff 2013). symmetrisch oder asymmetrisch (identische Rechte
Als problematisch kann in diesem Zusammenhang für alle Subeinheiten oder nicht), primär vertikal oder
der hinter bestimmten Auslegungen dieses Rechts ste- horizontal (mit starkem politischem Zentrum oder
hende Nationalismus gesehen werden, dem zufolge ei- nicht) und territorial ausgedehnt und zusammenhän-
ne Kongruenz ethnisch-kultureller und politischer gend (oder nicht) voneinander unterscheiden lassen.
Grenzen anzustreben ist. Angesichts der Tatsache, Interessante Impulse könnte diese theoretische
dass in vielen Staaten verschiedene Völker und eth- Diskussion auch weiterhin aus der Praxis erhalten. So
nische Gruppen gemeinsam oder durchmischt zu- finden sich etwa in der west-kurdischen Rojava-Regi-
sammenleben, kann dies innerstaatliche Konflikte be- on Experimente mit alternativen Formen des demo-
sonderer Intensität hervorrufen und zu einer weiter kratischen Konföderalismus, die sich explizit abgren-
voranschreitenden Fragmentierung der internationa- zen vom (etwa im nordirakischen Kurdistan verfolg-
372 V Anwendungsfragen

ten) Projekt der Staatsgründung oder Sezession – De- Eisenberg, Avigail/Webber, Jeremy/Coulthard, Glen/Bois-
mokratie lässt sich diesem Modell zufolge am besten selle, Andrée (Hg.): Recognition versus Self-Determination.
im Rahmen subsidiär und inklusiv organisierter, auf Vancouver 2014.
Fraser, Nancy: Scales of Justice. Cambridge 2008.
Freiwilligkeit und Konsens beruhender und koope- Goodin, Robert E.: Enfranchising all affected interests, and
rativ miteinander verbundener Formen von Selbst- its alternatives. In: Philosophy and Public Affairs 35/1
verwaltung realisieren (vgl. In der Maur/Staal 2015). (2007), 40–68.
Aber auch im Rahmen liberaler Nationalstaaten fin- Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M.
den sich indigene Völker (vor allem first nations in Ka- 1992.
In der Maur, Renée/Staal, Jonas: Stateless Democracy. Ut-
nada und den USA sowie Aborigines in Australien),
recht 2015.
deren politisches Ziel sich in vielen Fällen als ›Selbst- Kolodny, Niko: Rule over none I: What justifies democracy?
bestimmung ohne Sezession‹ fassen lässt, die grund- In: Philosophy and Public Affairs 42/3 (2014), 195–229.
legend über eine bloß kulturelle Autonomie und im –: Rule over none II: Social equality and the justification of
Wesentlichen symbolische Anerkennung der Identität democracy. In: Philosophy and Public Affairs 42/4 (2014),
hinausgeht und z. B. (rechtlich-politische) Kontrolle 287–336.
Laborde, Cécile: Critical Republicanism. Oxford 2008.
über Land und Ressourcen, also eine radikale Ver- Moellendorf, Darrel: Climate change justice. In: Philosophy
änderung der politischen und ökonomischen (neoko- Compass 10/3 (2015), 173–186.
lonialen und neoliberalen) Machtverhältnisse, aber Mouffe, Chantal: Agonistics. London 2013.
keinen Anspruch separater Staatlichkeit (zumindest Offe, Claus: Herausforderungen der Demokratie. Frankfurt
im klassischen Sinn) umfasst (Young 2005; Eisenberg a. M. 2003.
Rancière, Jacques: Der Hass der Demokratie. Berlin 2011.
et al. 2014). Traditionelle Konzeptionen von Staatlich-
Roepstorff, Kristina: The Politics of Self-Determination. Lon-
keit und Souveränität werden durch derartige Experi- don 2013.
mente mit der Idee multinationaler Demokratien als Schmidt, Vivien A.: Democracy and legitimacy in the Euro-
Assoziationen sich selbst bestimmender Völker (die pean Union. In: Erik Jones/Anand Menon/Stephen
damit erfolgreich den ihnen auferlegten Status als ›Be- Weatherill (Hg.): The Oxford Handbook of the European
völkerungen‹ oder ›Minderheiten‹ zurückweisen) Union. Oxford 2012, 661–675.
Smith, William: Civil Disobedience and Deliberative Demo-
konfrontiert, woraus sich durchaus auch Lektionen
cracy. London 2013.
für das demokratische Potential von Formen der su- Tully, James: Public Philosophy in a New Key. 2 Bde. Cam-
pra- und transnationalen Integration ergeben könn- bridge 2008.
ten, die über die sowohl aus demokratie- als auch aus Young, Iris M.: Inclusion and Democracy. Oxford 2000.
gerechtigkeitstheoretischer Perspektive zu konstatie- –: Self-determination as non-domination. In: Ethnicities 5/2
rende Legitimationskrise der Europäischen Union hi- (2005), 139–159.
nausweisen (vgl. Tully 2008, Kap. I.6, II.8). In jedem Robin Celikates
Fall legen diese Entwicklungen nahe, dass der Nexus
von Demokratie und Selbstbestimmung angesichts
der oben angeführten Herausforderungen nicht vor-
schnell aufgelöst, sondern stattdessen weiterent-
wickelt werden sollte.

Literatur
Benhabib, Seyla (Hg.): Democracy and Difference. Princeton
1996.
–: Kosmopolitismus und Demokratie. Frankfurt a. M. 2008.
Bray, Daniel/Slaughter, Steven: Global Democratic Theory.
Cambridge 2015.
Buchanan, Allen: Justice, Legitimacy, and Self-Determina-
tion. Oxford 2004.
Carens, Joseph: The Ethics of Immigration. Oxford 2013.
Cassee, Andreas/Goppel, Anna (Hg.): Migration und Ethik.
Münster 2012.
Celikates, Robin/Gosepath, Stefan: Politische Philosophie.
Stuttgart 2013.
Dietrich, Frank: Sezession und Demokratie. Berlin 2010.
Donaldson, Sue/Kymlicka, Will: Zoopolis. Oxford 2011.
60 Enhancement 373

60 Enhancement Gerechtigkeitstheoretische Positionen


und Einwände
Biotechnische Eingriffe in den gesunden mensch-
lichen Organismus, die in der Absicht durchgeführt Ein naheliegender erster Einwand aus gerechtigkeits-
werden, bestimmte gewünschte Eigenschaften oder theoretischer Perspektive basiert auf einer vermuteten
Fähigkeiten herbeizuführen oder zu steigern, werden Analogie zwischen Doping im Sport und biotechnolo-
in der gegenwärtigen bioethischen Debatte unter gischen Enhancements etwa im Bildungssystem
dem Begriff ›Enhancement‹ diskutiert. Dazu gehören (Schermer 2008). In beiden Fällen werden von Einzel-
Eingriffe in das Erbgut von Menschen sowie pharma- nen Mittel herangezogen, um in einem kompetitiven
zeutische Interventionen zur Steigerung der kogniti- Umfeld unfaire Vorteile zu erreichen. Das Gerechtig-
ven Leistungsfähigkeit oder der emotionalen Befind- keitsproblem ergibt sich daraus, dass nun keine Chan-
lichkeit, aber auch Verbindungen des menschlichen cengleichheit mehr besteht. Das Prinzip der Chancen-
Körpers, insbesondere des Gehirns, mit Geräten oder gleichheit (s. Kap. II.26) erfordert nämlich – in John
Computern. Viele Techniken, die schon diskutiert Rawls’ Formulierung –, dass Jobs und Positionen ent-
werden, sind jedoch (noch) Zukunftsmusik, etwa sprechend den Talenten von Menschen vergeben wer-
zielgerichtete Veränderungen im menschlichen Erb- den. Entsprechend argumentiert etwa Norman Da-
gut, um bestimmte gewünschte Eigenschaften her- niels dafür, dass lediglich Therapien, nicht aber En-
beizuführen. Andere Eingriffe sind schon möglich hancements von der Öffentlichkeit finanziert werden
und tatsächlich verbreitet, so etwa der Einsatz von sollen (vgl. Buchanan et al. 2000). Der unfaire Einsatz
kognitiven Stimulanzien unter Wissenschaftlerin- von biotechnischen Enhancements – jenseits der un-
nen, Wissenschaftlern und Studierenden. Um eine terstellten Grenze der therapeutischen Behandlung –
ethische Debatte zu führen, ist es allerdings zweitran- würde die natürliche Verteilung von Talenten über-
gig, ob eine bestimmte Enhancement-Intervention lagern, eigene, authentische Anstrengungen unterbin-
schon jetzt verfügbar ist oder vielleicht erst später den und damit das Verdienstprinzip in Frage stellen.
verfügbar sein wird. Es genügt die Annahme, dass Dies gilt etwa für Fälle, in denen Studierende sich mit-
bestimmte Interventionen in absehbarer Zeit mög- hilfe von Stimulanzien effektiver auf Prüfungen vor-
lich sein könnten. bereiten können und aufgrund besserer Abschlüsse
Die ethische Bewertung von Enhancement-Ein- größere Chancen auf attraktive Positionen haben. Die
griffen umfasst unterschiedliche Dimensionen (Schö- genaue Abgrenzung zwischen vermeintlich unproble-
ne-Seifert/Talbot 2009; Savulescu/Bostrom 2009; Hei- matischen Therapien und unfairen Enhancements ist
linger 2010). Neben der Berücksichtigung von Risiko- allerdings oftmals schwierig.
abwägungen, Autonomieerwägungen und anthro- Nun ist aber die Verteilung von Gesundheit, Talen-
pologischen Argumenten werden auch Theorien ten und Fähigkeit zur Anstrengung selbst arbiträr und
sozialer (s. Kap. II.18) und distributiver Gerechtigkeit unterliegt nicht der Kontrolle des Einzelnen. Die
(s. Kap. II.12) herangezogen. Dass Enhancements Nachteile, die sich aus nicht selbst gewählten Un-
überhaupt für Theorien der Gerechtigkeit einschlägig gleichheiten ergeben, müssen aus der Perspektive des
sind, setzt voraus, sie als ›Distribuenda‹ zu betrachten, Luck Egalitarianism (s. Kap. III.39) vermieden oder
also als Güter, deren Verteilung innerhalb einer Ge- kompensiert werden, egal ob sie sich aus dem sozialen
sellschaft unterschiedlich organisiert werden kann. Kontext oder aus der biologischen Grundausstattung
Enhancements haben dabei vor allem ›instrumentel- von Menschen ergeben. Nur unter der Bedingung
len‹ Wert. Wie andere vielseitig einsetzbare Ressour- weitgehender Gleichheit ist Chancengleichheit über-
cen, etwa Geld, würde die Ressource Enhancement es haupt möglich. An dieser Stelle wird für den Luck
Menschen ermöglichen, bestimmte wertvolle Güter Egalitaristen der Einsatz bestimmter Enhancements
zu erlangen (Jobs, gesellschaftliche Positionen etc.) attraktiv: Die kontrollierte Verteilung von Enhance-
oder selbst gewählte Ziele zu erreichen (intellektuelle ments an diejenigen, die von der ›natürlichen Lotterie‹
Erfahrungen etc.). benachteiligt wurden, könnte zur Neutralisierung des
Zufalls beitragen und erstmalig überhaupt einigerma-
ßen gleiche Ausgangsbedingungen für alle herbeifüh-
ren, auf deren Grundlage dann Individuen frei und
fair in einen Wettbewerb um Jobs und Positionen ein-
treten können (Segall 2010, Kap. 9).
374 V Anwendungsfragen

Die Verteilung von Enhancements in der Absicht, nen, etwa wenn über moralische Verbesserungen von
bestimmte Fähigkeiten oder Eigenschaften hervorzu- Menschen mithilfe biotechnischer Interventionen
bringen, kann sich an unterschiedlichen Mustern ori- nachgedacht wird, um die Welt insgesamt besser und
entieren. Biotechnologische Interventionen zur Ver- gerechter zu machen. Zum einen wird diskutiert, wie
größerung des IQ, zur Steigerung der Konzentrations- etwa durch eine gezielte Beeinflussung der mensch-
und Leistungsfähigkeit könnten etwa dazu genutzt lichen Bedürfnisse, Wünsche und Motivationen bei
werden, Gleichheit herzustellen; sie könnten auch he- gleichzeitiger Vergrößerung der Empathie- und Ein-
rangezogen werden, um zunächst minimale Suffi- sichtsfähigkeit prosoziales und genuin moralisches
zienzstandards für alle zu sichern, oder aber um an- Verhalten gefördert werden kann (Persson/Savulescu
spruchsvollere Ziele von Adäquatheit – etwa mit Blick 2008; kritisch Harris 2011). Zum anderen wird über-
auf die Fähigkeiten, die nötig sind, um als vollwertige legt, ob nicht eine gezielte Veränderung des mensch-
Mitglieder an einer demokratischen Gesellschaft teil- lichen Organismus – etwa mit Blick auf die Körpergrö-
haben zu können – zu verwirklichen. Alternativ könn- ße, den Fleischkonsum etc. – einen Beitrag dazu leisten
ten Enhancements auch prioritär zunächst denen zu- könnte, Probleme wie den Klimawandel anzugehen.
gänglich gemacht werden, die relativ am schlechtesten Kleinere Menschen oder solche mit pharmacological
gestellt sind. Wenn das richtige Verteilungsmuster ge- meat intolerance würden insgesamt einen deutlich we-
funden ist, worüber natürlich in der Forschung Dis- niger klimaschädlichen ökologischen Fußabdruck
sens herrscht, wäre eine Verteilung nach diesem Mus- hinterlassen (Liao/Sandberg/Roache 2012).
ter gerecht (Etieyibo 2011).
Bei realistischer Einschätzung sollte man die Mög-
lichkeit, Enhancements zur Vergrößerung der Gerech- Kritik und Ausblick
tigkeit einzusetzen, jedoch nicht überbewerten. Es ist
vielmehr davon auszugehen, dass der tatsächliche Zu- Insgesamt ist das Erwägen möglicher Enhancement-
gang zu Enhancements in Gesellschaften entspre- Interventionen attraktiv für Theorien der Gerechtig-
chend einer bereits existierenden Ungleichverteilung keit, weil es erlaubt, neue Alternativen zu etablierten
von Ressourcen stattfinden wird und damit Enhance- Ansätzen zu identifizieren. Dennoch ist kritisch zu fra-
ments als Luxusgut nur wenigen Privilegierten zur gen, ob Enhancements – selbst wenn sie möglich wä-
Verfügung stehen werden. Daher bergen Enhance- ren – tatsächlich das erste Mittel der Wahl darstellen,
ments die Gefahr, die Ungleichheit und Ungerechtig- um bestehende Ungerechtigkeiten zu verringern und
keit zwischen Individuen zu verschärfen, sowohl in- die Gerechtigkeit und Gleichheit der Menschen zu ver-
nerhalb einer Gesellschaft als auch im Kontext globaler größern. Oftmals ergibt sich der Eindruck, dass En-
Gerechtigkeit (s. Kap. II.17). Nun ist die Tatsache, dass hancements eher auf die Symptome fundamentaler
nicht alle Menschen sofort gleichermaßen Zugang zu Ungerechtigkeit zielen, als deren Ursachen anzugehen.
einem knappen Gut haben, kein Grund, ein Gut nicht Dass beispielsweise weniger leistungsfähige Menschen
zumindest einigen zugänglich zu machen (Buchanan in den modernen westlichen Industrienationen relativ
2011, Kap. 8). Andererseits ist auch nicht davon aus- benachteiligt werden und oftmals Schwierigkeiten ha-
zugehen, dass der Zugang zu solchen Gütern mit der ben, ihren eigenen Lebensunterhalt zu sichern, ist kei-
Zeit ohne entsprechende politische Intervention allen ne natürliche und unveränderliche Tatsache. Statt zu
zugänglich wird (trickle down). Bei anhaltendem privi- überlegen, wie man solchen Menschen mithilfe bio-
legiertem Zugang zu Enhancements droht somit technischer Enhancements zu einem höheren IQ und
schlimmstenfalls ein weiteres Auseinanderklaffen der mehr kompetitiver Leistungsfähigkeit verhelfen könn-
Schere zwischen den haves und have-nots bezüglich te, wäre auch der ›klassische‹ Weg zu bedenken, auf ei-
der Verteilung knapper Güter. Womöglich könnte das ne Veränderung der sozialen Strukturen hinzuarbei-
sogar zu einer Spaltung der Gesellschaft in unter- ten, die allererst dazu geführt haben, dass bestimmte
schiedliche Klassen oder Kasten führen, letztlich gar gesellschaftlich wichtige Tätigkeiten als ›niedere‹ de-
zur Herausbildung einer trans- oder posthumanen klassiert und schlecht entlohnt werden. Auf der Ebene
Gattung, die – wie bereits diskutiert wird – irgend- der Ursachen anzusetzen, würde die Plausibilität bio-
wann sogar die unverbesserten Menschen versklaven technischer Lösungen deutlich verringern.
könnte (Annas/Andrews/Isasi 2002, 162). Die neuen Möglichkeiten biotechnischer Enhance-
Der Bezug zwischen Enhancement und Gerechtig- ments werden derzeit breit diskutiert, was auch vor
keit lässt sich auch abseits distributiver Fragen erken- dem Hintergrund von Theorien der Gerechtigkeit rele-
61 Familie 375

vant ist. Eine gerechtigkeitstheoretische Auseinander- 61 Familie


setzung ist zum einen nötig, um rechtzeitig über wahr-
scheinlich eintretende Folgen nachzudenken und ent- Die Familie ist in mehreren Hinsichten Gegenstand
sprechende Maßnahmen vorzubereiten, ist aber ande- von Gerechtigkeitserwägungen. Die beiden meistdis-
rerseits auch dann sinnvoll, wenn eine Realisierung kutierten Punkte in der Forschungsliteratur betreffen
utopischer Vorstellungen unwahrscheinlich bleibt. In einerseits die innere Verfasstheit der Familie (intrafa-
diesem Fall können Enhancements Alternativen zur miliäre Gerechtigkeit) und andererseits die Familie
menschlichen Lebens- und Gesellschaftsform aufzei- als Organisationsform und deren Auswirkung inner-
gen, die sich als kritischer Vergleichsmaßstab zur Be- halb einer liberalen egalitären Gesellschaft (interfa-
wertung der Gegenwart heranziehen lassen. miliäre Gerechtigkeit). Interessanterweise wird dabei
der Frage, was eine Familie eigentlich ist (bzw. wer ei-
Literatur ne Familie bilden kann/können sollte), wenig Beach-
Annas, George J./Andrews, Lori B./Isasi, Rosario M.: Protec- tung geschenkt; die Argumentation – insbesondere
ting the endangered human: Toward an international trea- im intrafamiliären Gerechtigkeitsdiskurs, der auch
ty prohibiting cloning and inheritable alterations. In:
American Journal of Law and Medicine 28/2&3 (2002),
Genderaspekte aufweist – legt aber ein traditionelles
151‒178. Familienverständnis nahe. Ein solches Verständnis
Buchanan, Allen: Beyond humanity? Oxford 2011. wird im Zuge neuer Reproduktionsformen und ver-
–/Brock, Dan W./Daniels, Norman/Wikler, Daniel: From änderter gesellschaftlicher Auffassungen von Ehe und
Chance to Choice: Genetics and Justice. Cambridge 2000. Familie immer stärker in Frage gestellt, wobei sich
Etieyibo, Edwin: Genetic enhancement, social justice, and
aber die philosophische Debatte um den Familien-
welfare-oriented patterns of distribution. In: Bioethics
26/6 (2011), 296‒304. begriff bislang vor allem auf Theorien der Elternschaft
Harris, John: Moral enhancement and freedom. In: Bioethics und damit einhergehender Rechte und Pflichten kon-
25/2 (2011), 102‒111. zentrierte, während die Implikationen für Gerechtig-
Heilinger, Jan-Christoph: Anthropologie und Ethik des En- keitsfragen weitgehend unerörtert blieben.
hancements. Berlin 2010.
Liao, Matthew S./Sandberg, Anders/Roache, Rebecca: Hu-
man engineering and climate change. In: Ethics, Policy &
Environment 15/2 (2012), 206‒221. Die Familie – kein Gegenstand
Persson, Ingmar/Savulescu, Julian: The perils of cognitive von Gerechtigkeit?
enhancement and the urgent imperative to enhance the
moral character of humanity. In: Journal of Applied Phi- Zunächst gilt es zu klären, inwiefern das Vokabular
losophy 25/3 (2008), 162‒167. von Rechten und Gerechtigkeit überhaupt auf die Fa-
Savulescu, Julian/Bostrom, Nick (Hg.): Human Enhance-
ment. Oxford 2009. milie Anwendung finden kann bzw. soll. Eine fun-
Schermer, Maartje: On the argument that enhancement is damentale Kritik diesbezüglich lautet, dass die Fami-
»cheating«. In: Journal of Medical Ethics 34/2 (2008), lie ›jenseits der Gerechtigkeit‹ liege, insofern sie von
85‒88. spontaner Affektion und Liebe geregelt sei, und es da-
Schöne-Seifert, Bettina/Talbot, Davinia: Enhancement. Die her unangemessen sei, sich auf Rechte und Gerechtig-
ethische Debatte. Paderborn 2009.
keitsprinzipien zurückzuziehen. Diese Position, für
Segall, Shlomi: Health, Luck, and Justice. Princeton 2010.
die eine starke Unterscheidung zwischen der öffent-
Jan-Christoph Heilinger lichen Sphäre der Gerechtigkeit und der privaten
Sphäre der Familie charakteristisch ist, kann in zwei
Lesarten auftreten: Gemäß einer starken, kommunita-
ristisch bis konservativ geprägten Lesart unterminiert
die explizite Erörterung von Gerechtigkeitsfragen die
Familie, indem an die Stelle des liebenden Zusam-
menhalts eine Atmosphäre der Verhandlung und Be-
wertung von Vor- und Nachteilen trete (vgl. Sandel
1982, 33–35). Diese starke Lesart nimmt die Familie
offensichtlich als ›sicheren Hafen‹, als einen Ort der
Liebe und Fürsorge an, so dass sie maximal für glück-
liche Familien zutreffen kann, nicht aber für die Fami-
lie ›als solche‹ (vgl. Archard 2010, 89).
376 V Anwendungsfragen

Einer schwächeren Lesart zufolge sind zwar beide männliche Selbstbevorzugung und Selbstverehrung
Paradigmen, die private Sphäre der Liebe und Zuwen- zulasten von Frauen und Töchtern vorherrsche.
dung (›Gefühlsmodell‹) auf der einen Seite und die öf- Diese Diagnose teilt Susann Moller Okin, die in ih-
fentliche Sphäre der Gerechtigkeit (›Rechtsmodell‹) rer 1989 erschienenen Schrift Justice, Gender, and the
auf der anderen Seite, in der Familie anwesend, stehen Family insofern einen Schritt weitergeht, als sie nicht
aber in einer unauflöslichen Spannung zueinander nur Gerechtigkeit im Sinne rechtlicher Gleichstellung
(vgl. Honneth 1995, 999). Wo die Grenzlinie zwischen und des Respekts innerhalb der Familie fordert, son-
den beiden verlaufe, könne nicht auf substanzielle dern auch distributive Gerechtigkeit zwischen Mann
Weise beantwortet werden, sondern nur prozedural, und Frau in Bezug auf Hausarbeit und Kindererzie-
insofern jede Familie in einen diskursiven Austausch hung (vgl. zu diesem Themenbereich auch Krebs
darüber treten müsse, wie die Spannung zwischen Lie- 2002). Denn neben dem oben genannten Aspekt der
be und Gerechtigkeit aufzulösen sei (vgl. ebd., 1004). Familie als Ort moralischer Entwicklung erfordere ei-
ne gerechte Gesellschaft gleiche Chancen für Männer/
Väter wie für Frauen/Mütter, ihre Fähigkeiten zu ent-
Intrafamiliäre Gerechtigkeit wickeln, politisch zu partizipieren sowie öffentlich
Einfluss zu nehmen (vgl. Moller Okin 1989, 22). Dies
Gegen die soeben skizzierten Positionen haben ins- sei aber so lange nicht realisiert, wie Frauen überpro-
besondere Feministinnen Einspruch erhoben. Ihnen portional die Lasten innerhalb der Familie übernäh-
zufolge sollte man die Familie keinesfalls als eine rein men und deshalb ökonomisch abhängig und politisch
private Sphäre betrachten, in welcher Gerechtigkeits- wenig einflussreich blieben. In diesem Kontext wirft
ansprüche keine oder nur begrenzte Geltung fänden. sie – trotz grundlegender Übereinstimmung – vor al-
Damit verkenne man, dass 1) die Familie nicht allein lem Rawls vor, dass er die innere Verfasstheit von Fa-
eine ›natürliche‹ Organisation sei, sondern auch in milien ebenfalls zu sehr als ›Privatsache‹ betrachte, in-
hohem Maße eine soziale Institution, 2) der Staat ein sofern er die Geltung der politischen Gerechtigkeits-
Interesse an der (moralischen) Entwicklung seiner prinzipien nicht auf das »Innenleben der Familie«
Bürger haben müsse (die zuallererst in Familien statt- (ebd.) ausweiten wolle.
finde) und 3) die Arbeitsteilung innerhalb der Familie Diese Kritik greift Rawls in der Neufassung seiner
gegenwärtig nach wie vor zulasten der Frauen organi- Gerechtigkeit als Fairness explizit auf, wenn er konsta-
siert sei, was wiederum deren Freiheiten und Perspek- tiert, dass in der Familie als Teil der Grundstruktur
tiven in der Gesellschaft einschränke (vgl. Satz 2013). neben den Grundrechten und -freiheiten auch die fai-
Die Bedeutung der Familie für die Entwicklung und ren Chancen ihrer Mitglieder garantiert sein müssen
Erziehung von Kindern ist unbestritten – dies gilt auch (Rawls 2003, § 50, 253 f.). Allerdings scheint er dabei
für deren moralische Entwicklung und die damit ver- – wie schon in der Theorie der Gerechtigkeit – grund-
bundene Ausbildung eines Gerechtigkeitssinns (vgl. sätzlich die Anwendung der übrigen Gerechtigkeits-
Rawls 1979, §§ 70–76). Da ein solcher Gerechtigkeits- prinzipien (insbesondere des Differenzprinzips) für
sinn der Bürger eine wichtige Rolle für die Stabilität ei- ausreichend zu erachten (ebd., 254). Etwas weitrei-
nes wohlgeordneten Staates spielt, muss ein gerechter, chendere Forderungen finden sich allerdings in einer
liberaler Staat ein Interesse daran haben, dass Kinder Passage, in der er zugesteht, dass zur Durchsetzung
in Verhältnissen aufwachsen, die dem gewünschten der vollen Gleichheit für Frauen Schritte unternom-
Gerechtigkeitssinn dienlich sind. Allerdings hat schon men werden müssten, »um entweder den Arbeits-
John Stuart Mill in seinem Essay »The Subjection of anteil anzugleichen oder die Frauen für ihren größe-
Women« (1869/1984) kritisch gefragt, wie denn Kin- ren Anteil zu entschädigen« (ebd., 257).
der einen Gerechtigkeitssinn entwickeln sollen, wenn Inwiefern die Familie als Teil der Grundstruktur
sie in der Familie mit zutiefst ungerechten Strukturen nach egalitären Maßstäben organisiert sein müsse, ist
konfrontiert sind. Erst wenn die innerfamiliären Be- umstritten, wobei die Mehrheitsmeinung Rawls darin
ziehungen von Gleichheit und Respekt geprägt seien, zustimmt, dass die Institutionen der Grundstruktur
könne sich die Familie von einer Schule des Despotis- (darunter auch Institutionen wie Kirchen, Universitä-
mus (»school of despotism«) in eine der Freiheit und ten und Gerichte) nicht zwingend gerecht nach ega-
entsprechender Tugenden (»school of the virtues of litären distributiven Maßstäben verfasst sein müssten,
freedom«) wandeln (ebd., 294 f.), in der nicht mehr sofern grundlegende Rechte gewahrt blieben (De
Wijze 2000, 274 f.). Eine ungleiche Verteilung der Las-
61 Familie 377

ten innerhalb der Familie sei so lange aus liberaler Per- Interfamiliäre Gerechtigkeit
spektive gerechtfertigt, wie ihr zugestimmt worden sei
– schließlich gebe es noch andere Maßstäbe von Fair- Die Familie als Institution einerseits und eine liberale
ness, wie etwa die Verteilung nach Vorlieben oder Gesellschaft, welche die Chancengleichheit ihrer Bür-
Kompetenz (ebd., 279). Gegen eine stark egalitäre Auf- ger gesichert sehen möchte, andererseits scheinen
fassung der internen Familienstruktur wird weiter an- schwer miteinander vereinbar zu sein. Selbst wenn die
geführt, dass diese implizit auf einer bestimmten Kon- intrafamiliäre Gerechtigkeit gesichert sein sollte, er-
zeption des Guten gründe und damit, im Falle einer weist sich die Familie immer noch in interfamiliärer
staatlichen Durchsetzung, gegen das so genannte libe- Hinsicht als eine Bedrohung der Gerechtigkeit. Kin-
rale Neutralitätsgebot verstoße (vgl. Card 2001, 164). der aus bildungsnahen und wohlhabenden Familien
Die diskutierte Gegenüberstellung von innerfami- haben nämlich – insbesondere in Deutschland – deut-
liärer Gerechtigkeit und der Autonomie der (liebevol- lich bessere Chancen und Lebensperspektiven als
len) Familie halten Pauline Kleingeld und Joel Ander- Kinder aus ärmeren, bildungsfremden Familien, was
son für prinzipiell verfehlt: Diese Spannung sei inso- viele Bildungswissenschaftler wiederholt problemati-
fern bloß vordergründig, als ein innerfamiliärer Dis- sieren (vgl. Wernstedt/John-Ohnesorg 2008; Müller/
kurs (auch zwischen Eltern und Kindern) über Ehmke 2013; s. Kap. V.58). Damit gefährden Familien
Gerechtigkeit und entsprechende Aufgabenverteilung die liberale Überzeugung, dass die soziale Herkunft
gerade zum Zusammenhalt und positiven Selbstver- nicht über die Lebensaussichten von Kindern ent-
ständnis einer liebevollen Familie beitrügen. Vor die- scheiden solle. Auf diese Weise kann die von wohl-
sem Hintergrund plädieren sie dafür, Gerechtigkeit habenden Eltern gelebte Bevorzugung ihrer eigenen
nicht nur als vereinbar mit (familiärer und ehelicher) Kinder, welche diese mit kompetitiven Vorteilen aus-
Liebe zu betrachten, sondern sie vielmehr als einen fa- stattet, nicht annähernd durch die Bevorzugung der
miliären Wert anzuerkennen (vgl. Kleingeld/Ander- Kinder aus ärmeren Familien durch ihre eigenen El-
son 2014, 333). tern kompensiert werden – und dieser Effekt poten-
Zuletzt sei noch auf einen weiteren Aspekt der in- ziert sich über die Zeit und Generationen hinweg. Die
trafamiliären Gerechtigkeit hingewiesen, der bislang genannten Vorteile sind nicht bloß materieller Natur;
weniger Beachtung gefunden hat, nämlich das Ver- mindestens so wichtig dürften daneben Netzwerke
hältnis zwischen Eltern und Kindern aus dem Blick- und der damit verbundene Zugang zu Informationen
winkel relationaler Gleichheit: Sollen Kinder in der sowie bestimmte kulturelle Werte und Praktiken (z. B.
Beziehung zu ihren Eltern als Gleiche behandelt wer- Museumsbesuche) sein – das so genannte kulturelle
den? Ein Grund für die lange ausgebliebene, jetzt aber Kapital (vgl. Brighouse/Swift 2014, 29).
in Gang kommende Diskussion dieser Frage mag sein, Diese Problematik erkennt z. B. auch John Rawls
dass die radikale Position der so genannten child libe- an, wenn er in seiner Theorie der Gerechtigkeit konsta-
rationists, die Kindern die gleichen Rechte wie Eltern tiert: »Außerdem lässt sich der Grundsatz der fairen
zugestehen wollen, auf wenig Resonanz stieß. Statt- Chancen nur unvollkommen durchführen, mindes-
dessen dürfte Konsens darüber herrschen, dass Eltern tens solange es die Familie in irgendeiner Form gibt«
zwar nicht uneingeschränkte Rechte über ihre Kinder (Rawls 1979, § 12, 94). Diese Skepsis kulminiert an an-
haben (und Letztere die gleichen basalen Menschen- derer Stelle in der Frage: »Ist also die Familie ab-
rechte besitzen), sie aber kraft elterlicher Autorität zuschaffen?« (ebd., § 77, 555). Rawls verneint letztlich
Rechte in Bezug auf ihre Kinder haben – deren Inhalt diese Frage, indem er auf die mildernde Wirkung des
sich parallel zu deren Entwicklungsstand verändert Differenzprinzips hinweist. Ferner habe die Familie
(vgl. Brennan/Noggle 1997). So treffen Eltern zahlrei- eine zu hohe Bedeutung hinsichtlich der Regeneration
che Entscheidungen (z. B. im medizinischen Kontext) von Gesellschaft und Kultur sowie der moralischen
für ihre Kleinkinder, während sie älteren, reiferen Entwicklung der Kinder und damit auch für den Ge-
Kindern ein Mitbestimmungsrecht einräumen müs- rechtigkeitssinn der Bürger, als dass man auf sie ver-
sen. Diesem dynamischen Aspekt in der Eltern-Kind- zichten könne. Diese instrumentelle Begründung sei
Beziehung wird gegenwärtig viel Beachtung ge- zu schwach, um die Familie aus dem Blickwinkel der
schenkt, was sich etwa in der zunehmenden Literatur Gerechtigkeit zu legitimieren, moniert Véronique
zur Anerkennung und Förderung der Autonomie von Munoz-Dardé. Mit Hilfe eines Gedankenexperi-
Kindern widerspiegelt (vgl. z. B. Betzler 2011). ments, in dem sie die Kindererziehung in der Familie
derjenigen in einem gut geführten Waisenhaus mit fä-
378 V Anwendungsfragen

higen und achtsamen Erziehern gegenüberstellt, ständlich empfundene Praktiken von Eltern (Finan-
kommt sie zum Schluss, dass die Familie aus mora- zierung von Privatschulen, Zusatzversicherungen
lischen Gründen insofern vorzuziehen sei, als die par- etc.) infrage. Solche Einschränkungen greifen stark in
teiische Liebe der Eltern bewirke, dass sich das Kind in die vom Liberalismus respektierte Autonomie der Fa-
seiner Individualität und Selbstzwecklichkeit an- milie ein, insbesondere in die elterlichen Rechte. Die
genommen fühle (Munoz-Dardé 1999, 44 f.). Die Er- meisten Eltern dürften etwa für ihre Kinder ›nur das
ziehung in einer staatlichen Institution laufe hingegen Beste‹ wollen, was ihnen angesichts der befürworte-
Gefahr, die Kinder für kollektive Zwecke zu instru- ten Einschränkungen nicht mehr ermöglicht wird.
mentalisieren (z. B. durch Beeinflussung der Berufs- Ferner lässt sich kritisch fragen, ob die Entschei-
wahl im Sinne wirtschaftlicher Bedürfnisse; ebd.). dungsfreiheit der Eltern (z. B. bezüglich der Wahl ei-
Insgesamt betrachtet sei die nicht-ideale Existenz der ner Privatschule) nicht so lange legitim ist, wie die
Familie besser als ihre Abschaffung (vgl. auch Archard Qualität öffentlicher Schulen und anderer Institutio-
2010, 99). nen gut genug bzw. adäquat ist (vgl. Anderson 2007).
Dieses Resümee enthält allerdings keinen Hinweis Zielführender als starke Eingriffe in die elterliche
darauf, welche Praktiken elterlicher Liebe noch unter Wahlfreiheit dürften zur Dämpfung interfamiliärer
gerechtfertigter Parteilichkeit zu subsumieren sind und Ungerechtigkeit daher (sozial)politische und steuer-
welche darüber hinausgehen (dass elterliche Partei- rechtliche Maßnahmen sein, die einerseits einen gu-
lichkeit grundsätzlich legitim ist, ist derzeit die Mehr- ten Standard öffentlicher Institutionen garantieren
heitsmeinung in der familienethischen Literatur). und andererseits Arbeitseinkommen nicht stärker
Diesbezüglich schlagen aktuell Adam Swift und Harry belasten als Vermögen (s. Kap. V.75).
Brighouse mit Verweis auf ihre Konzeption familiärer
Werte vor, dass nur diejenigen Handlungen aus dem
Blickwinkel der Gerechtigkeit gerechtfertigt seien, die Familie und Gerechtigkeit im gesamtgesell-
für das Aufrechterhalten und die Pflege einer guten El- schaftlichen und globalen Maßstab
tern-Kind-Beziehung notwendig sind. Während damit
die tägliche Gutenachtgeschichte, die zur wertvollen Neben der intrafamiliären und der interfamiliären
Intimität in der Eltern-Kind-Beziehung beiträgt, ge- Gerechtigkeit rückt mit dem demographischen Wan-
rechtfertigt werden kann (selbst wenn damit sprach- del in vielen Industriestaaten und den damit einher-
liche und damit intellektuelle Vorteile für die jewei- gehenden gesellschaftlichen Herausforderungen (Si-
ligen Kinder einhergehen), lässt sich der Besuch einer cherung der Sozialsysteme, Finanzierung von Pflege,
teuren Eliteschule hingegen nicht rechtfertigen, da er Fachkräftemangel etc.) die Frage einer gerechte(re)n
einer gelungenen Eltern-Kind-Beziehung nicht ge- Lastenverteilung zwischen Familien und Kinderlosen
schuldet ist (Brighouse/Swift 2014, 125). bzw. einer stärkeren öffentlichen Unterstützung von
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Colin Familien immer mehr in den Fokus – auch in der Phi-
Macleod, wenn er zunächst basale, an den spezi- losophie. Dabei wird geltend gemacht, dass die gesell-
fischen Bedürfnissen von Kindern ausgerichtete Gü- schaftliche Leistung von Familien einerseits und de-
ter (children-focused resources) wie gute Bildung, Ge- ren tatsächliche Kosten im Zuge der Kindererziehung
sundheitsversorgung, gesunde Ernährung und Un- andererseits höher sind als bislang anerkannt (vgl.
terkunft identifiziert, die allen Kindern öffentlich be- Folbre 2008). Eltern hätten deshalb Anspruch darauf,
reitgestellt werden sollen. Damit bessergestellte (stärker) seitens der Kinderlosen bzw. durch öffent-
Eltern ihren Kindern durch private ergänzende Maß- liche Gelder finanziell entlastet zu werden (vgl. Olsa-
nahmen in Bezug auf die genannten Güter nicht er- retti 2013). Es ist zu erwarten, dass die Frage, ob Fami-
neut einen Vorteil verschaffen, befürwortet er eine lien aus gerechtigkeitstheoretischen Gründen stärker
Einschränkung diesbezüglich: »Reichen Eltern sollte finanziell unterstützt werden müssten, angesichts der
es nicht erlaubt sein, ihren Kindern eine bessere Ge- nach wie vor ungelösten gesellschaftlichen Herausfor-
sundheitsversorgung oder Bildung zu kaufen« (Mac- derungen an Brisanz noch zunehmen wird.
leod 2002, 227). – Allein in Bereichen wie etwa der Ähnliches ist auch für die Herausforderungen im
Freizeitgestaltung dürften Eltern sich über das gege- Hinblick auf die intrafamiliäre wie auch interfamiliäre
bene Maß hinaus (auch finanziell) engagieren. Dieser Gerechtigkeit zu konstatieren, wenn man sie im globa-
Vorschlag (wie auch der von Brighouse/Swift) ist re- len Maßstab betrachtet. In dem Kontext ist etwa auf
visionär, stellt er doch viele gängige, als selbstver- den so genannten care drain hinzuweisen (vgl. Gheaus
61 Familie 379

2013): Je mehr Familienarbeit in wohlhabenden Län- Moller Okin, Susan: Justice, Gender, and the Family. New
dern an Nannys und (weibliche) Haushaltshilfen aus York 1989.
Entwicklungsländern delegiert wird, desto mehr sind Müller, Katharina/Ehmke, Timo: Soziale Herkunft als Be-
dingung der Kompetenzentwicklung. In: Manfred Pren-
deren weibliche Angehörige (Töchter, Schwester, zel/Christine Sälzer/Eckhard Klieme/Olaf Köller (Hg.):
Cousinen) gefordert, die in der Heimat zurückgeblie- PISA 2012. Fortschritte und Herausforderungen in
benen Kinder zu versorgen. Dies führt zu dem para- Deutschland. Münster 2013, 245–274.
doxen Ergebnis, dass die familiäre Emanzipation der Munoz-Dardé, Véronique: Is the family to be abolished
Frauen in Industriestaaten eine Verstärkung der intra- then? In: Proceedings of the Aristotelian Society 99 (1999),
37–56.
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Olsaretti, Serena: Children as public goods? In: Philosophy &
bewirkt. Doch auch die interfamiliäre Gerechtigkeit Public Affairs 41/3 (2013), 226–258.
ist im globalen Maßstab (noch) stärker unter Druck: Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
Je mehr clanartige Familien – Familie hier als (groß) 1979 (engl. 1971).
familiäres Netzwerk gemeint – Kapital und wirtschaft- –: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M.
lichen wie politischen Einfluss akkumulieren, desto 2003 (engl. 2001).
Sandel, Michael: Liberalism and the Limits of Justice. Cam-
schwieriger dürfte die Grenze zwischen gerechtfertig- bridge 1982.
ter Parteilichkeit und ungerechtfertigtem Nepotismus Satz, Debra: Feminist perspectives on reproduction and the
zu ziehen sein. family. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclope-
dia of Philosophy (Winter 2013 Edition), http://plato.stan-
Literatur ford.edu/archives/win2013/entries/feminism-family/
Anderson, Elizabeth: Fair opportunity in education: a de- (5.2.2016).
mocratic equality perspective. In: Ethics 117 (2007), 595– Wernstedt, Rolf/John-Ohnesorg, Marei (Hg.): Soziale Her-
622. kunft entscheidet über Bildungserfolg. Konsequenzen aus
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380 V Anwendungsfragen

62 Geschlecht de Maßnahmen infolge von Diskriminierungen oder


auch die Erfüllung von Geschlechterquoten. Außer-
Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern stellt eine dem kann die Geschlechtszugehörigkeit in Bezug auf
wichtige Frage des abendländischen Nachdenkens bestimmte biologische und/oder gesellschaftliche Ei-
über Gerechtigkeit dar. Gleichwohl wurde dem The- genschaften eine Rolle spielen, wenn aus gerechtig-
ma Geschlechtergerechtigkeit bzw. der Gleichberech- keitstheoretischen Gründen beispielsweise besondere
tigung der Geschlechter – wie es heute vor allem in Rücksichten auf geschlechtsbezogene Merkmale ge-
feministischen und/oder geschlechtertheoretischen fordert sind. Anwendungsfelder gendersensibler Ge-
Ansätzen in der Philosophie, Soziologie, Politik- und rechtigkeitstheorien liegen heutzutage in liberal-de-
Rechtswissenschaft sowie in den Gender Studies un- mokratischen Gesellschaften vor allem in den Berei-
tersucht wird – in der Geschichte der Philosophie ver- chen Sexualität/sexuelle Orientierung, Reproduktion
gleichsweise wenig Gewicht zugemessen. Die Mehr- und Gesundheit, private und öffentliche Arbeitstei-
zahl der Gerechtigkeitstheorien setzt sowohl die Exis- lung zwischen den Geschlechtern, Erziehung und Bil-
tenzweise der Geschlechter als auch das Verhältnis dung sowie im Bereich gesellschaftlicher Macht- und
zwischen den Geschlechtern als selbstverständlich Führungspositionen. Insbesondere Sexismus als spe-
bzw. ›natürlich gegeben‹ voraus und problematisiert zifisch geschlechtsbezogene Form der Diskriminie-
die damit verbundenen gesellschaftlichen, kulturellen rung von Personen/Personengruppen mit einer be-
und politischen Annahmen über spezifische Ge- stimmten Geschlechtszugehörigkeit und/oder be-
schlechtseigenschaften, Bedürfnisse, Verhaltenswei- stimmter sexueller Orientierung steht im Fokus ge-
sen und Rollenerwartungen nicht eigens. Dies kann, schlechtersensibler Gerechtigkeitsüberlegungen.
z. B. aus feministischer Perspektive, insofern selbst Zum anderen stellt ›Geschlecht‹ eine zentrale Ana-
schon ein Gerechtigkeitsproblem darstellen, als damit lysekategorie dar (vgl. Klinger 2005; Kerner 2006), mit
oftmals einem patriarchalisch geprägten, androzentri- deren Hilfe klassische Gerechtigkeitsstandards, z. B.
schen Weltbild Vorschub geleistet wird, dessen impli- Gleichheit, Unparteilichkeit oder Neutralität, aber
zite und explizite Normen das Nachdenken über Ge- auch die Normen und Kriterien bestimmter gerech-
rechtigkeit, z. B. hinsichtlich Verteilungsstandards, tigkeitsrelevanter Maßnahmen, etwa Güterverteilung,
vereinseitigend vorstrukturieren. Kulturell verankerte Gleichstellung oder rechtlicher Schutz von Besonder-
Vorstellungen eines Dualismus zwischen ›Männlich- heit, mit Blick auf deren jeweilige genderbezogene Im-
keit‹ und ›Weiblichkeit‹ veranlassen gendersensible plikationen untersucht werden können.
Gerechtigkeitstheorien zu umfassenden Analysen be- Die Unterscheidung zwischen Geschlecht als Ana-
züglich normativer Ansprüche (s. Kap. II.14): Sie un- lysekategorie und als Gegenstand von Gerechtigkeits-
tersuchen sowohl Gleichheitsforderungen als auch überlegungen ist als begriffliche Unterscheidung auch
Besonderheiten in Bezug auf die verschiedenen Di- normativ von Bedeutung, insofern sie auf den fak-
mensionen des Geschlechterbegriffs wie z. B. die – tischen – mitunter ungerechten – Diskurs über Ge-
umstrittene – Unterscheidung zwischen physiolo- schlechtergerechtigkeit reflektiert. In zahlreichen so-
gisch-biologischen Aspekten (sex) und kulturell-ge- zialen, kulturellen und politischen Debatten wird in-
sellschaftlichen Aspekten (gender) des Geschlechts haltlich auf das Geschlecht von Personen bzw. auf die
(vgl. hierzu u. a. Maihofer 1994; Gatens 1996, 3–20; Geschlechterordnung einer ganzen Gesellschaft Be-
Nagl-Docekal 1999, 46–67). zug genommen, ohne dass dabei die impliziten An-
nahmen über spezifische Geschlechtseigenschaften,
Rollenbilder und -erwartungen genauer befragt wer-
Der Zusammenhang von Gerechtigkeit den. Affirmierende, essentialisierende und/oder ideo-
und Geschlecht logisierende Geschlechterzuschreibungen können je-
doch bereits auf der Ebene des Diskurses eine Unge-
Ein Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Ge- rechtigkeit gegenüber Betroffenen darstellen (vgl. für
schlecht besteht in zwei Hinsichten. Zum einen kann die Diskussion über geschlechtergerechte Sprache
das Geschlecht von Personen oder Personengruppen z. B. Talbot 2010; s. Kap. V.74). Dies wird vor allem
Gegenstand von Gerechtigkeitsüberlegungen sein. auch anhand der zum Teil sehr jungen Debatten über
Diese moralischen bzw. gesellschaftlichen oder politi- Homo-, Trans- oder Intersexualität, z. B. im Kontext
schen (Entscheidungs-)Fragen zur Gleichstellung der einer queertheoretischen Kritik von Heteronormati-
Geschlechter betreffen dann etwa wiedergutmachen- vität, deutlich, wenn Ansprüche auf Besonderheit
62 Geschlecht 381

bzw. Rechte auf Autonomie oder Gleichheit margina- Wertmaßstäbe der Gerechtigkeit untersucht und kri-
lisiert oder gar abgesprochen werden (vgl. Judith But- tisiert.
lers Kritik an der »Zwangsordnung Geschlecht/Ge- Ab den 1980er Jahren entwirft Carol Gilligan mit
schlechtsidentität/Begehren«, Butler 1991, 22). ihren Arbeiten zur kognitivistischen Moralpsycho-
logie auf der Grundlage empirischer Befragungen ei-
ne Alternative zu androzentrischen Gerechtigkeits-
Gerechtigkeit und das Problem vorstellungen (vgl. Gilligan 1984; Gilligan/Attanucci
der Geschlechtsblindheit 1988). Diese so genannte Care- bzw. Fürsorgeethik
enthält im Unterschied zu den vorherrschenden, auf
Von einer Auseinandersetzung mit dem Thema Ge- allgemeinen Rechten und universalen Kategorien der
schlecht in Bezug auf Gerechtigkeit im engeren Sinne Rationalität basierenden Gerechtigkeitsansätzen ein
kann erst seit der Moderne gesprochen werden. We- Moralverständnis, das der Fähigkeit zu Fürsorglich-
nige Ausnahmen in der Geschichte sind Platon, der keit und Empathie von moralisch Handelnden sowie
bereits in der Antike für die Gleichberechtigung der der Kontextabhängigkeit moralischer Urteile Rech-
Geschlechter u. a. in Bezug auf intellektuelle und po- nung trägt. Auch wenn der Anspruch der Care-Ethik
litische Führungspositionen argumentiert (vgl. Pla- anfangs mit einer ›Frauen-Ethik‹ identifiziert wurde,
ton 1991, insbes. Buch V) oder Christine de Pizan, die liegt er vielmehr darin, die Ebenbürtigkeit mora-
im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit eine ge- lischer Werte, die herkömmlicherweise mit ›Weiblich-
schlechtergerechte Gesellschaftsordnung entwirft keit‹ assoziiert werden (z. B. Verbundenheit mit und
(vgl. de Pizan 1405/1992). Autorinnen wie Olympe de Fürsorge für Andere), mit traditionellerweise ›männ-
Gouges oder Mary Wollstonecraft problematisieren licht‹ konnotierten Werten (z. B. Rationalität, Neutra-
im 18. Jahrhundert die Geschlechtsblindheit einer lität und Universalität) anzuerkennen. Ein prominen-
universalen Gerechtigkeitsvorstellung, wie sie z. B. in tes Anwendungsgebiet der Care-Ethik liegt neben der
der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aus Medizinethik im Bereich der Ethik familiärer Bezie-
dem Jahre 1789 zum Ausdruck kommt, und weisen hungen (vgl. Noddings 1984; Ruddick 1989).
vehement auf den androzentrischen Charakter von In der Debatte um das Verhältnis von Gerechtigkeit
allgemeingültigen Gerechtigkeitsmaßstäben hin. In und Geschlecht hat sich im Übergang vom 20. zum
ihren Schriften decken sie die vergeschlechtlichten 21. Jahrhundert eine Fülle feministischer bzw. ge-
Implikationen von Recht, Moral, gesellschaftlichen schlechtersensibler Gerechtigkeitsansätze herausgebil-
Rollenerwartungen und Erziehungsidealen auf. Sie det (vgl. Pauer-Studer 2005, 108–130). Neben Rück-
kritisieren, dass diese Implikationen von zeitgenössi- griffen auf Konzeptionen der Gefühlsethik (vgl. Baier
schen männlichen Theoretikern entweder negiert 1993; Nussbaum 2002, 163–233) finden sich feministi-
(Immanuel Kant) oder aber unreflektiert affirmiert sche Varianten der kantischen Gerechtigkeitstheorie
(Jean-Jacques Rousseau) werden, was in beiden Vari- (vgl. O’Neill 1996), der Gerechtigkeitskonzeption der
anten auf die Minderbewertung von weiblichen Ver- Diskursethik (vgl. Benhabib 1989) sowie neo-aristote-
haltensweisen oder gar der ›weiblichen Natur‹ im lischer Gerechtigkeitsansätze (vgl. Nussbaum 1999).
Ganzen hinauslaufe (vgl. de Gouges 1791/1999; Woll- Zum einen werden in diesen Ansätzen die grundlegen-
stonecraft 1792/2004). den Kriterien der jeweiligen Gerechtigkeitsnormen,
Die heutige gerechtigkeitstheoretische Debatte -standards und -begründungen hinsichtlich ihrer un-
über den Zusammenhang von Gerechtigkeit und terschwelligen geschlechtsbezogenen Verzerrungen
Geschlecht knüpft an diese frühen feministischen untersucht. Besonderes Gewicht liegt hierbei auf der
Kritiken an, umfasst aktuell aber auch Ansätze der kritischen Reflexion des Selbstverständnisses der Phi-
Men’s Studies, die sich mit gesellschaftlichen Kon- losophie als einer Disziplin, die sich mit den Dingen
zepten von ›Männlichkeit‹ befassen (vgl. u. a. Con- ›schlechthin‹ und nicht mit vergeschlechtlichten Ge-
nell 2005), sowie Positionen der Queer Theory (vgl. genständen befasse. Es werden beispielsweise andro-
u. a. Butler 2004). So werden im ausgehenden 20. zentrische Implikationen von zentralen Begriffen der
und beginnenden 21. Jahrhundert nicht nur die mi- Gerechtigkeitstheorie entlarvt. Ein Hauptkritikpunkt
sogynen, sexistischen oder geschlechterdiskriminie- bezieht sich dabei nicht nur auf die Abwesenheit des
renden Auswirkungen von Gerechtigkeitsnormen ›anderen‹ Geschlechts bzw. der Geschlechtlichkeit
auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch überhaupt. Auch die Gleichsetzung des ›eigenen‹ (d. h.
die Vergeschlechtlichung vermeintlich neutraler traditionellerweise männlichen) Geschlechts mit dem
382 V Anwendungsfragen

›Menschen an sich‹ und die daraus resultierenden Ver- men beziehen sich auf den Maßstab der (formalen)
nachlässigungen frauenspezifischer Gesichtspunkte, Gleichheit der Geschlechter bzw. auf die Idee der
z. B. der vergeschlechtlichten Leiblichkeit, reprodukti- Gleichheit vor dem Gesetz. Allerdings zeigt sich am
ver Belange oder normierender Geschlechtszuschrei- Beispiel der affirmative action (zu Deutsch: ›positive
bungen, werden moniert (vgl. Klinger 2005, 329–338). Diskriminierung‹), dass der Begriff der Gleichheit un-
Zum anderen wird der Einwand erhoben, dass gerade terschiedliche Bedeutungen haben kann: Im Unter-
die verallgemeinernde Sicht des Moralischen »per de- schied zum Verständnis von Gleichheit als Vorausset-
finitionem über die mit der [...] Asymmetrie im Status zung, z. B. im Sinne von Chancengleichheit (s. Kap.
von Frauen und Männern zusammenhängenden Pro- II.26), wird sie hier als Resultat aufgefasst, d. h. im
bleme und Erfahrungen« (Pauer-Studer 2005, 105) Sinne von Ergebnisgleichheit. In Bezug auf Maßnah-
hinweggehe, weil das Begriffsrepertoire des ›All- men wie Quotenregelung, institutionelle Frauenför-
gemein-Menschlichen‹, des ›Universalen‹ und ›Neu- derungs- und Gleichstellungspolitiken sowie ›Gender
tralen‹ explizit von geschlechtsbezogener Verkörpe- Mainstreaming‹-Programme (vgl. Frey 2003) kann
rung und Situierung absehe. Hier setzen geschlechter- somit das Paradox entstehen, dass eine (ehemalige)
sensible Gerechtigkeitstheorien an, nicht nur das Diskriminierung bewusst in eine (temporäre) Bevor-
»Schweigen der Philosophie zum Thema Geschlecht« zugung und damit Absehung von Gleichheit umge-
(Klinger 2005, 330) zu brechen, sondern begriffliche kehrt wird. Diese Handhabung rekurriert in rechtlich-
Instrumentarien für die Beförderung von Geschlech- politischer Hinsicht zum Teil auf entsprechende men-
tergerechtigkeit zu entwickeln. schenrechtlich begründete Antidiskriminierungs-
regelungen (vgl. das internationale Ȇbereinkommen
zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der
Geschlechtersensible Gerechtigkeits- Frau« der Vereinten Nationen, CEDAW 1979).
normen: Gleichheit versus Differenz Die so genannte positive Diskriminierung/Quotie-
rung wird allerdings aus philosophischer Perspektive
Im Zuge der Moderne und vor allem mit dem Auf- als problematisch beurteilt. Erstens stellt sich die Frage
kommen der Ersten Frauenbewegung in der zweiten nach der Verhältnismäßigkeit struktureller Kompen-
Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die Gleichberechti- sation, d. h. inwiefern historisches Unrecht gegenüber
gung der Geschlechter in Bezug auf Lebensaussichten, Personen, die bereits tot sind, mit Maßnahmen, von
die Chance auf Selbstverwirklichung sowie die aktive denen Nachfolgende profitieren, wiedergutgemacht
Teilnahme an der Öffentlichkeit zum Ziel gesellschaft- werden kann. Zweitens besteht das Problem der Legi-
licher Debatten und rechtlich-politischer Kämpfe er- timität einer Maßnahme, die, wenn auch eine umge-
hoben. Der zentrale Gerechtigkeitsstandard ist hier kehrte, so doch eine Diskriminierung bleibt, da zur Be-
die Gleichheit. Bei der politisch-rechtlichen Gleich- gründung hierbei nicht auf eine faktische Benachtei-
stellung von Frauen und Männern (z. B. im Fall des ligung, sondern lediglich auf die Zugehörigkeit zu ei-
Rechts auf politische Teilhabe für Frauen, vgl. Mill/ ner als benachteiligt geltenden Gruppe Bezug
Taylor-Mill/Taylor 1869/1976) geht es um die norma- genommen wird (vgl. Boshammer 2008, 234). Drittens
tiv geforderte Gleichbehandlung der Geschlechter wird aus geschlechtertheoretischer Perspektive der
und damit um die Absehung von Differenzen hin- Umstand moniert, dass auch eine ›gut gemeinte‹ Be-
sichtlich spezifischer Geschlechtseigenschaften oder rücksichtigung von geschlechtsspezifischen Eigen-
damit verbundener Rollenverständnisse. schaften zum einen häufig auf essentialisierende Ge-
Hingegen wird im Fall der Quotierung gerade die schlechtscharakteristika zurückgreift und zum ande-
Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht nor- ren damit stereotype Annahmen über Geschlechts-
mativ in Anschlag gebracht, um die als ungerecht ein- zugehörigkeiten eher perpetuiert denn relativiert.
gestufte, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte währende Gleichwohl argumentieren verschiedene geschlechter-
Diskriminierung von Frauen beispielsweise mithilfe sensible Gerechtigkeitsansätze für ein normatives
von Maßnahmen der affirmative action (vgl. Fullin- Recht auf Differenz. In der allgemeinen Norm der
wider 2013) zu kompensieren. Deren Ziel besteht vor Gleichheit sehen sie die Gefahr einer Missachtung der
allem im Aufbrechen patriarchalisch verfestigter spezifischen Besonderheiten vergeschlechtlichter
Strukturen, die nur formal gesehen Chancengleich- Existenzweisen, die sich unter Umständen in Gewalt-
heit bieten, Frauen jedoch faktisch marginalisieren und Unterdrückungsformen äußere (vgl. Young 1990).
oder benachteiligen. Beide Gerechtigkeitsmaßnah- Differenztheoretische Ansätze sprechen sich daher
62 Geschlecht 383

häufig für Sonder- und Minderheitenrechte für Frau- leistungen im Sinne von Lohnarbeit aufgefasst und
en, Homo- und Transsexuelle aus, um den besonderen von staatlicher Seite (angemessen) bezahlt werden.
Problemen in bestimmten gesellschaftlichen Berei- Allerdings stellt sich hier das Problem einer Tendenz
chen wie Prostitution und Menschenhandel oder se- zur Ökonomisierung von Care-Arbeit, die Pflege- und
xualisierter Gewalt/geschlechtsspezifischer Zwangs- Haushaltstätigkeiten auf den Warencharakter von
arbeit besser gerecht werden zu können. Dienstleistungen reduziert. Seitdem die gesellschaftli-
che Entwicklung in den Industrienationen dahin ten-
diert, dass Frauen zunehmend in öffentlichen Lohn-
Anwendungsbeispiele für Geschlechter- erwerbsstrukturen arbeiten, stellt sich das Gerechtig-
gerechtigkeit in Recht, Gesellschaft und keitsproblem weniger als Frage nach einer Verteilung
zwischenmenschlichen Beziehungen privater Arbeitslasten in Haushalt und Pflege zwi-
schen den Geschlechtern denn als Frage nach der Ar-
In heutigen liberal-demokratischen Gesellschaften beitsteilung zwischen Frauen verschiedener Schicht-
zeichnen sich für geschlechtersensible Gerechtigkeits- zugehörigkeit bzw. ethnischer Herkunft (vgl. Dörre
ansätze verschiedene Problemfelder ab. Ein zentrales 2007). In globaler Perspektive treten damit verstärkt
Anwendungsfeld der Diskussion um die Geschlechter- Problematiken wie Prekarisierung, Arbeitsmigration
gerechtigkeit liegt im Bereich der privaten und öffent- und geschlechtsspezifische Ausbeutung/Versklavung
lichen Arbeitsteilung. Die traditionelle geschlechts- von weiblichen Beschäftigten auf.
spezifische Arbeitsteilung verortet das Betätigungsfeld Ein weiteres Problemfeld der Geschlechtergerech-
von Frauen vor allem in der privaten, Tätigkeiten von tigkeit liegt im Bereich Erziehung und Bildung, wo
Männern hingegen hauptsächlich in der öffentlichen ebenfalls geschlechtsspezifische Ungleichheitsstruk-
Sphäre. Dies wirkt sich auch gegenwärtig in teils gra- turen fortbestehen. Zwar ist der Anteil von Frauen mit
vierenden Unterschieden in der Entlohnung von höherer Qualifizierung in den Industrienationen ge-
›männlicher‹ und ›weiblicher‹ Erwerbsarbeit, in struk- stiegen, doch weisen Studien nach wie vor Unterschie-
tureller Benachteiligung von Frauen in der Berufs- de zwischen der Sozialisation von männlichen und
wahl, der Karriereplanung und der Teilhabe an Macht- weiblichen Kindern und Jugendlichen aus, die sich auf
und Führungspositionen sowie in der Marginalisie- die zukünftige Berufs- und Karrierewahl der Ge-
rung von als ›frauenspezifisch‹ erachteten Tätigkeiten schlechter auswirken (vgl. Höblich 2010). Aus ge-
aus. Sowohl das Thema ›Vereinbarkeit von Beruf und schlechtertheoretischer Perspektive wird in diesem
Familie‹ als auch die Diskussion um die so genannte Zusammenhang auch die normierende (Selbst-)Iden-
›Lohnlücke‹ (engl. gender pay gap) zwischen den tifikation im Rahmen der institutionellen Sozialisati-
durchschnittlichen Bruttostundenlöhnen von Män- on problematisiert, die sich vornehmlich an einer ein-
nern und Frauen zeigen deutlich, dass das Geschlecht deutigen Zuordnung im Rahmen von Zweigeschlecht-
und die Zuschreibung von Geschlechterrollen im Zen- lichkeit sowie an Heteronormativität orientiert und
trum dieser Gerechtigkeitserwägungen stehen. damit Gefahr läuft, Abweichungen von der ›Mehr-
Den historischen Anfang nimmt die Debatte um heitsbiographie‹ zu marginalisieren.
die geschlechtsbezogene Arbeitsteilung anhand der Im Bereich der Sexualität/sexuellen Orientierung
Forderung eines Teils der Zweiten Frauenbewegung sind gerechtigkeitsrelevante Problemfelder zu benen-
nach finanzieller Entlohnung für Haushalts-, Erzie- nen, die in unmittelbarer Weise die geschlechtliche
hungs- und Pflegetätigkeiten innerhalb von familiä- Leiblichkeit und die damit verbundenen Reprodukti-
ren und verwandtschaftlichen Beziehungen (vgl. Beer onsmerkmale von Personen/Personengruppen betref-
1984). Die gerechtigkeitstheoretische Kritik an unbe- fen. So wird die Frage der Legitimität bestimmter
zahlter Hausarbeit bezieht sich auf die ökonomisch Praktiken der Genitalbeschneidung und -verstümme-
willkürliche Grenzziehung zwischen (vergleichbaren lung im Kontext des Rechts auf die Unversehrtheit des
oder gar gleichartigen) Leistungen, die durch eine un- eigenen Körpers thematisiert. Universalistische und
terschiedliche Bewertung der privaten und der öffent- kulturrelativistische Argumente befinden sich hier im
lichen Sphäre innerhalb patriarchalisch geprägter, ka- Streit darüber, ob der Kampf gegen die Beschneidung
pitalistischer Produktions- und Arbeitsstrukturen zu weiblicher (und männlicher) Genitalien als paternalis-
einer Diskriminierung der typischerweise von Frauen tische Einmischung in religiöse/kulturelle Gepflogen-
geleisteten reproduktiven Tätigkeiten führt. Fürsorge- heiten oder als emanzipative Gerechtigkeitsmaßnah-
und Haushaltstätigkeiten sollten hingegen als Dienst- me für die Betroffenen zu betrachten ist (vgl. Okin
384 V Anwendungsfragen

1998). In den Debatten um reproduktionsmedizi- schen Diskurses keine Einigkeit darüber, ob das Recht
nische Eingriffe, d. h. um das Recht auf Abtreibung ei- auf Gleichheit einen Vorrang gegenüber dem Recht
nerseits und um das Recht auf künstliche Befruchtung auf Besonderheit hat oder ob beide vielmehr in einem
andererseits, haben seit der Weiterentwicklung der wechselseitigen Vermittlungszusammenhang stehen.
technischen Möglichkeiten im Bereich der In-vitro- Darüber hinaus tendieren einige Theoretikerinnen
Fertilisation und der Pränatalen Diagnostik bestimm- dazu, die Frage nach einer ›besseren‹, d. h. einer ge-
te Akzentverschiebungen stattgefunden. Während es schlechtersensiblen und an Gleichberechtigung ori-
zunächst um die ethische Auseinandersetzung mit entierten Gerechtigkeitsordnung verstärkt im Rah-
Pro- und Contra-Argumenten bezüglich der Abwä- men einer prinzipiellen Infragestellung von Gerech-
gung des Rechts auf Leben eines Fötus mit dem Recht tigkeitsnormen hinsichtlich ihrer vermachteten Ge-
der Schwangeren auf Autonomie ging, stellt sich heut- schlechterimplikationen zu verorten (vgl. Purtschert
zutage vor allem das Problem, inwiefern das Recht von 2012). Viele gesellschaftstheoretische Probleme las-
Schwangeren auf individuelle Entscheidung bezüglich sen sich aufgrund ihrer Komplexität eben nicht ohne
einer Abtreibung verteidigt, zugleich aber die mögli- weiteres durch das eine oder andere – wie auch im-
che Instrumentalisierung von Eizellen oder Stamm- mer wohlbegründete – Gerechtigkeitsprinzip lösen.
zellmaterial aus ungeborenen Föten im Rahmen von Dies lässt sich am Beispiel der Pornographie nach-
Prozessen der Reproduktionsmedizin einer kritischen vollziehen. An einem gesellschaftlich so umstrittenen
Reflexion unterzogen werden kann (vgl. Pauer-Studer und entsprechend emotional aufgeladenen Thema
2005, 109–124). Hinzu kommt, dass im Rahmen von sind die Argumentationen von gendersensiblen Ge-
Grundrechts- und Verteilungsgerechtigkeitsansätzen rechtigkeitstheoretikern auf die Probe gestellt. So
das Recht auf biologische Elternschaft/künstliche Be- spielt eventuell eine feministische Position »jenen
fruchtung im Sinne eines Grundrechts diskutiert wird. Kräften in die Hände, welche die Darstellung von
Schließlich bildet die für die abendländische Phi- queeren und nicht-weißen Sexualitäten als pornogra-
losophie konstitutive Vorstellung von Zweigeschlecht- phisch konnotieren und [...] verbieten wollen« (ebd.,
lichkeit einen Gegenstand der Gerechtigkeitsreflexi- 151) und verletzt damit womöglich das Gebot des
on. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass sowohl die Respekts kultureller Vielfalt oder das Recht auf künst-
Geschlechtsidentität als auch die sexuelle Orientie- lerische Freiheit. Aus einer gendersensiblen Perspek-
rung eines Menschen in ihrer vermeintlichen Eindeu- tive sind gerechtigkeitstheoretische Ansätze hingegen
tigkeit durch kulturelle, gesellschaftliche und biolo- vor die Herausforderung gestellt, drängende mora-
gisch-medizinische Einflüsse bestimmt wird. Entspre- lisch-politische Fragen zu klären, z. B. inwiefern »die
chend ergeben sich gerechtigkeitsrelevante Fragestel- Ausbeutung von [Porno-]Darstellerinnen gestoppt,
lungen in Bezug auf Grundrechte und Verteilung, z. B. wie der lukrative Handel mit sexistischem Material
hinsichtlich geschlechtsanpassender Maßnahmen, beendet, wie die Verbreitung von gewalttätigen sexis-
aber auch hinsichtlich des Rechts auf Ablehnung einer tischen Bildern unterbunden werden« (ebd.) kann.
Festlegung des Geschlechts im Kindesalter bei Inter-
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62 Geschlecht 385

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386 V Anwendungsfragen

63 Gesundheit gungen über die Grundsätze sozialer Gerechtigkeit


ab. Auch fällt die institutionell-organisatorische Um-
Gesundheit ist eine zentrale Voraussetzung für ein setzung dieser Verpflichtung sehr unterschiedlich
›gutes Leben‹ (s. Kap. IV.42). Zum einen hat Gesund- aus; so kann das Versorgungssystem als staatlicher
heit einen besonderen existenziellen Bezug: Die mit Gesundheitsdienst, als Sozialversicherungssystem
Krankheit – also der Abwesenheit oder Einschrän- oder als marktförmiges System mit staatlicher Unter-
kung von Gesundheit – verbundenen Belastungen stützung für sozial Bedürftige ausgestaltet sein.
und Schmerzen stellen besonders intensive Beein- Schließlich bedingt ein gleicher Zugang zur Versor-
trächtigungen des Wohlergehens dar. Zum anderen gung nicht eine mehr oder weniger egalitäre – etwa
werden durch Krankheit zahlreiche Lebensvollzüge einkommensabhängige – Finanzierung der Versor-
behindert, so dass Gesundheit auch einen konditiona- gung. Es muss nur sichergestellt sein, dass die Versor-
len oder transzendentalen Charakter besitzt; sie ist da- gung für jedermann ohne existenzgefährdende finan-
her von zentraler Bedeutung für gesellschaftliche zielle Belastungen erreichbar ist.
Chancengleichheit (Daniels 1985; s. auch Kap. II.24). Sobald die öffentliche Gewalt gewährleistet, dass
Verteilungsfragen, die sich auf die Gesundheit be- jeder Bürger Zugang zur medizinischen Versorgung
ziehen, unterliegen daher nach verbreiteter Auffas- hat, stellt sich die Frage, wie dieser obligatorische Ver-
sung und trotz unterschiedlicher verteilungstheoreti- sorgungskatalog zusammengesetzt sein soll. Ange-
scher Grundannahmen besonders strengen Gerech- sichts des medizinisch-technischen Fortschritts und
tigkeitsanforderungen. Allerdings ist Gesundheit kein der demographischen Entwicklungen in vielen mo-
Gut, das als solches verteilt werden kann. Dies ist dernen Gesellschaften besteht weithin Einigkeit, dass
schon dadurch ausgeschlossen, dass der Gesundheits- es nicht möglich sein wird und vielleicht schon jetzt
zustand zahlreichen Einflüssen – etwa der geneti- nicht mehr möglich ist, alle Versorgungsleistungen,
schen Disposition, Schicksalsschlägen wie Unfällen die aus medizinischer Sicht in dem Sinne notwendig
oder der gesundheitsbezogenen Lebensführung – un- oder zumindest nützlich sind, dass sie einen gesund-
terliegt, die nicht gesteuert werden können oder dür- heitlichen Zusatznutzen bewirken, in einem öffent-
fen. Deshalb ist es auch schwerlich sinnvoll, von ei- lichen Versorgungssystem vorzuhalten. Denn die me-
nem ›Recht auf Gesundheit‹ zu sprechen. Gerechtig- dizinische Versorgung weist einen abnehmenden
keitsfragen mit Bezug auf Gesundheit treten vielmehr Grenznutzen auf und hat infolgedessen steigende Op-
mit Bezug auf die Faktoren auf, die für Gesundheit portunitätskosten. Auch die medizinische Versorgung
und Krankheit verantwortlich sind und durch geziel- steht daher unter dem Prinzip der Knappheit, so dass
tes staatliches, gesellschaftliches und individuelles sich die zentrale Gerechtigkeitsfrage stellt, wie die be-
Handeln jedenfalls prinzipiell gestaltbar sind: die me- grenzten Ressourcen innerhalb des Versorgungssys-
dizinische Versorgung und die sozialen Gesundheits- tems verteilt werden sollen.
determinanten. Dies ist eine Frage der sozialen Verteilungs- und
Gesundheitsgerechtigkeit, weil eine ›harte‹ Rationie-
rung, die einen privaten Zukauf von Leistungen, die
Das Verteilungsproblem in der medi- das öffentliche Versorgungssystem nicht vorsieht, aus-
zinischen Versorgung schließt, in einer freiheitlichen Gesellschaft mit offe-
nen Grenzen und freien Märkten – wie in der Euro-
Angesichts der zentralen Bedeutung von Gesundheit päischen Union – weder möglich noch wünschens-
wird es in vielen politischen Ordnungen als zentrale wert ist. Eine ›weiche‹ Rationierung, die diesen Zu-
Verpflichtung des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates an- kauf nicht ausschließt, bringt aber immer die Gefahr
gesehen, allen Bürgern den Zugang zu einer funk- einer sozialen Spaltung der Versorgung mit sich. An-
tionsfähigen medizinischen Versorgung zu eröffnen. ders stellt sich die Verteilungsfrage dagegen in dem
Jedenfalls in deren – gar lebenswichtigen – Kern- Sonderbereich der Organtransplantation dar: Da der
bereichen soll insbesondere die mangelnde finanziel- private Zukauf von Organen auf legalem Wege nicht
le Leistungsfähigkeit nicht zum Ausschluss von der möglich ist, handelt es sich bei der Verteilung von
Versorgung oder zu deutlichen Versorgungsunter- knappen Organen um ein Problem der reinen Ge-
schieden führen. Wie weit dieser Egalitarismus hin- sundheitsverteilungsgerechtigkeit.
sichtlich des Versorgungszugangs reicht, ist allerdings
umstritten und hängt von den allgemeinen Überzeu-
63 Gesundheit 387

Rationalisierung, Rationierung, Politikbereichen – zur Verfügung stehen sollen (Ma-


Priorisierung und die Allokationsebenen kroebene), muss innerhalb des Gesundheitssystems
geklärt werden, wie diese Mittel auf unterschiedliche
Zur Verteilungsgerechtigkeit (s. Kap. II.12) in der me- Versorgungsbereiche (Mesoebene) und schließlich auf
dizinischen Versorgung existiert eine breite philoso- einzelne Patienten (Mikroebene) verteilt werden. Da-
phische, ökonomische und gesundheitssystempoliti- bei kann die Verteilung innerhalb des Versorgungssys-
sche Diskussion. Dabei besteht Einigkeit, dass die tems explizit, also auf einer höheren Ebene und regel-
Hebung von Effizienzreserven im Versorgungssystem geleitet, oder implizit, im Versorgungsalltag durch die
– z. B. durch die Vermeidung von Doppeluntersuchun- einzelnen Leistungserbringer, erfolgen. Eine implizite
gen, den Abbau von überhöhten Preisen für Versor- Rationierung, die typischerweise durch die Festset-
gungsleistungen und den Ausschluss unwirksamer zung starrer Budgets ohne die Vorgabe von Vertei-
Maßnahmen – als so genannte Rationalisierung Vor- lungskriterien ausgelöst wird, stößt allerdings auf-
rang vor Leistungsbeschränkungen hat (›Rationalisie- grund ihrer Intransparenz auch unter Gesichtspunk-
rung vor Rationierung‹). Umstritten und nur mit Be- ten der Gerechtigkeit auf schwerwiegende Bedenken.
zug auf das jeweilige Versorgungssystem zu klären ist
die Frage, wie groß diese Effizienzreserven sind, wie
weit sie angesichts der Komplexität der Versorgungs- Verteilungskriterien
systeme gehoben werden können und ob dadurch eine
Beschränkung von medizinisch notwendigen oder zu- Für die Definition des Leistungskatalogs eines obliga-
mindest nützlichen Maßnahmen tatsächlich auf Dauer torischen Versorgungssystems werden zahlreiche Kri-
vermieden werden könnte. terien diskutiert, die teils als solche, teils in ihrem Ver-
In der jüngeren Diskussion hat sich der Begriff der hältnis zueinander umstritten sind. Sie sind für den
Priorisierung etabliert, der ein Verfahren der Reihung Normalbetrieb eines medizinischen Versorgungssys-
medizinischer Maßnahmen nach ihrer Versorgungs- tems konzipiert und von den Triage-Regeln für die
bedeutung beschreibt (vgl. die Beiträge in Schmitz- medizinische Versorgung in Katastrophensituationen
Luhn/Bohmeier 2013). Diese Reihung kann sowohl zu unterscheiden.
indikationsspezifisch (›vertikal‹) als auch indikations- Ein erstes Problem stellt sich bereits insoweit, als
übergreifend (›horizontal‹) erfolgen; eine horizontale zwar weithin Einigkeit besteht, dass ein besonderer
Priorisierung wirft dabei die weitere Frage auf, ob ein Solidaranspruch auf Versorgungsleistungen nur im
indikationsübergreifendes Nutzenmaß – etwa in Form Fall der Krankheit besteht, der Krankheitsbegriff sich
des QALY (quality adjusted life year) – zur Verfügung aber jedenfalls an seinen Rändern als unscharf erweist
steht. Obwohl Verfahren der Priorisierung in der Regel (zur Diskussion vgl. die Beiträge bei Schramme 2012).
mit der Bewältigung der Knappheits- und Verteilungs- Ob und unter welchen Voraussetzungen etwa Un-
problematik zusammenhängen, können sie nicht mit fruchtbarkeit oder psychische Beschwerden Krank-
einer Rationierung gleichgesetzt werden: Zum einen heitswert besitzen und einen Versorgungsanspruch
kann sich aus der Bildung einer Prioritätenliste auch gegen die Solidargemeinschaft begründen, lässt sich
ergeben, dass bestimmte Krankheiten und Patienten nicht ohne weiteres beantworten. Die zunehmenden
bisher nicht hinreichend versorgt worden sind (›Un- Möglichkeiten der präventiven Diagnostik und der
terversorgung‹), so dass die Priorisierung zur Auswei- ›Verbesserung‹ menschlicher Fähigkeiten (enhance-
tung von Versorgungsansprüchen führen kann. Zum ment, s. Kap. V.60) werden die Abgrenzungsprobleme
anderen überlässt sie es einer politischen Entschei- verschärfen.
dung, welche Ressourcen dem Versorgungssystem zur Ein zentrales und grundsätzlich anerkanntes Ge-
Verfügung stehen; davon hängt dann ab, in welchem rechtigkeitskriterium stellt die medizinische Bedürf-
Umfang die Prioritätenliste abgearbeitet werden kann tigkeit im Sinne der Dringlichkeit einer Behandlung
und ob überhaupt auf nachgeordnete (›posteriorisier- dar (›Akutprinzip‹; rule of rescue). Dass die Behand-
te‹) medizinische Leistungen verzichtet werden muss. lung besonders massiver gesundheitlicher Beeinträch-
Angesprochen sind damit auch unterschiedliche tigungen und Schmerzen höchste Priorität besitzt,
Ebenen und Verfahren der Mittelallokation. Während lässt sich nicht nur aus dem Grundsatz der Menschen-
auf einer übergeordneten Ebene entschieden werden würde oder einem universalisierbaren Interesse erklä-
muss, welche Ressourcen dem System der kollektiven ren, sondern entspricht auch dem politisch-symboli-
Gesundheitsversorgung – im Unterschied zu anderen schen Sinn eines kollektiven Versorgungssystems, das
388 V Anwendungsfragen

niemanden in seiner existenziellen Not allein lassen die Würde und die Rechte jedes Einzelnen gegründet
will. Versorgungsgerechtigkeit ist primär Bedarfs- ist, kann eine nutzenmaximierende Allokation von
gerechtigkeit, also Versorgung gemäß der medizi- Gesundheitsgütern nur legitim sein, wenn und soweit
nischen Bedürftigkeit. Allerdings wirft gerade der na- sich nachweisen lässt, dass ein derartiges Verteilungs-
heliegende Fall der überlebensnotwendigen Behand- muster im Interesse jedes Einzelnen liegt und somit
lung Fragen auf, da derartige Behandlungen häufig am verallgemeinerungsfähig ist; Nutzenmaximierung
Ende des Lebens stattfinden und den betroffenen Pa- kann daher keinen fundamentalen, sondern nur einen
tienten nicht heilen, sondern sein Leben lediglich um abgeleiteten normativen Status haben. Allerdings lässt
wenige Monate bei eingeschränkter Lebensqualität sich durchaus begründen, dass der Aspekt der Nut-
verlängern. Da sie zugleich sehr kostenintensiv sein zenmaximierung auch aus einer legitimationstheo-
können, ist vor Überdehnungen des Akutprinzips zu retischen – etwa kontraktualistischen – Perspektive,
warnen (Schöne-Seifert/Friedrich 2013). Auch aus die von den Interessen und Rechten des Einzelnen
der ausnahmslosen Geltung des Anspruchs auf Ach- ausgeht, eine gewisse Berechtigung hat, weil er die
tung der Menschenwürde lässt sich nicht schließen, Chance jedes Einzelnen erhöht, in den Genuss eines
dass die Solidargemeinschaft zu einer Lebensverlän- gesundheitlichen Zusatznutzens zu kommen. Diese
gerung um jeden Preis verpflichtet ist. Rechtfertigung gewinnt ihre Überzeugungskraft aller-
Ein weiteres grundsätzlich anerkanntes Vertei- dings aus der Bedingung, dass der Einzelne bei der
lungskriterium stellt der Nutzen einer Maßnahme dar. Festsetzung des Leistungskatalogs noch nicht weiß, in
Die Probleme liegen hier zunächst auf einer empiri- welchem gesundheitlichen Zustand er sich befinden
schen Ebene, da ungeklärt und umstritten sein kann, und auf welche medizinischen Leistungen er angewie-
ob und in welchem Ausmaß eine Maßnahme einen sen sein wird. Wem mit dieser Begründung eine medi-
medizinischen Nutzen bewirkt. Grundsätzlich ist es zinische Behandlung aus Nutzen- oder Kosten-Nut-
dann legitim, auf einem wissenschaftlich gesicherten zen-Erwägungen versagt wird, wird dies nur akzeptie-
Nutzennachweis nach den Grundsätzen der evidenz- ren, wenn nicht schon von vornherein klar war, dass er
basierten Medizin zu bestehen. Allerdings kann dies – etwa aufgrund einer angeborenen schweren und
insbesondere mit Blick auf neue Untersuchungs- und kostenintensiven Krankheit – der Verlierer dieses Al-
Behandlungsmethoden dazu führen, dass jedenfalls lokationsschemas ist. Wie weit derartige Ex-ante-
die Chance auf einen medizinischen Zusatznutzen Rechtfertigungen hypothetischer Kompensations-
vereitelt wird. In Fällen einer lebensbedrohlichen möglichkeiten reichen, ist umstritten. Feste Schwel-
Krankheit hat dies die deutsche Verfassungsrechtspre- lenwerte für Kosten-Nutzen-Verhältnisse sind jeden-
chung zum Anlass genommen, für eine Leistungsver- falls problematisch. Letztlich drückt sich hierin der
pflichtung der gesetzlichen Krankenversicherung eine Konflikt von Gleichheit und Effizienz und von deon-
Absenkung der Anforderungen an den Nutzennach- tologischen und konsequentialistischen Intuitionen
weis zu verlangen; hier soll der Versicherte auch An- aus, der viele Verteilungsfragen prägt.
spruch auf noch nicht anerkannte Untersuchungs- Ein interessanter Ansatz, der die Probleme des
und Behandlungsmethoden haben (Bundesverfas- Konsequentialismus und einer ökonomischen Bewer-
sungsgericht 2005). tung medizinischen Nutzens weithin vermeidet,
Das Kriterium des (nachgewiesenen) Nutzens schlägt vor, medizinische Maßnahmen mit einem nur
kann auch in ein Spannungsverhältnis zu dem Kriteri- marginalen Zusatznutzen unabhängig von ihren Kos-
um der Dringlichkeit treten, da gerade in schweren ten zu posteriorisieren (Buyx/Friedrich/Schöne-Sei-
und daher besonders dringlichen Krankheitsfällen oft fert 2009). Dabei wäre allerdings zu diskutieren, ob
nur noch ein sehr begrenzter Zusatznutzen zu stiften dieser Ansatz nur gilt, wenn der Nutzen generell mar-
ist. Während eine originäre Gerechtigkeitsperspektive ginal ist – jeder Patient z. B. nur eine Lebensverlänge-
den am schlechtesten Gestellten eine hohe Priorität rung von wenigen Tagen erlangt –, oder auch zur An-
einräumt, kann das Nutzenkriterium in eine gegen- wendung kommen kann, wenn eine Maßnahme in der
läufige Richtung weisen. Dieses Problem teilt es mit Regel gar keinen Nutzen bewirkt, aber einzelne, wenn
dem Kriterium des Kosten-Nutzen-Verhältnisses, das auch nur sehr wenige Patienten einen erheblichen Zu-
insbesondere von der Gesundheitsökonomie betont satznutzen erfahren.
wird. In seiner utilitaristischen Ausrichtung zieht es Unter dem Stichwort der Eigenverantwortung wird
den Einwand auf sich, für Verteilungsfragen gerade die Frage diskutiert, ob die Behandlung von selbstver-
blind zu sein (Lübbe 2006). In einer Ordnung, die auf schuldeten Krankheiten posteriorisiert werden sollte;
63 Gesundheit 389

in Betracht kommt hier z. B. eine finanzielle Betei- gerechtigkeitstheoretischen Perspektive wird man in-
ligung des Patienten oder eine Rückstufung auf der soweit problemangemessene, partizipative und trans-
Warteliste für ein Organ. Abgesehen davon, dass es parente Entscheidungsstrukturen im Sinne einer ac-
häufig kaum oder nur mit unzumutbaren Eingriffen in countability for reasonableness (Daniels/Sabin 2008)
die Privatsphäre nachweisbar sein wird, dass der Be- verlangen müssen.
troffene zu seinen Beschwerden durch sein Verhalten
beigetragen oder zumindest das Erkrankungsrisiko er-
höht hat, ist die Heranziehung der Eigenverantwor- Soziale Versorgungsgerechtigkeit
tung als Verteilungskriterium unter Gesichtspunkten
der Gerechtigkeit nur bei punktuellen und bewussten Auch ein klug und gerecht zusammengesetzter Leis-
gesundheitsriskanten Verhaltensweisen, wie z. B. der tungskatalog des öffentlichen Versorgungssystems
Ausübung von Hochrisikosportarten, vertretbar. Die wird nicht verhindern können, dass finanziell leis-
für die Versorgungsrealität relevanten ›Zivilisations- tungsfähige Bürger weitere Leistungen privat zukau-
krankheiten‹ werden dagegen häufig durch den Le- fen und sich die Versorgung in diesem Sinne sozial
bensstil der Betroffenen mitverursacht, der von zahl- ausdifferenziert. Will man dem nicht durch die unrea-
reichen Faktoren bestimmt wird und daher nur sehr listische Option begegnen, dass gar keine Begrenzung
begrenzt der Eigenverantwortung zugerechnet werden medizinisch notwendiger oder zumindest sinnvoller
kann (zu einem Vorschlag der gerechtigkeitstheoreti- Maßnahmen zulässig ist, kann der Mindestversor-
schen Berücksichtigung dieses Umstands vgl. Roemer gungsanspruch sich nur auf die Teilhabe an dem Nor-
1993). Wird zudem primär die finanzielle Belastung malversorgungsniveau des jeweiligen Gemeinwesens
des Versorgungssystems als Begründung für eine An- beziehen. Dieses Niveau wird schon deshalb nicht ein-
wendung des Kriteriums der Eigenverantwortung he- heitlich sein, weil es von der Versorgungskultur und
rangezogen, wird man konsequenterweise auch be- wirtschaftlichen Situation des jeweiligen Gemeinwe-
rücksichtigen müssen, dass ein selbstverschuldetes sens abhängt. Vor dem Hintergrund einer gewissen
frühzeitiges Versterben das Solidarsystem an anderer sozialen Hintergrundgerechtigkeit ist es aber nicht
Stelle entlasten kann. unfair, wenn sich die Gesundheitsversorgung der Bür-
Ebenfalls äußerst umstritten als Verteilungskriteri- ger, die über kein eigenes Einkommen verfügen und
um ist das (chronologische oder kalendarische) Alter. deshalb keine eigene Entscheidung über das Niveau
Während dieses Kriterium insbesondere im juristi- ihrer medizinischen Behandlung treffen können, an
schen Diskurs vielfach als diskriminierend eingestuft der Absicherungsentscheidung eines Durchschnitts-
wird, sprechen Überlegungen einer ›fairen Lebens- bürgers – mit durchschnittlichem Einkommen und
spanne‹ und kontraktualistische Ansätze ihm auf- Gesundheitszustand – orientiert (Dworkin 2000). Zu-
grund seines egalitären Charakters nicht jede Berech- nächst nicht in der kollektiven Grundversorgung ent-
tigung ab (Callahan 1987; Daniels 1988). haltene, aber flächendeckend privat zugekaufte Leis-
Die Budgetwirksamkeit einer medizinischen Maß- tungen müssten dann regelmäßig in das Versorgungs-
nahme ist ein verbreitetes gesundheitspolitisches Ent- system überführt werden. Der Versorgungsanspruch
scheidungskriterium, aus gerechtigkeitstheoretischer wird damit kultur- und systemrelativ; dies ist aber
Sicht aber kritisch zu beurteilen. Denn aus der Sicht nicht zu kritisieren, weil soziale Rechte typischerweise
des individuellen Versorgungsanspruchs kann es auf die Inklusion in ein konkretes Gemeinwesen bezo-
nicht darauf ankommen, ob die begehrte medizi- gen sind (Huster 2011, 52–54).
nische Leistung voraussichtlich nur selten erbracht
wird oder in einer Vielzahl von Fällen zur Anwendung
zu kommen und daher das Budget des Versorgungs- Soziale Gesundheitsungleichheiten als
systems merklich zu belasten droht. Gerechtigkeitsproblem
Da die relevanten Verteilungskriterien als solche
und in ihrem Verhältnis zueinander umstritten sind, In der internationalen Diskussion ist inzwischen auf-
kommt – ergänzend zur Versorgungsgerechtigkeit – grund der Ergebnisse sozialepidemiologischer For-
der Verfahrensgerechtigkeit (s. Kap. II.21) und damit schung weithin anerkannt, dass der Gesundheits-
den Verfahren und Institutionen, die über Vertei- zustand einer Bevölkerung, aber auch die soziale Ver-
lungsfragen im Versorgungssystem entscheiden, teilung von Gesundheit nicht nur (und ab einem ge-
maßgebliche Bedeutung zu. Aus einer verfahrens- wissen Versorgungsniveau nicht einmal maßgeblich)
390 V Anwendungsfragen

vom Zugang zur medizinischen Versorgung abhän- Ursachen‹, die mit der Lebenswelt und damit auch mit
gen, sondern maßgeblich von anderen, sozialen Fak- dem Sozialstatus zusammenhängen: Wer in wirt-
toren bestimmt werden, die dazu führen, dass Men- schaftlich beengten Verhältnissen lebt, nur über be-
schen erkranken. Diese sozialen Gesundheitsdetermi- grenzte Bildungskompetenzen verfügt und wenig ge-
nanten sind dem Versorgungsgeschehen vorgelagert sellschaftliche Anerkennung erfährt, hat es erheblich
und erfassen etwa die Umweltbedingungen am Wohn- schwerer, gesund zu leben. Richtig ist allerdings, dass
ort und am Arbeitsplatz, die gesundheitsbezogene Le- in einer freiheitlichen Ordnung der Hinweis auf die
bensweise und sozialstrukturelle Faktoren wie die Er- Eigenverantwortung angemessen ist und vor einer pa-
fahrungen von Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung, das ternalistischen Gesundheitserziehungspolitik zurück-
Ausmaß der Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und schrecken lassen sollte. Dies trifft sich damit, dass
die Einbindung in ein soziales Netzwerk. Unabhängig zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass moralisieren-
davon, ob man den Sozialstatus anhand von Einkom- de Erziehungsversuche weithin wirkungslos bleiben
men, Bildung oder beruflicher Stellung bestimmt, lässt und es daher darum gehen müsste, die verhaltens-
sich nachweisen, dass die gesundheitsrelevanten Fak- determinierenden Lebensumstände zu verändern
toren zu einem erheblichen Teil schichtenspezifisch (Verhältnis- statt Verhaltensprävention).
ausgeprägt sind. Dies dürfte die erheblichen sozialen Soweit Umweltbedingungen und sozialstrukturelle
Gesundheitsungleichheiten erklären, die sich in Form Umstände für die sozialen Gesundheitsungleichhei-
eines sozialen Gesundheitsgradienten in allen moder- ten verantwortlich sind, ist es noch umstrittener, ob es
nen Gesellschaften finden. Selbst in Deutschland mit sich um bloße health inequalities – wie die höhere Le-
der gesetzlichen Krankenversicherung als einem all- benserwartung von Frauen gegenüber Männern –
gemein zugänglichen und funktionsfähigen Versor- oder um health inequities handelt. In vielerlei Hinsicht
gungssystem ist die Lebenserwartung von Männern scheinen diese Ungleichheiten auf Umstände – wie et-
im höchsten Einkommensfünftel um zehn Jahre höher wa die Existenz von hierarchischen Verhältnissen und
als von Männern im untersten Einkommensfünftel; Positionsgütern (z. B. Führungspositionen) – zurück-
betrachtet man die in Gesundheit verbrachten Lebens- zugehen, die sich in einer freiheitlichen und differen-
jahre, sind die Unterschiede noch größer. zierten Gesellschaft nicht vollständig vermeiden las-
Die sich entwickelnde Public-Health-Ethik, die auf sen. Daher können die Gesundheitsungleichheiten
die normative Reflexion der sozialen Gesundheits- nicht bewertet werden, ohne dass man zuvor zu einem
determinanten und ihre Beeinflussung ausgerichtet ist Urteil über die sozialen Verhältnisse und Ungleichhei-
(vgl. Strech/Marckmann 2010), hat daher in gerech- ten gelangt, die sie verursachen.
tigkeitstheoretischer Hinsicht das Augenmerk von
just health care auf just health erweitert (vgl. Daniels
1985; 2008). Damit stellen sich die Fragen, wie die so- Versorgungs- und Vorsorgegerechtigkeit
zialen Gesundheitsungleichheiten zu beurteilen sind
und ob sie politische Handlungspflichten auslösen. Die Frage, wie Verteilungsfragen im Versorgungssys-
Soweit soziale Gesundheitsunterschiede auf ge- tem und eine vorsorgende Public-Health-Politik, die
sundheitsbezogene Verhaltensweisen und Lebensstile soziale Gesundheitsungleichheiten zu verringern
von Individuen und soziale Gruppen zurückgeführt sucht, zueinander stehen, wird politisch durch die
werden können, drängt sich der Einwand auf, dass Ressourcenverteilung auf das Versorgungssystem und
diese Unterschiede lediglich die Konsequenzen eigen- andere gesundheitsrelevante Politikbereiche, wie z. B.
verantwortlicher Lebensgestaltung darstellen, die in das Bildungssystem, beantwortet. Dabei steht das Ver-
einer freiheitlichen Gesellschaft hinzunehmen sind sorgungssystem ganz im Zentrum der Aufmerksam-
und keiner Korrektur bedürfen. Allerdings haben Le- keit. Dies ist verständlich, da der medizinischen Hilfe
bensstile wie das Ernährungs- und Bewegungsverhal- in konkreten Krankheitsfällen eine höhere Dringlich-
ten eine komplizierte Genese: Sie werden durch sozia- keit zukommt als Maßnahmen, die zunächst nur bei
le und mediale Einflüsse verstärkt, weisen nicht selten einer statistischen Betrachtung gesundheitliche Ver-
Suchtcharakter auf und sind häufig bereits in der besserungen bewirken. Gerade mit Blick auf die Ge-
Kindheit angelegt. Dies sollte zur Zurückhaltung sundheitsgerechtigkeit ist das Verhältnis von Versor-
mahnen, die Verantwortung für diese Verhaltenswei- gung und Vorsorge allerdings komplex. Auf der einen
sen und ihre Folgen allein dem Individuum zu- Seite bringen Leistungsbeschränkungen im Versor-
zuschreiben; es gibt hier offensichtlich ›Ursachen der gungssystem immer die Gefahr mit sich, dass sie die
63 Gesundheit 391

sowohl gesundheitlich Belasteten als auch sozial Siegrist, Johannes/Marmot, Michael (Hg.): Soziale Ungleich-
Schwachen zusätzlich belasten. Auf der anderen Seite heit und Gesundheit. Erklärungsansätze und gesundheits-
zeigen die Ergebnisse der sozialepidemiologischen politische Folgerungen. Bern 2008 (engl. 2006).
Strech, Daniel/Marckmann, Georg (Hg.): Public Health
Forschung, dass das System der Gesundheitsversor- Ethik. Münster 2010.
gung nur in sehr begrenztem Ausmaß für den sozialen
Gesundheitsgradienten verantwortlich ist und daher Stefan Huster
auch gewiss nicht den primären Ansatzpunkt bilden
kann, wenn man die Abhängigkeit der Gesundheit
vom Sozialstatus auflösen oder zumindest abmildern
will. Und da die Mittel nun einmal begrenzt sind, ist
ein Vergleich des Grenznutzens von Maßnahmen in-
ner- und außerhalb des Gesundheitswesens auch aus
Gründen der Gerechtigkeit unausweichlich.

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Schramme, Thomas (Hg.): Krankheitstheorien. Frankfurt
a. M. 2012.
392 V Anwendungsfragen

64 Gewalt und Krieg Formen der sich in Institutionen und sozialen In-
teraktionen manifestierenden sozialen Ungerechtig-
Gewalt keit schließt der Gewaltbegriff nur insoweit ein, als
sich das Resultat solcher ›strukturellen Gewalt‹ (vgl.
Der Begriff der Gewalt hat eine doppelte Kernbedeu- Galtung 1975, 7–36) als eine Schädigung begreifen
tung: ›Gewalt‹ heißt zum einen die Anwendung physi- lässt, die wenn auch nicht notwendigerweise auf eine
schen oder psychischen Zwangs, zum anderen die auf Schädigungsabsicht, so doch zumindest auf eine billi-
die Möglichkeit der Anwendung physischen Zwangs gende Inkaufnahme durch diejenigen zurückgeführt
gestützte staatliche oder subsidiäre Herrschaft (›Staats- werden kann, die durch entsprechende Handlungen
gewalt‹, ›Amtsgewalt‹). Gewalt liegt nicht nur dann die jeweiligen negativen Wirkungen herbeiführen
vor, wenn jemand kraft fremden Zwangs etwas erlei- oder zulassen. Umstritten ist, ob es psychische Gewalt
det, sondern auch dann, wenn jemand erzwungener- gibt (bejahend z. B. Audi 1971, 54; für die gegenteilige
maßen etwas tut, was er nicht tun will. Insofern lässt Auffassung vgl. z. B. Betz 1977, 345). Im Übrigen hat
sich das Resultat von Gewalt als ein Widerfahrnis cha- sich die jüngere philosophische Forschung vor allem
rakterisieren, dem derjenige, der davon betroffen ist, mit der Sprache als Medium von Gewalt und den
nicht ausweichen oder entrinnen kann. Eine solche Schädigungspotenzialen beleidigender Rede (hate
Charakterisierung schließt ein, dass – entgegen dem speech) befasst (vgl. Butler 2006; Kuch/Herrmann
von Ted Honderich (1973) u. a. vertretenen ›legitimis- 2010; Waldron 2012). In der Soziologie hingegen hat
tischen‹ Gewaltbegriff – auch legitimer (und legaler) das Bestreben, die gesellschaftlichen Kontexte gewalt-
Zwang Gewalt heißen kann. Weil der Gewaltbegriff in- tätigen Handelns angemessen zu berücksichtigen, da-
sofern moralisch neutral in dem Sinne ist, dass die zu geführt, dass Gewalttaten eher als durch soziale
Klassifikation einer Handlung als Gewalthandlung Praktiken bestimmte Prozesse denn als individuelle
kein moralisches Urteil über diese impliziert, kann er Handlungen verstanden werden (vgl. z. B. Heitmeyer/
auch den von Staats wegen legitimer- und legalerweise Hagan 2002; Koloma Beck/Schlichte 2014, Kap. 4).
ausgeübten Zwang bezeichnen.
Wird der Gewaltbegriff nicht zur Bezeichnung
staatlicher oder subsidiärer Herrschaft verwendet, Krieg
die sich auf die Möglichkeit der Anwendung physi-
schen Zwangs stützt, kennzeichnet er zumeist eine Der Begriff des Krieges wird zwar in der Alltagsspra-
Form des Zwangs, die in der Schädigung eines Lebe- che auch zur Charakterisierung von streitigen Aus-
wesens und insofern in einem negativen Widerfahr- einandersetzungen zwischen individuellen Personen
nis resultiert (Coady 2008, 23 f.). In einem engeren (›Ehekrieg‹), zwischen Institutionen (›Handelskrieg‹)
Sinn bezieht sich der Gewaltbegriff jedoch nicht auf oder zwischen Individuen und Institutionen (›Behör-
Zwang, der von der Natur bzw. von kausal wirk- denkrieg‹) verwendet, in denen mindestens von einer
samen Sachverhalten ausgeht, sondern setzt eine Konfliktpartei auf andere als die gemeinhin zur Aus-
Schädigungsabsicht voraus. Gewalt im engeren Sinn tragung von Konflikten für angezeigt erachteten Mit-
liegt insofern dann vor, wenn jemand bewusst und tel (z. B. auf Gewalt oder die Ausübung psychischen
beabsichtigt ein anderes Lebewesen durch eine Drucks, auf Diffamierungen oder auf List und Tücke)
Handlung physisch schädigt, der das geschädigte Le- zurückgegriffen oder der Konflikt in einer im Alltag
bewesen nicht zugestimmt hat (vgl. z. B. Miller 1971, unüblichen Weise zugespitzt oder als zugespitzt er-
15). Die Schädigung eines anderen Lebewesens kann fahren wird. In seiner Kernbedeutung bezeichnet
dabei auch in der Beschädigung einer in dessen Ei- ›Krieg‹ jedoch die Austragung eines Konflikts zwi-
gentum stehenden bzw. für dessen Subsistenz erfor- schen Staaten und/oder hierarchisch verfassten Kol-
derlichen Sache oder aber in der Beschädigung von lektiven (z. B. aufständischen oder revolutionären Be-
Gegenständen bestehen, denen besondere symboli- wegungen oder Teilpopulationen eines Staates wie
sche oder sakrale Bedeutung zukommt (Parkin 1986, beim so genannten Bürgerkrieg), bei der sich mindes-
205). Als Gewalt in einem nicht lediglich metaphori- tens eine Konfliktpartei militärischer Gewalt bedient,
schen Sinn kann solche ›Gewalt gegen Sachen‹ je- d. h. durch ein hierzu in geeigneter Weise organisier-
doch nur insofern begriffen werden, als durch die tes und mit geeignetem technischem Gerät (›Waffen‹)
Beschädigung einer Sache mittelbar ein Lebewesen ausgestattetes Kollektiv (›Truppe‹, ›Armee‹) physi-
geschädigt wird. schen Zwang ausübt.
64 Gewalt und Krieg 393

Während Aristoteles den Krieg noch als Mittel zum Die Organisiertheit und die damit einhergehende
Zweck beschreibt, welches vor allem der Unterwer- relative Stabilität der Konfliktparteien unterscheidet
fung derjenigen diene, die von Natur aus zu Be- Krieg von anderen gewaltsamen Gruppenphänome-
herrschten bestimmt seien, sich diesem Los jedoch nen wie Hungerunruhen, Krawallen und Plünderun-
nicht freiwillig fügen wollen (Pol. I 8, 1256b; VII 2, gen und ist zugleich Grundlage der Differenzierung
1325a), kennzeichnet Cicero den Krieg als tierische zwischen Kombattanten und Zivilisten. Die Bezie-
Form der Entscheidung (decertatio beluarum), welche hungen der einzelnen in einen Krieg involvierten In-
die Menschen suchen, wenn die Rechtsabsprache (dis- dividuen zueinander sind vorrangig durch ihre Zu-
ceptatio) als genuin menschliche Form der Entschei- gehörigkeit zu einer der Kriegsparteien und gegebe-
dungsfindung nicht möglich ist (Cic. off. I 11,34). In nenfalls durch ihre Position innerhalb des betreffen-
dieser Tradition steht auch Carl von Clausewitz, wenn den militärischen Apparats bestimmt: »Der Krieg ist
er den Krieg als »eine Fortsetzung des politischen Ver- also keine Beziehung von Mensch zu Mensch, son-
kehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mit- dern eine Beziehung von Staat zu Staat, in der die Ein-
teln« (Clausewitz 1832/1973, 210) und als einen »Akt zelnen nur durch Zufall Feinde sind, nicht als Men-
der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres schen und nicht einmal als Bürger, sondern als Sol-
Willens zu zwingen« (ebd., 191 f.), charakterisiert. daten« (Rousseau 1762/2003, 12 f.). Im Vergleich z. B.
Wird Krieg – wie z. B. von John R. Searle (2011) – zu vereinzelten Schusswechseln zwischen Grenzpos-
als eine durch Kodifizierung einschlägiger Regeln ge- ten oder Terroranschlägen weisen Kriege zudem eine
schaffene institutionelle Tatsache begriffen (ebd., größere räumliche wie zeitliche Ausdehnung auf. Eine
97 f.), bezeichnet der Begriff eine durch spezifische offene Frage ist, ob nur dann von Krieg gesprochen
Normen (Kriegsrecht) geregelte Form der Austragung werden sollte, wenn tatsächlich Kampfhandlungen
von Konflikten zwischen souveränen Staaten, von de- stattfinden, oder ob auch die massive Drohung mit
nen mindestens eine Partei militärische Mittel ein- militärischen Mitteln, die sich etwa in der Konzentra-
setzt. Krieg beginnt dann mit einer bestimmten Anfor- tion größerer Truppenkontingente an einer Landes-
derungen genügenden Kriegserklärung und endet mit grenze manifestiert, mithin ein ›kalter‹ Krieg, als eine
der Erklärung der Beendigung des Kriegszustandes. Form des Krieges anzusehen ist (so schon Hobbes
Ein solches Verständnis von Krieg, das sich am völker- 1651/1996, Kap. 13). Obwohl sich solche Kriegsdro-
rechtlichen Kriegsbegriff der abendländischen Moder- hungen – man denke etwa an Jean-Paul Sartres Schil-
ne orientiert, bildet allerdings nicht die Vielfalt der derung eines dauerhaften »Kriegs der Angst« (Sartre
Phänomene ab, die der Kriegsbegriff in seiner Kernbe- 1986) – als Anwendung psychischer Gewalt begreifen
deutung zu bezeichnen vermag; denn es vermag als lassen, spricht die Tatsache, dass hier niemand mit mi-
Kriegsparteien nur souveräne Staaten im neuzeitlich- litärischen Mitteln physisch geschädigt wird, dafür, sie
westlichen Sinn anzuerkennen und so weder allen vor- nicht als Kriege zu bezeichnen.
neuzeitlichen Kriegen noch allen Kriegen außerhalb
des abendländischen Kulturkreises noch auch »neuen
Kriegen« (Münkler 2007; s. u.) angemessen Rechnung Zur Rechtfertigbarkeit von Gewalt
zu tragen. Zudem kann es nicht verständlich machen,
warum vom Ende eines Krieges oftmals bereits dann Moralphilosophisch und gerechtigkeitstheoretisch
die Rede ist, wenn keine militärischen Auseinander- stellt sich in Bezug auf Gewalt und Krieg in erster Li-
setzungen mehr stattfinden, obwohl die Beendigung nie die Frage, ob und wenn ja: inwiefern und gegebe-
des Kriegszustandes noch nicht erklärt worden ist. nenfalls unter welchen Bedingungen sie gerechtfer-
Verzichtet man deshalb darauf, die Bedeutung des tigt werden können. Hinsichtlich der Rechtfertig-
Kriegsbegriffs auf die Bezeichnung einer institutionel- barkeit von Gewalt lassen sich drei Positionen un-
len Tatsache zu beschränken, lässt sich Krieg als eine terscheiden: 1) Gewalt ist prinzipiell gerechtfertigt;
Form der gewaltsamen Konfliktaustragung charakteri- 2)  Gewalt ist prinzipiell nicht gerechtfertigt; 3) Ge-
sieren, bei der sich organisierte Kollektive als Konflikt- walt ist unter bestimmten Umständen gerechtfertigt
parteien gegenüberstehen (Gelven 1994, 28–42) und bzw. rechtfertigbar.
militärische Mittel eingesetzt werden. Für manche Au- 1) Nur selten – man mag hier an den platonischen
toren schließt der Kriegsbegriff sogar ›Privatkriege‹ Thrasymachos oder an Nietzsche denken – ist die Auf-
ein, die von einzelnen Individuen geführt werden (vgl. fassung vertreten worden, Gewalt sei prinzipiell er-
z. B. Grotius 1625/1950, I, Kap. 3). laubt oder gar geboten. Thomas Hobbes zufolge sind
394 V Anwendungsfragen

zwar die Menschen im so genannten Naturzustand je- anzuwenden. Dies darf nach ganz überwiegend herr-
derzeit dazu berechtigt, Gewalt anzuwenden, um ihre schender Meinung jedoch nur innerhalb eines gesetz-
Macht zu vergrößern; denn sie können sich nur durch lich festgelegten Rahmens geschehen; die durch Men-
möglichst große Macht vor der von den anderen Men- schenrechte und individuelle Grundrechte gesetzten
schen ausgehenden Bedrohung ihrer Existenz und ih- Grenzen staatlicher Gewaltausübung sind dabei stets
rer Habe schützen. Das rationale Handeln der Indivi- zu beachten. Von anarchistischen Theorien, die jeder
duen lässt jedoch auf diese Weise einen permanenten staatlichen Ordnung Legitimität absprechen, wird die
»Krieg aller gegen alle« (Hobbes 1651/1996) entste- Zulässigkeit der Anwendung von Gewalt durch staat-
hen, der es niemandem ermöglicht, ein sicheres Leben liche Autoritäten allerdings prinzipiell bestritten
zu führen (ebd., Kap. 13). Die Annahme, Gewalt sei (klassisch etwa Bakunin 1871/1995, 54–63, 88–91).
prinzipiell gerechtfertigt, lässt sich deshalb aufgrund Die moralische Erlaubtheit nichtstaatlicher Gewalt
der praktischen Konsequenzen, die aus ihr resultieren wird im Wesentlichen für zwei Handlungskontexte
und die niemand vernünftigerweise wollen kann, diskutiert. Weitreichende Einigkeit herrscht darüber,
nicht als rational ausweisen. dass sie in Notwehr und als ein Mittel der Nothilfe zu-
2) Die Überzeugung, dass Gewalt – verstanden als lässig ist, sofern sie geeignet und das mildeste Mittel
violentia, nicht als potestas – unter keinen Umständen ist, welches zur Abwehr eines illegitimen Angriffs zur
gerechtfertigt ist, steht im Zentrum eines strikten Pa- Verfügung steht (Erforderlichkeit), ihr Einsatz in ei-
zifismus. Ein strikter Pazifismus kann – sofern er nicht nem angemessenen Verhältnis zur Bedrohung steht
auf religiösen Überzeugungen beruht – im Rahmen (Verhältnismäßigkeit) und ihre Anwendung auf die
einer strengen Pflichtenethik etwa mit der Erhaltung unmittelbare Situation der Gefahr beschränkt bleibt
der eigenen moralischen Integrität begründet werden. (Gegenwärtigkeit). Die Zulässigkeit des individuellen
Er ist jedoch wenig plausibel, wenn man davon aus- Einsatzes von Gewalt in Notwehr- und Nothilfesitua-
geht, dass die Folgen einer Handlung in deren mora- tionen ergibt sich dabei daraus, dass es für solche Si-
lische Bewertung einbezogen werden müssen. Als ver- tuationen charakteristisch ist, dass der Angegriffene
antwortungsethisch (Tugendhat 1991, 177) bzw. kon- keine Möglichkeit hat, bei den zur legitimen Gewalt-
sequentialistisch (Singer 2013, 478–480) lässt sich ein ausübung berechtigten staatlichen Instanzen Schutz
weniger strikter Pazifismus charakterisieren, der zwar zu suchen (vgl. als klassische Position zum Notwehr-
die theoretische Möglichkeit der Rechtfertigung von recht: Locke 1690/2007, §§ 16–19).
Gewalt anerkennt, Gewalt jedoch aus empirischen Moralisch unterschiedlich beurteilt wird der Ein-
Gründen für ein nicht zu rechtfertigendes Übel erach- satz nichtstaatlicher Gewalt zur Erreichung bestimm-
tet, da in jedem konkret zu betrachtenden Einzelfall ter politischer und sozialer Ziele. Während etwa Kant
die negativen Folgen der Gewaltanwendung deren ein Recht auf gewaltsamen Widerstand gegen unge-
denkbare positive Folgen überwögen. rechte politische Herrschaft ablehnte (AA VI, 319–
3) Zwischen den beiden extremen Positionen, die 323), wird gewaltsamer Widerstand als Form der Not-
Gewalt entweder stets oder aber niemals für gerecht- wehr und Nothilfe gegen extremes Unrecht heute oft-
fertigt erachten, sind jene Theorien angesiedelt, wel- mals als legitim erachtet, sein Erlaubtsein jedoch zu-
che behaupten, dass Gewalt unter bestimmten Um- gleich an das Vorliegen starker Voraussetzungen
ständen rechtfertigbar ist. Dies kann im Sinne einer geknüpft (z. B. Gert 1969; Audi 1971, 84–95). So muss
schwachen Lesart von Rechtfertigbarkeit bedeuten, das durch Gewalt zu beseitigende Unrecht in seinem
dass bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen Ge- Umfang und in seiner Stärke gravierend sein, und alle
walt moralisch erlaubt ist (a). In einer starken Lesart gewaltlosen Mittel, es zu beseitigen, müssen erprobt
kann die These der voraussetzungsabhängigen Recht- worden sein oder nach eingehender Erwägung als un-
fertigbarkeit von Gewalt aber auch besagen, dass Ge- tauglich erscheinen. Darüber hinaus muss die berech-
walt unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur tigte Erwartung bestehen, dass das Unrecht durch den
moralisch erlaubt, sondern moralisch geboten oder Einsatz von Gewalt innerhalb absehbarer Zeit besei-
jedenfalls moralisch wünschenswert ist (b). tigt oder zumindest verringert werden kann. Schließ-
Zu (a): In der politischen Philosophie wird gemein- lich muss eine Folgenabschätzung ergeben, dass der
hin angenommen, dass in einem legitimen Staat die durch den Einsatz von Gewalt entstehende Schaden
staatlichen Autoritäten – und, wie der Begriff des Ge- mit hoher Wahrscheinlichkeit geringer sein wird als
waltmonopols zum Ausdruck bringt, nur sie – dazu der durch das fortwährende Bestehen des extremen
berechtigt sind, zur Durchsetzung des Rechts Gewalt Unrechts verursachte Schaden. Befürworter eines
64 Gewalt und Krieg 395

grundsätzlichen Rechts auf gewaltsamen Widerstand ressen und Handlungsplänen zu ermöglichen, nur er-
gegen Unrecht messen den einzelnen Voraussetzun- füllen, wenn sie als solche hinreichende Stabilität be-
gen teilweise unterschiedliches Gewicht bei; die Vo- sitzt und jeder einzelne sich darauf verlassen kann,
raussetzungen können so stark interpretiert werden, dass seine Rechte von Staats wegen gegebenenfalls
dass Widerstand zwar theoretisch rechtfertigbar, je- auch mit Zwangsmitteln gewährleistet werden. Zum
doch in den allermeisten konkreten Fällen nicht zu Zweiten ist zu fragen, ob nicht unter besonderen Um-
rechtfertigen ist, da einzelne oder mehrere der ge- ständen gewaltsamer Widerstand moralisch geboten
nannten Bedingungen nicht erfüllt sind. ist. So ist schon für Cicero der Tyrannenmord nicht
Die Möglichkeit der Rechtfertigung revolutionärer nur erlaubt, sondern die »schönste der heldenhaften
Gewalt, die über die Beseitigung extremen Unrechts Taten« (Cic. off. III 4,19; III 6,32); auch die Wider-
hinausgeht, wird heute überwiegend kritisch gesehen. standskämpfer des 20. Juli 1944 gingen unter den ge-
Diese Skepsis beruht vor allem auf der Tatsache, dass gebenen Umständen von einer moralischen Pflicht
revolutionäre Gewalt zu ihrer Begründung auf ge- zur Tötung Hitlers aus (Hofer 1982, 350–354). Wenn
schichtsphilosophische Überlegungen angewiesen zu jedoch überhaupt von einer Pflicht zum gewaltsamen
sein scheint, die einen bestimmten, erst noch zu etab- Widerstand gesprochen werden kann, so lässt sich
lierenden Gesellschaftszustand als so erstrebenswert diese wohl nur für Individuen postulieren, die sich in
auszeichnen, dass zu seiner Herstellung der Einsatz einer Situation und gesellschaftlichen Position befin-
von Gewalt erlaubt oder sogar geboten erscheint. Die den – man denke etwa an Personen aus dem engsten
Überzeugungskraft solcher Annahmen leidet jedoch Umfeld eines Tyrannen –, in der es ihnen mit sehr ho-
u. a. darunter, dass die Vorzugswürdigkeit eines be- her Wahrscheinlichkeit gelingen kann, durch einen
stimmten Gesellschaftszustands gegenüber einem an- begrenzten und in seinen negativen Auswirkungen
deren oft nur relativ auf ganz bestimmte Interessen kontrollierbaren Einsatz von Gewalt entscheidend zur
bzw. im Hinblick auf spezifische Interessengruppen Verringerung gravierenden Unrechts beizutragen.
begründet werden kann und die gewaltsame Etablie-
rung eines Gesellschaftszustands in aller Regel mit der
Inkaufnahme eines ganz erheblichen Ausmaßes an Zur Rechtfertigbarkeit von Krieg
Leiden verbunden ist, von dem nicht klar ist, dass die
Vorzüge der erstrebten neuen gesellschaftlichen Ord- In einer von Aristoteles über Machiavelli bis zu Clau-
nung es zu überwiegen vermögen. Im Übrigen muss sewitz reichenden Traditionslinie der Kriegstheorie
jeder Versuch, revolutionäre Gewalt geschichtsphi- wurde Krieg als ein allgemein erlaubtes Mittel der Po-
losophisch zu rechtfertigen, auf jene Grundlagenkri- litik angesehen, das dem Erwerb (Pol. 1256a, 1281b),
tik reagieren, die sich in der Diskussion um das »Ende dem Gebietserwerb und der Politik schlechthin diene
der Geschichte« (Fukuyama 1992) manifestiert und (Machiavelli 1532/1986, Kap. I, VI und XIV; Clause-
alle Spielarten klassischer Geschichtsphilosophie als witz 1832/1973, 179 f.). Dabei wurde, besonders wirk-
bloße »Meta-Erzählungen« (Lyotard 1993) interpre- mächtig von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, nicht
tiert, deren normativer Geltungsanspruch nicht argu- nur die Unvermeidlichkeit des Krieges als eines Mit-
mentativ eingelöst werden kann. tels des Austrags zwischenstaatlicher Konflikte her-
Zu (b): Herrscht Klarheit über diejenigen Hand- vorgehoben, sondern dem Krieg als einem »Zustand,
lungssituationen, in denen die Anwendung von Ge- in welchem mit der Eitelkeit der zeitlichen Güter und
walt als rechtfertigbar erscheint, so kann gefragt wer- Dinge [...] Ernst gemacht wird[, auch ein] sittliches
den, in welchen der genannten Fälle Gewalt moralisch Moment [zugeschrieben, hätten doch] glückliche
nicht nur erlaubt, sondern darüber hinaus wün- Kriege innere Unruhen verhindert und die innere
schenswert oder geboten ist. Zwei der angesproche- Staatsmacht befestigt« (Hegel 1820/1970, § 324,
nen Handlungsbereiche bedürfen in diesem Zusam- Anm.). Von manchen Autoren wurde Krieg sogar als
menhang einer abermaligen Betrachtung. Zum Ersten ein geradezu notwendiges Movens der kulturellen
ist staatliche Gewalt zur Durchsetzung einer Rechts- Evolution affirmiert (vgl. schon das von Heraklit über-
ordnung moralisch jedenfalls dann nicht nur erlaubt lieferte Diktum, Krieg sei »aller Dinge Vater«; Diels/
oder wünschenswert, sondern geboten, wenn die Kranz 1951/52, 22 B 53); vereinzelt findet sich eine
Rechtsordnung nicht extrem ungerecht ist. Denn eine solche Auffassung noch am Ende des zwanzigsten
Rechtsordnung kann ihre Funktion, die friedliche Ko- Jahrhunderts (vgl. z. B. Hondrich 1992). Angesichts
existenz von Individuen mit unterschiedlichen Inte- der Schäden und Gefahren, die jeder Krieg mit sich
396 V Anwendungsfragen

bringt, wird Krieg demgegenüber in der politischen wenn und soweit er zur Abwehr eines ungerechtfertig-
Philosophie der Gegenwart fast ausnahmslos als ein ten Angriffs erforderlich ist (vgl. Walzer 1977, 53–58).
besonders gravierendes Übel begriffen, das entweder Auch Angriffskriege lassen sich jedoch – wie die Ver-
überhaupt keiner Rechtfertigung fähig oder nur unter treter der Theorie des gerechten Krieges seit dem Mit-
ganz besonderen Bedingungen zu rechtfertigen sei telalter geltend machen – unter bestimmten Bedin-
und dessen Vermeidung oder Einhegung im Zentrum gungen moralisch rechtfertigen. Allerdings ist die
des politischen Handelns stehen müsse. Theorie des gerechten Krieges ungeeignet, »zwischen
Gegen die radikalpazifistische Annahme, dass Situationen, in denen Krieg erlaubt ist, und Situatio-
Krieg generell moralisch verboten sei, spricht vor al- nen, in denen Krieg geboten ist« (Mayer 1999, 294,
lem die in allen Kulturen weithin anerkannte Legi- Anm. 7), zu unterscheiden.
timität individueller wie kollektiver Selbstverteidi- Die breiteste Zustimmung können heute sechs Be-
gung. Vertreter eines strikten Pazifismus müssen da- dingungen beanspruchen, die sich im Verlauf der Ent-
von ausgehen, dass es keine Fälle legitimer Selbstver- wicklung der Theorie des gerechten Krieges heraus-
teidigung von Staaten oder sozialen Gruppen gebe, kristallisiert haben und als jeweils notwendige und
annehmen, dass die legitime Selbstverteidigung eines zusammen hinreichende Bedingungen eines mora-
Staates oder einer sozialen Gruppe niemals den Ein- lisch gerechtfertigten Angriffskrieges verstanden wer-
satz militärischer Mittel erfordere, oder voraussetzen, den können (vgl. Schmücker 2000; 2005 mit weiteren
dass mit einem Krieg stets so große Übel verbunden Nachweisen):
seien, dass die Pflicht zur Kriegsvermeidung das 1. Die schon von Cicero (Cic. off. I 11,36; so genann-
Selbstverteidigungsrecht prinzipiell überwiege. Die tes ›Fetialrecht‹) und Augustinus (1891, XXII,
beiden ersten Annahmen sind empirisch wenig plau- Kap. 75) anerkannte Auctoritas-principis-Bedin-
sibel. Die dritte gewichtet den legitimen Wunsch Drit- gung verlangt, dass der Eintritt in einen Krieg auf
ter, nicht unter den Übeln eines Krieges zu leiden, der Entscheidung einer legitimen Autorität beruht.
prinzipiell höher als das Selbstverteidigungsrecht ei- 2. Bereits von Augustinus (1895, VI, 10) anerkannt ist
nes zu Unrecht angegriffenen Staates oder einer mit auch die Causa-iusta- oder Ius-ad-bellum-Bedin-
militärischen Mitteln terrorisierten sozialen Gruppe. gung, deren klassische Formulierung sich bei Tho-
Diesen, die ja bereits Opfer militärischer Gewalt ge- mas von Aquin (STh II-II, 40, a. 1, resp.) und Fran-
worden sind, drohen nämlich durch die Selbstvertei- cisco de Vitoria (1539/1997, 10–14) findet. Sie bin-
digung mit militärischen Mitteln nicht in jedem Fall det die Legitimität eines Krieges an das Vorliegen
größere Übel als die, unter denen sie ohnehin bereits eines Grundes, der zum Kriegführen berechtigt.
zu leiden haben. Für eine derart grundsätzliche Be- 3. Erstmals bei Thomas von Aquin (STh II-II, 40, a. 1,
vorzugung der Interessen derjenigen, die nicht bereits resp.), dann aber auch bei Francisco de Vitoria
unter illegitimer militärischer Gewalt leiden, gegen- (1539/1997, 60, Zweiter Lehrsatz) und bei Emer de
über den legitimen Ansprüchen zur Selbstverteidi- Vattel (1785/1959, III, Kap. 3, § 29 f.) findet sich
gung berechtigter Opfer ist jedoch bisher keine plausi- die Intentio-recta-Bedingung. Ihr zufolge darf
ble Begründung gegeben worden. Auch die Schwie- Krieg nicht geführt werden, um ein Übel herbei-
rigkeit der Abgrenzung von Selbstverteidigungsakten zuführen, sondern nur um eines moralisch guten
und anderen Handlungen erlaubt nicht den Schluss, Zieles willen. Die Intentio-recta-Bedingung ver-
Selbstverteidigung sei illegitim (Schmücker 2000, bietet einen Angriffskrieg, wenn das Handeln der
322 f.; 2005, 9 f.). ihn beginnenden Partei entweder nicht auf die Er-
Dieser Einsicht trägt die Frage Rechnung, wann ein reichung eines Zwecks gerichtet wäre, der durch
Krieg als ein ›gerechter Krieg‹ (bellum iustum), d. h. einen zum Kriegführen berechtigenden Grund
als moralisch gerechtfertigt gelten kann. Dabei ist (causa iusta) gedeckt ist, oder auf die Verwirk-
grundsätzlich zwischen zwei Arten von Kriegen zu lichung eines Übels gerichtet wäre, das nicht not-
unterscheiden. Einen Verteidigungskrieg führt eine wendigerweise mit der Erreichung des durch die
Kriegspartei, die sich gegen einen Angriff eines Geg- causa iusta gedeckten Zwecks verbunden ist
ners verteidigt. Eine Kriegspartei, die sich nicht gegen (Schmücker 2005, 19).
einen Angriff einer anderen Kriegspartei verteidigt, 4. Die Ius-in-bello-Bedingung fordert, dass die Krieg-
führt einen Angriffskrieg. Als Akt der Selbstverteidi- führung selbst moralisch legitim ist; sie lässt sich
gung wird ein Krieg gemeinhin als legitim erachtet auch außerhalb der abendländischen Kulturtradi-
(und ist nach geltendem Völkerrecht auch legal), tion – z. B. in den hinduistischen Dharma-Lehren
64 Gewalt und Krieg 397

– nachweisen. Als Beurteilungsmaßstab dafür, ob senen Verhältnis zu dem durch den Krieg inten-
die Ius-in-bello-Bedingung erfüllt ist, bieten sich dierten Guten stehen.
heute die Prinzipien des humanitären Völkerrechts Moralphilosophischer Präzisierung bedarf offensicht-
(des Haager wie des Genfer Rechts) an, zumal die lich die Causa-iusta-Bedingung. Wenngleich verein-
vier Genfer Abkommen von 1949 als erste völker- zelt die Legitimität eines präventiven Angriffskrieges
rechtliche Normen überhaupt mit dem Beitritt behauptet wird (so z. B. Walzer 1977, 83 f.), findet als zu
Montenegros im Jahr 2006 universelle Akzeptanz einem Angriffskrieg berechtigender Grund heute nur
erlangt haben. Die Ius-in-bello-Bedingung wird das Erfordernis der Nothilfe breite Zustimmung. Zwar
auch von vielen Kriegstheoretikern anerkannt, die kann, wie schon Kant im fünften Präliminarartikel der
im Krieg ein prinzipiell erlaubtes Mittel der Aus- Friedensschrift implizit anerkennt, auch die Notwen-
tragung zwischenstaatlicher Konflikte sehen. Die digkeit der Abwehr vollständiger Rechtsauflösung und
Legitimität eines Krieges ist für sie jedoch allein der Wiederherstellung eines Herrschafts- und Ord-
daran gebunden, dass die für die Kriegführung gel- nungsminimums den Einsatz militärischer Mittel mo-
tenden Normen eingehalten werden. Diese Ver- ralisch begründen (AA VIII, 346). Der Einsatz mi-
engung der Frage nach der Legitimität eines Krie- litärischer Mittel zur Wiederherstellung eines Ord-
ges auf die Frage, ob die Praxis der Kriegführung nungsminimums kann jedoch nicht die Form eines
legitim ist, ergibt sich aber nur dann, wenn man Angriffskriegs haben, sondern muss strikt unparteilich
die Ius-in-bello-Bedingung als eine hinreichende erfolgen. Situationen, in denen durch einen Angriffs-
Bedingung der Legitimität eines Krieges versteht. krieg Nothilfe geleistet werden kann, sind demgegen-
5. Die Alternativlosigkeits- oder Ultima-ratio-Bedin- über durch zwei Merkmale charakterisiert: Einerseits
gung verlangt, dass das durch einen Krieg erstrebte liegt das moralische Recht einer Gruppe zur Selbstver-
Gute auf keinem anderen Weg erreicht werden teidigung gegen einen illegitimen Angriff oder zum
kann, der mit geringeren Schäden und Leiden ver- Widerstand gegen extremes Unrecht vor. Andererseits
bunden ist. Man hat versucht, diese Bedingung, sind die zur Selbstverteidigung Berechtigten zu einer
die bereits im klassischen Indien anerkannt gewe- wirksamen Selbstverteidigung nicht in der Lage. Die
sen zu sein scheint (vgl. Köhler 2003, 134), auch moralische Zulässigkeit einer militärischen Interventi-
bei Thomas von Aquin formuliert zu finden (vgl. on eines Dritten, der den zur Selbstverteidigung Be-
Beestermöller 1990, 130 f.); klarer ausgesprochen rechtigten in einer solchen Situation beispringt und ge-
ist sie jedoch bei Emer de Vattel (1785/1959, Buch meinsam mit ihnen oder an ihrer Stelle den illegitimen
II, Kap. 18, § 354 sowie III, Kap. 3, §§ 25, 37) und Angriff abzuwehren oder extremes Unrecht zu beseiti-
bei heutigen Autoren (z. B. Tugendhat 1992, 101, gen sucht, scheint sich aus dem Umstand zu ergeben,
121; Regan 1996, 64 ff.; Coates 1997, 189 ff.; Hösle dass es ungerecht erschiene, faktisch nur demjenigen
1997, 1028). Die Alternativlosigkeitsbedingung die effektive Ausübung des Rechts auf Selbstverteidi-
trägt der auch von der Rechtswissenschaft an- gung zuzugestehen, der dazu ohne die Inanspruchnah-
erkannten moralischen Intuition Rechnung, dass me der Hilfe Dritter in der Lage ist. Ein heute oft als hu-
auch ein legitimer Zweck niemals ein anderes als manitäre Intervention bezeichneter Angriffskrieg, der
das mildeste zur Verfügung stehende Mittel legiti- der Nothilfe für illegitim Angegriffene oder mit militä-
miert. Da sie impliziert, dass ein Krieg nur dann rischen Mitteln Unterdrückte und damit dem Schutz
legitim sein kann, wenn er überhaupt ein zur Er- vor der massiven und systematischen Verletzung
reichung des erstrebten Guten taugliches Mittel grundlegender Menschenrechte dient, scheint deshalb
ist, schließt sie die Tauglichkeitsbedingung, die dann, wenn auch die übrigen fünf Bedingungen erfüllt
manche Autoren als eine eigenständige Legitimi- sind, moralischer Rechtfertigung fähig zu sein.
tätsbedingung auffassen, ein. Aus ihr folgt auch,
dass es illegitim ist, ohne hinreichend große Er-
folgsaussicht einen Angriffskrieg zu beginnen – Ausblick
unter welchen sonstigen Umständen auch immer.
6. Der Verhältnismäßigkeitsbedingung zufolge, die Während sich die anthropologische und historiogra-
schon in der spanischen Spätscholastik sehr klar phische Forschung seit den 1990er Jahren umfang-
formuliert worden ist (Vitoria 1539/1997, 14; Suá- reich mit dem sozialen Phänomen der Gewalt aus-
rez 1965, disp. 13, sectio 4, not. 1), müssen die von einandergesetzt hat und in den Sozialwissenschaften
einem Krieg implizierten Übel in einem angemes- die Soziologie der Gewalt als eigenständige Subdiszip-
398 V Anwendungsfragen

lin entstanden ist, wurden Begriff und Phänomen der In: Jerome A. Shaffer (Hg.): Violence. Award-Winning Es-
Gewalt in der Philosophie zuletzt innerhalb der ana- says in the Council for Philosophical Studies Competition.
lytischen Philosophie der 1960er und 1970er Jahre New York 1971, 45–99.
Augustinus, Aurelius: De utilitate credendi, De duabus ani-
eingehend diskutiert (zusammenfassend Burgess- mabus, Contra fortunatum, Contra Adimantum, Contra
Jackson 2002). Diese Debatte war entscheidend durch Epistulam Fundamenti, Contra Faustum. Hg. von Joseph
politische Prozesse in den USA wie die amerika- Zycha. Wien 1891.
nischen Studentenproteste und die Bürgerrechts- –: Quaestionum in Heptateuchum libri VII, Adnotationum in
bewegung geprägt und ist, ohne dass ein breiter und Job liber unus. Hg. von Joseph Zycha. Wien 1895.
Bakunin, Michael: Gott und der Staat. Berlin 1995 (frz.
gegen kritische Einwände abgesicherter Konsens über
1871).
Bedingungen der Rechtfertigung von Gewalt erzielt Beestermöller, Gerhard: Thomas von Aquin und der gerechte
worden wäre, in den 1980er Jahren weitgehend zum Krieg. Friedensethik im theologischen Kontext der Summa
Erliegen gekommen. Das gegenwärtige Desinteresse Theologiae. Köln 1990.
der Philosophie an Begriff und Phänomen der Gewalt Betz, Joseph: Violence. Garver’s definition and a Deweyan
steht jedoch in einem eklatanten Missverhältnis zu der correction. In: Ethics 87 (1977), 339–351.
Burgess-Jackson, Keith: Gewalt in der zeitgenössischen ana-
großen gesellschaftlichen Bedeutung des Themas, die lytischen Philosophie. In: Wilhelm Heitmeyer/John Ha-
eine intensivere philosophische Reflexion wünschens- gan (Hg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung.
wert erscheinen lässt. Wiesbaden 2002, 1233–1254.
Die philosophische Analyse der Legitimität von Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen.
Kriegen kann sich demgegenüber auf die durch die Frankfurt a. M. 2006 (engl. 1997).
Cicero, Marcus Tullius: De officiis. Vom pflichtgemäßen Han-
Theorie des gerechten Krieges gewonnenen Einsich-
deln. Lat. und dt., übers., komm. und hg. von Heinz Gu-
ten stützen. Sie steht jedoch vor der Herausforderung, nermann. Durchges. Nachdruck. Stuttgart 1992 [Cic. off.].
angemessen auf die zunehmende Zahl solcher bewaff- Clausewitz, Carl von: Vom Kriege [1832]. Bonn 1973.
neten Konflikte zu reagieren, die sich in relevanter Coady, C. A. J.: Morality and Political Violence. Cambridge
Hinsicht von einem Krieg zwischen Staaten unter- 2008.
scheiden und den Rahmen der klassischen Kriegs- Coates, Anthony J.: The Ethics of War. Manchester 1997.
Diels, Hermann/Kranz, Walther (Hg.): Die Fragmente der
ethik, ihrer begrifflichen Unterscheidungen und Nor-
Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. 3 Bde. Hildesheim
men teilweise überschreiten. Charakteristisch für sol- 61951/52.
che ›neuen Kriege‹, die gegenwärtig vor allem in den Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man.
erst spät entkolonialisierten Regionen der Erde zu ver- New York 1992.
zeichnen sind und oft die Form langer Bürgerkriege Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens-
annehmen, ist eine Asymmetrisierung der Kriegfüh- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg 1975.
Gelven, Michael: War and Existence. A Philosophical Inquiry.
rung, wie sie sich etwa in Guerilla-Taktiken und Ter- Philadelphia, Pa. 1994.
roranschlägen manifestiert (Münkler 2007, 13–57). Gert, Bernard: Justifying violence. In: The Journal of Philoso-
Auch der ständig wachsende Anteil ›privater‹ Akteure phy 66 (1969), 616–628.
an diesen Konflikten – man denke an Warlords, maro- Goppel, Anna: Killing Terrorists. A Moral and Legal Analysis.
dierende Banden und Terroristen, aber auch an para- Berlin 2013.
Grotius, Hugo: De jure belli ac pacis libri tres. Drei Bücher
militärische Milizen und bezahlte Söldner (Kaldor
vom Recht des Krieges und des Friedens. Neuer dt. Text und
2000, 144–169) – erschwert die ethische Bewertung Einl. von Walter Schätzel. Tübingen 1950 (lat. 1625).
solcher Konflikte. Offen ist deshalb, ob sich die ›neuen Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philoso-
Kriege‹ anhand der Kategorien der klassischen Kriegs- phie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im
ethik ethisch bewerten lassen. Einen Weg zu einer Grundrisse [1820]. In: Ders.: Werke. Hg. von Eva Molden-
›Ethik der neuen Kriege‹ können möglicherweise Stu- hauer und Karl Markus Michel, Bd. 7. Frankfurt a. M.
1970.
dien ebnen, die einzelne der beschriebenen neuarti- Heitmeyer, Wilhelm/Hagan, John (Hg.): Internationales
gen Gewaltphänomene – etwa die unterschiedlichen Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden 2002.
Formen des Kampfes gegen Terroristen (vgl. Goppel Hobbes, Thomas: Leviathan. Übers. von Jutta Schlösser und
2013) – moralphilosophisch untersuchen. hg. von Hermann Klenner. Hamburg 1996 (engl. 1651).
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64 Gewalt und Krieg 399

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400 V Anwendungsfragen

65 Institutionen und anderen Akteuren wie etwa natürlichen Personen un-


Organisationen terscheiden sich Organisationen dadurch, dass sie be-
stimmte Zwecke verfolgen, ihnen mehrere Akteure als
Mitglieder angehören und sie ein System von internen
Institutionen lassen sich mit einem Bild des amerika- Normen aufweisen, das die Aufgaben der Organisati-
nischen Wirtschaftswissenschaftlers Douglass North onsmitglieder festlegt, ihre Handlungen koordiniert
als die »Spielregeln« der Gesellschaft beschreiben und auf die Verwirklichung der Organisationsziele
(North 1990: 3). Sie umfassen all diejenigen formellen ausrichtet. Aufgrund dieser normativen Binnenstruk-
und informellen Sets von Regeln, Normen und Prakti- tur können die Handlungen, die Personen im Rahmen
ken, die Erwartungen an menschliches Handeln for- ihrer Organisationsrollen vornehmen, im Regelfall
mulieren, es mit spezifischen Bedeutungen versehen, immer auch der Organisation als kollektivem Akteur
soziale Rollen definieren und die mit ihnen verbunde- und nicht nur dem individuellen Mitglied zugeschrie-
nen Rechte, Pflichten und Kompetenzen festlegen. ben werden (vgl. Pettit 2007).
Beispiele für Institutionen sind die Familie, Verfas- Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Institu-
sungen und Gesetze, Kasten- und Standesordnungen, tionen und Organisationen ganz erheblich die Gestalt
der Rechts- bzw. Linksverkehr, das ›Schlangestehen‹ unserer sozialen Welt formen. Sie sind es, die abstrakt
an der Supermarktkasse sowie die politischen Institu- festlegen und konkret durchsetzen, welche Verteilung
tionen des Staates mitsamt den sie konstituierenden von Vor- und Nachteilen in einem Gemeinwesen gilt.
Normen. Mehr noch, nicht nur die Verteilung von Rechten und
Allgemein gesprochen besteht die Funktion von In- Pflichten wird in modernen Gesellschaften ganz über-
stitutionen darin, die Handlungsoptionen gesell- wiegend durch Institutionen bestimmt und mithilfe
schaftlicher Akteure zu strukturieren und somit sozia- von Organisationen verwirklicht, sondern die meisten
le Ordnung zu erzeugen. Diese Funktion erfüllen sie der zu verteilenden Güter und Lasten werden selber
durch verschiedene Mechanismen, zu denen Soziali- erst durch Institutionen erzeugt: Studienplätze und
sationsprozesse, die Kommunikation normativer Er- Bundestagsmandate, Steuerbescheide und Arbeitsver-
wartungen und die Bereitstellung von Anreizen und träge, Unterhaltsansprüche und Eigentumsrechte sind
Sanktionen gehören (vgl. Scott 2014, 55–86). Beispiele für solche ›sozialen Tatsachen‹, die erst durch
Manche der oben beispielhaft genannten Institutio- Institutionen geschaffen werden (Searle 1995). Diese
nen wirken als regulative bzw. konstitutive Regeln grundlegende Bedeutung von Institutionen und Orga-
(dazu Searle 1969, 33–42) unmittelbar auf ihre Adres- nisationen für menschliche Gesellschaften macht sie
saten ein: So reicht die Existenz von Verkehrsregeln zu einem – wenn nicht gar dem zentralen (Rawls 1975,
zumindest im Prinzip aus, um das Verhalten der Ver- 19) – Gegenstand von Theorien der Gerechtigkeit. Da-
kehrsteilnehmer zu regulieren, und die Institution der bei lassen sich zwei Hinsichten unterscheiden, in de-
Familie konstituiert ganz unmittelbar eine Vielzahl nen Institutionen und Organisationen für Fragen der
von Ansprüchen, Pflichten und normativen Befugnis- Gerechtigkeit eine zentrale Rolle spielen: Zum einen
sen, die sich aus den Rollen von Eheleuten, Kindern ist fraglich, ob die Errichtung von Institutionen selber
oder Eltern ergeben. Andere Institutionen wie etwa eine zentrale Forderung der Gerechtigkeit ist, zum an-
die politischen Institutionen des Staates (s. Kap. IV.48) deren wird diskutiert, ob Institutionen der exklusive
sind hingegen auf die Unterstützung bestimmter Ak- Gegenstand der Gerechtigkeit sind, d. h. ob gerechte
teure angewiesen. So bedarf die Legislative eines Par- Institutionen bereits die Rede von einer gerechten Ge-
laments, das Gesetze verabschiedet, die Judikative der sellschaft zu rechtfertigen vermögen.
Gerichte, die Urteile fällen, und die Exekutive der Ver-
waltung und Polizei, die politische Entscheidungen
um- und durchsetzen. Bei dieser Art von kollektiven Institutionen als Forderung
Akteuren handelt es sich um Organisationen. Wäh- der Gerechtigkeit
rend Institutionen im Kern Regeln sind, handelt es
sich bei Organisationen um eine bestimmte Art von Institutionen üben einen tiefgreifenden Einfluss auf
gesellschaftlichem »Spieler« (North 1990, 4 f.), dessen die Lebenschancen der Bürgerinnen und Bürger mo-
Handeln einerseits durch diese Regeln strukturiert derner Gesellschaften aus. Aus diesem Grund ist die
wird, der sie aber andererseits durch sein Handeln in- Gerechtigkeit vorhandener Institutionen eines der
terpretiert und gegebenenfalls weiterentwickelt. Von zentralen Probleme, mit dem sich jede Theorie der
65 Institutionen und Organisationen 401

Gerechtigkeit beschäftigen muss. In gewisser Weise kannt werden kann (epistemische Prämisse) und c)
jedoch noch grundlegender ist die Frage, ob das Vor- sich ein befriedigendes Niveau der Pflichterfüllung
handensein von Institutionen – d. h. hier insbesondere ohne die Androhung von institutionellem Zwang ge-
politischer Institutionen – selber eine Forderung der währleisten lässt (empirische Prämisse). Diese An-
Gerechtigkeit ist. Bedarf es solcher Institutionen, um nahmen werden allerdings von kantianischen und
eine gerechte Gesellschaft zu errichten? Und wenn ja, liberal-naturrechtlichen Ansätzen nicht bzw. nur
wie ist dieser Zusammenhang genau zu verstehen? eingeschränkt geteilt. Die gerechtigkeitstheoretische
Welche Gerechtigkeitsprobleme sind es, die sich nur Funktion politischer Institutionen ergibt sich in die-
mithilfe von Institutionen lösen lassen? sen Traditionen gerade an den Stellen, an denen die
Anhand der Antworten auf diese Fragen lassen sich moralische Selbstgenügsamkeit der Individuen be-
drei Traditionen des politischen Denkens unterschei- stritten wird.
den, die bis heute die philosophische Debatte zur Be- 2) Liberale Naturrechtsdenker teilen mit den Anar-
deutung von Institutionen bestimmen: 1) der phi- chisten die Annahme, dass ein umfassendes System
losophische Anarchismus, der alle unfreiwilligen und natürlicher Rechte existiert, das konkrete Anforderun-
zwangsbewehrten Institutionen als Verstoß gegen in- gen an das Handeln der Akteure stellt. Hinsichtlich der
dividuelle Rechte ablehnt, 2) klassisch-liberale und epistemischen Eindeutigkeit und der verlässlichen
naturrechtliche Positionen, die die Funktion von In- Durchsetzung dieser Rechte in einem vorinstitutionel-
stitutionen vor allem in der fairen und verlässlichen len Zustand sind sie jedoch deutlich skeptischer. So
Durchsetzung natürlicher Rechte erblicken, und 3) geht John Locke in seiner Zweiten Abhandlung über die
schließlich Ansätze in der Tradition von Kants politi- Regierung zwar einerseits davon aus, dass in einem Na-
scher Philosophie, die annehmen, dass die verbindli- turzustand ohne politische Institutionen »jeder die
che Definition der Rechte und Pflichten der Gesell- vollziehende Gewalt des Gesetzes der Natur innehat«
schaftsmitglieder durch Institutionen eine notwendi- (1689/1977, II. Abh., § 13) und berechtigt sei, »Ver-
ge Voraussetzung für ein gerechtes Gemeinwesen ist. gehen gegen jenes Gesetz so zu bestrafen, wie es nach
1) Philosophische Anarchisten wie William God- seinem nüchternen Sachverstand der jeweilige Fall er-
win im 18. Jahrhundert (Godwin 1793/2013) oder ge- fordert« (ebd., § 9). Andererseits warnt er jedoch da-
genwärtig John Simmons (2001: 102–121) lehnen (un- vor, dass ein solches System der privaten Rechtsaus-
freiwillige) politische Institutionen als ungerechtfer- legung und -anwendung zu ungerechten Ergebnissen
tigte Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht der be- tendiere und letztlich die Rechtssicherheit aller zu un-
troffenen Bürgerinnen und Bürger ab. Dieser Position tergraben drohe: zum einen, weil die Streitparteien
zufolge handelt es sich bei den von politischen Institu- aufgrund ihrer Eigenliebe und Leidenschaften zur par-
tionen ausgehenden Normen und Entscheidungen um teiischen Interpretation und exzessiven Durchsetzung
Eingriffe, weil der mit ihnen einhergehende Anspruch ihrer jeweiligen Rechtsposition neigten und so ständig
auf Rechtsgehorsam und die Androhung von Zwang Gefahr liefen, sich in einen Teufelskreis von wechsel-
bei Nichtbefolgung unweigerlich mit dem anarchisti- seitigen Straf- und Kompensationsmaßnahmen zu
schen Ideal der freien Selbstbestimmung des Individu- verstricken (ebd., §§ 13, 124 f.); zum anderen, weil ein
ums kollidieren. Als ungerechtfertigt werden diese Ein- System der privaten Rechtsanwendung mit Risiken
griffe abgelehnt, weil sie aus anarchistischer Perspekti- verbunden sei, die die Schwachen und Friedfertigen
ve nicht notwendig sind, um gerechte Verhältnisse zu gegenüber den Starken und Streitlustigen benachtei-
sichern: Autonome Personen, so die These, könnten ligten (ebd., §§ 126, 136; vgl. auch Nozick 1974, 12).
ihre Gerechtigkeitspflichten auch unabhängig von po- Aus diesen Mängeln des Naturzustands ergibt sich in
litischen Institutionen erfüllen. Sie seien daher weder der liberalen Tradition eine spezifische Konzeption
zum Aufbau von noch zum Gehorsam gegenüber sol- der Funktion politischer Institutionen, die die unpar-
chen Institutionen verpflichtet (ebd., 154 f.). teiliche Auslegung natürlicher Rechte durch die Judi-
Die anarchistische These von der moralischen Au- kative und ihre willkürfreie und verlässliche Durchset-
tarkie der Individuen beruht auf den drei Prämissen, zung durch die Exekutive ins Zentrum rückt. Die legis-
dass a) ein umfassendes System konkreter Gerechtig- lative Gestaltung des Gemeinwesens tritt im ›Nacht-
keitspflichten unabhängig von der Setzung durch In- wächterstaat‹ des klassischen Liberalismus dagegen in
stitutionen existiert (ontologische Prämisse), b) der den Hintergrund, da mit der Ausdehnung staatlicher
Gehalt dieser Pflichten von den Akteuren durch den Regulierungsbefugnisse immer auch ein Konflikt mit
Gebrauch ihrer individuellen Vernunft verlässlich er- vorstaatlichen Rechten verbunden wird. Diese ambi-
402 V Anwendungsfragen

valente Haltung gegenüber staatlicher Macht führt da- aus dieser Überlegung eine Pflicht, in politische Ge-
zu, dass sich der Wert politischer Institutionen im libe- meinschaften einzutreten und sie zu erhalten (AA VI,
ralen Denken nicht abstrakt bestimmen lässt, sondern 312). In der modernen Gerechtigkeitstheorie findet
sich pragmatisch am instrumentellen Beitrag bemisst, Kants Diktum von der Pflicht zum Verlassen des Na-
den konkrete Institutionen zur Gewährleistung natür- turzustands Widerhall in John Rawls’ Idee einer na-
licher Rechte leisten. türlichen Pflicht zur Gerechtigkeit, die die Individuen
3) Ansätze in der Tradition von Immanuel Kants zum Aufbau und zur Unterstützung gerechter Institu-
politischer Philosophie gehen schließlich davon aus, tionen verpflichtet (1975, 368 f.).
dass politische Institutionen eine notwendige Voraus-
setzung für ein gerechtes Gemeinwesen sind. Den
Ausgangspunkt dieser Position bildet die These, dass Institutionen als zentraler Gegenstand
das Naturrecht als Basis konkreter Rechte und Pflich- der Gerechtigkeit
ten unterdeterminiert ist, also bereits die ontologische
Prämisse der Anarchisten unzutreffend ist. Damit ist Während in der gegenwärtigen philosophischen Dis-
gemeint, dass moralische Normen die Akteure zwar kussion große Einigkeit darüber herrscht, dass Insti-
auf Prinzipien wie die der Freiheit, Gleichheit und Un- tutionen – sei es nun aus instrumentellen oder prinzi-
abhängigkeit der Individuen festlegen, sich aus diesen piellen Gründen – für die Gerechtigkeit moderner
jedoch kein eindeutiger und umfassender Katalog Gesellschaften notwendig sind, kreist eine zweite,
konkreter Rechtsnormen ergibt (vgl. Stilz 2009, 35– kontroversere Debatte um die Frage, ob Institutionen
56; Schmelzle 2015, 149–152). Vielmehr erlaubten die das alleinige Objekt von Gerechtigkeitsforderungen
abstrakten Grundsätze des Naturrechts eine Vielzahl sind. Diese Auseinandersetzung ist nicht zuletzt des-
plausibler Interpretationen, die jeweils unterschiedli- wegen interessant, weil sie die moralischen Standards
che Rechtsordnungen zur Folge hätten. Die Probleme, unseres alltäglichen Handelns hinterfragt: Steht es uns
die sich aus dieser Möglichkeit »vernünftiger Mei- beispielsweise frei, unsere Fähigkeiten am Arbeits-
nungsverschiedenheiten« (Rawls 1998, 127–132) in markt meistbietend zu verkaufen, oder sollten wir uns
Rechtsfragen ergeben, erläutert Kant anhand des Er- bei der Berufswahl auch an den Bedürfnissen der Ge-
werbs von Eigentum im Naturzustand: Kant ist der sellschaft orientieren? Und wie ist es gerechtigkeits-
Ansicht, dass es aufgrund der natürlichen Freiheit der theoretisch zu bewerten, wenn Bürger und Unterneh-
Individuen allen Personen möglich sein muss, Teile men zwar die Steuergesetze einhalten, aber gleichzei-
der äußeren Welt zu besitzen. Da im Naturzustand je- tig konsequent jedes Schlupfloch nutzen, um ihre
doch eindeutige Regeln fehlen, die die Aneignung von Steuerlast zu senken (s. Kap. V.75)? Welche Antworten
Eigentum regulieren, sind die Akteure darauf ange- auf diese Fragen gegeben werden, hängt maßgeblich
wiesen, so zu verfahren, wie es ihnen jeweils subjektiv davon ab, ob die Prinzipien der verteilenden Gerech-
»recht und gut dünkt«, d. h. die Normen ihres Han- tigkeit ausschließlich für die ›Grundstruktur‹, d. h. die
delns einseitig zu bestimmen (AA VI, 312). Da Eigen- öffentlichen, rechtlich verfassten Institutionen der
tumsrechte jedoch allen anderen Personen zahlreiche Gesellschaft gelten oder ob sie auch direkt das Verhal-
Verbindlichkeiten auferlegen, sind Akte der Aneig- ten von Individuen und Assoziationen regulieren.
nung auf Basis einseitiger Rechtsauffassungen immer Der Vorschlag, den Geltungsbereich der Prinzipien
auch willkürliche Eingriffe in die Handlungsfreiheit der distributiven Gerechtigkeit auf die gesellschaftli-
Dritter, die gegen die Prinzipien der gleichen natürli- che Grundstruktur zu beschränken, geht auf das Werk
chen Freiheit und Unabhängigkeit verstoßen. Das Rawls’ zurück. Mit dem Begriff der Grundstruktur be-
Problem beschränkt sich dabei nicht auf die von Lo- zeichnet er das System der wichtigsten öffentlichen In-
cke bekannten Schwierigkeiten der parteilichen Aus- stitutionen eines Gemeinwesens, das die »Grundrech-
legung natürlicher Rechte (1977, II. Abh., §§ 13, 125), te und -pflichten und die Früchte der gesellschaftli-
sondern betrifft – viel grundlegender – den Inhalt die- chen Zusammenarbeit« verteilt und so die Lebens-
ser Rechte selbst. Die Folge ist ein Zustand strukturel- chancen der Bürgerinnen tiefgreifend prägt (Rawls
ler Rechtlosigkeit, der sich Kant zufolge nur dadurch 1975, 23, 74, 267). Individuen und gesellschaftliche
überwinden lässt, dass die Setzung, Anwendung und Assoziationen wie Unternehmen und Vereine fallen
Durchsetzung verbindlicher Normen an öffentliche somit explizit aus dem Geltungsbereich der Gerechtig-
Institutionen übertragen wird, die den Willen aller keitsprinzipien heraus. Motiviert wird dieser Vor-
Betroffenen vertreten. Für die Individuen ergibt sich schlag durch die Idee einer moralischen Arbeitsteilung
65 Institutionen und Organisationen 403

zwischen Individuen und Institutionen: Demnach ob- lichen Institutionen und (akkumulierten) individuel-
liegt es den Institutionen, im Hintergrund die Gerech- len Handlungen ergebe. So hingen etwa die Lebens-
tigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse zu sichern, chancen von Mädchen nicht nur von ihren formalen
so dass die Akteure in ihren alltäglichen Handlungen Rechten ab, sondern auch von informellen sozialen
frei sind, ihre subjektiven Ziele zu verfolgen (Rawls Normen, die ihre gesellschaftliche Rolle definierten.
1998, 379 f.). Umgekehrt sind die Individuen jedoch Verdeutlichen kann man sich diese Überlegung am
zum Aufbau von und zum Gehorsam gegenüber ge- Beispiel des Zugangs zu Hochschulbildung: In vielen
rechten Institutionen verpflichtet (Rawls 1975, 368 f.). Gesellschaften ist es nach wie vor gängige Praxis, eher
So sollen sie einerseits zur Stabilität des Systems der Jungen als Mädchen die Aufnahme eines Studiums zu
Hintergrundgerechtigkeit beitragen, ohne anderer- ermöglichen, auch wenn formal für beide Geschlech-
seits bei jeder einzelnen Handlung zur Kalkulation et- ter die gleichen Zugangsbedingungen gelten. Ein
waiger Gerechtigkeitseffekte verpflichtet zu sein. wichtiger Grund für diese Ungleichbehandlung dürfte
Die Gegenposition, die am prominentesten von darin bestehen, dass sich viele Eltern an sozialen Nor-
G. A. Cohen vertreten wird, lässt sich mit dem feminis- men orientieren, die die Rolle von Frauen auf die Be-
tischen Slogan »Das Private ist politisch« zusammen- reiche Haushalt, Ehe und Familie beschränken und
fassen (Cohen 2008, 116). Damit ist gemeint, dass deswegen Hochschulbildung für Mädchen unnütz er-
nicht nur das Wirken öffentlicher Institutionen für die scheinen lassen. Diese sozialen Normen, so Cohen
Gerechtigkeit eines Gemeinwesens relevant ist, son- weiter, hätten also offensichtlich einen erheblichen
dern auch die privaten Handlungen, die in diesem Einfluss auf die Biographien von Frauen und Mäd-
Rahmen stattfinden. Beispiele hierfür sind die – häufig chen. Dennoch zählten sie nach der Rawlsschen De-
ungerechte – Arbeitsteilung innerhalb von Familien finition nicht zur (rechtlich verfassten) Grundstruktur
oder das – zumeist eigennützige – Verhalten auf dem der Gesellschaft, sondern seien das Ergebnis (akkumu-
Markt. Konkret wirft Cohen Rawls vor, dass die Be- lierter) individueller Handlungen. Aus diesem Grund
schränkung des Geltungsbereichs von Gerechtigkeits- hält Cohen die Beschränkung des Geltungsbereichs
prinzipien auf die Grundstruktur intern inkonsistent von Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit auf
und substanziell willkürlich sei. Der Vorwurf der In- rechtlich verfasste Institutionen grundsätzlich für ver-
konsistenz bezieht sich darauf, dass der Dualismus von fehlt (ebd., 132–138). Als Abhilfe für beide Probleme
Gerechtigkeitsprinzipien für Individuen und Institu- schlägt er die Förderung eines sozialen Ethos vor, das
tionen nicht mit Rawls’ Anspruch zu vereinbaren sei, einerseits das egalitäre Selbstverständnis der Bürgerin-
dass die Gerechtigkeitsprinzipien das moralische nen wohlgeordneter Gesellschaften widerspiegele und
Selbstverständnis der Bürger wohlgeordneter Gesell- diese andererseits auch dann zur Befolgung der Ge-
schaften auch im Alltag bestimmen (ebd., 74–76). rechtigkeitsprinzipien motiviere, wenn ihnen institu-
Vielmehr, so Cohen, ermögliche Rawls’ Modell der tionelle Regeln keine eindeutigen Vorgaben machen
moralischen Arbeitsteilung eine schizophrene Einstel- (ebd., 73, 140–143).
lung in Gerechtigkeitsfragen: So werde von den Akteu- Verteidiger von Rawls’ Position haben vor allem
ren einerseits verlangt, anspruchsvolle Gerechtigkeits- zwei Arten von Einwänden gegen Cohens Argumen-
prinzipien auf der institutionellen Ebene zu unterstüt- tation vorgebracht: zum einen, dass sich die Beschrän-
zen, andererseits werde ihnen jedoch freigestellt, den kung des Geltungsbereichs der Gerechtigkeitsprinzi-
Geist dieser Prinzipien in ihrem alltäglichen Handeln pien auf die Grundstruktur – entgegen Cohens An-
zu ignorieren (ebd., 138). Für das Rawlssche Projekt nahme – nicht allein durch deren besonderen Einfluss
als Ganzes noch schwerer als der Vorwurf der Inkon- auf die Verteilung von Lebenschancen begründen las-
sistenz wiegt jedoch Cohens zweiter Einwand, dass der se, und zum anderen, dass eine gerechte Grundstruk-
von Rawls gewählte Fokus auf die Gerechtigkeit der tur auch ohne die Unterstützung durch ein egalitäres
Grundstruktur letztlich willkürlich sei. Diese Kritik Ethos für die gerechte Verteilung von Lebenschancen
beruht auf der – Cohen zufolge von Rawls geteilten – sorgen könne.
Prämisse, dass sich der Geltungsbereich von Gerech- Autoren wie Kok-Chor Tan, Samuel Scheffler und
tigkeitsprinzipien daran orientieren sollte, welche Fak- David Estlund, die den ersten Einwand gegen Cohen
toren de facto die Verteilung von Lebenschancen in ei- vorbringen, deuten den Dualismus von Gerechtig-
ner Gesellschaft bestimmen. Cohen argumentiert nun, keitsprinzipien für Institutionen und Individuen als
dass sich in dieser Hinsicht kein systematischer Unter- Ausdruck eines Pluralismus der Werte, der Rawls’ po-
schied zwischen den Verteilungseffekten von recht- litische Philosophie durchziehe. Institutionen entlas-
404 V Anwendungsfragen

teten demnach Individuen im Alltag von anspruchs- wusstseinswandel herbeiführen sollen, der, so die
vollen Gerechtigkeitsforderungen, um ihnen die Ver- Hoffnung, die konkreten Förderprogramme langfris-
wirklichung von Lebensplänen zu ermöglichen, die tig überflüssig macht. Insofern zielen politische Inter-
nicht in der Optimierung der sozialen Gerechtigkeit ventionen auf Ebene der Grundstruktur mittelbar
ihrer Gesellschaft bestehen (Estlund 1998; Tan 2012, ebenfalls auf eine Veränderung des sozialen Ethos ab.
26–38). Hierzu komplementär verhält sich ein weite- Ein solcher Bewusstseinswandel wird aus der institu-
res Argument, das auf den Charakter der Grundstruk- tionellen Perspektive jedoch als Effekt von – und nicht
tur als ein System von verbindlichen öffentlichen Nor- als Alternative zu – institutionellem Wandel verstan-
men abstellt. Diesem Ansatz zufolge ergibt sich der den. Diese Konzeptualisierung ist folgerichtig, wenn
Dualismus der Gerechtigkeitsprinzipien daraus, dass man, wie hier vorgeschlagen, die Wirkung von Insti-
die Institutionen der Grundstruktur öffentliche, tutionen nicht auf die Sanktionierung von Normen-
zwangsbewehrte Regeln umfassen, die alle gleicher- verstößen reduziert, sondern auch die Mechanismen
maßen verpflichten und gegenüber jedem einzelnen der Sozialisation von Akteuren und der Kommunika-
Bürger gerechtfertigt werden müssen (Williams 1998, tion normativer Erwartungen ernst nimmt.
242–246; Scheffler 2006, 124 f.). Als Ausdruck der öf-
fentlichen Gewalt unterlägen sie somit strengeren An-
forderungen hinsichtlich ihrer Unparteilichkeit, ega- Aktuelle Relevanz
litären Orientierung und epistemischen Überprüfbar-
keit als diejenigen Normen, die private Handlungen Fragen nach der gerechtigkeitstheoretischen Rolle
regulieren. Folgt man dieser Argumentation, so ließe von Institutionen stellen sich gegenwärtig vor allem in
sich die vermeintliche Schizophrenie der Rawlsschen Kontexten, in denen politische Institutionen entweder
Argumentation dadurch auflösen, dass die Gesell- komplett fehlen oder nur ineffektiv funktionieren.
schaftsmitglieder in ihrer Rolle als Bürger dazu ver- Zwei Beispiele, die in den letzten Jahren besonders in-
pflichtet sind, von ihren individuellen Ideen des Gu- tensiv diskutiert wurden, sind globale Gerechtigkeit
ten zu abstrahieren und öffentlich rechtfertigbare Ge- und Klima- und Umweltgerechtigkeit (s. Kap. II.17,
rechtigkeitskonzeptionen zu unterstützen, die ihr V.66). Hier spielen beide in diesem Kapitel diskutier-
Handeln im Privaten zwar einschränken, aber nicht ten Aspekte eine wichtige Rolle: Erstens gilt in beiden
determinieren. Debatten der Aufbau effektiver globaler Institutionen,
Eine zweite Strategie zur Verteidigung des begrenz- die Rechte definieren, Verantwortungen verbindlich
ten Geltungsbereichs von Gerechtigkeitsprinzipien zuteilen und Regelverstöße sanktionieren, als ideale
besteht darin, den Zuständigkeitsbereich öffentlicher Lösung der jeweiligen Gerechtigkeitsprobleme. Auf
Institutionen den tatsächlichen Verteilungsproble- Freiwilligkeit beruhende internationale Regime, wie
men der Gesellschaft so anzupassen, dass die negati- etwa das Kyoto-Protokoll im Falle der Klimagerech-
ven Effekte von diskriminierenden oder anti-egalitä- tigkeit bzw. die Millennium-Entwicklungsziele zur
ren sozialen Normen auf institutioneller Ebene aus- Bekämpfung der globalen Armut, konnten diese Auf-
geglichen werden können (Ronzoni 2008; Schouten gaben bisher jedoch nicht hinreichend effektiv erfül-
2013). Dies lässt sich an dem bereits eingeführten Bei- len. Aus diesem Grund wird in der Literatur zweitens
spiel der Bildungsdiskriminierung von Mädchen er- zunehmend argumentiert, dass die Probleme der glo-
läutern: Der ungleiche Zugang von Mädchen und Jun- balen Armut bzw. des Klimawandels so drängend
gen zu Hochschulbildung würde diesem Ansatz zufol- sind, dass mit ihrer Bekämpfung nicht gewartet wer-
ge nicht primär durch den Wandel der individuellen den kann, bis durchsetzungsfähige internationale In-
Einstellungen von Eltern und Lehrern beendet, son- stitutionen tatsächlich entstanden sind. Dabei wird
dern durch politische Interventionen, die auf die Ver- kritisiert, dass die (vermeintliche) philosophische Fi-
besserung der Bildungschancen von Mädchen zielen xierung auf den Entwurf idealer Institutionen den
(vgl. Ronzoni 2008, 211). Denkbar wären Quoten- Blick auf die realen Handlungsmöglichkeiten und
regelungen, Stipendiensysteme oder spezielle Förder- -pflichten von Individuen, Unternehmen und Nicht-
angebote, die auf der institutionellen Ebene diskrimi- regierungsorganisationen unter den gegebenen nicht-
nierende soziale Normen bekämpfen und ihre negati- idealen Bedingungen verstelle (vgl. Sen 2010). Diese
ven Effekte ausgleichen (s. Kap. V.58). Allerdings muss Kritik verweist auf eine zentrale Schwäche von Rawls’
hier darauf hingewiesen werden, dass solche Gleich- Ansatz: Wo Institutionen nicht oder nicht effektiv
stellungsmaßnahmen in der Regel auch einen Be- funktionieren, beschränkt er die natürlichen Gerech-
65 Institutionen und Organisationen 405

tigkeitspflichten der Individuen auf den Aufbau bzw. Pettit, Philip: Responsibility incorporated. In: Ethics 117/2
die Reform von Institutionen (Rawls 1975, 368 f.). So- (2007), 171–201.
lange diese Ziele aber noch nicht verwirklicht sind, Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
1975 (engl. 1971).
lässt er die Akteure im Alltag ohne Handlungsorien- –: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993).
tierung (Murphy 2000). Um die drängenden Proble- Ronzoni, Miriam: What makes a basic structure just? In: Res
me unserer Welt zu bewältigen, gelte es daher eher zu Publica 14/3 (2008), 203–218.
fragen, welche konkreten Pflichten Individuen zur Scheffler, Samuel: Is the basic structure basic? In: Christine
Vermeidung von Treibhausgas-Emissionen haben Sypnowich (Hg.): The Egalitarian Conscience. Essays in
Honour of G. A. Cohen. Oxford 2006, 102–129.
oder in welchem Maß Unternehmen für den Schutz
Schmelzle, Cord: Politische Legitimität und zerfallene Staat-
der Menschenrechte ihrer Mitarbeiter verantwortlich lichkeit. Frankfurt a. M. 2015.
sind. Aus dieser Diagnose hat sich in den letzten Jah- Schouten, Gina: Restricting justice: political interventions in
ren eine Literatur entwickelt, die nach den Prinzipien the home and in the market. In: Philosophy and Public Af-
der Verantwortungs- bzw. Pflichtzuweisung in nicht- fairs 41/4 (2013), 357–388.
institutionell verfassten Kontexten fragt und diese für Scott, W. Richard: Institutions and Organizations. Ideas, Inte-
rests and Identities. Thousand Oaks 42014.
verschiedene Akteurstypen ausdifferenziert (z. B. Searle, John R.: Speech Acts. An Essay in Philosophy of
O’Neill 2001; Miller 2001; Young 2006). Aus einer Language. Cambridge 1969.
stärker institutionell orientierten Perspektive wirft –: The Construction of Social Reality. New York 1995.
diese Debatte vor allem zwei Fragen auf, die zukünftig Sen, Amartya: Die Idee der Gerechtigkeit. München 2010
bearbeitet werden sollten: zum einen, in welchem Ver- (engl. 2009).
Simmons, A. John: Justification and Legitimacy. Essays on
hältnis die aus moralischen Prinzipien abgeleiteten di-
Rights and Obligations. Cambridge 2001.
rekten Handlungspflichten zu der Rawlsschen Pflicht Stilz, Anna: Liberal Loyalty. Freedom, Obligation, and the
zum Aufbau effektiver Institutionen stehen, und zum State. Princeton 2009.
anderen, wie diese Ansätze mit vernünftiger Uneinig- Tan, Kok-Chor: Justice, Institutions, & Luck. The Site,
keit hinsichtlich der Zuweisung und Quantifizierung Ground, and Scope of Equality. Oxford 2012.
von Pflichten und Verantwortlichkeiten umgehen. Williams, Andrew: Incentives, inequality, and publicity. In:
Philosophy and Public Affairs 27/3 (1998), 225–247.
Mit Bezug auf den letzten Punkt lautet der Verdacht,
Young, Iris Marion: Responsibility and global justice: a so-
dass spätestens hier wieder Institutionen der kollekti- cial connection model. In: Social Philosophy and Policy
ven Entscheidungsfindung Teil einer überzeugenden 23/1 (2006), 102–130.
Antwort sein müssten.
Cord Schmelzle
Literatur
Cohen, G. A.: Rescuing Justice and Equality. Cambridge MA
2008.
Estlund, David: Debate: Liberalism, equality, and fraternity
in Cohen’s critique of Rawls. In: Journal of Political Phi-
losophy 6/1 (1998), 99–112.
Godwin, William: An Enquiry Concerning Political Justice
[1793]. Oxford 2013.
Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten [1797]. In: Kö-
niglich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.):
Kant’s gesammelte Schriften [Akademie-Ausgabe], Bd. VI.
Berlin 1968, 203–492 [AA VI].
Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Frank-
furt a. M. 1977 (engl. 1689).
Miller, David: Distributing responsibilities. In: Journal of
Political Philosophy 9/4 (2001), 453–471.
Murphy, Liam B.: Moral Demands in Nonideal Theory. New
York 2000.
North, Douglass C.: Institutions, Institutional Change and
Economic Performance. Cambridge 1990.
Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. New York 1974.
O’Neill, Onora: Agents of justice. In: Metaphilosophy 32/1/2
(2001), 180–195.
406 V Anwendungsfragen

66 Klima und Umwelt Terminologisch ist anzumerken, dass der Begriff


der Umweltgerechtigkeit – insbesondere im amerika-
Sauberes Wasser, fruchtbare Böden, angenehme Tem- nischen Diskurs – auch in einem engeren Sinn ver-
peraturen: Die Beschaffenheit der Umwelt in all ihren wendet wird, der sich auf die soziale Gerechtigkeit
Facetten ist einer der wichtigsten Bestimmungsfak- zwischen ethnischen Minderheiten, ökonomischen
toren menschlicher Lebensqualität. Die Umwelt ver- Klassen, Geschlechtern, etc. im nationalen und loka-
ändert sich seit jeher, doch der Stellenwert des Men- len Kontext konzentriert und dazu vor allem die Ver-
schen als deren absichtlicher und unabsichtlicher teilung der Umweltschäden (statt der Verteilung der
Gestalter ist seit der industriellen Revolution viel Kosten zur Verhinderung dieser Schäden) ins Zen-
wichtiger geworden. Gerechtigkeitsfragen stellen sich trum stellt (vgl. Mohai et al. 2009).
deshalb, weil die Umweltschäden ein Nebeneffekt der Im Folgenden wird zunächst diskutiert, ob all-
Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und Wünsche gemeine Gerechtigkeitstheorien ohne weiteres auf
sind und der Nutzen vieler umweltschädlicher Hand- den spezifischen Kontext der Umwelt übertragen wer-
lungen – Nutzen z. B. in Form einer geheizten Woh- den können. Der zweite Abschnitt diskutiert dann ei-
nung oder einer Fernreise – nicht denselben Per- ne erste Kernfrage der Umweltgerechtigkeit – die in-
sonen zugutekommt, die den damit einhergehenden tergenerationelle Gerechtigkeit –, der dritte Abschnitt
Umweltschaden zu tragen haben. Der schädliche Ef- ergänzt die intergenerationelle Frage um den Risiko-
fekt dieser Handlungen tritt geographisch und zeit- aspekt und der vierte Abschnitt diskutiert eine weitere
lich oft weit entfernt vom Ursprung ein, und somit ge- Kernfrage – die intragenerationelle Gerechtigkeit. Der
nügt der Appell an das Eigeninteresse selten, um Um- fünfte und sechste Abschnitt enthalten Bemerkungen
weltprobleme adäquat zu lösen. Die Gerechtigkeits- zu prozeduraler Gerechtigkeit und einen Ausblick.
frage ist unausweichlich.
Als paradigmatisches Beispiel einer solchen Frage
wird im Folgenden der Klimawandel diskutiert. Er Ein spezieller Status für die Umwelt?
vereint Charakteristiken verschiedener Umweltfragen
– wie Wasserknappheit, Biodiversität, Wüstenbildung, Die Umwelt (im Sinne der nicht-menschlichen Natur)
Nuklearenergie, gefährliche Abfälle, Landschafts- hat in den Augen vieler einen anderen moralischen
schutz, Erschöpfung natürlicher Ressourcen usw. – in Status als den einer bloßen Sache – einer Sache, deren
besonders starker Ausprägung und wurde von Stephen einziger Wert in der Nützlichkeit für die Menschen
Gardiner (2011a) als der vollkommene moralische besteht. Spielt dieser moralische Status eine Rolle für
Sturm (A Perfect Moral Storm) bezeichnet. So sind die die Umweltgerechtigkeit? Wenn Gerechtigkeit etwas
Auswirkungen von Treibhausgasemissionen wahrhaft ist, das zwischen bestimmten Subjekten bezüglich be-
global verteilt, unabhängig davon, wo sie entstehen. stimmter Güter herrscht, dann müssen wir uns erstens
Auch tritt ein Großteil des Effekts heutiger Emissionen fragen, ob uns der moralische Status der Umwelt dazu
erst Jahrzehnte später ein. Sowohl die Ursache des Pro- bewegen sollte, sie als eigenes Subjekt der Gerechtig-
blems (Treibhausgasemissionen) wie auch der Effekt keit mit einzubeziehen, und zweitens, ob wir Gerech-
(Klimaschäden) treten also nicht in geographisch oder tigkeit bezüglich Umweltgütern in einer spezifischen
zeitlich konzentrierter Form auf, sondern sind über Weise angehen sollten.
Milliarden von Individuen verteilt. Dabei sind sowohl Zur ersten Frage: Die herrschende Umweltgerech-
die Emissionen als auch die Klimaschäden nicht nur tigkeitsdiskussion ist stark anthropozentrisch geprägt
weit, sondern auch ungleich verteilt: Tendenziell tra- und fokussiert auf Gerechtigkeit zwischen mensch-
gen Menschen in Wohlstand mehr zum Klimawandel lichen Subjekten. Dieser Fokus kann auf drei Weisen
bei und sind gleichzeitig weniger stark davon betrof- zu verteidigen versucht werden. Erstens kann nicht-
fen. Hinzu kommt, dass der Klimawandel ein Problem menschlichen empfindungsfähigen Wesen wie Tieren
des Umgangs mit Unsicherheit ist, das keine Gewiss- (Pathozentrismus), lebenden Entitäten wie Pflanzen
heit über das exakte Ausmaß der Schäden und den an- (Biozentrismus) und weiteren Entitäten wie Ökosys-
gemessenen Umgang damit zulässt. Und auch wenn temen (Ökozentrismus) abgesprochen werden, dass
diesbezüglich sichere Aussagen möglich wären, so sie moralisch um ihrer selbst willen zählen und wir ih-
sind doch unsere politischen Institutionen nicht da- nen gegenüber Pflichten haben können. Aber auch
rauf ausgerichtet, eine solch globale und intergenera- wenn ein solch radikaler Anthropozentrismus ver-
tionelle Herausforderung zu meistern. neint wird, kann zweitens im Sinne der Konvergenz-
66 Klima und Umwelt 407

these (Norton 1991) behauptet werden, dass die poli- rung für das menschliche Wohlergehen keinen Unter-
tischen Schlüsse, die sich auf der Basis anthropozen- schied macht. Der Nicht-Anthropozentrismus ist
trischer und nicht-anthropozentrischer Positionen er- auch einer der Gründe für den Widerstand gegen die
geben, stark überlappen und deshalb ein Fokus auf die monetäre Bewertung und die Kommodifizierung von
Menschheit unproblematisch sei. Drittens kann ent- Umweltgütern, was beispielsweise den Handel mit
gegen den ersten zwei Versuchen eingestanden wer- Emissionsrechten in Frage stellt (sowohl für den Wi-
den, dass Tiere und andere Aspekte der nicht-mensch- derstand gegen ein schwaches Verständnis von Nach-
lichen Natur nicht allein wegen ihres instrumentellen haltigkeit als auch gegen den Emissionshandel gibt es
Werts für die Menschheit zählen und dass sich ferner aber auch noch ganz andere Gründe; vgl. dazu z. B.
die praktischen Handlungsanweisungen einer anthro- Ott/Döring 2004; Caney/Hepburn 2011). Allerdings
pozentrischen und nicht-anthropozentrischen Positi- werden auch im Rahmen einer anthropozentrischen
on unterscheiden, so z. B. in der Abwägung zwischen oder gar ökonomischen Herangehensweise Umwelt-
der Verhinderung von und der Anpassung an den Kli- gütern gewisse charakteristische Eigenschaften zu-
mawandel. Dieses Eingeständnis kann aber mit der geschrieben. So wird bei manchen Umweltgütern
Behauptung kombiniert werden, dass es keine Pflich- nicht nur ihr Gebrauch, sondern auch ihr bloßes Vor-
ten der Gerechtigkeit seien, die wir der nicht-mensch- handensein (›Existenzwert‹) oder die bloße Möglich-
lichen Natur gegenüber haben, sondern dass in die- keit, später einmal von Nutzen zu sein (›Options-
sem Bereich der Moral Werte, Tugenden, Einstellun- wert‹), wertgeschätzt. Letzteres ist insbesondere des-
gen und Pflichten wie wohlwollende Fürsorge, Acht- halb relevant, weil viele natürliche Prozesse bis zu ei-
samkeit, ein Empfinden des Eingebundenseins usw. nem gewissen Grad irreversibel sind: Wenn eine
im Zentrum stehen. Die Diskussion darüber sollte Tierart einmal ausgestorben ist, dann verliert man die
dann unter der allgemeineren Bezeichnung ›Umwelt- ›Option‹, sie einfach zurückzukaufen.
ethik‹ geführt werden. Auch wenn man alle drei Ver-
suche als unplausibel ablehnt, so kann man doch den
pragmatischen Punkt anerkennen, dass die Beschrän- Intergenerationelle Gerechtigkeit
kung der Diskussion auf menschliche Subjekte das
Nachdenken über Umweltgerechtigkeit einfacher Eine erste Kernfrage der Umweltgerechtigkeit im All-
macht. Herrschende Gerechtigkeitstheorien setzen gemeinen und der Klimagerechtigkeit im Speziellen
nämlich oft ein Bild der Menschen als freie, gleiche lautet (s. auch Kap. II.20): Wie viel Umwelt- bzw. Kli-
und separate Individuen voraus. Wenn Tiere zwar maschutz schulden wir unseren Nachkommen? Diese
moralisch um ihrer selbst willen zählen sollten, aber Frage stellt sich deshalb, weil die Handlungen, als de-
nicht als Gleiche oder Freie, oder wenn Ökosysteme ren Nebeneffekt Emissionen auftreten, in der Gegen-
zwar moralisch um ihrer selbst willen zählen sollten, wart Nutzen stiften, ein Großteil ihrer schädlichen
aber nicht als separate Individuen, so verändert das Auswirkungen aber erst Jahrzehnte später eintritt. Die
die herkömmliche Herangehensweise an Gerechtig- Extremposition auf der einen Seite verlangt überhaupt
keitsfragen stark. keinen Klimaschutz. Begründet werden könnte diese
Zur zweiten Frage: Sollte eine Gerechtigkeitstheo- Sicht mit einer radikalen Skepsis gegenüber intergene-
rie anders aussehen, wenn es um Umweltgüter statt rationellen Pflichten. Wenn man z. B. eine bezie-
um Güter wie Einkommen, Freiheit oder Bildung hungsbasierte Auffassung der Gerechtigkeit vertritt,
geht? Für den Nicht-Anthropozentrismus liegt die bei der Gerechtigkeit nur dort ins Spiel kommt, wo
Antwort auf der Hand: Wenn Tiere, Pflanzen und Menschen in bestimmten Beziehungen stehen – z. B.
Ökosysteme nicht ausschließlich deshalb relevant politische Institutionen teilen oder miteinander zum
sind, weil sie dem Menschen nützen, dann spielt das gegenseitigen Vorteil handeln –, dann haben Pflichten
für den gerechten Umgang mit diesen Gütern offen- gegenüber nicht-überlappenden Generationen einen
sichtlich eine Rolle. Das kann sich z. B. in einer Partei- schweren Stand (vgl. Leist 2005). Auch das Nichtiden-
nahme für starke statt schwache Nachhaltigkeit äu- titätsproblem kann Anlass zu radikaler Skepsis geben:
ßern, d. h. für die Position, dass ein Rückgang des ›Na- Viele Individuen, die in der Zukunft unter mangeln-
turkapitals‹ über die Zeit hinweg auch dann abgelehnt dem gegenwärtigem Klimaschutz leiden werden, wür-
werden sollte, wenn dieser Rückgang durch eine Er- den gar nicht existieren, wenn heute eine ambitionier-
höhung anderer Formen von ›Kapital‹ ausgeglichen tere Klimapolitik gewählt würde – und können somit
wird – ausgeglichen in dem Sinne, dass die Substituie- auch nicht behaupten, dass sie durch den mangelnden
408 V Anwendungsfragen

Klimaschutz geschädigt werden (Parfit 1984, Kap. 16). sprechen – wie z. B. der instrumentelle Wert der
Denn eine ambitioniertere Politik hätte nicht nur zur Gleichheit für den sozialen Zusammenhalt – im inter-
Folge, dass sich der Globus weniger erwärmt als mit generationellen Fall eine geringere Rolle spielen mö-
einer schwachen Klimapolitik, sondern auch, dass die gen (vgl. Meyer/Roser 2009), steht auch der Suffizien-
Welt in so vielen Aspekten einen anderen Verlauf näh- tarismus als Alternative zur Debatte. Eine solche Po-
me, dass sehr wahrscheinlich andere Individuen gebo- sition wird beispielsweise von einer wörtlichen Inter-
ren würden (für Antworten auf das Nichtidentitäts- pretation des Gebots zur nachhaltigen Entwicklung
problem vgl. Roberts 2013). nahegelegt. Diese wird im Brundtland-Bericht
Eine gegenteilige Extremposition verbietet uns jeg- (WCED 1987) als dauerhafte Entwicklung definiert,
liche (Netto-)Emissionen unter Hinweis auf das Scha- die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu
densprinzip (vgl. Broome 2012, Kap. 5). Diese Position riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen
ist aus mindestens drei Gründen fragwürdig: Erstens Bedürfnisse nicht befriedigen können. Im Gegensatz
dienen Emissionen nicht nur der Befriedigung von Lu- zum Egalitarismus hängen im Suffizientarismus die
xuswünschen, sondern auch der Befriedigung von Pflichten der Gegenwart gegenüber der Zukunft nicht
Grundbedürfnissen. Mit den heutigen technologi- vom Wohlfahrtsniveau der gegenwärtigen Generation
schen Möglichkeiten würde eine Nulltoleranzpolitik ab – ein Merkmal, das sich insbesondere auch in der
deshalb mit fundamentalen Interessen der gegenwärti- Ausrichtung an den Menschenrechten wiederfindet
gen Generation in Konflikt geraten. Zweitens sind (s. Kap. IV.45). Die Menschenrechte zukünftiger Ge-
Emissionen nicht nur schädlich. Wenn der anthropo- nerationen sind durch das Ausmaß des Klimawandels
gene Treibhausgasausstoß nur schwach angestiegen in vielfacher Weise betroffen (Bell 2011), so z. B. das in
wäre, hätten womöglich unter dem Strich dessen posi- der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte er-
tive Konsequenzen überwogen; und auch bei einem wähnte Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der
starken Anstieg gibt es u. a. positive Konsequenzen. Person und das Recht auf einen Lebensstandard, der
Theorien mit konsequentialistischen Elementen kön- Gesundheit und Wohl gewährleistet.
nen diese positiven Effekte zumindest ein Stück weit Auch der Utilitarismus kann uns ein Kriterium für
mit den negativen Effekten verrechnen. Der dritte Ein- das geforderte Ausmaß an Emissionsreduktionen an
wand basiert auf dem einfachen Punkt, dass nicht jede die Hand geben: Optimale Emissionsreduktionen ma-
Schädigung eine unrechtmäßige Schädigung darstellt. ximieren die über Generationen aggregierte Nutzen-
Zwar bewirken zusätzliche Emissionen tatsächlich ei- summe. In dieser utilitaristischen Perspektive wird
ne Verminderung des Wohlfahrtsniveaus unserer der Verzicht auf Emissionen in der Gegenwart als ›In-
Nachfahren. Das schließt aber die Möglichkeit nicht vestition‹ verstanden. Diese Investition ist kein Null-
aus, dass aufgrund zukunftsgerichteter Investitionen summenspiel, sondern stiftet in der Zukunft (in der
außerhalb der Klimapolitik die durch Emissionen ver- Form eines stabilen Klimas) mehr Nutzen, als sie uns
minderte Wohlfahrt immer noch über dem Niveau heute kostet. Weil der Utilitarismus jede Investition
liegt, das wir ihnen schulden. Die Emissionen würden mit positiver Kosten-Nutzen-Bilanz als moralisch ge-
dann zwar einer Schädigung, aber keiner unrecht- boten betrachtet und weil uns in (und außerhalb) der
mäßigen Schädigung gleichkommen. Klimapolitik viele solcher Investitionsmöglichkeiten
Das geforderte Maß an Klimaschutz liegt also ir- offenstehen, fordert der Utilitarismus von der gegen-
gendwo zwischen den Extrempositionen keiner und wärtigen Generation große Opfer für die Zukunft.
beliebig vieler Emissionen. Die Herausforderung aus Diese kontraintuitive Schlussfolgerung können wir
Gerechtigkeitsperspektive besteht darin, sowohl die verhindern, wenn wir zukünftigen Nutzen geringer
Vorteile, welche die Gegenwart aus emissionsgenerie- gewichten als gegenwärtigen Nutzen, mit anderen
renden Handlungen zieht, als auch die Nachteile, die Worten: wenn wir mit einer positiven Rate diskontie-
dadurch für zukünftige Generationen in Form von ren. Wenn der Utilitarismus um eine positive Dis-
Klimaschäden entstehen, angemessen in Anschlag zu kontrate ergänzt wird, dann gilt: Umso geringeres Ge-
bringen. Diese Abwägung wird im Sinne einer egalita- wicht der Zukunft beigemessen wird, desto weniger
ristischen Theorie intergenerationeller Gerechtigkeit Klimaschutz fordert er. Empirisch gesehen bevorzu-
vorgenommen, wenn sich unsere (Klima-)Politik da- gen Menschen natürlich gegenwärtigen gegenüber zu-
nach ausrichtet, dass es unseren Nachkommen zu- künftigem Nutzen, aber die kritische Frage lautet, ob
mindest gleich gut gehen soll wie uns. Da einige Grün- es eine ethische Rechtfertigung für eine positive Dis-
de, die im intragenerationellen Fall für Gleichheit kontrate gibt. Tatsächlich lassen sich Erwägungen an-
66 Klima und Umwelt 409

führen, die gewisse Formen der Diskontierung – nicht senschaftlich vollständig belegt sind. Da die Vorsor-
jedoch eine so genannte ›reine Zeitpräferenz‹ – stüt- geprinzipien der politischen Praxis entstammen, sind
zen könnten, so beispielsweise die Opportunitätskos- sie oft wenig präzise. Das Grundanliegen der Vorsicht
ten von Klimaschutzinvestitionen oder der höhere im Angesicht eines Schadens unsicheren Ausmaßes
Wohlstand zukünftiger Generationen (vgl. z. B. Parfit kann aber philosophisch auf mindestens drei Arten
1984, Appendix F). Die Debatte um die Diskontrate ist gestützt werden (vgl. Roser/Seidel 2013, Kap. 8). Ers-
von großer Bedeutung, da die Politikempfehlungen tens ist es für viele Umweltprobleme charakteristisch,
der Klimaökonomie stark davon abhängen. Aller- dass der Schaden nichtlinear (z. B. exponentiell) mit
dings ist zu beachten, dass – insofern die Klimaöko- den zugrundeliegenden Ursachen ansteigt. So können
nomie auf dem utilitaristischen Imperativ beruht, eine natürliche oder soziale Systeme – z. B. aufgrund von
intertemporal aggregierte Nutzensumme zu maxi- positiven Rückkoppelungseffekten – Kipppunkte auf-
mieren – selbst eine niedrige Diskontrate nicht garan- weisen, bei denen der Schaden sprunghaft ansteigt.
tiert, dass der intergenerationellen Gerechtigkeit Ge- Unsicherheit im Angesicht nichtlinearer Schäden be-
nüge getan wird (Kelleher 2012, 49). deutet, dass sich die optimistischen und pessimisti-
schen Szenarien gegenseitig nicht aufwiegen: Wenn es
ein Grad wärmer würde als erwartet, würde der Scha-
Risiko und Unsicherheit den stärker ansteigen, als er sinken würde, wenn es ein
Grad kühler würde als erwartet. Das gibt Grund zu Ri-
Die Frage der intergenerationellen Gerechtigkeit wäre sikoaversion bezüglich des Temperaturanstiegs. Zwei-
schon schwer genug zu beantworten, wenn wir genau tens gibt es eine besondere Begründung für die Orien-
wüssten, welcher gegenwärtige Aufwand für den Kli- tierung am Vorsichtsgedanken, wenn Rechte im Spiel
maschutz exakt welchem zukünftigen Ertrag in Form sind. Angesichts der Unsicherheit über den Verlauf
verhinderter Klimaschäden entspricht. Doch der Kli- des Klimawandels muss ein Sicherheitsspielraum ein-
mawandel basiert auf neuartigen, einschneidenden gebaut werden, damit die Rechte zukünftiger Genera-
Eingriffen der Menschheit in komplexe natürliche tionen auch dann geschützt sind, wenn die Folgen
Prozesse. Dementsprechend unsicher ist das Ausmaß deutlich gravierender sind als erwartet. Wir müssen
der entsprechenden Schäden. Welche Relevanz hat die Emissionen also stärker reduzieren, als wenn wir
diese Unsicherheit für unsere Klimaschutzpflichten (s. genau vorhersagen könnten, welches Ausmaß an
auch Kap. V.72)? Emissionen mit dem Schutz der Rechte zukünftiger
Zuerst einmal ist zu präzisieren, welcher Art die Generationen kompatibel ist. Drittens kann argumen-
Unsicherheit ist. Es besteht kaum wissenschaftlicher tiert werden, dass wir in Kontexten, in denen wir
Dissens darüber, dass wir Menschen das Klima ver- Grund zu der Annahme haben, dass schlimme Szena-
ändern (IPCC 2013, 15). Die Unsicherheit besteht so rien möglich sind, gleichzeitig aber die wissenschaftli-
gut wie ausschließlich darüber, wie weitreichend wir che Evidenz keine Wahrscheinlichkeitszuschreibun-
es verändern, wie stark die negativen die positiven Ef- gen erlaubt, den pessimistischen Szenarien besonde-
fekte überwiegen, wie realistisch das Szenario eines res Gewicht geben sollten. Auch dies würde der Intui-
komplett außer Kontrolle geratenen Klimawandels ist tion hinter den Vorsorgeprinzipien – dass uns die
und wie gut wir uns an die veränderten Bedingungen Unsicherheit bezüglich des zukünftigen Ausmaßes
anpassen können. des Schadens mehr statt weniger Grund zum Klima-
Aber auch wenn man eine weitergehende Skepsis schutz gibt – Genüge tun.
gegenüber der Klimawissenschaft verteidigen wollte,
so wäre dies praktisch kaum relevant, da es keiner Ge-
wissheit über die Schädlichkeit einer Handlung be- Intragenerationelle Gerechtigkeit
darf, um deren Regulierung zu rechtfertigen. Dieser
offensichtliche Punkt ist eines der Anliegen so ge- Bisher ging es um die Frage, wie viel Klimaschutz die
nannter Vorsorgeprinzipien. Ein typisches Beispiel ei- gegenwärtige Generation aus Gründen der intergene-
nes Vorsorgeprinzips ist das Wingspread Statement, rationellen Gerechtigkeit leisten sollte, insbesondere
gemäß dem Handlungen, welche für die menschliche im Angesicht der Unsicherheit bezüglich der Zukunft.
Gesundheit oder die Umwelt eine Gefahr darstellen, Nun wenden wir uns der Frage zu, wer innerhalb der
auch dann zu Vorsorgemaßnahmen führen sollten, gegenwärtigen Generation die Kosten der Klimapoli-
wenn nicht alle Ursache-Wirkung-Beziehungen wis- tik tragen sollte (s. auch Kap. II.17 und 18; der folgen-
410 V Anwendungsfragen

de Abschnitt orientiert sich stark an Roser/Seidel ersten Blick scheint. Erstens hat der zeitliche Abstand
2013, Teil III). Weil unsere Wirtschaft und unser Le- zwischen Treibhausgasemissionen und den dadurch
bensstil in unzähligen Hinsichten mit Treibhausgas- bewirkten Klimaschäden zur Folge, dass ein Teil des
emissionen verwoben sind, wirft dies Fragen globaler heutigen und zukünftigen Klimawandels von unseren
und sozialer Gerechtigkeit enormer Tragweite auf. Vorfahren verursacht wurde – und Tote können offen-
Auf dem Spiel steht dabei die Verteilung ganz ver- sichtlich nicht mehr für ihre Taten zur Rechenschaft
schiedener Typen von Gütern bzw. Lasten: Emissions- gezogen werden. Zweitens kann man sich für Emissio-
rechte und die damit einhergehende Möglichkeit wirt- nen vor einem bestimmten Zeitpunkt – beispielsweise
schaftlicher Entwicklung bzw. umgekehrt die (Oppor- 1980 – auf entschuldbare Unkenntnis über deren
tunitäts-)Kosten zur Begrenzung der Emissionen, Schädlichkeit berufen und hat deshalb auch keine
Forschung und Entwicklung sauberer Technologien, Pflicht, Verantwortung für die Folgen zu übernehmen.
Aufforstung, Vor- und Nachteile bevölkerungspoliti- Ein dem Verursacherprinzip verwandtes Prinzip ist
scher Maßnahmen, Anpassungsmaßnahmen, Kom- das Nutznießerprinzip (vgl. z. B. Page 2012). Es bittet
pensationszahlungen an Betroffene des Klimawan- diejenigen zur Kasse, die von der Industrialisierung
dels, usw. Die meisten der im Folgenden vorgestellten als Ursache des Klimawandels profitiert haben. Eine
Prinzipien der intragenerationellen Klimagerechtig- erste Version dieses Prinzips verlangt von den Nutz-
keit beziehen sich jedoch jeweils nur auf einen Teil nießern vergangener Emissionen eine Entschädigung
dieser verschiedenen Güter- und Lastentypen. der Opfer des Klimawandels. Im Gegensatz zum Ver-
Ein erstes Prinzip ist das Grandfathering (vgl. z. B. ursacherprinzip ist es für das Nutznießerprinzip nicht
Knight 2013). Gemäß diesem Prinzip sollten die (oder weniger) relevant, dass die Verursacher histori-
Emissionsreduktionen gleich verteilt werden. Wenn scher Emissionen teilweise nicht mehr leben und teil-
alle ihre Emissionen beispielsweise um fünfzig Pro- weise unwissentlich gehandelt haben – der Nutzen ist
zent reduzieren, so bedeutet das aber auch, dass derje- ja trotzdem da. Viel plausibler ist das Prinzip deswe-
nige, der in der Vergangenheit überdurchschnittlich gen aber nicht, da es auf der umstrittenen Prämisse
viel emittiert hat, auch in Zukunft mehr als andere beruht, dass man Vorteile, die auf ein Ereignis zurück-
emittieren darf. Dieses Prinzip kommt somit den Län- gehen, von dem andere Schaden genommen haben,
dern mit hohen Pro-Kopf-Emissionen entgegen und an Letztere abtreten muss. In einer zweiten Version
ist dementsprechend relevant für die Praxis. Aus mo- des Prinzips geht es nicht um Entschädigung für Kli-
ralischer Perspektive aber sind höchstens Ansätze ei- maschäden, sondern um die Verteilung zukünftiger
ner Rechtfertigung sichtbar, so beispielsweise die Idee, Emissionsrechte. Das Nutznießerprinzip verlangt in
dass Menschen in Industrieländern ihre Lebenspläne dieser Version, dass die verbleibenden Emissionen,
um eine emissionsintensive Lebensweise aufgebaut welche die Menschheit noch ausstoßen kann, primär
haben und nun erwarten dürfen, diese weiterzufüh- denjenigen zugestanden werden sollen, die bisher un-
ren, oder die Idee, dass sich die Industrieländer über terdurchschnittlich von Emissionen profitiert haben,
die Jahre hinweg richtiggehend ein Anrecht auf einen das heißt konkret: den Ländern, welche bisher noch
hohen Anteil an der Nutzung der Atmosphäre an- nicht industrialisiert sind und die Emissionen somit
geeignet haben. für die Armutsbekämpfung benötigen. Das wirft aller-
Spiegelbildlich zum Grandfathering und plausibler dings die Frage auf, weshalb genau die Nutznießer ver-
ist das Verursacherprinzip (vgl. z. B. Caney 2010): Wer gangener Emissionen die Emissionsrechte den Ent-
viel emittiert, soll auch umso höhere Lasten tragen; wicklungsländern überlassen sollen, statt dass alle
insbesondere in Form von Lasten für die Finanzierung Reichen, unabhängig davon, wie stark ihr Wohlstand
von Anpassungsmaßnahmen und in Form von Kom- auf vergangenen Emissionen beruht, zum Emissions-
pensationszahlungen für erlittene Schäden. Die zwei verzicht verpflichtet werden sollen. Eine solche Idee
wichtigsten Motivationen für die Anwendung des Ver- würde dem Prinzip der Zahlungsfähigkeit (vgl. z. B.
ursacherprinzips – Verantwortung für die Folgen des Caney 2010) entsprechen, das den Grundsatz ›Jeder
eigenen Handelns zu übernehmen und einen Anreiz nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürf-
zur Vermeidung schädlicher Handlungen zu schaffen nissen‹ auf die Verteilung der klimapolitischen Lasten
– greifen relativ unstrittige moralische Ideen auf. anwendet. Dabei kann ›Fähigkeit‹ auch weiter ver-
Wenn das Verursacherprinzip aber nicht nur auf ge- standen werden als bloße ökonomische Zahlungs-
genwärtige, sondern auch auf vergangene Emissionen fähigkeit. Das Prinzip kann insbesondere so verstan-
angewendet wird, wird es kontroverser, als es auf den den werden, dass es das Recht auf Subsistenzemissio-
66 Klima und Umwelt 411

nen mit einschließt: das Recht jedes Akteurs auf Emis- Option besteht darin, die Entscheidung für oder ge-
sionen, die nötig sind, um der Armut zu entkommen. gen klimafreundliches Handeln der individuellen
Besonders einfach und ansprechend ist das Prinzip Freiheit zu überlassen. Dieser Verzicht auf politische
gleicher Pro-Kopf-Emissionsrechte (vgl. z. B. Ott/Baatz Steuerung wäre aber aus mehreren Gründen proble-
2012). Eine Begründung dafür stützt sich auf die Prä- matisch. Da ist zuerst einmal die Tatsache, dass uns
misse, dass die Atmosphäre allen Menschen gleicher- der Klimawandel vor ein Problem kollektiven Han-
maßen gehöre. Doch die intuitive Überzeugungskraft delns stellt: Es kann im Sinne jedes Akteurs sein, dass
dieses Prinzips täuscht, da erstens nicht klar ist, ob die alle (statt niemand) zur Lösung des Problems beitra-
Atmosphäre wirklich allen – und nicht vielmehr nie- gen, und gleichzeitig kann es im Sinne jedes indivi-
mandem – gehört; und wenn doch, ob daraus auch duellen Akteurs sein, selbst nicht zur Lösung beizutra-
tatsächlich gleiche Nutzungsrechte für alle folgen. gen oder auf jeden Fall nur dann, wenn genügend Si-
Zweitens vernachlässigt das Prinzip gleicher Pro- cherheit herrscht, dass die meisten anderen ebenfalls
Kopf-Emissionsrechte eine Reihe moralisch relevan- beitragen. Das Widerstreben einzelner Akteure, auch
ter Erwägungen, von denen die vorhergehenden Prin- ohne politische Steuerung und ohne das Mitziehen
zipien jeweils wenigstens eine aufgegriffen haben: anderer unilateral einen Beitrag zu leisten, kann damit
Manche Akteure haben bereits besonders viel emit- gerechtfertigt werden, dass der individuelle Beitrag
tiert, andere haben besonders stark von vergangenen zur Lösung des gemeinsam geschaffenen Problems
Emissionen profitiert; manche sind besonders zah- Klimawandel vernachlässigbar klein sei (vgl. dazu je-
lungsfähig, andere sind besonders stark auf Emissio- doch Hiller 2011) oder dass Gerechtigkeit nicht forde-
nen angewiesen. Es ist nicht einsichtig, weshalb all re, alleine voranzugehen, wenn andere ihren Teil nicht
diese Akteure ein gleich großes Stück vom Kuchen be- beitragen (vgl. dazu jedoch Hohl/Roser 2011), oder
kommen sollten. dass politisch unkoordiniertes Vorgehen den Klima-
Eine weitreichende Kritik hinterfragt eine Prämis- schutz für alle Handlungswilligen unnötig teuer und
se, die den hier diskutierten Prinzipien zugrunde liegt mühsam mache. Insbesondere dieser letzte Punkt –
(vgl. Caney 2012): Weshalb sollte für Güter aus dem die psychologischen und ökonomischen Kosten-
klimapolitischen Kontext ein eigenes Gerechtigkeits- ersparnisse eines rechtlich durchgesetzten Klima-
prinzip gesucht werden, statt diese Güter mit anderen schutzes – lässt eine politische Lösung ratsam erschei-
Gütern ›in einen Topf zu werfen‹, um dann auf den ge- nen. Aber auch wenn staatlicher Zwang weniger belas-
samten Topf ein Gerechtigkeitsprinzip anzuwenden? tend ist als der Appell an das freiwillige Handeln, so
Wenn etwas gemäß einem bestimmten Muster (wie stellt sich doch die Frage, ob er auch denjenigen ge-
z. B. Gleichheit) verteilt werden soll, dann sind es genüber gerechtfertigt werden kann, denen der Um-
nicht solch eng gefasste Güter wie Emissionsrechte, weltschutz nicht am Herzen liegt. Das kann er: Inso-
sondern vielmehr umfassende Güter wie Wohlfahrt fern Emissionen andere Menschen in rechteverletzen-
oder Ressourcen. Emissionsrechte (und andere klima- der Weise schädigen, spricht grundsätzlich nichts ge-
politische Güter und Lasten) tragen zu diesen umfas- gen staatlichen Zwang zur Beschränkung dieser
senden Gütern wie Wohlfahrt bei, aber es scheint bei- Emissionen – im Gegenteil. Es gilt jedoch drei Punkte
spielsweise nicht ungerecht zu sein, wenn Akteur A zu beachten. Erstens sind nicht alle umweltpolitischen
mehr Emissionsrechte als Akteur B erhält, solange Entscheide durch den Schutz von Rechten gerechtfer-
Letzterem dafür mehr saubere Technologien zu- tigt. So kann beispielsweise die staatliche Finanzie-
gesprochen werden, die ihm denselben Lebensstan- rung des Landschaftsschutzes durchaus auch dann ge-
dard mit weniger Emissionen ermöglichen. rechtfertigt sein, wenn dies von einer demokratischen
Mehrheit deshalb unterstützt wird, weil sie die Schön-
heit der Landschaft für intrinsisch wertvoll erachtet;
Prozedurale Gerechtigkeit nur ist dann die Rechtfertigung in einem liberalen
Staatswesen anspruchsvoller, als wenn der bloße
Es ist eine Frage, wer aus Gerechtigkeitsperspektive Schutz menschlicher Rechte, die durch Umweltschä-
wie viel zum Klimaschutz beitragen sollte, und eine den beeinträchtigt werden, auf dem Spiel steht (vgl.
andere Frage, ob eine – und wenn ja: wessen – Ant- Bell 2002; Miller 1999). Zweitens können klimapoliti-
wort auf diese Frage mit politischen Mitteln durch- sche Maßnahmen verschieden stark mit der indivi-
gesetzt werden sollte (s. Kap. II.21, IV.50). Letzteres duellen Entscheidungsfreiheit in Spannung treten, je
ist eine Frage der prozeduralen Gerechtigkeit. Eine nachdem, ob eher auf Gebote und Verbote, Anreize
412 V Anwendungsfragen

oder Motivations- und Informationskampagnen zu- stellt die Verursachung massiver Umweltschäden
rückgegriffen wird. Drittens sind individuelles Han- durch die Aggregation der Alltagshandlungen unzäh-
deln und staatliches Handeln eng verwoben, wie aus liger Individuen die Unterscheidung zwischen negati-
den Debatten um die environmental citizenship und ven und positiven Pflichten und den Begriff der Ver-
um die aktive Partizipation in der Umweltpolitik her- antwortung in ein neues Licht (Lichtenberg 2010;
vorgeht. Gardiner 2011b); die umfassende menschliche Ge-
Demokratie und effektive Umweltpolitik korrelie- staltung der Umwelt sowie das Nachdenken über den
ren tendenziell eher positiv (Burnell 2012, 823), was moralischen Status der Tiere zwingen uns, das
die Begrenzung der Demokratie oder gar die Unter- menschliche Selbstbild zu hinterfragen; die mora-
stützung autoritärer Regime aus Umweltschutzgrün- lische Diskussion von Entscheidungen, die die Zahl
den schon in empirischer Hinsicht fragwürdig macht. und Identität zukünftiger Individuen beeinflussen,
Wenn man das demokratische Ideal so versteht, dass kratzt am Fundament ganzer moralischer Theorien
möglichst alle Betroffenen auf direkte oder indirekte (Parfit 1984, Teil IV); und der deutliche Abstand zwi-
Weise mitentscheiden können sollten, dann stellt die schen den Forderungen der Umweltgerechtigkeit und
Klimapolitik allerdings eine Herausforderung für die dem Handeln realer Individuen und Staaten hebt die
Demokratie dar. Während sich Emissionen nicht an Relevanz nicht-idealer Gerechtigkeitstheorien hervor.
Staatsgrenzen halten und global wirken, sind demo-
kratische Prozesse noch weitgehend auf der nationa- Literatur
len Ebene angesiedelt. Insofern es zu globalen Re- Bell, Derek: How can political liberals be environmentalists?
gelungen kommt, entstehen diese typischerweise in In: Political Studies 50/4 (2002), 703–724.
–: Does anthropogenic climate change violate human rights?
schwerfälligen Konsensprozessen. Auf der intergene- In: Critical Review of International Social and Political Phi-
rationellen Ebene ist die Verwirklichung des demo- losophy 14/2 (2011), 99–124.
kratischen Ideals noch schwieriger. Es gibt zwar Vor- Broome, John: Climate Matters. New York 2012.
schläge, den Interessen zukünftiger Generationen we- Burnell, Peter: Democracy, democratization and climate
nigstens indirekt ein Gewicht in den Entscheidungs- change: complex relationships. In: Democratization 19/5
(2012), 813–842.
prozessen der Gegenwart zu geben, beispielsweise
Caney, Simon: Climate change and the duties of the advan-
durch Verfassungsklauseln oder durch Gremien, de- taged. In: Critical Review of International Social and Politi-
ren Aufgabe in der Vertretung zukünftiger Generatio- cal Philosophy 13/1 (2010), 203–228.
nen besteht. Diese behelfsmäßigen Maßnahmen kön- –: Just emissions. In: Philosophy & Public Affairs 40/4 (2012),
nen aber gegenwärtige Entscheidungsträger kaum 255–300.
von der Pflicht entbinden, die Interessen zukünftiger –/Hepburn, Cameron: Emissions trading: Unethical, in-
effective and unjust? In: Royal Institute of Philosophy Sup-
Generationen aus eigener Einsicht in die Deliberation
plement 69 (2011), 201–234.
mit einzubeziehen. Gardiner, Stephen: A Perfect Moral Storm. The Ethical Trage-
dy of Climate Change. Oxford 2011a.
–: Is no one responsible for global environmental tragedy?
Ausblick Climate change as a challenge to our ethical concepts. In:
Dennis Arnold (Hg.): The Ethics of Global Climate Change.
Cambridge 2011b, 38–59.
In diesem Kapitel wurde die Problematik der Umwelt- Hiller, Avram: Climate change and individual responsibility.
gerechtigkeit anhand des paradigmatischen Beispiels In: The Monist 94/3 (2011), 349–368.
des Klimawandels skizziert. Andere (und oft überlap- Hohl, Sabine/Roser, Dominic: Stepping in for the polluters?
pende) Umweltprobleme unterscheiden sich in ihren Climate justice under partial compliance. In: Analyse &
Charakteristiken graduell von der Klimafrage, ins- Kritik 33/2 (2011), 477–500.
IPCC: Summary for Policymakers. In: Climate Change 2013:
besondere bezüglich des geographischen und zeitli-
The Physical Science Basis. Contribution of Working Group
chen Profils der Schäden, bezüglich des Risikoprofils I to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental
und bezüglich der Relevanz nicht-anthropozentri- Panel on Climate Change. Cambridge 2013, 3–32.
scher Erwägungen. Kelleher, J. Paul: Energy policy and the social discount rate.
Die Umweltprobleme unserer Zeit werfen aber In: Ethics, Policy & Environment 15/1 (2012), 45–50.
nicht nur die Frage auf, wie bestehende Gerechtig- Knight, Carl: What is Grandfathering? In: Environmental
Politics 22/3 (2013), 410–427.
keitstheorien auf sie angewendet werden können, son- Leist, Anton: Ökologische Ethik II: Ökologische Gerechtig-
dern sie haben auch einen ›Rückkoppelungseffekt‹ auf keit: global, intergenerationell und humanökologisch. In:
die zugrundeliegenden Gerechtigkeitstheorien. So
67 Konsum 413

Julian Nida-Rümelin (Hg.): Angewandte Ethik. Die Be- 67 Konsum


reichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Hand-
buch. Stuttgart 2005, 426–513. Unter ›Konsum‹ (von lat. consumere = nutzen, ver-
Lichtenberg, Judith: Negative duties, positive duties, and the
»New Harms«. In: Ethics 120/3 (2010), 557–578. wenden, verbrauchen) wird nicht nur der Kauf, son-
Meyer, Lukas/Roser, Dominic: Enough for the future. In: dern ganz allgemein der Gebrauch von Gütern und
Axel Gosseries/Lukas Meyer (Hg.): Intergenerational Jus- Dienstleistungen verstanden. Der ›Konsum‹ bzw. die
tice. Oxford 2009, 273–300. ›Konsumption‹ stehen häufig in einem komplemen-
Miller, David: Social justice and environmental goods. In: tären Verhältnis zum Begriff der ›Produktion‹: In den
Andrew Dobson (Hg.): Fairness and Futurity. Essays on
meisten Fällen kann nur etwas konsumiert werden,
Environmental Sustainability and Social Justice. Oxford
1999, 151–172. das zuvor produziert wurde; und ebenso macht es
Mohai, Paul/Pellow, David/Roberts, J. Timmons: Environ- meist wenig Sinn, etwas zu produzieren, das nicht
mental justice. In: Annual Review of Environment and Re- konsumiert werden kann. Aufgrund der Abhängig-
sources 34/1 (2009), 405–430. keit der Produktion vom Konsum wird in heutigen
Norton, Bryan: Toward Unity among Environmentalists. New arbeitsteiligen Gesellschaften zwar gerne an Verbrau-
York 1991.
Ott, Konrad/Döring, Ralf: Theorie und Praxis starker Nach-
cher appelliert, durch ihr Kaufverhalten die Wirt-
haltigkeit. Marburg 2004. schaft anzukurbeln oder Arbeitsplätze zu sichern.
–/Baatz, Christian: Domains of climate ethics. In: Laura Solche Appelle beruhen auf dem Prinzip der so ge-
Westra/Colin L. Soskolne/Donald W. Spady (Hg.): Human nannten ›Konsumentensouveränität‹, das auf den
Health and Ecological Integrity. New York 2012, 188–200. klassischen Liberalismus von Adam Smith zurück-
Page, Edward A.: Give it up for climate change: A defence of
geht. Dieses Prinzip besagt, dass Konsumenten als au-
the beneficiary pays principle. In: International Theory 4/2
(2012), 300–330. tonome und rationale Akteure in der Lage sind, durch
Parfit, Derek: Reasons and Persons. Oxford 1984. ihr Nachfrageverhalten die Produktion von Gütern
Roberts, Melinda: The nonidentity problem. In: Edward N. zu steuern, weil die Produzenten gezwungen sind,
Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy solche Güter herzustellen, die den Wünschen der
(Fall 2013 Edition), http://plato.stanford.edu/entries/ Konsumenten entsprechen. Vor dem Hintergrund
nonidentity-problem/ (14.2.2014).
der gegenwärtig dominanten ökonomischen Theorie
Roser, Dominic/Seidel, Christian: Ethik des Klimawandels.
Eine Einführung. Darmstadt 2013. wird allerdings trotz einer grundsätzlichen Akzep-
Wingspread Statement: The precautionary principle. In: tanz dieses Prinzips das Handeln als Konsument für
http://www.psrast.org/precaut.htm (14.2.2014). gewöhnlich als ein Handeln innerhalb eines moral-
World Commission on Environment and Development freien Systems des Marktes aufgefasst. In diesem gel-
(WCED): Our Common Future. Oxford 1987.
ten Konsumenten lediglich als für die Verfolgung ih-
Dominic Roser rer Interessen und Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu-
ständig und sind von weiteren normativen und ge-
rechtigkeitsrelevanten Forderungen entlastet. Eine
solche Sichtweise wird jedoch aus unterschiedlichen
Perspektiven zunehmend in Frage gestellt (z. B. Neu-
häuser 2011; Stehr 2007; Young 2010), und im Rah-
men einer nicht-idealen Gerechtigkeitstheorie, die
sich nicht nur auf die politischen und rechtlichen
Grundstrukturen bezieht, können Konsumpraktiken
durchaus in Zusammenhang mit unterschiedlichen
Gerechtigkeitsfragen stehen.
Zunächst kann gefragt werden, ob das derzeitig be-
stehende Konsumniveau angesichts knapper natürli-
cher Ressourcen und einer möglichen Zerstörung des
Lebensraums gegenüber zukünftigen Generationen
gerechtfertigt werden kann (z. B. Crocker/Linden
1998; s. auch Kap. V.66). Dies ist ein Spezialproblem
der Generationengerechtigkeit (s. Kap. II.20, V.80).
Dabei stellt sich die Frage, inwiefern zukünftige Gene-
rationen überhaupt geschädigt werden können oder
414 V Anwendungsfragen

ob man ihnen etwas schuldig sein kann (vgl. Grosse- Kongo kontrollieren, die großen multinational agie-
ries/Meyer 2009; Roberts/Wassermann 2009). renden Unternehmen, kleinere Subunternehmen, an
Konsumpraktiken stehen aber auch in Verbindung die Produktionsaufträge weitergegeben werden, ver-
mit Gerechtigkeitsfragen, die (nur) die aktuell leben- schiedene Zwischenhändler und auch eine Vielzahl
den Generationen betreffen. Solche Gerechtigkeitsfra- von Konsumenten. Innerhalb solch komplexer Hand-
gen entstehen dann, wenn Konsumenten durch ihr lungskontexte besteht das Problem, dass das Verhalten
Handeln in ungerechte Verhältnisse verstrickt sind. von Konsumenten nur sehr indirekt und vermittelt
Dies kann vor allem vor dem Hintergrund der heuti- durch die Handlungen einer Vielzahl von anderen Ak-
gen Bedingungen der wirtschaftlichen Globalisierung teuren und durch institutionelle Strukturen mit den
der Fall sein. Viele der Konsumgüter, die Konsumen- betreffenden Ungerechtigkeiten in Beziehung steht.
ten kaufen oder nutzen, sind aus Rohstoffen hergestellt, Dies führt dazu, dass zwischen dem Bestehen entspre-
die sehr wahrscheinlich unter ungerechten Bedingun- chender Ungerechtigkeiten und dem Handeln einzel-
gen gewonnen wurden (vgl. z. B. Pogge 2011; s. auch ner Konsumenten keine klaren kausalen Zusammen-
Kap. II.17, V.79). Prominente Beispiele sind hier etwa hänge erkennbar sind. Obwohl Konsumenten solche
Notebooks oder Mobiltelefone, für deren Produktion Ungerechtigkeiten durch ihre Nachfrage zumindest
das Erz ›Coltan‹ benötigt wird, das zu einem wesentli- kollektiv ermöglichen, scheinen die Folgen individuel-
chen Teil aus Regionen im Ostkongo stammt, die von ler Konsumhandlungen in den meisten Fällen kausal
bewaffneten Gruppen und Warlords kontrolliert wer- vernachlässigbar zu sein (vgl. z. B. Lichtenberg 2010;
den (zum Zusammenhang des Coltanhandels mit der Mieth 2013; Sinnott-Armstrong 2010). Ebenso wenig
Finanzierung und Fortführung des Bürgerkriegs in der wie die Konsumhandlung eines einzelnen Individu-
Demokratischen Republik Kongo vgl. z. B. UN 2002). ums die entsprechenden Problematiken verursacht,
Bedingt durch die globale wirtschaftliche Vernetzung würde das Unterlassen einer individuellen Konsum-
haben viele der Produkte, die konsumiert werden, heu- handlung diese wahrnehmbar beeinflussen. Dies stellt
te generell Wertschöpfungsketten, die in zahlreiche, das wesentliche Problem für eine Verantwortungs-
teilweise weit entfernte Länder reichen. Medienberich- zuschreibung an Konsumenten dar. Denn normaler-
te weisen immer wieder darauf hin, dass an bestimm- weise wird davon ausgegangen, dass Akteure nur für
ten Punkten solcher Wertschöpfungsketten Dinge ge- ihre eigenen kontrollierten Handlungen und deren
schehen, die viele als ungerecht bezeichnen würden – Folgen verantwortlich sind.
dass etwa Arbeitskräfte verschleppt oder ausgebeutet Obwohl das Thema Konsum und Gerechtigkeit in
werden und Löhne erhalten, die das Existenzmini- öffentlichen und alltäglichen Diskussionen zurzeit
mum unterschreiten, dass Arbeiter daran gehindert großen Anklang findet, lässt sich sagen, dass es aus
werden, sich zu organisieren und Gewerkschaften zu Sicht der praktischen Philosophie bislang an umfas-
gründen, dass Arbeitskräfte diskriminiert werden oder senden Auseinandersetzungen mit diesem Gegen-
dass sie bei ihrer Arbeit wissentlich gesundheitlichen stand fehlt, die insbesondere eine Verantwortung ein-
Gefährdungen ausgesetzt werden. zelner Konsumenten in den Blick nehmen. Im Folgen-
den werden zwei besonders vielversprechende theo-
retische Ansätze vorgestellt, die sich zwar nur am
Das Problem der Verantwortung Rande mit der Verantwortung von Konsumenten be-
von Konsumenten schäftigen, die aber beanspruchen, eine Lösung für
Probleme solcher Art zu bieten.
Obwohl verschiedene Konsumpraktiken in Verbin-
dung mit Gerechtigkeits- bzw. Ungerechtigkeitsfragen
stehen, ist unklar, ob bzw. wie Konsumenten eine Mit- Konsum und strukturelle Ungerechtigkeit
verantwortung für die betreffenden Ungerechtigkeiten
zugeschrieben werden kann. Zwar ist es zutreffend, Wenn die Zurechnung von Folgen auf individuelle
dass Konsumenten etwas mit bestehenden Ungerech- Konsumenten oder gar einzelne Konsumhandlungen
tigkeiten zu tun haben können. Allerdings zeichnen nicht möglich ist, dann scheint es nahezuliegen, auf
sich Gerechtigkeitsprobleme, die mit Konsumprakti- Konzepte auszuweichen, die irgendwie geartete For-
ken in Zusammenhang stehen, dadurch aus, dass viele men einer Kollektivverantwortung zu begründen ver-
unterschiedliche Akteure an ihrem Bestehen beteiligt suchen. Einen solchen Ansatz verfolgt z. B. Iris Mari-
sind – wie z. B. die Warlords, die die Coltanminen im on Young (2010; 2011). Sie schlägt ein Modell einer
67 Konsum 415

geteilten Verantwortung vor, das sich auf die Betei- zu großen Konzernen zwar weitaus weniger Macht
ligung an so genannter struktureller Ungerechtigkeit haben, bestimmte Prozesse zu verändern, können z. B.
bezieht, um Zurechnungsprobleme innerhalb solch einige Konsumenten – schon aufgrund der ihnen zur
komplexer Handlungskontexte besser adressieren zu Verfügung stehenden finanziellen Mittel – mehr Ein-
können. Dabei meint geteilte Verantwortung eine per- fluss nehmen als andere. Außerdem hätten beispiels-
sönliche Mitverantwortung für Konsequenzen, die weise diejenigen Akteure eine besondere Verantwor-
von einer Gruppe von unterschiedlichen Personen tung, sich für eine Veränderung der Lage einzusetzen,
verursacht werden, bei der ein spezifischer Anteil an die in den Ungerechtigkeit erzeugenden Strukturen
den Konsequenzen jedoch nicht bestimmt werden eine relativ privilegierte Stellung einnehmen. Dazu
kann (vgl. Young 2010, 358). zählen auch Konsumenten, die vom großen Angebot
Dabei versteht Young strukturelle Ungerechtigkeit und günstigen Preisen der unter strukturell ungerech-
als eine Form moralischen Unrechts, »das von der un- ten Verhältnissen hergestellten Produkte profitieren
rechten Handlung eines Individuums oder von be- (vgl. ebd., 366).
wusst unterdrückerischen politischen Entscheidungen Einen wesentlichen Kritikpunkt an Youngs Ver-
im Staat zu unterscheiden ist. Strukturelle Ungerech- antwortungsmodell hat Martha Nussbaum geäußert.
tigkeit ereignet sich als Resultat von Handlungen vieler Sie beurteilt gerade die Zukunftsperspektive und ins-
Individuen und Institutionen, die ihre eigenen Ziele besondere den Verzicht auf Schuldzuweisungen als
und Interessen innerhalb vorhandener institutioneller einen Schwachpunkt von Youngs Modell, insofern
Regeln und akzeptierter Normen verfolgen« (ebd., die Trennung dieses Verantwortungskonzepts vom
346). Für Young sind alle Akteure, die durch ihre Schuldbegriff impliziere, dass Akteuren, denen eine
Handlungen an den Prozessen teilhaben, die zu struk- Verantwortung zugesprochen wird, der sie dann aber
tureller Ungerechtigkeit führen, dafür verantwortlich, nicht nachkommen, im Nachhinein nicht vorgewor-
diese strukturell ungerechten Verhältnisse zu beseiti- fen werden kann, etwas falsch gemacht zu haben (vgl.
gen. Da Konsumenten durch ihre Handlungen in Pro- Nussbaum 2011, XXI).
zesse eingebettet sind, die strukturelle Ungerechtigkeit
in diesem Sinne hervorbringen, stünden auch sie in
der Verantwortung, sie zu beseitigen bzw. zu lindern. Konsum und die Unterstützung von Unrecht
Weil individuelle Beiträge zu struktureller Unge-
rechtigkeit in der Regel nicht isoliert betrachtet wer- Christopher Kutz argumentiert für ein Modell der
den können, verzichtet Youngs Verantwortungs- Verantwortungszuschreibung, dessen Schwerpunkt
modell auf rückblickende moralische Kritik in Form wiederum stärker auf dem vergangenen Fehlverhalten
von Schuldzuweisungen und legt den Schwerpunkt individueller Akteure liegt. Dabei bezieht sich sein
explizit auf eine zukunftsorientierte, sorgende Per- Ansatz darauf, dass einzelnen Akteuren – auch un-
spektive. Die sorgende Verantwortung mit Blick auf abhängig von individuellen Handlungsfolgen – das
strukturelle Ungerechtigkeit muss nach Young da- Unterstützen von Unrecht vorgeworfen werden kann
durch umgesetzt werden, dass man sich gemeinsam (vgl. Kutz 2000).
mit anderen zu kollektiven Handlungen zusammen- Im Gegensatz zur herkömmlichen und mit Blick
schließt, um die bestehenden Strukturen so zu ver- auf Konsumhandlungen scheiternden Sichtweise, die
ändern, dass sie weniger ungerechte Resultate hervor- besagt, dass Akteure nur für die klar bestimmbaren
bringen (vgl. ebd., 359). Sie geht dabei davon aus, dass Folgen ihrer individuellen Handlungen verantwort-
nicht alle Akteure, die eine solche Verantwortung tei- lich sind, ist Kutz der Meinung, dass mit Hilfe eines
len, in gleichem Maße verantwortlich sind. Um ver- Komplizenschaftsprinzips (complicity principle) ein-
schiedene Verantwortungsgrade einzelner Akteure zu zelnen Akteuren eine Mitverantwortung für gemein-
unterscheiden, schlägt sie vier Kriterien vor. Diese be- sam hervorgebrachte Übel oder Schädigungen zuge-
ziehen sich auf die Positionen der Akteure, die sie in rechnet werden kann (ebd., Kap. 5). Was im Rahmen
strukturellen Prozessen einnehmen und die ihnen un- von Kutz’ Ansatz einen Akteur mitverantwortlich für
terschiedliche Möglichkeiten geben, diese Prozesse zu kollektive Handlungsfolgen macht, ist der Umstand,
verändern. In diesem Zusammenhang nennt Young dass er durch die Beteiligung an einer kollektiven
die Kriterien der Macht, Privilegien, Interessen und Handlung das Ziel dieser kollektiven Handlung als
kollektiven Fähigkeiten unterschiedlicher Akteure sein eigenes Handlungsziel anerkennen muss.
(vgl. ebd., 364 f.). Obwohl Konsumenten im Vergleich Mit Blick auf eine mögliche Verantwortung von
416 V Anwendungsfragen

Konsumenten besteht jedoch das Problem, dass diese Handlungsalternativen wirkt die Komplizenschafts-
bestimmte Schädigungen, die mit ihrem Verhalten in theorie jedoch wenig überzeugend. Außerdem besteht
Verbindung stehen, in der Regel weder selbst intendie- das Problem, dass der pauschale Verweis auf die Teil-
ren noch Teil eines strukturierten Kollektivs sind, in- nahme an einer sich schädigend auswirkenden consu-
nerhalb dessen sie gemeinsame Ziele verfolgen. Das mer culture keine Unterscheidung in der Bewertung
führt dazu, dass in Hinsicht auf Konsumenten die faktisch unterschiedlichen Konsumentenverhaltens
Grundlage für eine Verantwortungszuschreibung mit- mehr zulässt (vgl. dazu auch Schwartz 2010) und auch
hilfe von Kutzs Komplizenschaftstheorie verloren- keine sinnvollen Handlungsanweisungen für Kon-
zugehen scheint. Kutz versucht jedoch das Komplizen- sumenten bietet.
schaftsprinzip auch für solche Fälle, die er unstructu-
red collective harms nennt, nutzbar zu machen (vgl. Literatur
ebd., Kap. 6). Diese zeichnen sich gerade dadurch aus, Crocker, David A./Linden, Toby (Hg.): Ethics of Consumpti-
dass entsprechende Schäden, die in der Regel nicht be- on. The Good Life, Justice and Global Stewardship. Lanham
1998.
absichtigt sind, erst durch das unkoordinierte Zusam- Grosseries, Axel/Meyer, Lukas (Hg.): Intergenerational Justi-
menwirken zahlreicher Einzelhandlungen eintreten. ce. Oxford 2009.
In Bezug auf das, was in Youngs Terminologie zuvor Kutz, Christopher: Complicity. Ethics and Law for a Collecti-
als strukturelle Ungerechtigkeit beschrieben wurde, ve Age. Cambridge 2000.
mag das verwirrend erscheinen. Denn Fälle, die Young Lichtenberg, Judith: Negative duties, positive duties, and the
»New Harms«. In: Ethics 120/3 (2010), 557–578.
als strukturelle Ungerechtigkeiten beschreiben würde,
Mieth, Corinna: Global economic injustice, individual du-
decken sich mit dem, was Kutz als unstrukturierte kol- ties and social responsibility. In: Hajo Greif/Martin Ger-
lektive Schädigungen bezeichnet (vgl. auch Young hard Weiss (Hg.): Ethics, Society, Politics. Proceedings of the
2011, 102). Er nennt diese Schädigungen unstruktu- 35th International Wittgenstein Symposium, Kirchberg am
riert, weil sie nicht das Ergebnis einer einzelnen koor- Wechsel, Austria 2012. Berlin 2013, 411–428.
dinierten Handlung sind. Aber auch wenn in solchen Neuhäuser, Christian: Unternehmen als moralische Akteure.
Berlin 2011.
Fällen keine direkte Absicht vorliegt, an einer kollekti-
Nussbaum, Martha: Foreword. In: Iris Marion Young: Re-
ven Handlung mit bestimmten Zielen teilzunehmen, sponsibility for Justice. Oxford 2011, IX–XXV.
so Kutz, hätten diejenigen Akteure, die durch ihre Pogge, Thomas: Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopoli-
Handlungen zu den kollektiven Folgen beitragen, eine tische Verantwortung und Reformen. Berlin 2011 (engl.
quasi-teilnehmende Verbindung (quasi-participatory 2002).
relationship) zu den betreffenden Folgen: Diese besteht Roberts, Melinda A./Wassermann, David T. (Hg.): Harming
Future Persons. Ethics, Genetics and the Nonidentity Pro-
deshalb, weil sie einen gemeinsamen und von starker blem. Dordrecht 2009.
gegenseitiger Abhängigkeit gekennzeichneten Lebens- Schwartz, David T.: Consuming Choices. Ethics in a Global
stil teilen (vgl. Kutz 2000, 166–190). Die Argumentati- Consumer Age. Lanham 2010.
onsstrategie, die Kutz verfolgt, besteht darin, zu zeigen, Sinnott-Armstrong, Walter: It’s not my fault: Global war-
dass die Kontexte, innerhalb derer es zu unstrukturier- ming and individual moral obligations. In: Stephen M.
Gardiner/Simon Caney/Dale Jamieson/Henry Shue (Hg.):
ten kollektiven Schädigungen kommt, eigentlich gar
Climate Ethics. Essential Readings. Oxford 2010, 332–346.
nicht so unstrukturiert sind, wie es auf den ersten Blick Stehr, Nico: Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschafts-
erscheint. Dabei ersetzt er die Teilnahme an einer ge- theorie. Frankfurt a. M. 2007.
nuin koordinierten Handlung durch die Teilnahme an UN (United Nations, Expert Panel Appointed by the Secre-
einem bestimmten schädigenden Lebensstil bzw. an tary General): Final Report of the Panel of Experts on the
einer schädigenden consumer culture, welche das Vor- Illegal Exploitation of Natural Resources and Other Forms
of Wealth of the Democratic Republic of the Congo,
handensein entsprechender Infrastrukturen voraus- S/2002/1146, 2002. In: http://www.globalsecurity.org/mi-
setzt, die einen solchen Lebensstil oder eine solche litary/library/report/2002/n0262179.pdf (13.8.2013).
consumer culture erst ermöglichen. Young, Iris Marion: Verantwortung und globale Gerechtig-
Während im Rahmen prospektiv orientierter An- keit. Ein Modell sozialer Verbundenheit. In: Christoph
sätze von vornherein auf Schuldzuweisungen verzich- Broszies/Henning Hahn (Hg.): Globale Gerechtigkeit.
Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und
tet wird, weicht auch Kutz’ retrospektiver Vorwurf der
Kosmopolitismus. Berlin 2010, 329–372 (engl. 2006).
Unterstützung von Ungerechtigkeit letztlich ganz all- –: Responsibility for Justice. Oxford 2011.
gemein auf die Teilnahme an einem bestimmten Le-
bensstil aus. In Hinsicht auf die Frage nach der Frei- Daniel Saar
willigkeit einer solchen Teilnahme und möglichen
68 Lohn und Leistung 417

68 Lohn und Leistung Datenmaterial abgeben, an dem sich die normativen


Aussagen zu bewähren haben.
Dass zwischen Lohn und Leistung eine enge Bezie-
hung besteht oder zumindest unter dem Gesichts-
punkt der Gerechtigkeit bestehen sollte, erscheint vie- Der historische Hintergrund
len so selbstverständlich, dass eine Begründung dafür
nur selten verlangt wird. Ganz allgemein scheint das Der Ausgangspunkt vieler Überlegungen zur Lohn-
Leistungsprinzip als das zentrale Legitimationsprin- gerechtigkeit ist bis heute das biblische Gleichnis vom
zip moderner Gesellschaften anerkannt (Neckel Weinberg und seinem Besitzer (Mt 20,13–15): Der Be-
2008). Das gilt insbesondere für die Legitimation von sitzer eines Weinbergs heuert frühmorgens einige Ta-
Lohndifferenzen: Die seit einiger Zeit zu vernehmen- gelöhner für die Ernte an und verspricht jedem von
de Kritik an überzogenen Einkommen von Topmana- ihnen einen Denar für den Tag. Da er im Verlauf des
gern entzündet sich vor allem an der unterstellten Ab- Tages feststellt, dass er mehr Arbeiter brauchen wird,
koppelung dieser Einkommen von den tatsächlich er- um die Ernte bis zum Ende des Tages einzubringen,
brachten Leistungen (Bebchuk/Fried 2004; Liebig/ heuert er noch mehrmals zusätzliche Tagelöhner an
Schupp 2004), wobei allerdings nicht immer deutlich und verspricht auch diesen jeweils einen Denar für
wird, ob damit die Leistung für das jeweilige Unter- den Tag. Als er am Ende des Tages allen den verspro-
nehmen oder für die Gesellschaft insgesamt gemeint chenen Denar auszahlt, beschweren sich diejenigen
ist. In empirischen Untersuchungen über die (subjek- Arbeiter, die bereits seit dem frühen Morgen gearbei-
tiv wahrgenommene) Gerechtigkeit von Lohnein- tet haben. Sie finden es ungerecht, dass trotz unglei-
kommen und von Einkommen insgesamt wird jeden- cher Arbeitsleistung alle den gleichen Lohn erhalten
falls das Leistungsprinzip regelmäßig als das zentrale, sollen. Der Besitzer des Weinbergs verweist jedoch auf
wenn auch keineswegs als das einzige Kriterium ge- die freiwillig getroffenen Vereinbarungen und ver-
nannt (Hinz et al. 2010). Die Qualifikation, die Dauer wirft damit das von den Beschwerdeführern offenbar
der Betriebszugehörigkeit sowie der individuelle Be- herangezogene Leistungsprinzip. Nach Ansicht von
darf spielen hier ebenfalls eine Rolle. Avishai Margalit (2000) ist dies ein Beispiel für eine
Eine Schwierigkeit bei der Interpretation solcher nicht nur ungerechte, sondern geradezu demütigende
empirischen Ergebnisse besteht allerdings darin, dass Gleichbehandlung, die wesentliche Unterschiede
alternative bzw. zusätzliche Kriterien der Lohn- ignoriert. Dieser Lesart zufolge ging es den Arbeitern
gerechtigkeit wie die Qualifikation oder die Dauer der also um mehr als nur um Geld.
Betriebszugehörigkeit auch als indirekte Indikatoren In der ebenfalls bis heute zitierten scholastischen
für die (langfristig) erbrachte oder zu erwartende Lehre vom gerechten Lohn hat das Leistungsprinzip
Leistung verstanden werden können (Abraham keine erkennbare Rolle gespielt. Sie hat vor allem den
2007). Und auch für den individuellen Bedarf, der auf Gesichtspunkt des individuellen (und standesgemä-
den ersten Blick als klar leistungsunabhängiges Krite- ßen) Bedarfs sowie der prozeduralen Fairness, d. h.
rium erscheinen mag, zeigt sich bei näherem Hinse- der Abwesenheit von Zwang und Täuschung, in den
hen, dass er erst dann in Anschlag gebracht wird, Vordergrund gestellt (Noell 1998). Erst mit der Erosi-
wenn eine Leistung erbracht worden ist (Liebig/ on des Zunftwesens sowie der Ablösung des Feudalis-
Schupp 2008). mus und der Durchsetzung der Lohnarbeit als all-
Eine zusätzliche Schwierigkeit besteht in der Be- gemeiner Form des Einkommenserwerbs gewann das
stimmung der Relevanz dieser empirischen Ergebnis- Leistungsprinzip als gesellschaftliches Legitimations-
se für die normative Theoriebildung: Einerseits lassen prinzip und als Prinzip der Rechtfertigung von Lohn-
sich aus empirischen Aussagen keine normativen einkommen immer mehr an Bedeutung. Ausgehend
Aussagen ableiten, andererseits sind die empirisch vom Stückpreis etablierte sich der Stücklohn als zu-
festgestellten Gerechtigkeitsüberzeugungen gleich- nächst praktikabelste Form der Leistungsentlohnung,
wohl nicht irrelevant für die normative Gerechtig- bis dann vor allem im Verlauf des 20. Jahrhunderts
keitstheorie (Swift 1999). Auch wenn in den folgenden mit dem Aufstieg der ›wissenschaftlichen Betriebs-
Abschnitten die normative Beziehung zwischen Lohn führung‹ im Rahmen des Taylorismus weitere For-
und Leistung im Vordergrund stehen wird, werden men der Leistungsentlohnung etabliert und so weit
empirisch festgestellte Überzeugungen im Sinne der wie möglich objektiviert wurden (Schmiede/Schud-
Idee eines Reflexionsgleichgewichts sozusagen das lich 1976).
418 V Anwendungsfragen

Heute leben wir nach allgemeiner Auffassung in ei- die Frage der Lohngerechtigkeit bislang nicht syste-
ner Leistungsgesellschaft. Das manifestiert sich über matisch untersucht worden. Normative Gerechtig-
die ökonomische Sphäre hinaus in einer allgemeinen keitstheorien beschränkten sich auf Fragen der sozia-
Anerkennung der individuellen Verantwortung für len und neuerdings auch der globalen Gerechtigkeit
das eigene Handeln sowie der Idee der Chancen- (s. Kap. II.17, 18). Paradigmatisch ist die knappe Ab-
gleichheit, auf deren Grundlage manchen erst eine fertigung der Lohngerechtigkeit bei John Rawls, der
Vergleichbarkeit von Leistungen gegeben scheint, da sich mit dem Hinweis begnügte, dass sich die im All-
ungleiche Ausgangssituationen ungleiche Leistungen tag häufig vertretenen Prinzipien ›Jedem nach seinem
zu ermöglichen scheinen. Wie eng oder weit dabei die Einsatz‹ und ›Jedem nach seiner Leistung‹ aufgrund
Idee der Chancengleichheit verstanden werden soll, ihrer Gegenläufigkeit zu keiner kohärenten Vorstel-
ist allerdings umstritten (s. Kap. II.26). lung vom gerechten Lohn zusammenfügen ließen.
Nach seiner Ansicht kann man die Lohnermittlung
ohnehin dem Markt überlassen, da die Gerechtigkeit
Die zeitgenössische Theoriediskussion der gesellschaftlichen Grundstruktur wichtiger und
letztlich auch ausreichend sei (Rawls 1979, 338 f.).
Die systematische Diskussion der Gerechtigkeit des Auch Friedrich A. von Hayek, der in mancher Hin-
Zusammenhangs von Lohn und Leistung hat je nach sicht als Gegenspieler von Rawls angesehen wird, wies
disziplinärer Zuordnung zu unterschiedlichen Ergeb- die Idee der Lohngerechtigkeit grundsätzlich zurück,
nissen geführt. Grundsätzlich neigen Wirtschaftswis- weil er sie mit dem allgemeinen Verdienstprinzip
senschaftler dazu, die Leistung im Anschluss an die identifizierte, dem zufolge Gerechtigkeit darin be-
neoklassische Grenzproduktivitätstheorie der Vertei- steht, jedem dasjenige zuzuteilen, was ihm aufgrund
lung wie selbstverständlich als angemessene Grund- seiner individuellen Handlungen oder Eigenschaften
lage der Lohnbestimmung anzusehen. Allerdings ver- zukomme. Die Anwendung dieses Prinzips auf Fragen
treten sie in der Regel die Ansicht, dass eine wissen- der Einkommensverteilung lehnte er ebenso wie
schaftliche Antwort auf die Frage nach dem gerechten Rawls ab (Hayek 1976). Hayeks Argument lautete,
Lohn grundsätzlich nicht möglich sei. Sie behaupten dass die Anwendung des Verdienstprinzips auf die
also nicht, dass der Leistungslohn gerecht sei, sondern ökonomische Sphäre voraussetze, dass die Gesell-
sie begnügen sich mit dem Hinweis darauf, dass der schaft ein gemeinsames Ziel verfolge, auf das hin die
Leistungslohn von den wirtschaftlichen Akteuren einzelnen Beiträge als Verdienste gewertet werden
selbst (Arbeitgebern und Arbeitnehmern) als gerecht könnten. Ein solches gemeinsames Ziel gebe es jedoch
empfunden werde und nicht zuletzt deshalb geeignet zumindest in liberalen Gesellschaften nicht. Zusätz-
sei, den knappen Faktor Arbeit in die produktivsten lich spreche die Funktion des Marktes als ein dezen-
Verwendungen zu lenken. Sofern Wirtschaftswissen- trales Instrument der Allokation knapper Ressourcen
schaftler dem normativen Begriff der Lohngerechtig- – Hayeks berühmte Formel vom »Wettbewerb als Ent-
keit überhaupt einen Sinn abgewinnen können, erklä- deckungsverfahren« (Hayek 1969) – gegen eine syste-
ren sie sich in der Regel für nicht zuständig und ver- matische Korrektur von Marktergebnissen unter der
weisen das Problem an die Philosophen (Krelle 1963). Flagge der sozialen Gerechtigkeit.
Innerhalb der Wirtschaftswissenschaft wird damit Inzwischen wird allerdings das Verdienstprinzip,
Gerechtigkeit lediglich als eine weitere, faktisch gege- das vor allem unter dem Einfluss von Rawls lange Zeit
bene Präferenz der wirtschaftlichen Akteure berück- ein Schattendasein in der Gerechtigkeitstheorie führte,
sichtigt. Letztlich wird die Effizienz und nicht die Ge- von vielen Philosophen in stärkerer oder schwächerer
rechtigkeit der Entlohnung zum normativen Kriteri- Form wieder akzeptiert, da ohne dieses Prinzip die
um der Lohnpolitik erhoben. Dabei beschränken sich Idee einer individuellen Zurechenbarkeit von Verant-
betriebswirtschaftliche Autoren auf die Betrachtung wortung verloren zu gehen droht (Schmidtz 2006).
des einzelnen Betriebes (Kosiol 1962), während volks- Damit stünde auch der normativen Analyse des Ver-
wirtschaftliche Autoren auf der Ebene des Arbeits- hältnisses von Lohn und Leistung (im Sinne eines öko-
marktes oder der ganzen Volkswirtschaft argumentie- nomischen Verdienstprinzips) und der Lohngerech-
ren (Helmstädter 2002). tigkeit insgesamt nichts mehr im Wege. Dass sie
In der zeitgenössischen Philosophie hat man zwar dennoch bislang keine wesentliche Rolle in der phi-
die Idee einer wissenschaftlichen Untersuchung nor- losophischen Gerechtigkeitstheorie spielt, liegt nicht
mativer Prinzipien ernster genommen, allerdings ist zuletzt an der undifferenzierten Identifizierung der
68 Lohn und Leistung 419

ökonomischen Sphäre mit dem Markt. Zwar hat sich möglichkeit schließt. Häufig haben wir durchaus be-
die Binnendifferenzierung moderner Gesellschaften gründete Auffassungen darüber, wer ungefähr wie viel
inzwischen auch in einigen Gerechtigkeitstheorien zum gemeinsamen Produkt beigetragen hat, auch
niedergeschlagen, was bei Michael Walzer zumindest wenn sich diese Beiträge in der Tat nur selten streng
zur Diskussion der Entlohnung von ›harter Arbeit‹ und eindeutig ermitteln lassen. Die Behauptung wie-
(Walzer 1983, Kap. 6) und in der Theorie von David derum, dass grundsätzlich ein gemeinsames Ziel feh-
Miller zur Rechtfertigung des Verdiensts als Gerech- le, auf das hin produktive Beiträge erst bestimmt wer-
tigkeitsprinzip für instrumentelle Beziehungen wie den könnten, mag zwar für liberale Gesellschaften gel-
z. B. Arbeitsbeziehungen geführt hat (Miller 1999). Ei- ten, aber sicher nicht für Betriebe und Unternehmen,
ne systematische Diskussion der Lohngerechtigkeit die sich gerade durch ein solches Ziel – die Herstel-
sucht man aber auch hier vergebens. In den meisten lung bestimmter Produkte – definieren.
philosophischen Beiträgen wird Lohngerechtigkeit of- Die wichtigste Lehre aus dieser Diskussion lautet,
fenbar unausgesprochen mit Einkommensgerechtig- dass die mit der Anwendung des Leistungsprinzips
keit und diese mit sozialer Gerechtigkeit identifiziert. unbestreitbar verbundenen Schwierigkeiten nicht
Bei Stefan Gosepath finden sich dagegen Ansätze ei- vorschnell als Beweis für eine grundsätzliche Unmög-
ner solchen Diskussion. Er hat im Rahmen seiner ega- lichkeit seiner Anwendung angesehen werden sollten.
litaristischen Gerechtigkeitstheorie das Verdienstprin- Sonst macht man sich einer Haltung schuldig, die
zip insbesondere in seiner ökonomischen Interpretati- Amartya Sen in einem vergleichbaren Kontext – bei
on als Leistungsprinzip aufgegriffen und hier zwei In- ihm ging es um den Begriff des Bedarfs – als nihilis-
terpretationen unterschieden: Einerseits lässt sich tisch bezeichnet hat: Diese nihilistische Haltung äu-
Leistung im Sinne von Anstrengungen und Entbeh- ßert sich darin, dass man durchaus zutreffend auf die
rungen auffassen, sie lässt sich andererseits aber auch Schwierigkeiten hinweist, einen bestimmten Begriff
im Sinne von produktiven Beiträgen verstehen (Gose- zu konkretisieren, um dann daraus das Bild eines voll-
path 2004, 382–397). Er hält allerdings das Leistungs- kommenen Fehlschlags zu konstruieren (Sen 1997,
prinzip in beiden Interpretationen für ungeeignet, als 78). Wie aber vor allem die betriebliche Praxis zeigt,
Prinzip der Einkommensgerechtigkeit zu fungieren. gibt es Wege, die Schwierigkeiten einer objektiven
Gegen die Interpretation als Anstrengungen und Ent- Leistungsmessung zumindest so weit in den Griff zu
behrungen spricht nach seiner Ansicht vor allem, dass bekommen, dass sie von den Beteiligten selbst akzep-
diese subjektiv und daher nicht vergleichbar seien. tiert werden kann.
Dieser Einwand übersieht jedoch, dass trotz indivi-
dueller Unterschiede in den meisten Fällen zumindest
Einigkeit darüber bestehen wird, ob und in welchem Das systematische Problem der Lohn-
Maße sich jemand für andere angestrengt hat. Ob und gerechtigkeit
in welchem Maße diese Anstrengung dann auch als
Entbehrung empfunden wurde, scheint für die Idee ei- Die Diskussion von Gosepath zeigt, dass auch er Lohn-
nes gerechten Leistungsaustauschs irrelevant. Wichtig gerechtigkeit letztlich mit Einkommensgerechtigkeit
ist, dass es sich um Leistungen handelt, die von ihren auf der Ebene ganzer Gesellschaften identifiziert.
Empfängern als wertvoll betrachtet werden. Nimmt man dagegen den gerechten Lohn als ein ei-
Gegen die Interpretation von Leistung als produk- genständiges normatives Problem ernst, stellt sich ei-
tivem Beitrag führt Gosepath einerseits das bereits nerseits die Frage nach dem grundlegenden Prinzip,
von Hayek vorgetragene Argument an, dass es für eine andererseits die Frage nach dem geeigneten Anwen-
solche Interpretation eines gemeinsamen Ziels bedür- dungsbereich (Köllmann 2015). Als Antwort auf die
fe, das in einer liberalen Gesellschaft eben nicht gege- erste Frage liegt aufgrund des instrumentellen Charak-
ben sei. Zudem behauptet er aber auch für den Fall, ters ökonomischer Beziehungen im Sinne von Miller
dass ein solches Ziel doch einmal vorliegt, die Un- in der Tat das Verdienstprinzip im Sinne eines Leis-
möglichkeit einer eindeutigen Zuordnung der indivi- tungsprinzips nahe. Inwieweit dieses Prinzip empi-
duellen Beiträge zum gemeinsamen Produkt. Auf die risch anwendbar ist, ist dabei für seine normative Gel-
damit verbundenen Schwierigkeiten haben bereits an- tung nicht relevant. Wäre es grundsätzlich unanwend-
dere Autoren hingewiesen (Offe 1970). Auch dieser bar, dann wäre die Idee der Lohngerechtigkeit dadurch
Einwand scheint jedoch übertrieben, weil er aus der nicht sinnlos, sie wäre nur in der Praxis nicht realisier-
fehlenden Eindeutigkeit der Zuordnung auf ihre Un- bar. Mit anderen Worten: Wir wüssten zwar, was wir
420 V Anwendungsfragen

mit ›Lohngerechtigkeit‹ meinen, könnten sie aber aufgrund seiner relativen Moralfreiheit tatsächlich
nicht erreichen. Es besteht hier jedoch wie bereits er- nicht geeignet für ein derart starkes Moralprinzip zu
wähnt kein Grund zu übertriebenem Pessimismus, so- sein scheint, verhält es sich damit innerhalb von Be-
fern man von der Gerechtigkeitstheorie nicht die An- trieben und Unternehmen anders – hier gelten stärke-
gabe konkreter Zahlenverhältnisse, sondern lediglich re Prinzipien, weil Unternehmen längerfristige Bezie-
eine hinreichende Konkretisierung des Leistungsprin- hungen generieren, die nicht auf ihre ökonomische
zips als des grundlegenden Prinzips der Lohngerech- Funktionalität reduziert werden können (Kubon-Gil-
tigkeit erwartet. ke 1997).
Ein Schritt hin zur Konkretisierung des Leistungs- Nun interpretieren freilich manche Autoren den
prinzips und damit zum Begriff des gerechten Lohns gerechten Lohn als einen Anwendungsfall der Tausch-
besteht, wie Gosepath richtig sieht, in der genaueren gerechtigkeit (s. Kap. II.13), weil der Lohn als Preis der
Charakterisierung des Leistungsbegriffs. Diese hängt Arbeit faktisch auf dem Arbeitsmarkt festgelegt werde
nun zunächst davon ab, ob man Lohngerechtigkeit als (Rippe 2010), während andere ihn als einen Anwen-
allgemeine oder als besondere Gerechtigkeit im Sinne dungsfall der Verteilungsgerechtigkeit (s. Kap. II.12)
der bekannten Unterscheidung von Aristoteles ver- betrachten, weil es für die Rechtfertigung von Lohn-
steht. Man kann den Lohn einerseits in der Weise von differenzen auf den letztendlichen Beitrag zum Unter-
der Leistung abhängig machen, dass man für den An- nehmenserfolg ankomme (Sternberg 2000). Es geht
spruch auf einen Lohn nicht mehr als das Vorliegen dabei um mehr als Semantik, weil die Konzeptionen
einer wie auch immer gearteten Leistung fordert (all- der Tauschgerechtigkeit und der Verteilungsgerech-
gemeine Gerechtigkeit); damit wären dann grund- tigkeit innerhalb der Kategorie der besonderen Ge-
sätzlich auch Lohnstrukturen vereinbar, in denen alle rechtigkeit unterschiedlich starke Normen generie-
den gleichen Lohn oder einen bedarfsabhängigen ren. Ein Tausch gilt ohne Ansehen der Person schon
Lohn erhalten oder in denen Untergrenzen und/oder dann als gerecht, wenn die getauschten Güter im Wert
Obergrenzen für den Lohn festgelegt werden. Die ein- gleich sind, während eine Verteilung erst unter zusätz-
zige Voraussetzung für den Anspruch auf einen Lohn licher Berücksichtigung der Verdienste der jeweils be-
bestünde in diesen Fällen darin, dass man überhaupt teiligten Personen als gerecht charakterisiert werden
eine Leistung erbringt, ohne dass die Höhe des Lohns kann. Die oben angedeutete Interpretation von Unter-
vom Leistungsgrad abhängig wäre. Man kann den nehmen als ›Inseln normativer Kontrolle‹ innerhalb
Lohn andererseits aber auch vom Grad der Leistung eines weitgehend moralfreien Marktes lässt die zweite
abhängig machen, also eine Proportionalität zwischen Sichtweise überzeugender erscheinen. Zwar geht es in
Lohn und Leistung fordern (besondere Gerechtig- beiden Fällen um die individuelle Leistung des Lohn-
keit); in diesem Fall wären dann in der Tat objektive empfängers, aber was als Leistung anerkannt wird, un-
Verfahren für die Messung und Bewertung der jewei- terscheidet sich je nach Kontext: Während im Rah-
ligen Leistung erforderlich. men der unpersönlichen Tauschgerechtigkeit allein
Solche Verfahren werden umso leichter zu finden der tatsächliche produktive Beitrag für das Unterneh-
sein, je überschaubarer man den Anwendungsbereich men als Leistung gezählt werden wird, sollte man im
des Leistungsprinzips wählt. Das legt die Antwort auf Rahmen der personenbezogenen Verteilungsgerech-
die zweite Frage nahe: Zumindest in marktwirtschaft- tigkeit neben dem produktiven Beitrag auch diejeni-
lich organisierten Gesellschaften ist der einzelne Be- gen Anstrengungen als Leistung anerkennen, die –
trieb oder das einzelne Unternehmen (und nicht, wie ohne persönliches Verschulden – nicht in einem sol-
oftmals unterstellt, die gesamte Gesellschaft oder auch chen Beitrag resultieren. Die individuelle Leistung
nur die jeweilige Branche) der richtige Ort des Lohn- wäre dann als gewichtetes Produkt aus Anstrengung
vergleichs. Neben dem Argument der Praktikabilität und Beitrag definiert. Damit zeigt sich, dass die von
der Leistungszuordnung können hier zusätzlich Ar- Rawls behauptete Inkohärenz dieser beiden Gerech-
gumente der modernen Institutionenökonomik he- tigkeitsprinzipien keineswegs unvermeidlich ist. Viel-
rangezogen werden: Ihnen zufolge sind Betriebe und mehr lässt sich ein Ausgleich zwischen beiden Inter-
Unternehmen so etwas wie ›Inseln normativer Kon- pretationen des Leistungsprinzips finden, wobei ihre
trolle‹ in einem ›Ozean dezentraler Koordination über konkrete Gewichtung nicht mehr aus der Gerechtig-
Marktprozesse‹ (Coase 1988). Das wäre zugleich eine keitstheorie abgeleitet werden kann, sondern von den
Antwort auf Hayeks Kritik an der Anwendung des Beteiligten selbst auf unparteiliche Weise festgelegt
Verdienstbegriffs auf den Markt: Während der Markt werden muss.
68 Lohn und Leistung 421

Der Leistungslohn in der Praxis lohnrelevanter Weise beurteilt (Minssen 2006, Kap. 8).
Dennoch hat in den letzten drei Jahrzehnten sogar so
Ungeachtet der philosophischen Kontroversen hat etwas wie eine Renaissance des Leistungslohns statt-
sich in der betrieblichen Praxis die Notwendigkeit ei- gefunden (Schmierl 2010). Den Schwierigkeiten der
ner eigenständigen und als gerecht wahrgenommenen Leistungsmessung versucht man hier vor allem durch
Lohnpolitik ohnehin nicht abweisen lassen. Dabei neuere Verfahren der Leistungsbeurteilung und der
spielt das Leistungsprinzip, auch als Äquivalenzprin- Zielvereinbarung gerecht zu werden (Dilcher/Em-
zip bezeichnet, eine herausragende, wenn nicht sogar minghaus 2010). Während dabei das Instrument der
die einzige Rolle (Kosiol 1962). Um das Prinzip an- individuellen Leistungsbeurteilung dem Einwand der
zuwenden, bedarf es allerdings einer systematischen tendenziellen Willkür ausgesetzt ist, haben Zielverein-
Arbeitsbewertung, in der sowohl die Anforderungen barungen den Vorteil, dass ihnen eine Selbstverpflich-
der jeweiligen Tätigkeit als auch die individuelle Erfül- tung beider Parteien bezüglich der zu erreichenden
lung dieser Anforderungen in möglichst objektiver Leistung, die keineswegs quantitativ definiert sein
Weise analysiert und bewertet werden. Damit wird zu- muss, und der dafür vorgesehenen Lohnbestandteile
gleich der in empirischen Befragungen häufig genann- zugrunde liegt. Dass es sich auch hier nicht um eine
ten Forderung nach Verfahrensgerechtigkeit (s. Kap. eindeutige und wertneutrale Form der Leistungsmes-
II.21) entsprochen: Denn eine Lohnpolitik, die all- sung und Zuordnung von Lohn und Leistung handelt,
gemeine Anerkennung gewinnen will, muss nachvoll- kann zugestanden werden. Allerdings sollte ebenso
ziehbar sein und unparteilich angewandt werden. zugestanden werden, dass es sich bei diesen neueren
Traditionell unterscheidet man dabei summarische Instrumenten zumindest um mögliche Realisierungen
und analytische Verfahren der Arbeitsbewertung: eines Leistungslohns handelt, die von vielen Beteilig-
Summarische Verfahren beschränken sich auf die zu- ten offenbar näherungsweise akzeptiert werden kön-
sammenfassende Beschreibung der Anforderungen nen. Dass zwischen Lohn und Leistung verschiedene
einer bestimmten Tätigkeit, während analytische Ver- Grade der Differenzierung möglich sind, hatte schon
fahren diese Tätigkeit in einzelne Anforderungsarten Erich Kosiol betont, um daraus den Schluss zu ziehen,
zerlegen, die dann in ein gewichtetes Bewertungssche- dass man hier den Bereich der wissenschaftlichen Ar-
ma gebracht werden (Schettgen 1996, Kap. 3). Die An- beitsbewertung verlasse und in den Bereich der Lohn-
wendung analytischer Verfahren ist mit mehr Auf- politik eintrete (Kosiol 1962, 38).
wand verbunden, scheint aber grundsätzlich besser
geeignet, die mit der jeweiligen Tätigkeit verbunde-
nen Anforderungen genau und objektiv zu erfassen, Ausblick
auch wenn dabei immer noch Spielräume für Aus-
handlungsprozesse verbleiben. Deshalb ist neben der Aller Voraussicht nach wird das Leistungsprinzip
Arbeitsbewertung auch die Wahl der Lohnform von auch in Zukunft eine zentrale Rolle für die Rechtferti-
Bedeutung. Traditionell waren dies vor allem die in gung (nicht nur) von Lohneinkommen spielen, auch
der Industrie angewandten Lohnformen des Stück- wenn die konkreten Formen seiner Umsetzung einem
lohns, des Akkordlohns, des Prämienlohns sowie des stetigen Wandel unterliegen. Die Gerechtigkeitstheo-
vor allem für Angestellte relevanten Zeitlohns, der rie tut gut daran, diesen Sachverhalt ernst zu nehmen,
manchmal als leistungsunabhängig angesehen wurde, will sie dem Vorwurf entgehen, dass die von ihr abge-
obwohl auch hier über die Qualifikation eine indirekte leiteten Urteile zwar unter dem Gesichtspunkt einer
Koppelung an die (zu erwartende) Leistung unterstellt sozusagen ›kosmischen Gerechtigkeit‹ (Sowell 1999)
werden konnte. überzeugen mögen, aber für die Lösung von Gerech-
Allerdings hat insbesondere in den letzten drei tigkeitskonflikten, wie sie in der (betrieblichen) Wirk-
Jahrzehnten durch die Zunahme der so genannten lichkeit auftreten, vollkommen ungeeignet sind. Nach
Wissensarbeit eine Flexibilisierung von Arbeitsprozes- der zumindest partiellen Rehabilitierung des Ver-
sen eingesetzt, durch die der Versuch einer objektiven dienstprinzips in der philosophischen Gerechtigkeits-
Leistungsmessung und -entlohnung zunehmend frag- theorie sollte auch seine Anwendung als ökonomi-
würdig erscheinen mochte. Die Begriffe der ›Entgren- sches Leistungsprinzip zumindest im Rahmen der be-
zung‹ bzw. der ›Subjektivierung‹ der Arbeit bringen es sonderen Gerechtigkeit nicht mehr unter Generalver-
auf den Punkt: Zunehmend wird die Gesamtperson dacht stehen. Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil
des Arbeitnehmers statt einzelner Arbeitsleistungen in faktisch auf das Leistungsprinzip unter dem Gesichts-
422 V Anwendungsfragen

punkt der subjektiv wahrgenommenen Gerechtigkeit Liebig, Stefan/Schupp, Jürgen: Entlohnungsgerechtigkeit in


ohnehin nicht verzichtet werden kann, wie die oben Deutschland? Hohes Ungerechtigkeitsempfinden bei Ma-
angeführten empirischen Studien nachdrücklich zei- nagergehältern. In: DIW-Wochenbericht 47 (2004), 725–
730.
gen. Das impliziert keineswegs eine Überhöhung des –/–: Leistungs- oder Bedarfsgerechtigkeit? Über einen nor-
Leistungsprinzips zum alleinigen Moralprinzip der mativen Zielkonflikt des Wohlfahrtsstaats und seiner
Gesellschaft. Diese kann im Gegenteil auf zusätzliche [sic!] Bedeutung für die Bewertung des eigenen Erwerbs-
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69 Migration 423

69 Migration schlussrecht indirekt damit begründen, dass der Staat


die institutionelle Heimat einer kulturellen Gemein-
232 Millionen Menschen oder rund drei Prozent der schaft sei, schreiben institutionalistische Ansätze das
Weltbevölkerung lebten 2013 in einem anderen Land Selbstbestimmungsrecht direkt staatlichen Gemein-
als dem, in dem sie geboren wurden (United Nations schaften zu, ohne auf die kulturelle oder identitäre Di-
2014). Gäbe es keine Einwanderungsbeschränkungen, mension des Nationalstaates Bezug zu nehmen.
so wären es vermutlich noch viele mehr. Die wohl erste systematische Verteidigung eines
Die grenzüberschreitende Wanderung von Men- Rechts auf Ausschluss auf der Grundlage kultureller
schen wirft zwei Arten von Gerechtigkeitsproblemen Prämissen findet sich bei dem kommunitaristischen
auf. Erstens stellt sich die Frage, welche Gerechtig- (s. Kap. III.36) Philosophen Michael Walzer (1983,
keitsprinzipien für die Regelung des territorialen Zu- Kap. 2). Die Basis seines Arguments bildet eine par-
gangs einschlägig sind: Steht es den einzelnen Staaten tikularistische Gütertheorie, der zufolge die Bedeu-
frei, Ausländern die Einreise und Niederlassung zu er- tung, die einem Gut in einer bestimmten Kultur zu-
lauben oder zu verbieten? Haben einige Einwan- geschrieben wird, die Quelle aller moralischen Prin-
derungswillige einen gerechtigkeitsbasierten An- zipien für die Verteilung dieses Guts ist (ebd., Kap. 1).
spruch, aufgenommen zu werden? Oder sollten Staa- Auch die Mitgliedschaft in der politischen Gemein-
ten gar ein allgemeines Recht auf globale Bewegungs- schaft sei ein Gut, das verteilt wird, und wie bei ande-
freiheit akzeptieren? ren Gütern könne das Verteilungskriterium nur dem
Ein zweites Bündel von Fragen betrifft die Rechte gemeinsamen Verständnis derer entspringen, die es
derer, die bereits eingewandert sind: Haben sie einen ersonnen haben. Sofern sich eine Gemeinschaft als
Anspruch, (möglicherweise nach einer bestimmten demokratisch verstehe, müsse sie Migranten, die auf
Zeit) die vollen Bürgerrechte einschließlich der politi- dem Territorium aufgenommen werden, zumindest
schen Mitbestimmungsrechte im Einwanderungsland perspektivisch als volle Mitglieder ansehen. Umso
zu erwerben? Wenn ja, darf die Gewährung dieser wichtiger sei aber die Kontrolle über die territoriale
Rechte an Bedingungen wie eine gelungene Integrati- Aufnahmepolitik: »Ohne sie gäbe es keine spezifi-
on geknüpft werden? Sind Gastarbeiterprogramme schen Gemeinschaften, keine historisch stabilen Ver-
mit Grundsätzen der Gerechtigkeit vereinbar? Und einigungen von Menschen, die einander in einer spe-
was schulden wir irregulären Migrantinnen? ziellen Weise verbunden und verpflichtet sind und
die eine spezielle Vorstellung von ihrem gemein-
samen Leben haben« (Walzer 2006, 106).
Argumente für ein Recht auf Ausschluss Auf die besonderen Verbindungen unter den Mit-
gliedern einer nationalen Kulturgemeinschaft berufen
Wird in der breiteren Öffentlichkeit über Migrations- sich auch die Vertreterinnen einer Position, die als ›li-
politik debattiert, so steht meist die Frage im Vorder- beraler Nationalismus‹ bezeichnet wird (Tamir 1993).
grund, wie viel Einwanderung – und welche Einwan- Im Unterschied zum Kommunitarismus verwirft der
derung – dem aufgeklärten Eigeninteresse der Bür- liberale Nationalismus den Universalismus liberaler
gerinnen des jeweiligen Landes dient. Vorausgesetzt Gerechtigkeitstheorien nicht, sondern behauptet, dass
wird dabei, dass Staaten bzw. ihre Bürgerinnen grund- er mit der Anerkennung besonderer normativer Be-
sätzlich dazu berechtigt sind, die Einwanderung nach ziehungen unter co-nationals vereinbar sei.
Maßgabe ihrer eigenen Vorstellungen und Interessen Ein wichtiger Vertreter dieser Position in der Mi-
zu beschränken. Diese Annahme wird in der philoso- grationsdebatte ist David Miller. Er vertritt eine Theo-
phischen Debatte kontrovers diskutiert. rie globaler Gerechtigkeit, die erheblichen Raum für
Diejenigen, die ein Recht auf Ausschluss gegenüber besondere Verpflichtungen unter co-nationals lässt,
Einwanderungswilligen befürworten, berufen sich ty- welche Miller mit dem intrinsischen Wert nationaler
pischerweise auf Prinzipien der kollektiven Selbst- Gemeinschaften begründet (2007, Kap. 2). Die Kon-
bestimmung, wobei je nach Charakterisierung des ein- trolle der Einwanderung sei ein wichtiger Anwen-
schlägigen Kollektivs zwischen kulturellen und institu- dungsbereich eines nationalen Selbstbestimmungs-
tionalistischen Ansätzen unterschieden werden kann. rechts: Sie ermögliche es den Nationen, über ihre zu-
Während kulturelle Ansätze das Recht auf Selbst- künftige Zusammensetzung und damit über die Fort-
bestimmung in erster Instanz Nationen als kulturellen entwicklung ihrer Kultur zu bestimmen (ebd., Kap. 8;
Gemeinschaften zuschreiben und das staatliche Aus- Miller 2005).
424 V Anwendungsfragen

Ein weiteres liberal-nationalistisches Argument für institutionalistischen Ansätzen, die ein staatliches
die normative Relevanz kultureller Grenzen formu- Selbstbestimmungsrecht über die territorialen Gren-
liert Will Kymlicka (1995). Im Unterschied zu Miller zen ohne Verweis auf kulturelle Kategorien begrün-
beruft er sich nicht auf den intrinsischen Wert der na- den. Das prominenteste Argument dieser Art stammt
tionalen Gemeinschaft, sondern auf die instrumentel- von Christopher H. Wellman (2008; 2011, Kap. 1). Er
le Bedeutung der kulturellen Zugehörigkeit für die in- beruft sich auf die Assoziationsfreiheit und vergleicht
dividuelle Freiheit. Welchen Lebensplan eine Person den Staat mit einem Club: Genau wie ein privater
verfolge, sei ihr selbst überlassen, doch um überhaupt Golfclub das Recht habe, Beitrittswilligen die Aufnah-
eine Wahl zwischen als sinnvoll erscheinenden Optio- me zu verweigern, sei auch der Staat dazu berechtigt,
nen treffen zu können, sei ein kultureller Wahlkontext Einwanderungswillige abzuweisen, und zwar un-
vorausgesetzt (ebd., Kap. 5). Freie Einwanderung wür- abhängig davon, ob die bisherigen Mitglieder eine ge-
de den Menschen Kymlicka zufolge zwar möglicher- meinsame Kultur haben, die sie von Nichtmitgliedern
weise mehr Optionen geben, doch diese Optionen unterscheidet.
würden ihrer Bedeutung beraubt, weil die Stabilität Ein verwandtes Argument formuliert Ryan Pevnick
des kulturellen Bezugsrahmens in Gefahr geriete, (2011) auf der Grundlage einer an John Locke
durch den Menschen Optionen als für sie wertvoll er- (1690/1980) angelehnten Eigentumstheorie. Er be-
kennen können (ebd., 93). tont, dass staatliche Institutionen nicht wie Manna
Jeder dieser kulturellen Ansätze wirft je eigene vom Himmel fallen, sondern durch die Beiträge der
Probleme auf. So stellt sich bei Walzer die Frage, ob jeweiligen Bürgerinnen geschaffen und aufrechterhal-
die Legitimität von Einwanderungsbeschränkungen ten werden. Durch diese Beiträge erwerben die Mit-
bloß einem geteilten Verständnis der bisherigen Bür- glieder einer staatlichen Gemeinschaft Pevnick zufol-
gerinnen des jeweiligen Landes entspringt oder ob er ge ein Eigentumsrecht an diesen Institutionen, das
ein Metaprinzip im Blick hat, dem zufolge das Recht auch das Recht einschließe, darüber zu entscheiden,
auf Ausschluss kulturübergreifende Geltung besitzt. wer in Zukunft zu diesen Institutionen beitragen und
Im ersten Fall wäre fraglich, ob Einwanderungswil- von ihnen profitieren dürfe.
lige ihrerseits einen Grund hätten, Restriktionen als Michael Blake (2013) schließlich verteidigt das
gerechtfertigt anzusehen und vom Versuch der ir- Recht auf Ausschluss unter Verweis auf die einzel-
regulären Einwanderung abzusehen. Im zweiten Fall staatliche Zuständigkeit für den Schutz und die Ge-
bliebe unklar, wie eine solche kulturübergreifende währleistung der Menschenrechte aller Personen auf
Norm mit Walzers Gütertheorie zusammenpasst. Bei dem jeweiligen Territorium. Wer ein Recht auf Ein-
Miller ist vor allem der Übergang von der Annahme, wanderung fordere, fordere mithin, dass alle Men-
dass die nationale Gemeinschaft ein intrinsischer schen frei wählen dürfen, wer ihre Menschenrechte
Wert unter vielen sei, zu der Ansicht problematisch, schützen soll. Ein solches Recht widerspreche aber
dass die nationale Gemeinschaft der einzige intrinsi- dem Prinzip, dass uns niemand gegen unseren Willen
sche Wert sei, den es (jenseits der Befriedigung basa- neue Verpflichtungen aufoktroyieren darf.
ler Bedürfnisse) für eine gerechte Migrationspolitik Von den drei institutionalistischen Ansätzen hat
zu berücksichtigen gelte. Und gegen Kymlickas Argu- Wellmans Argument über die Assoziationsfreiheit in
mentationslinie hat Jeremy Waldron (1995, 105–110) der Debatte bisher am meisten Beachtung gefunden.
die Ansicht stark gemacht, dass Individuen zwar auf Gegen seine Club-Analogie lassen sich zwei Standard-
kulturelles Material zurückgreifen können müssen, einwände vorbringen. Erstens wird geltend gemacht,
um sinnvolle Entscheidungen zu fällen, dass dieses dass die Assoziationsfreiheit mit Blick auf die Einwan-
Material aber nicht ›aus einem Guss‹ sein müsse; derungsfrage argumentativ in beide Richtungen wirk-
möglich sei auch ein autonomes Leben in einem ›Ka- sam ist: Einerseits kann ein Recht auf Ausschluss ge-
leidoskop der Kulturen‹. Darüber hinaus werfen alle genüber Einwanderungswilligen als Ausdruck der As-
drei Ansätze die Frage auf, wie nationale (oder in soziationsfreiheit auf staatlicher Ebene angesehen
Kymlickas Fall ›gesellschaftliche‹) Kulturen von- werden, andererseits beschneidet ein solches Recht
einander abzugrenzen sind und ob die Grenzen zwi- aber auch die Assoziationsfreiheit mit Blick auf zahl-
schen Kulturen typischerweise tatsächlich mit den reiche private Assoziationsformen (u. a. Miller 2007,
Grenzen zwischen Staaten zusammenfallen (dazu 209–213). Und zweitens wird darauf hingewiesen,
kritisch Scheffler 2007). dass Wellmans Argumentation radikale Implikatio-
Diesen Problemen entgeht eine Reihe von neueren nen hat, die weit über die Einwanderungsfrage hi-
69 Migration 425

nausgehen. So scheint die Analogie zwischen Staaten Flüchtlingsbegriff unter Verweis auf die expressive Di-
und privaten Vereinen etwa zu implizieren, dass Staa- mension der Institution des Asyls. Mit der Asylgewäh-
ten auch bisherige Bürgerinnen ausschließen und de- rung werde nicht zuletzt eine Verurteilung der politi-
ren Nachkommen die Aufnahme verwehren dürfen schen Verfolgung im Herkunftsland zum Ausdruck
(so bereits Whelan 1988, 29). gebracht, was im Fall ökonomischer Fluchtgründe
Die Rezeption der beiden anderen institutionalis- nicht in derselben Weise angemessen wäre. Dem-
tischen Ansätze steckt hingegen noch in den Kinder- gegenüber betonen Vertreter eines breiteren Flücht-
schuhen. Wichtige Fragen mit Blick auf Pevnicks ei- lingsbegriffs die individuelle Schutzbedürftigkeit von
gentumstheoretische Argumentation betreffen den Flüchtlingen, die auch dann gegeben sei, wenn die Be-
genauen Umfang der Eigentumsrechte an staatlichen troffenen aus anderen Gründen als politischer Verfol-
Institutionen (Wilcox 2012) sowie den Umgang der gung in ihren grundlegenden Rechten bedroht sind
Theorie mit historischem Unrecht. Mit Blick auf Bla- oder noch nicht in ein sicheres Land ausgereist sind
kes Ausführungen ist insbesondere fraglich, wie weit (Shacknove 1985).
menschenrechtliche Verpflichtungen überhaupt dem Von großer praktischer Bedeutung ist schließlich
Paradigma freiwilliger Verpflichtungen folgen, zumal die Frage, wie eine gerechte Verteilung der Schutz-
wir den diesbezüglichen Verpflichtungen auch hin- bedürftigen auf potenzielle Aufnahmestaaten aus-
sichtlich unserer nicht-migrantischen Mitbürgerin- sehen könnte. Diskutiert wird in diesem Zusammen-
nen nie explizit zugestimmt haben (Kates/Pevnick hang, nach welchem Schlüssel eine faire Verteilung
2014). der ›Lasten‹ im Asylbereich zu erfolgen hat (Schuck
1997), und ob einzelne Staaten verpflichtet sind, mehr
als ihren fairen Anteil an Flüchtlingen aufzunehmen,
Flüchtlinge wenn andere Staaten ihren diesbezüglichen Verpflich-
tungen nicht nachkommen (Kuosmanen 2012).
Die meisten philosophischen Befürworter eines
Rechts auf Ausschluss gestehen zu, dass dieses Recht
nicht völlig uneingeschränkt gilt. Ausnahmen werden Einwände gegen ein Recht auf Ausschluss
einerseits mit Blick auf die zulässigen Auswahlkrite-
rien und andererseits mit Blick auf spezifische Per- Grundsätzliche Kritik an einem Recht auf Ausschluss
sonengruppen geltend gemacht. In den ersten Bereich wird aus unterschiedlichen theoretischen Perspekti-
fällt etwa das Verbot, Einwanderungswilligen allein ven geäußert, wobei zwischen einem distributiven, ei-
aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ih- nem demokratietheoretischen und einem freiheitli-
rer sexuellen Orientierung die Aufnahme zu verwei- chen Einwand zu unterscheiden ist.
gern (Miller 2005, 203 f.; Wellman 2008, 137–141). In Der distributive Einwand setzt bei der Tatsache an,
den zweiten Bereich fallen Aufnahmepflichten gegen- dass Menschen unter dem migrationspolitischen Sta-
über Flüchtlingen, wie sie von den meisten (aber nicht tus quo in Abhängigkeit von ihrer Staatsangehörigkeit
allen, vgl. Wellman 2008, 128–130) Befürwortern ei- sehr unterschiedliche Mobilitätschancen haben. Wäh-
nes Rechts auf Ausschluss akzeptiert werden. rend beispielsweise die Besitzerin eines deutschen
Im rechtlichen Status quo ist der Aufnahme- Passes 174 verschiedene Länder bereisen kann, ohne
anspruch von Flüchtlingen durch ein Prinzip des non- dafür ein Visum beantragen zu müssen, sind es bei ei-
refoulement geregelt. Es verbietet die Abschiebung ei- nem Afghanen gerade einmal 28 (Henley & Partners
nes Asylsuchenden, wenn im Herkunftsland »sein Le- 2014). Mit diesen Unterschieden in den Mobilität-
ben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, schancen gehen große Unterschiede in den ökonomi-
Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer be- schen Aussichten einher. Gerade den global Benach-
stimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politi- teiligten bleibt oft die Möglichkeit versperrt, ihre wirt-
schen Überzeugung bedroht sein würde« (Genfer schaftliche Situation durch den Wegzug in ein prospe-
Flüchtlingskonvention, Art. 33). Einen Anspruch auf rierendes Land zu verbessern. Joseph Carens (1987,
Aufnahme hat demzufolge nur, wer es bereits in ein 252) vergleicht die Staatsbürgerschaft in einem wohl-
sicheres Land geschafft hat und Zuflucht vor politi- habenden Land vor diesem Hintergrund mit einem
scher Verfolgung (und nicht etwa vor ökonomischer feudalen Privileg, das einer Gruppe von Menschen
Not oder einer Naturkatastrophe) sucht. von Geburt an massiv bessere Lebensaussichten ga-
Matthew Price (2009) verteidigt diesen engen rantiert. Diesem Einwand wird oft eine glücksegalita-
426 V Anwendungsfragen

ristische Deutung gegeben (Ladwig 2012; s. Kap. Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in Ar-
III.39): Da Menschen nicht für die Staatsbürgerschaft tikel 12 des Internationalen Paktes über bürgerliche
verantwortlich sind, die ihnen mit der Geburt verlie- und politische Rechte verankert ist. Dasselbe Interesse
hen wird, dürfe diese nicht ihre ökonomischen Aus- an individueller Selbstbestimmung, das diesem Recht
sichten determinieren; genau dies sei aber der Fall, zugrunde liege, spreche auch für ein Recht auf zwi-
wenn Staaten ein Recht auf Ausschluss haben. schenstaatliche Mobilität. Wer das Recht auf inner-
Einen zweiten Einwand gegen ein unilaterales staatliche Bewegungsfreiheit akzeptiere, könne des-
Recht auf Ausschluss formuliert Arash Abizadeh halb nur um den Preis der Inkohärenz an einem Recht
(2008) auf der Grundlage demokratischer Prinzipien. auf Ausschluss gegenüber internationalen Migrantin-
Demokratie wird dabei nicht als die Selbstbestim- nen festhalten (ebd., 258; Oberman 2015). Dies be-
mung eines bereits feststehenden, einzelstaatlichen deute zwar nicht, dass Einwanderungsbeschränkun-
demos verstanden, sondern als ein normatives Prin- gen unter keinen denkbaren Umständen gerechtfer-
zip, dem zufolge staatlicher Zwang nur dann legitim tigt sein könnten. So akzeptieren Befürworter eines
ist, wenn alle Zwangsunterworfenen politische Mit- Rechts auf Einwanderung normalerweise eine public
bestimmungsrechte haben. Da Einwanderungsbe- order restriction (Carens 1987, 259), der zufolge ein
schränkungen unter Androhung (und Ausübung) von bestimmtes Maß an Restriktionen zulässig ist, wenn
Zwang gegen Nichtbürgerinnen durchgesetzt werden, der Zusammenbruch einer gerechten Ordnung droht.
bestehe ein Demokratiedefizit, wenn Nichtbürgerin- Aber grundsätzlich sei es das gute Recht jedes Men-
nen von den entsprechenden Entscheidungen aus- schen, sich auf der Erdoberfläche frei zu bewegen, so-
geschlossen bleiben. lange davon nicht eine realistische Bedrohung für an-
Sowohl der distributive als auch der demokratie- dere grundlegende Rechte ausgehe.
theoretische Einwand sprechen zwar gegen ein unein- Alle drei hier skizzierten Einwände gegen ein
geschränktes, unilaterales Recht auf Ausschluss, nicht Recht auf Ausschluss haben eine Reihe von kritischen
aber notwendigerweise für offene Grenzen. Es wäre Reaktionen hervorgerufen. Gegen den distributiven
zumindest denkbar, dass gewisse Restriktionen für die Einwand wird einerseits normativ bestritten, dass
Wanderung zwischen ökonomisch vergleichbaren Re- Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit eine glo-
gionen mit einem globalen Glücksegalitarismus ver- bale Reichweite haben (Wellman 2011, Kap. 2), an-
einbar sind. Und Einwanderungsbeschränkungen dererseits werden empirische Zweifel an der An-
könnten auch Abizadehs demokratischem Prinzip nahme geäußert, dass eine Erweiterung globaler Mo-
Genüge tun, wenn sie von einem globalen demos gut- bilitätschancen ein geeignetes Mittel darstellt, globa-
geheißen würden. Dies gilt nicht für den dritten, frei- le Ungleichheiten zu mindern (Pogge 1997). Gegen
heitlichen Einwand: Er geht dahin, dass Menschen ein Abizadehs demokratietheoretischen Einwand wird
moralisches Recht haben, selbst zu entscheiden, auf geltend gemacht, Einwanderungsbeschränkungen
welchem Fleck der Erdoberfläche sie sich vorüber- seien keine Form von Zwang im relevanten, de-
gehend oder dauerhaft aufhalten wollen, und zwar mokratische Mitbestimmungsrechte begründenden
auch dann, wenn sie dafür nationalstaatliche Grenzen Sinn (Miller 2010). Und gegen das Analogieargument
überschreiten müssen. für ein Recht auf globale Bewegungsfreiheit werden
Für ein Recht auf globale Bewegungsfreiheit wer- alternative Rekonstruktionen der innerstaatlichen
den zwei Arten von Argumenten angeführt. Theorie- Bewegungsfreiheit angeführt, die keine Übertragung
basierte Argumente leiten ein Recht auf Einwan- auf den internationalen Fall zulassen. So schlägt etwa
derung aus einer umfassenden Theorie der Gerechtig- Miller (2005, 195 f.) vor, das Recht auf Bewegungs-
keit oder der Freiheitsrechte ab. Solche Argumente freiheit als ein Recht auf eine angemessene Auswahl
werden etwa im Rahmen des Libertarismus (Carens an Optionen in wichtigen Lebensbereichen zu verste-
1987, 252–254; Steiner 1992; s. Kap. III.32) oder auf hen. Wer im Herkunftsland bereits über eine an-
Grundlage einer kosmopolitischen Version des gemessene Auswahl verfüge, habe daher keinen An-
rawlsianischen Kontraktualismus (Carens 1987, 255– spruch auf grenzüberschreitende Freizügigkeit. Dem-
262; s. Kap. III.30) vertreten. gegenüber betonen die Befürworter eines Rechts auf
Daneben spielt in der Debatte aber auch ein Analo- globale Bewegungsfreiheit, Freiheitsrechte seien als
gieargument eine wichtige Rolle, das beim breit ak- Rechte zu verstehen, ohne Eingriffe Dritter unter al-
zeptierten Recht auf innerstaatliche Bewegungs- und len existierenden Optionen zu wählen (Oberman
Niederlassungsfreiheit ansetzt, wie es in Artikel 13 der 2015; Cassee 2014; Brezger 2014).
69 Migration 427

Rechte im Einwanderungsland auch an die Bedingung geknüpft werden, dass die be-
treffenden Personen das Territorium nach einem ver-
Gerechtigkeitsfragen stellen sich nicht nur im Zusam- einbarten Zeitraum wieder verlassen.
menhang mit der Kontrolle des territorialen Zugangs, Spezifische Gerechtigkeitsfragen stellen sich
sondern auch mit Blick auf die Rechte von Migranten schließlich mit Blick auf irreguläre Migrantinnen, die
im Einwanderungsland. Oft wird dabei die Ansicht sich ohne legale Aufenthaltserlaubnis auf dem jewei-
vertreten, dass Einwanderer mit zunehmender Auf- ligen Territorium aufhalten. Sie leben in der ständigen
enthaltsdauer zusätzliche Ansprüche erwerben: Je Angst, abgeschoben zu werden, und sind der Willkür
länger sich eine Person im Land aufhält, desto schwie- ihrer Arbeitgeber oft schutzlos ausgeliefert. Carens
riger wird es, eine Ungleichbehandlung gegenüber (2013, Kap. 7) schlägt vor, den Informationsaustausch
den bisherigen Bürgerinnen zu rechtfertigen (Carens zwischen Einwanderungsbehörden einerseits und Ar-
2013, 89). beitsgerichten und anderen grundrechtsrelevanten
Ein relativ breiter Konsens besteht in der neueren Institutionen andererseits durch eine firewall zu be-
Debatte darüber, dass es einem Demokratiedefizit schränken, um den Rechtsschutz der Sans-Papiers zu
gleichkommt, wenn langfristig niedergelassene Nicht- verbessern. Darüber hinaus argumentiert er, dass
bürger oder denizens (Hammar 1990) permanent langfristig anwesenden irregulären Migranten auf-
von den politischen Mitbestimmungsrechten im grund ihrer sozialen Mitgliedschaft ein Bleiberecht
Einwanderungsland ausgeschlossen bleiben (u. a. Wal- eingeräumt und letztlich der Weg zur vollen Staats-
zer 1983, Kap. 2; Rubio-Marín 2000; Goppel 2012; vgl. bürgerschaft geöffnet werden sollte. Pevnick (2011,
auch López-Guerra 2005, der sich zugleich für den 163–170) hingegen betont, dass die gesellschaftlichen
Ausschluss langfristig Ausgewanderter von der politi- Beiträge irregulärer Migranten ohne die Zustimmung
schen Mitbestimmung im Herkunftsland ausspricht). der bisherigen Bürgerinnen erfolgen und deshalb kei-
Kontrovers diskutiert wird in diesem Zusammenhang, ne Mitgliedschaftsrechte begründeten.
auf welcher Rechtfertigungsgrundlage und nach wel-
chem Zeitraum Einwanderer einen Anspruch auf Mit-
bestimmung erwerben, ob die Gewährung von Partizi- Ausblick
pationsrechten von Bedingungen wie einer gelunge-
nen Integration abhängig gemacht werden darf und ob Die Frage nach einer gerechten Migrationspolitik wird
erleichterte Einbürgerungen oder die Einführung ei- auf absehbare Zeit Gegenstand intensiver philosophi-
nes Ausländerstimmrechts die geeignetste Form ist, scher Debatten bleiben. Obschon eine große Bandbrei-
Demokratiedefizite in diesem Bereich zu beheben. te an unterschiedlichen Positionen vertreten wird, fin-
Diese Fragen werden im folgenden Kapitel über politi- det eine Liberalisierung sowohl mit Blick auf den terri-
sche Zugehörigkeit (s. Kap. V.70) vertieft diskutiert. torialen Zugang als auch mit Blick auf den Zugang zu
Weitere Themen, die mit Blick auf mittel- und politischen Rechten in der philosophischen Debatte
langfristig niedergelassene Migrantinnen diskutiert weit mehr Zustimmung als in der breiteren Öffentlich-
werden, betreffen etwa die Sicherheit des Aufent- keit. Umso wichtiger bleibt die Auseinandersetzung
haltsstatus und den Zugang zu Sozialleistungen (Ca- mit der Frage, wie ein realistischer Weg hin zu einer
rens 2013, Kap. 5). Gegenstand einer kontroversen migrationspolitischen Öffnung unter Bedingungen
Debatte ist zudem die Frage, ob Staaten dazu berech- politischer Systeme aussehen könnte, deren Akteure
tigt sind, Migranten von vornherein für eine be- sich in erster Linie einem nationalstaatlichen Elektorat
schränkte Aufenthaltsdauer aufzunehmen und so zu verpflichtet sehen (Bauböck 2014).
verhindern, dass sie aufgrund eines längeren Aufent-
halts weitergehende Ansprüche erwerben. Während Literatur
etwa Walzer (1983, 56–61) kritisiert, die Schaffung ei- Abizadeh, Arash: Democratic theory and border coercion.
ner Klasse von Gastarbeitern sei kein Ausdruck ge- No right to unilaterally control your own borders. In: Po-
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meinschaftlicher Freiheit, sondern eine Form von Blake, Michael: Immigration, jurisdiction, and exclusion. In:
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enthalts zugestimmt haben. Wenn es den Staaten frei- In: Zeitschrift für Menschenrechte 14/2 (2014), 66‒82.
stehe, ob sie Arbeitsmigranten aufnehmen wollen Brezger, Jan: Zur Verteidigung des Menschenrechts auf in-
ternationale Bewegungsfreiheit. Eine Antwort auf Micha-
oder nicht, dann dürfe die Einwanderungserlaubnis
428 V Anwendungsfragen

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70 Politische Zugehörigkeit 429

70 Politische Zugehörigkeit Staatsbürgerschaft

Politische Zugehörigkeit wirft in verschiedenen Hin- Anknüpfend an zentrale Unterschiede im Verständ-


sichten Gerechtigkeitsfragen auf. Zunächst stellt sich nis von (Staats-)Bürgerschaft im antiken Griechen-
die Frage, ob und inwieweit Gerechtigkeitspflichten land und im antiken Rom lassen sich die heutigen
nur innerhalb staatlicher Gemeinwesen entstehen Konzeptionen von Staatsbürgerschaft im Spannungs-
bzw. ob und inwieweit auch Menschen, die nicht dem- feld zwischen der republikanischen und der liberalen
selben staatlichen Gemeinwesen angehören, derartige Auffassung von Staatsbürgerschaft verorten. Wäh-
Verpflichtungen haben (für diese Fragen s. Kap. II.12, rend die republikanische Auffassung die aktive Teil-
16, 17). Darüber hinaus stellen sich besonders Fragen nahme an der Selbstregierung betont, versteht die li-
danach, wie politische Zugehörigkeit gerechterweise berale Auffassung Staatsbürgerschaft als einen mit ei-
zu regeln ist, d. h. wer unter welchen Bedingungen nem Bündel von Rechten verbundenen rechtlichen
und mit welchen Rechten als politisches Mitglied an- Status, der Angehörigen eines jeden Gemeinwesens
erkannt werden muss. zukommt. Die verschiedenen Konzeptionen gehen
Mit politischer Zugehörigkeit können dabei ver- dabei mit unterschiedlichen Diskussionsschwer-
schiedene Arten der Zugehörigkeit gemeint sein, die punkten einher. So betonen republikanische Autorin-
sich wiederum auf verschiedene politische Einheiten, nen und Autoren beispielsweise die Auseinanderset-
d. h. regionale, nationale oder transnationale Ge- zung mit Bürgertugenden, liberale Autorinnen und
meinschaften beziehen können. Im Mittelpunkt der Autoren die mit Bürgerschaft verbundenen Rechts-
philosophischen Auseinandersetzung um politische ansprüche gegenüber dem Staat. (Für einen Über-
Zugehörigkeit stehen dabei die Staatsbürgerschaft blick über die unterschiedlichen Konzeptionen vgl.
und hier mit Blick auf Gerechtigkeit die Fragen, wer Kymlicka/Norman 1994.)
unter welchen Bedingungen und warum als Staats- Aus einer Gerechtigkeitsperspektive stehen Fragen
bürgerin oder Staatsbürger und damit als politisch zu nach der moralischen Grundlage für die Vergabe von
einer staatlichen Gemeinschaft zugehörig anerkannt Staatsbürgerschaft und damit verbunden danach, wer
werden muss und welche Rechte damit verbunden als Staatsbürger bzw. Staatsbürgerin anzuerkennen ist,
sein sollen. im Mittelpunkt. Diese Fragen sind sowohl mit Blick
Politische Zugehörigkeit kann auch auf die Grup- auf die politische Zugehörigkeit von Kindern bei Ge-
pe derjenigen verweisen, denen politische Mitspra- burt als auch hinsichtlich der Durchlässigkeit für Mi-
cherechte zukommen. Diese Gruppe muss nicht not- grantinnen und Migranten gerechtigkeitsrelevant.
wendig mit staatlich konstituierten Gemeinschaften Gerechtigkeitsprobleme stellen sich hier sowohl aus
zusammenfallen, sondern kann sowohl darüber hi- Gründen der Gleichbehandlung als auch der Auto-
nausgehen als auch auf kleinere Einheiten wie z. B. nomie. Ayelet Shachar (2009) betont darüber hinaus,
Gemeinden begrenzt sein. Mit Blick auf Gerechtig- dass ein Zusammenhang zwischen Staatsbürgerschaft
keit ist hier wiederum vor allem relevant, wem unter und Zugang zu Wohlstand bestehe, und diskutiert
welchen Bedingungen und warum politische Zu- Staatsbürgerschaft als Problem distributiver Gerech-
gehörigkeit in diesem eingeschränkten Sinn zuzu- tigkeit. Wenn das Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft
schreiben ist und ob sie überhaupt an bestimmte geknüpft ist (für die Diskussion über die Verbindung
(staatlich) konstituierte Einheiten geknüpft werden von Wahlrecht und Staatsbürgerschaft s. u.), ergeben
darf. Begrifflich ist es denkbar, politische Zugehörig- sich im Falle von Über- und Unterinklusivität hin-
keit darüber hinaus als Zugehörigkeit zu politischen sichtlich des Wahlvolks – d. h. wenn Menschen die
Gruppierungen, einer politischen Bewegung oder Staatsbürgerschaft erhalten, die keinen Anspruch auf
Idee im Sinne des Selbstverständnisses einzelner In- Wahlrecht haben, oder wenn Menschen diese nicht
dividuen zu verstehen. Dies wird hier nicht Thema zugesprochen wird, obwohl sie einen solchen Wahl-
sein. Auch werden Fragen nach Sezessionsrechten, rechtsanspruch haben – darüber hinaus demokrati-
die ebenfalls unter dem Titel politischer Zugehörig- sche Legitimitätsprobleme.
keit diskutiert werden könnten, nicht behandelt (vgl. Völkerrechtlich wurde etwa mit Blick auf Staaten-
hierzu Dietrich 2010). losigkeit versucht, Festlegungen zu schaffen, die diese
verhindern (Art. 15 der AEMR spricht jedem ein
Recht auf Staatsbürgerschaft zu; rechtlich bindend
schreibt z. B. Art. 24 (3) des Paktes über bürgerliche
430 V Anwendungsfragen

und politische Rechte jedem Kind das Recht zu, eine land und versagt generell Immigrantinnen und Im-
Staatsbürgerschaft zu erwerben). Insgesamt ist die Re- migranten die Anerkennung als politische Mitglieder
gelung der Staatsbürgerschaft jedoch weitgehend den im Einwanderungsland, egal wie dauerhaft sie dort an-
Einzelstaaten überlassen. Philosophisch besteht Ei- gesiedelt sind.
nigkeit zumindest dahingehend, dass politische Zu- Bezüglich der für die Staatsbürgerschaft relevanten
gehörigkeit im Sinne der Staatsbürgerschaft gewissen faktischen Verbindung zum Einwanderungsland wer-
Menschen moralisch geschuldet ist. Umstritten ist je- den unterschiedliche Vorschläge vertreten. Diskutiert
doch die normative Grundlage von Staatsbürger- werden z. B. soziale Verbindung, d. h. faktische lebens-
schaft. Die Möglichkeit, Staatsbürgerschaft an eth- weltliche Zugehörigkeit zur Einwanderungsgesell-
nische Zugehörigkeit zu knüpfen, ist angesichts der schaft (Carens 2005, 37–39; 2013, Kap. 2 f., bes. 22–31;
Tatsache, dass keine sinnvolle normative Verbindung vgl. auch Shachar 2009, bes. Kap. 6), Rechts- bzw. Au-
zwischen politischer Zugehörigkeit und Ethnie for- toritätsunterworfenheit (Carens 2013, 50; Walzer
muliert werden kann, als normativ nicht begründbar 1983, 60 f.) und Stakeholderschaft, die Rainer Bauböck
abzulehnen und mit Blick auf die mit einer Umset- (2007, 2420–2422; 2009, 478–482) dann annimmt,
zung dieser Idee verbundenen Konsequenzen als in- wenn die Lebenschancen und das Wohlbefinden eines
kompatibel mit staatlicher Legitimität und gerechtfer- Menschen vom Gedeihen einer Gesellschaft abhän-
tigtem staatlichem Zwang zu verwerfen. Philoso- gen. All diese Vorschläge begreifen Migrantinnen und
phisch zu diskutieren sind hingegen drei normative Migranten als dem Einwanderungsland (zumindest
Grundlagen von Staatsbürgerschaft, die in unter- nach einer gewissen Zeitdauer) politisch zugehörig
schiedlichen Kombinationen derzeit politisch umge- und gehen von einem Anspruch auf Staatsbürgerschaft
setzt sind: erstens Abstammung (ius sanguinis) – wo- derjenigen aus, die permanent migriert sind. Unter-
bei Abstammung hier unabhängig von ethnischer Zu- schiede können sich jedoch hinsichtlich der Vergabe
gehörigkeit als Abstammung von einer Person zu ver- der Staatsbürgerschaft bei Geburt ergeben sowie für
stehen ist, die bereits Staatsbürgerschaft besitzt; Menschen, die nicht mehr oder nicht ausschließlich in
zweitens Geburtsort (ius soli); und drittens die fak- dem Staat leben, mit Blick auf den die Zugehörigkeit zu
tische ›Verbindung‹ zwischen Individuum und staatli- bestimmen ist. Uneinigkeit besteht auch, ob das Beste-
cher Gemeinschaft – wobei sich diese Verbindung hen der für politische Zugehörigkeit relevanten Ver-
nicht in Geburtsort und Abstammung erschöpft. bindung immer automatisch zu Einbürgerung führen
Nehmen wir an, dass Staatsbürgerschaft mit wichti- sollte oder lediglich einen Anspruch auf Staatsbürger-
gen Rechten wie beispielsweise diplomatischem und schaft begründet (für eine automatische Einbürgerung
konsularischem Schutz, einem unbedingten Aufent- De Schutter/Ypi 2015; Rubio-Marin 2000; dagegen
haltsrecht und dem Recht, jederzeit in das Land der z. B. Bauböck 2009, 485).
Zugehörigkeit zurückzukehren, verbunden ist, lassen Inwieweit normativ Geburtsort und Abstammung
sich als alleinige Grundlagen zumindest die ersten bei- zusätzlich zur faktischen Verbindung eine Rolle für
den Vorschläge nicht aufrechterhalten. Philosophisch den Anspruch auf Staatsbürgerschaft spielen, ist um-
ist weithin anerkannt, dass ein Staatsbürgerschafts- stritten. Klar erscheint, dass Kinder, die in einem Land
recht, das die faktische Verbindung der betroffenen In- geboren sind und deren Eltern dort leben, die Staats-
dividuen zum jeweiligen Staat als Grund für die Ver- bürgerschaft in diesem Land bei Geburt erhalten soll-
gabe der Staatsbürgerschaft generell ausschließt, als ten, und dies unabhängig davon, ob ihre Eltern selbst
ungerecht abzulehnen ist (Carens 2005; 2013, Kap. 2 f.; Staatsbürger dieses Landes sind. Der überzeugende
Miller 2008; Walzer 1983, 52–61; anders aktuell Ober- Grund hierfür ist jedoch nicht, dass der Geburtsort
man 2016 zumindest dahingehend, dass Immigrantin- selbst politische Zugehörigkeit im Sinne der Staatsbür-
nen und Immigranten die Staatsbürgerschaft verwei- gerschaft begründet, sondern dass für Kinder, die in ei-
gert werden darf, sofern davon ausgegangen wird, dass nem Land geboren sind und dort aufwachsen, eine
es kein Recht auf Einwanderung gibt). Für diese Ab- normativ relevante Verbindung zum Geburtsland an-
lehnung spricht die Unterinklusivität, zu der eine Zu- genommen werden muss (so z. B. Bauböck 2009; Ca-
weisung der Staatsbürgerschaft ausschließlich bei Ge- rens 2013, 22–26, 30 f., 35–39). Einige Staaten wie die
burt (sei dies über Abstammung oder Geburtsort) USA akzeptieren ein ius soli in einem strikteren Sinn
führt. So verweigert diese beispielsweise Kindern, die und geben jedem Baby, das auf US-amerikanischem
nicht im Heimatland der Eltern bzw. im Geburtsland Staatsgebiet geboren ist, unabhängig davon, ob es dort
aufwachsen, die Staatsbürgerschaft im Aufenthalts- in Zukunft leben wird, die Staatsbürgerschaft. Philoso-
70 Politische Zugehörigkeit 431

phisch wird dies nicht notwendigerweise abgelehnt, Ausnahmen gehören Neuseeland und Uruguay), ha-
aber in der Regel auch nicht gefordert, da der Geburts- ben einige Länder ihre Gesetzgebung dahingehend
ort in der Regel selbst nicht als begründend anerkannt geändert, dass sie auf lokaler Ebene bestimmten Mi-
wird, sondern lediglich als Indiz für das (zukünftige) grant_innengruppen die Beteiligung an Wahlen ge-
Bestehen einer normativ relevanten faktischen Verbin- währen (Bauböck 2005, 684 f.). Auch kommen z. B.
dung zum jeweiligen Land (ebd.). soziale Rechte, die früher ebenfalls mit Staatsbürger-
Aus dieser Perspektive scheint es plausibel, der Ab- schaft verknüpft waren, heute – häufig abgestuft nach
stammung ebenfalls nur eine solche instrumentelle Aufenthaltsstatus, z. B. befristeter oder permanenter
Bedeutung zuzuschreiben, d. h. Abstammung norma- Aufenthaltsgenehmigung – in der Regel auch ansässi-
tiv nur für ausschlaggebend zu erachten, sofern darü- gen Ausländerinnen und Ausländern zu. In der phi-
ber eine für politische Zugehörigkeit einschlägige losophischen Debatte stellt sich mit Blick auf die an
Verbindung etabliert wird. Diese Ansicht teilen dieje- Staatsbürgerschaft zu knüpfenden Rechte etwa die
nigen Autorinnen und Autoren, die Staatsbürger- Frage, ob Staatsbürgerschaft und (nationales oder lo-
schaft in einer bestimmten faktischen Verbindung kales) Wahlrecht entkoppelt werden sollten (gegen ei-
zum jeweiligen Staat begründet sehen. Sie vertreten ne Entkopplung: Celikates 2012; für eine Entkopp-
jedoch unterschiedliche Auffassungen darüber, ob lung: Zurbuchen 2012; zur Diskussion sozialer Rechte
Abstammung eine solche Verbindung notwendiger- vgl. z. B. Kymlicka/Norman 1994, 354–359). Dies des-
weise etabliert. Joseph Carens (2013, 26–30) etwa ist halb, weil nicht alle, denen das Wahlrecht in einem be-
der Ansicht, dass es moralisch gefordert ist, bei Ge- stimmten Staat moralisch zusteht, notwendigerweise
burt auch die Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes auch die moralisch vertretbaren Bedingungen für den
der Eltern zu vergeben. Denn auch wenn Kinder nicht Zugang zur Staatsbürgerschaft in diesem Staat erfül-
im Herkunftsland ihrer Eltern geboren seien und dort len und weil Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die
aufwüchsen, seien sie in relevanter Weise sozial mit ihr Heimatland verlassen haben, nicht notwendiger-
der Herkunftsgesellschaft der Eltern verbunden und weise auch die moralisch vertretbaren Bedingungen
ihre Chancen und Wahlmöglichkeiten seien von der für das Wahlrecht im Heimatland erfüllen. Zwingend
Politik im Heimatland der Eltern grundlegend betrof- ist eine (teilweise) Entkoppelung wohl zumindest für
fen. Bauböcks Stakeholder-Prinzip stellt nicht auf so- diejenigen Autorinnen und Autoren, die wie Arash
ziale Eingebundenheit ab, nimmt mit der Begrün- Abizadeh oder Robert Goodin vertreten, dass staatli-
dung, dass die Lebenspläne der Kinder von den Ent- chen Gemeinschaften für die Entscheidung bestimm-
scheidungen ihrer Eltern abhingen und Staatsbürger- ter politischer Fragen bzw. für politische Entscheidun-
schaft das Recht schütze, mit den Eltern in deren gen generell keine gesonderte moralische Rolle zu-
Heimatland zurückzukehren, für die zweite Generati- kommt (s. u. im Abschnitt zum Wahlrecht die Diskus-
on (zumindest bis zur Volljährigkeit, siehe Bauböck sion zur Bestimmung des ›Demos‹).
2005, 684) aber ebenfalls einen Anspruch auf Staats- Besonders aus feministischer Perspektive und im
bürgerschaft im Heimatland der Eltern an (Bauböck Rahmen der Auseinandersetzung um die Rechte kul-
2009, 484 f.). Ayelet Shachar hingegen vertritt die Po- tureller Minderheiten und unterdrückter und be-
sition, dass Abstammung nur in Verbindung mit der nachteiligter sozialer Gruppen wird mit Blick auf die
Etablierung einer tatsächlichen Verbindung mit dem Frage nach den Rechten, die mit Staatsbürgerschaft
Land der Abstammung zu Staatsbürgerschaft führen verbunden sein sollten, darüber hinaus die die libera-
sollte. Zwar sei der Aufenthalt im Land hierfür nicht le Diskussion bestimmende Konzeption von Staats-
immer notwendig, aber Abstammung bei Geburt al- bürgerschaft als zu universalistisch zurückgewiesen
leine reiche nicht aus, um eine solche Verbindung zu (z. B. Kymlicka 1991, 151; Young 1989). Es wird die
etablieren (Shachar 2009, 173). Annahme kritisiert, dass Staatsbürgerschaft für alle
Ebenso wie die Gruppen, wie z. B. Frauen, Arbeiter mit den gleichen Rechten verbunden sein sollte, und
oder Schwarze, denen nach politischen Kämpfen die stattdessen für eine gruppendifferenzierte Staatsbür-
volle Staatsbürgerschaft zugesprochen wurde, hat sich gerschaft (»group differentiated citizenship«; Young
das Bündel von Rechten, das mit Staatsbürgerschaft 1989, 258), d. h. für unterschiedliche Staatsbürger-
verknüpft ist, über die Zeit hin gewandelt. Während rechte für unterschiedliche Gruppen, argumentiert.
beispielsweise das aktive und passive Wahlrecht zu- Die universalistische Konzeption etabliere ungerech-
mindest auf nationaler Ebene heute fast durchgängig te Privilegien, verstetige den Ausschluss historisch
an die Staatsbürgerschaft geknüpft ist (zu den wenigen unterprivilegierter Gruppierungen und werde den
432 V Anwendungsfragen

unterschiedlichen Bedürfnissen verschiedener Grup- zweite Position all jene als wahlberechtigt, die der
pen nicht gerecht. staatlichen Autorität unterworfen sind (z. B. Dahl
1989; López‐Guerra 2005; Owen 2010; für die folgen-
de Auseinandersetzung vgl. Goppel 2012; 2016).
Wahlrecht Was das all-affected principle angeht, scheint es gute
Gründe zu geben, der ihm zugrunde liegenden norma-
Üblicherweise wird politische Zugehörigkeit im Sinne tiven Idee gegenüber skeptisch zu sein. Unsere Interes-
der Staatsbürgerschaft verstanden. Es kann damit je- sen mögen zwar side constraints für die Handlungen
doch auch auf die Gruppe derjenigen verwiesen wer- anderer darstellen: Die Entscheidungsträgerinnen und
den, die einen moralischen Anspruch auf politische Entscheidungsträger müssen unsere Interessen in ihre
Mitbestimmung (in einer Sache oder innerhalb eines Entscheidungsfindung einbeziehen und unter Um-
Staates) haben, und diese Gruppe ist nicht notwendi- ständen von einer Option Abstand nehmen, die unsere
gerweise deckungsgleich mit der Gruppe der Staats- Interessen negativ betrifft. Es ist jedoch nicht ohne
bürgerinnen und Staatsbürger eines Staates. Politische weiteres ersichtlich, warum uns unsere Interessen ei-
Mitbestimmung umfasst dabei eine Reihe an Rechten nen moralischen Anspruch darauf geben sollten, am
wie Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, das Entscheidungsprozess teilzunehmen (für eine ähn-
aktive und passive Wahl- und Stimmrecht (auf loka- liche Überlegung vgl. López‐Guerra 2005, 223 f.). Da-
ler und nationaler Ebene) und das Recht, Parteien rüber hinaus führt das Prinzip in manchen Interpreta-
und politische Verbände zu gründen. Entsprechend tionen zu problematischen Ergebnissen. Etwa sieht ei-
der philosophischen Diskussionsschwerpunkte rich- ne Interpretation der all-affected principles, die all je-
tet sich der Fokus dieses Beitrags auf das aktive natio- nen das Wahlrecht zuschreibt, die tatsächlich von der
nale Wahl- und Stimmrecht (im Folgenden ›Wahl- Entscheidung betroffen sind, d. h. deren Situation
recht‹). Es wird jedoch davon ausgegangen, dass dieje- durch eine getroffene Entscheidung verändert wird,
nigen, denen dieses Recht zusteht, auch einen mora- ein Wahlsystem vor, das praktisch und logisch unmög-
lischen Anspruch auf die anderen Rechte haben. lich ist, da erst nach der Entscheidung entschieden
Wer unter welchen Bedingungen und für welche werden kann, wessen Interessen tatsächlich betroffen
Entscheidungen in diesem Sinne als politisch zuge- sind (Goodin 2007, 52 f.). Robert Goodin, einer der
hörig anerkannt werden muss, wird dabei generell mit prominentesten Vertreter des all-affected principle,
Blick auf eine gerechte Zusammensetzung des ›De- vertritt demgegenüber eine Variante des Prinzips, die
mos‹, d. h. des Wahlvolks, diskutiert. Der Frage kommt denjenigen ein Mitspracherecht einräumt, deren Inte-
derzeit mit Blick auf das Wahlrecht von Immigrantin- ressen von irgendeinem möglichen Ergebnis des Ent-
nen und Immigranten im Einwanderungsland und scheidungsprozesses betroffen wären. Dieser Variante
Emigrantinnen und Emigranten im Heimatland be- zufolge zählen auch diejenigen zu den Betroffenen, de-
sondere Aufmerksamkeit in der migrationsethischen ren Interessen von einem alternativen Ergebnis beför-
Debatte zu (s. auch Kap. V.69). Darüber hinaus wird sie dert oder beeinträchtigt worden wären (ebd., 52–55).
mit Blick auf andere Gruppen wie Kinder und Straffäl- Wie Goodin selbst feststellt, akzeptiert man damit,
lige verhandelt, was hier jedoch nicht im Einzelnen dass »praktisch (oder vielleicht buchstäblich) jeder auf
thematisiert wird. dieser Welt berechtigt sein sollte, über jeden Vorschlag
Die zwei einflussreichsten Positionen in der Dis- oder über jeden Vorschlag für einen Vorschlag ab-
kussion um eine gerechte Zusammensetzung des De- zustimmen« (ebd., 55, eigene Übers.). Sofern sich das
mos erkennen an, dass der Demos ausgehend von mo- Prinzip mit weniger weitreichenden Implikationen
ralischen Überlegungen festzulegen ist, und sehen formulieren lässt, fordert es wohl zumindest unter-
den Anspruch auf Wahlrecht in einer bestimmten schiedliche Demoi für einzelne Themen, d. h. für jede
Verbindung der Individuen zu den politischen Ent- Frage wäre eine andere Gruppe zur Entscheidung be-
scheidungen. Sie betrachten jedoch unterschiedliche rechtigt, nämlich stets die Gruppe derjenigen, die
Arten dieser Verbindung als moralisch ausschlag- möglicherweise von dieser Entscheidung betroffen
gebend. Mit dem all-affected principle sieht die erste sind (für eine kritische Auseinandersetzung vgl. z. B.
Position all jene als Mitglieder des Demos, die von po- Whelan 1983). Für die generelle Frage nach politischer
litischen Entscheidungen in ihren (basalen) Interes- Zugehörigkeit sind (auf nationalstaatliche Einheiten)
sen betroffen sind (z. B. Goodin 2007; Shapiro 2003, begrenzte Gruppierungen dem all-affected principle
222). Mit dem all-subjected principle betrachtet die entsprechend entweder ganz ausgeschlossen oder nur
70 Politische Zugehörigkeit 433

für Einzelfragen zu bestimmen. Für Fragen danach, schaften orientierte Idee politischer Mitgliedschaft
wann Immigrantinnen und Immigranten oder Emi- verteidigen lässt. Arash Abizadeh (2008) etwa vertritt
grantinnen und Emigranten das Wahlrecht für natio- die Position, dass Entscheidungen über Einwan-
nale Wahlen zugesprochen werden sollte, ist dieses derungsregelungen nicht den Staaten und deren natio-
Prinzip deshalb nicht geeignet. nal konstituiertem Wahlvolk überlassen werden dürf-
Das all-subjected principle basiert in einer überzeu- ten, sondern all diejenigen in die Entscheidungsfin-
genden Interpretation auf der Idee, dass Unterwerfung dung einbezogen werden müssten, die durch Ein-
unter zwangsbewehrte Gesetze, d. h. unter Zwang, auf- wanderungsregelungen staatlichem Zwang bzw. der
grund des moralischen Anspruchs auf Selbstbestim- Androhung staatlichen Zwangs ausgesetzt sind. Nahe-
mung moralisch nur dann zulässig ist, wenn diejeni- liegend ist, dass Zwangsunterworfenheit auch in ande-
gen, die diesem Zwang unterliegen, einer solchen Be- ren Fragen nicht notwendigerweise auf staatliche Ge-
handlung zustimmen. Darin, in welchem Ausmaß und meinschaften beschränkt ist. Sofern sich die Gruppe
für welche Dauer ein Individuum den Gesetzen und der Zwangsunterworfenen überhaupt eingrenzen lässt
Entscheidungen unterworfen sein muss, um einen An- – angesichts der Tatsache, dass jedes Gesetz all die, die
spruch auf Wahlrecht zu haben, variieren die verschie- potenziell einwandern könnten, der Androhung von
denen Formulierungen des Prinzips. Die meisten Ver- Zwang, und damit Zwang, auszusetzen scheint, ist die
sionen fordern jedoch Unterworfenheit bezüglich Konklusion naheliegender, dass die Idee der Zwangs-
mehr als nur einer einzelnen Regelung oder Entschei- unterworfenheit begrenzte Demoi gänzlich aus-
dung und schließen kurzzeitiges Unterworfensein als schließt –, ergeben sich unterschiedliche Gruppierun-
Grundlage für den Anspruch auf Wahlbeteiligung aus. gen für Einzelfragen, d. h. themenbezogene Demoi.
Aufgrund der Bezugnahme auf staatliche Autorität Das all-subjected principle scheint entsprechend nur
und nicht auf Einzelentscheidungen implizieren diese für die Bestimmung des Demos für nationale Wahlen
Versionen des Prinzips keine themenabhängigen Ein- geeignet, wenn von vornherein von einem nationa-
zeldemoi, sondern eine weitgehend an staatlichen len Wahlsystem ausgegangen wird und die Idee der
Gemeinschaften orientierte Idee politischer Mitglied- Zwangsunterworfenheit entsprechend ergänzt wird.
schaft. Ob und unter welchen Bedingungen Im- Weitere in den letzten Jahren diskutierte (im Zu-
migrantinnen und Immigranten in den Demos ein- sammenhang mit Staatsbürgerschaft vorgebrachte)
geschlossen sind, hängt dann davon ab, in welchem Ansätze, welche ebenfalls von der Existenz nationaler
zeitlichen und inhaltlichen Umfang Zwangsunter- Wahlsysteme ausgehen, beziehen sich auf die fak-
worfenheit als wahlrechtsrelevant verstanden wird: tische Beziehung zu den Gesetzen eines Staates, sehen
ob etwa nur dauerhafte oder auch auf einen kürzeren diese jedoch nicht in der Autoritäts- bzw. Zwangs-
Zeitraum beschränkte Unterworfenheit als wahl- unterworfenheit (z. B. Bauböck 2007; 2009 mit der be-
rechtsrelevant betrachtet wird und in welchem Um- schriebenen Stakeholder-Idee oder Shachar 2009 mit
fang Unterworfenheit gefordert wird (für umfassende ihrer Version eines ius nexi).
und dauerhafte Unterworfenheit z. B. Dahl 1989;
Owen 2010; für eine in beiden Hinsichten begrenzte Literatur
Version z. B. Goppel 2012). Ob Emigrantinnen und Abizadeh, Arash: Democratic theory and border coercion.
Emigranten das Wahlrecht im Heimatland weiterhin No right to unilaterally control your own borders. In: Po-
litical Theory 36/1 (2008), 37–65.
zustehen sollte, hängt darüber hinaus davon ab, ob Bauböck, Rainer: Expansive citizenship – voting beyond
aktuelle Unterworfenheit als notwendige Bedingung territory and membership. In: Political Science and Politics
für eine gerechte Vergabe des Wahlrechts betrachtet 38/4 (2005), 683–687.
wird (so López‐Guerra 2005, der dafür argumentiert, –: Stakeholder citizenship and transnational political par-
dass langjährigen Emigrantinnen und Emigranten ticipation: a normative evaluation of external voting. In:
Fordham Law Review 75 (2007), 2393–2447.
das Wahlrecht im Heimatland verweigert werden
–: The rights and duties of external citizenship. In Citizen-
müsse; dagegen Owen 2010; für eine differenzierende ship Studies 13/5 (2009), 475–499.
Position vgl. z. B. Bauböck 2007). Carens, Joseph: The integration of immigrants. In: Journal of
Über die Idee der Zwangsunterworfenheit lässt sich Moral Philosophy 2/1 (2005), 29–46.
erklären, warum die gesamte zwangsunterworfene –: The Ethics of Immigration. Oxford 2013.
Gruppe die Entscheidung gemeinsam treffen muss. Celikates, Robin: Demokratische Inklusion: Wahlrecht oder
Bürgerschaft? In: Andreas Cassee/Anna Goppel (Hg.): Mi-
Unklar ist jedoch, ob sich auf Basis dieser Idee selbst
gration und Ethik. Münster 2012, 291–305.
(ohne Zusatzannahmen) eine an staatlichen Gemein-
434 V Anwendungsfragen

Dahl, Robert: Democracy and its Critics. New Haven 1989. 71 Ressourcen
De Schutter, Helder/Ypi, Lea: Mandatory citizenship for im-
migrants. In: British Journal of Political Science 45/2 Über die Nutzung von Ressourcen bestehen Kontro-
(2015), 235–251.
Dietrich, Frank: Sezession und Demokratie: eine philosophi- versen auf nahezu allen politischen Ebenen. Häufig
sche Untersuchung. Berlin 2010. sind die natürlichen Ressourcen der hauptsächliche
Goodin, Robert: Enfranchising all affected interests, and its Gegenstand der Konflikte: Bodenflächen und Gewäs-
alternatives. In: Philosophy and Public Affairs 35/1 (2007), ser, Wasservorräte, nicht-erneuerbare Rohstoffe, Res-
40–68. sourcen globaler Umweltmedien wie Atmosphäre und
Goppel, Anna: Wahlrecht für Ausländer? In: Andreas Cas-
Ozeane.
see/Anna Goppel (Hg.): Migration und Ethik. Münster
2012, 255–274. Ethikerinnen und Ethiker können einzelne Kon-
–: Aufenthaltsdauer und Wahlrecht. In: Archiv für Rechts- flikte daraufhin analysieren, welche normativen Be-
und Sozialphilosophie 102/4 (2016, im Erscheinen). lange verschiedenen Nutzungsansprüchen zugrunde
Kymlicka, Will: Liberalism, Community, and Culture. Oxford liegen, und untersuchen, mit welchen Theorien distri-
1991. butiver Gerechtigkeit (s. Kap. II.12) diese Belange in
–/Norman, Wayne: Return of the citizen: A survey of recent
work on citizenship theory. In: Ethics 104/2 (1994), 352–
Einklang stehen. Natürliche Ressourcen weisen je-
381. doch zwei Besonderheiten auf, die die normative Ana-
López‐Guerra, Claudio: Should expatriates vote? In: Journal lyse erschweren: Sie sind ohne menschlichen Einfluss
of Political Philosophy 13/2 (2005), 216–234. da und die Konsequenzen ihrer Nutzung sind häufig
Miller, David: Immigrants, nations, and citizenship. In: Jour- ungewiss.
nal of Political Philosophy 16/4 (2008), 371–390.
Oberman, Kieran: Immigration, citizenship, and consent:
What is wrong with permanent alienage? In: Journal of
Political Philosophy (2016). DOI: 10.111/jopp.12093. Was sind natürliche Ressourcen?
Owen, David: Resident aliens, non-resident citizens and vo-
ting rights: towards a pluralist theory of transnational po- Ressourcen sind Objekte oder Prozesse, die als Mittel
litical equality and modes of political belonging. In: Gi- zur Erfüllung von normativen Belangen (z. B. Bedürf-
deon Calder/Phillip Cole/Jonathan Seglow (Hg.): Citizen-
ship Acquisition and National Belonging: Migration, Mem-
nissen, Rechten) moralisch berücksichtigungswürdi-
bership and the Liberal Democratic State. London 2010, ger Wesen dienen. Sie haben somit keinen intrinsi-
52–73. schen Wert, sondern sind instrumentell wertvoll. Die
Rubio-Marin, Ruth: Immigration as a Democratic Challenge: normative Bedeutung einer Ressource bemisst sich an
Citizenship and Inclusion in Germany and the United den normativen Belangen, die damit erfüllt werden.
States. Cambridge 2000.
Welche normative Bedeutung natürlichen Ressourcen
Shachar, Ayelet: The Birthright Lottery: Citizenship and Glo-
bal Inequality. Cambridge MA 2009. tatsächlich zugesprochen wird, hängt zusätzlich von
Shapiro, Ian: The Moral Foundations of Politics. New Haven der faktischen Auffassung der normativen Belange so-
2003. wie ihrer Relevanz für die moralisch berücksichti-
Walzer, Michael: Spheres of Justice: a Defense of Pluralism gungswürdigen Wesen ab.
and Justice. New York 1983. Die Vagheit des Begriffes der Natur (Krebs 1997,
Whelan, Frederick: Prologue: Democratic theory and the
340 f.) überträgt sich auf den Begriff der natürlichen
boundary problem. In: Nomos 25 (1983), 13–47.
Young, Iris Marion: Polity and group difference: a critique of Ressourcen. Zum einen sind manche auf natürliche
the ideal of universal citizenship. In: Ethics 99/2 (1989), Weise entstandene Ressourcen durch Menschen ge-
250–274. formt worden (z. B. begradigte Flüsse). Zum anderen
Zurbuchen, Simone: Haben Einwanderer Anspruch auf po- gibt es Ressourcen, deren natürlicher Entstehungspro-
litische Rechte? In: Andreas Cassee/Anna Goppel (Hg.): zess durch Menschen initiiert wurde (z. B. ein ange-
Migration und Ethik. Münster 2012, 275–289.
legter Wald).
Anna Goppel Natürliche Ressourcen können außermenschlich
sein, aber auch Menschen anhaften, z. B. Charakter
oder Talente. Letztere konstituieren die Persönlichkeit
eines Individuums, sie sind nicht zwischen Personen
übertragbar und ihre Entfaltung beeinträchtigt andere
Wesen nicht in der Entfaltung eigener menschlicher
Ressourcen (Beitz 1975, 376 f.). Wegen dieser Eigen-
schaften dürften sich die normativen Prinzipien, die
71 Ressourcen 435

den Umgang mit menschlichen natürlichen Ressour- gutekommen, die zufällig auf einem Territorium le-
cen rechtfertigen, von denen, die für die außer- ben. Nach Beitz sollen natürliche Ressourcen gemäß
menschlichen natürlichen Ressourcen gelten, unter- dem Rawlsschen Differenzprinzip (s. Kap. II.25) glo-
scheiden. Im Folgenden geht es um außermenschliche bal verteilt werden (Beitz 1975). Hillel Steiner (1999)
natürliche Ressourcen. argumentiert für das gleiche Recht jedes Menschen
auf den Wert der natürlichen Ressourcen und fordert,
den Besitz von Grund und Boden global zu besteuern
Gerechter Besitz von Ressourcen und die Einnahmen unter allen Menschen gleich zu
verteilen. Thomas Pogge (2013) unterstellt ein Suffi-
Eine Besonderheit natürlicher Ressourcen liegt darin, zienzprinzip: Vorteile aus der Nutzung natürlicher
dass sie ohne absichtsvollen menschlichen Einfluss Ressourcen sollen derart umverteilt werden, dass ex-
vorhanden sind. Deshalb bedarf es einer Theorie ihrer treme Armut beseitigt wird. Damit rechtfertigt er die
gerechten Aneignung. Prominent ist die Lockesche Forderung, eine ›globale Ressourcendividende‹ ein-
Bedingung: Natürliche Ressourcen dürfen angeeignet zuführen, um den Abbau ausgewählter nicht-erneuer-
werden, wenn man sie durch eigene Arbeit aufwertet barer Ressourcen zu besteuern und die Einnahmen
und solange für andere eine ausreichende Quantität in zur Armutsbeseitigung zu verwenden. Die Besteue-
gleich guter Qualität übrig bleibt (Locke 1690/1999, rung von Renten aus natürlichen Ressourcen rechtfer-
Kap. 5, § 27). Nach Robert Nozicks Interpretation die- tigen einige Ökonominnen und Ökonomen mit einer
ser Bedingung ist die ursprüngliche Aneignung natür- Effizienzüberlegung: Sie bringe im Gegensatz zur Be-
licher Ressourcen gerecht, solange keine anderen steuerung anderer Produktionsfaktoren keine Wohl-
Menschen durch die Aneignung schlechter gestellt fahrtsverluste mit sich (Segal 2011, 477). Die Umver-
werden, was für ihn heißt, dass sie nicht in den Mög- teilung der Renten aus natürlichen Ressourcen kann
lichkeiten eingeschränkt werden, über ihr Eigentum nach einer Schätzung die Anzahl der Menschen unter
frei zu verfügen (Nozick 1975, 176 f.). Hiergegen der absoluten Armutsgrenze um 44 bis 66 % senken
spricht jedoch, dass in einer Welt endlicher Ressour- (ebd., 480).
cen die Aneignung jeglicher Ressourcen andere relativ Es ist allerdings umstritten, ob natürliche Ressour-
benachteiligt, da sie Letztere von der Möglichkeit aus- cen eine gesonderte Behandlung in Theorien distribu-
schließt, diese Ressourcen zu nutzen (Beitz 1975, tiver Gerechtigkeit verdienen. Eine Besteuerung und
368). Die Rechte auf Aneignung natürlicher Ressour- Umverteilung von Ressourcenrenten kann dazu füh-
cen ergeben sich deshalb aus den Prinzipien distribu- ren, dass Menschen, die reich an natürlichen Ressour-
tiver Gerechtigkeit. cen, aber sonst arm sind, Einkommen an Menschen
Um diese Prinzipien anwenden zu können, muss transferieren, die an Ressourcen arm, aber sonst reich
geklärt werden, zwischen wem diese Rechte verteilt sind (Beitz 1999, 284). Weil der Wert natürlicher Res-
werden sollen. Einige Autorinnen und Autoren glau- sourcen von zahlreichen räumlich und zeitlich kon-
ben, dass diejenigen Einheiten, die über territoriale tingenten Faktoren (Kultur, Technologieniveau, Be-
Rechte verfügen, auch Rechte auf die Aneignung der dürfnissen und Wünschen) abhängt, bezweifelt David
sich auf dem Territorium befindenden Ressourcen ha- Miller (1999), dass natürliche Ressourcen überhaupt
ben (z. B. Simmons 2001, 306). Territoriale Rechte ein sinnvoller Gegenstand distributiver Gerechtig-
können Institutionen wie Staaten oder Gruppen von keitstheorien sind. Dagegen argumentiert Tim Hay-
Menschen, z. B. Nationen, zukommen (Miller 2012). ward (2006), dass auch die ökologischen Wirkungen
Wenn ein Staat oder eine Nation legitime Souveränität aus der Nutzung natürlicher Ressourcen in Theorien
über ein Territorium ausübt, dann gehören ihm/ihr distributiver Gerechtigkeit berücksichtigt werden
auch die sich darauf befindenden Ressourcen. müssen. Nach dem Gebrauch verschwinden natürli-
Vertreterinnen und Vertreter des Kosmopolitismus che Ressourcen nicht. Sie werden in eine andere Form
verneinen hingegen, dass Rechte auf Aneignung von oder chemische Zusammensetzung umgewandelt, in
Ressourcen ein Bestandteil von territorialen Rechten der sie wieder als eine Ressource oder als eine ökologi-
sind, und bringen Argumente dafür vor, Ressourcen- sche Belastung in die Interaktion mit moralischen Ak-
rechte zwischen allen moralischen Subjekten global zu teuren eingehen. Deshalb sind gemäß Hayward nicht
verteilen. Charles Beitz appelliert an die Intuition, die natürlichen Ressourcen normativ bedeutsam, son-
dass es unfair ist, wenn die global ungleich verteilten dern der ›ökologische Raum‹, welcher die Gesamtheit
natürlichen Ressourcen nur denjenigen Menschen zu- menschlicher Wirkungen auf die natürliche Umwelt
436 V Anwendungsfragen

umfasst. Hayward vertritt die These, dass jeder den, wissen wir nicht, welche weiteren Bedürfnisse sie
Mensch das Recht auf einen gleich großen ökologi- haben werden. Darüber hinaus werden möglicher-
schen Raum hat. weise einige nicht-erneuerbare Ressourcen nicht
mehr benötigt werden, um die dann vorhandenen Be-
dürfnisse zu befriedigen.
Ungewissheit bezüglich der Nutzung Wie soll nun eine natürliche Ressource X heute ge-
natürlicher Ressourcen nutzt werden, wenn wir lediglich possibilistisch wis-
sen, welchen Stellenwert sie innerhalb der Ökosyste-
Nicht immer kann die gerechte Nutzung natürlicher me einnimmt, welche Menge an X für die nächsten
Ressourcen durch eine Subsumtion der involvierten Generationen G mit angemessenem ökonomischem
normativen Belange unter die Theorien distributiver Aufwand nutzbar sein wird und ob G die Ressource X
Gerechtigkeit beurteilt werden. Dies liegt an einer benötigen werden?
zweiten Besonderheit: Beim Umgang mit natürlichen Innerhalb der Umweltökonomik ist das ›Prinzip
Ressourcen befinden wir uns in der epistemischen Si- der Bewahrung der produktiven Basis‹ (PBPB) weit
tuation der Ungewissheit (Knight 1921). Denn uns verbreitet: Natürliche Ressourcen sollen in einem
fehlt deterministisches Wissen über die zukünftige Maße verbraucht werden, bei dem der erwartete so-
Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen, die Gesamt- ziale Wert der produktiven Basis einer Gesellschaft
heit ihrer ökologischen Leistungen und die Grenzen nicht abnimmt (Dasgupta 2004, 147). Die produktive
der Belastbarkeit vieler natürlicher Systeme; wir ken- Basis umfasst all diejenigen Faktoren, mit denen die
nen in dieser Hinsicht auch keine objektiven Wahr- soziale Wohlfahrt einer Gesellschaft erwirtschaftet
scheinlichkeiten möglicher Zustände, verfügen also wird. Neben natürlichen Ressourcen zählen beispiels-
nicht über probabilistisches, sondern lediglich über weise Sach- und Humankapital sowie Wissen dazu
possibilistisches Wissen, d. h. ein Wissen über mögli- (ebd., 146). Gemäß dem PBPB ist es gleichgültig, wel-
che Zustände. che Mittel für eine nachfolgende Generation erhalten
Mit der Nutzung einer natürlichen Ressource grei- bleiben, um die soziale Wohlfahrt zu erwirtschaften,
fen wir in ökologische Kreisläufe ein. Abholzen eines solange ihr erwarteter sozialer Wert nicht gemindert
Waldstückes führt dazu, dass ökologische Leistungen wird. Der soziale Wert eines Produktionsfaktors re-
der Bäume nicht mehr erbracht werden; Einführung präsentiert den marginalen Beitrag des Produktions-
von Stickstoff in die Böden verändert den Nährstoff- faktors zur intertemporalen sozialen Wohlfahrt. Die-
gehalt in Gewässern, was wiederum einen Einfluss auf ser ist ungewiss. Um im Lichte der Ungewissheiten
die Artenvielfalt in diesen ausübt. Allerdings ist unser die produktive Basis zu bewahren, plädiert Partha
Wissen über die kausalen Wirkungen solcher Eingrif- Dasgupta (ebd., 101–103) dafür, unter der Annahme
fe meistens bloß possibilistisch: Wir wissen, dass wir der Theorie des erwarteten Nutzens (Savage 1954)
ab einem Punkt der Nutzung schlimme Konsequenzen den erwarteten Wert der produktiven Basis zu be-
(z. B. Übersäuerung, Bodenerosion) auslösen werden, stimmen und Letztere zu erhalten.
für die Lage des Kipppunkts selbst können wir häufig Gegen das PBPB lässt sich zum einen einwenden,
aber nur mögliche Werte angeben. dass es die Annahme der Wohlfahrtsökonomik vo-
Der Abbau nicht-erneuerbarer Ressourcen verrin- raussetzt, dass die soziale Wohlfahrt maximiert wer-
gert ihren Bestand. Moralisch relevant sind allerdings den soll. Damit überträgt sich die Kritik an den nor-
nicht die geologischen Bestände, sondern ist die Men- mativen Grundlagen der Wohlfahrtsökonomik (Haus-
ge einer Ressource, die mit angemessenem ökonomi- man/McPherson 2006, 259–273) auch auf das PBPB.
schem Aufwand abbaubar ist, die so genannte ›Reser- Zum anderen hat Daniel Ellsberg (2001, 137–149) ar-
ve‹. Sie hängt von den verfügbaren Abbautechnolo- gumentiert, dass die Theorie des erwarteten Nutzens
gien und ihren Kosten ab. Diese Faktoren variieren je- gerade für die Rechtfertigung von Entscheidungen un-
doch in der Zeit und sind für uns weder deterministisch ter Knightscher Ungewissheit nicht angemessen sei.
noch probabilistisch prognostizierbar. Vertreterinnen und Vertreter der Idee der starken
Ferner können wir lediglich possibilistisch vorher- Nachhaltigkeit (z. B. Ott/Döring 2004) plädieren hin-
sagen, ob die in der Zukunft lebenden Menschen am gegen für einen Umgang mit natürlichen Ressourcen
Abbau eines Rohstoffes interessiert sein werden. Auch gemäß dem ›Prinzip der Bewahrung des Naturkapi-
wenn zukünftige Menschen gewisse basale normative tals‹ (PBNK): Nicht-erneuerbare Ressourcen sollen
Belange (z. B. Grundbedürfnisse) beanspruchen wer- höchstens »in dem Maße verbraucht [werden], wie
71 Ressourcen 437

während des Verbrauchs physisch und funktionell Verbrauch natürlicher Ressourcen in Deutschland ge-
gleichwertiger Ersatz an regenerierbaren Ressourcen senkt werden sollte (Deutscher Bundestag 2013, 25).
geschaffen wird« (Ott/Döring 2004, 170). Kontrovers diskutiert die politische Öffentlichkeit
Zur Rechtfertigung des PBNK legen sich seine Ver- hingegen die Frage, mit welchen Mitteln dies erreicht
treterinnen und Vertreter auf eine Variante des Maxi- werden soll. Einige Autorinnen und Autoren glauben,
min-Prinzips als Prinzip für Entscheidungen unter dass der technologische Fortschritt das beste Mittel
Knightscher Ungewissheit fest. Das Maximin-Prinzip hierzu darstellt (Füchs 2013). Andere sind überzeugt,
fordert, diejenige Handlungsoption auszuwählen, de- dass nur durch eine Reduktion der wirtschaftlichen
ren schlimmstmögliche Konsequenzen am besten Aktivitäten eine hinreichende Senkung des Ressour-
sind im Vergleich zu den schlimmstmöglichen Kon- cenverbrauchs erreicht werden kann (Paech 2012).
sequenzen aller anderen verfügbaren Handlungs- Harald Welzer (2013) sieht eine Ursache für den Res-
optionen. Darüber hinaus behaupten Vertreterinnen sourcenverbrauch in gegenwärtig vorherrschenden
und Vertreter des PBNK, dass durch die Verletzung kulturellen Einstellungen.
des Prinzips im schlimmsten Fall größere Schäden für Allerdings kann eine politische Strategie nicht ge-
Mensch und Umwelt entstehen werden als bei seiner rechtfertigt werden, ohne zu klären, wie sich mögliche
Befolgung (Ott/Döring 2004, 165). politische Strategien mit Gerechtigkeitsprinzipien ver-
Doch auch diese Rechtfertigung überzeugt nicht. tragen: Gibt es Strategien, bei deren Umsetzung keine
Erstens führt nicht jegliche Verletzung des PBNK im Gerechtigkeitsnormen verletzt werden? Oder befin-
schlimmstmöglichen Fall zu schlechteren Folgen als den wir uns in einem moralischen Dilemma: Gleich-
seine Einhaltung. Der Verzicht auf den Abbau nicht- gültig, wie wir in Bezug auf den Ressourcenverbrauch
erneuerbarer Ressourcen kann ebenfalls katastropha- handeln, es wird moralisch relevante Wesen geben, ge-
le Folgen für moralisch relevante Wesen nach sich zie- gen deren moralische Rechte verstoßen wird?
hen, wenn beispielsweise der Abbau das einzige Mittel Wie natürliche Ressourcen genutzt werden sollen,
darstellt, Grundbedürfnisse von derzeit lebenden mo- ohne dass Prinzipien globaler und intergenerationeller
ralisch relevanten Wesen zu befriedigen. Zweitens ist Gerechtigkeit verletzt werden, diese Frage muss im
das Maximin-Prinzip nicht das einzige (Ellsberg 2001, Lichte hoher Unsicherheit darüber, in welchem Um-
159 f.; 179–209) und kein allgemeingültiges Prinzip fang insbesondere die nicht-erneuerbaren Ressourcen
für Entscheidungen unter Ungewissheit (Gardiner zur Verfügung stehen und auf welche von ihnen die
2006, 46 f.). Sein Nachteil liegt darin, dass die mögli- zukünftigen Generationen angewiesen sein werden,
chen vorteilhaften Konsequenzen aus den verfüg- beantwortet werden. Zu der Frage, welche Entschei-
baren Handlungsoptionen bei der Rechtfertigung der dungsprinzipien in Situationen solcher Unsicherheit
Entscheidung überhaupt keine Berücksichtigung fin- angemessen sind, besteht weiterhin Forschungsbedarf.
den (Steele 2006, 27).
Literatur
Beitz, Charles R.: Justice and international relations. In: Phi-
Aktuelle politische Relevanz am Beispiel losophy and Public Affairs 4/4 (1975), 360–389.
–: International liberalism and distributive justice: A survey
Deutschlands of recent thought. In: World Politics 51/2 (1999), 269–296.
Dasgupta, Partha: Human Well-Being and the Natural Envi-
Auch wenn Prinzipien zur Rechtfertigung der Nut- ronment. Oxford 2004.
zung natürlicher Ressourcen im Lichte der bestehen- Deutscher Bundestag: Schlussbericht der Enquete-Kommis-
den Ungewissheiten noch entwickelt werden müssen, sion »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu
nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fort-
lässt sich mindestens ein Grund dafür vorbringen,
schritt in der Sozialen Marktwirtschaft«. Drucksache
dass die frühzeitig industrialisierten Länder ihren 17/13300, 2013.
Verbrauch natürlicher Ressourcen senken sollten: Sie Ellsberg, Daniel: Risk, Ambiguity and Decision. New York
verbrauchen sie in einer Menge, bei der es nicht ernst- 2001.
haft wünschenswert ist, dass alle Menschen auf der Füchs, Ralf: Intelligent wachsen. Die grüne Revolution. Mün-
Welt die gleichen Ressourcenmenge verbrauchen (für chen 2013.
Gardiner, Stephen: A core precautionary principle. In: The
empirische Daten zur globalen Verteilung des Res-
Journal of Political Philosophy 14/1 (2006), 33–60.
sourcenverbrauchs vgl. Sachs/Santarius 2005, 48–60 Hausman, Daniel M./McPherson, Michael S.: Economic
oder die einschlägige Datenbank SERI/WU o. J.). Analysis, Moral Philosophy and Public Policy. Cambridge
22006.
Innerhalb der Politik ist kaum umstritten, dass der
438 V Anwendungsfragen

Hayward, Tim: Global justice and the distribution of natural 72 Risiko


resources. In: Political Studies 54/2 (2006), 349–369.
Knight, Frank H.: Risk, Uncertainty and Profit. Boston 1921. Während ›Chancen‹ reale oder realistische Möglich-
Krebs, Angelika: Naturethik im Überblick. In: Dies. (Hg.):
Naturethik. Frankfurt a. M. 1997, 337–379. keiten positiver Ereignisse sind, stellen ›Risiken‹ reale
Locke, John: Über die Regierung. Hg. von Peter Cornelius. oder realistische Möglichkeiten negativer Ereignisse
Stuttgart 1999 (engl. 1690). dar. In beiden Fällen ist es unsicher, ob die positiv oder
Miller, David: Justice and global inequality. In: Andrew Hur- negativ bewerteten Ereignisse eintreten werden oder
rell/Ngaire Woods (Hg.): Inequality, Globalization, and nicht. Ich werde im Folgenden ›Risiko‹ als einen Über-
World Politics. Oxford 1999, 187–210.
begriff behandeln, der sowohl Risiken im strengen
–: Territorial rights: Concept and justification. In: Political
Studies 60/2 (2012), 252–268. Sinne (für die sich Wahrscheinlichkeiten angeben las-
Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. New York 1975. sen) als auch Unsicherheiten (für die sich keine Wahr-
Ott, Konrad/Döring, Ralf: Theorie und Praxis starker Nach- scheinlichkeiten angeben lassen) umfasst.
haltigkeit. Marburg 2004. Risiken sind in erster Linie epistemischer Natur. Sie
Paech, Niko: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in eine stellen mögliche Wirkungen oder Ereignisse dar, von
Postwachstumsökonomie. München 2012.
Pogge, Thomas: Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopoli-
denen wir als Handelnde aufgrund unserer episte-
tische Verantwortung und Reformen. Berlin 2013 (engl. mischen Situation ausgehen müssen. Wir verfügen
2002). nicht über ein ausreichendes Wissen darüber, was der
Sachs, Wolfgang/Santarius, Tilman: Fair Future. München Fall ist oder sein wird, aber wir haben genügend Hin-
2005. weise darauf, was der Fall sein könnte. Deshalb müs-
Savage, Leonard J.: The Foundations of Statistics. New York
sen wir mit der Möglichkeit rechnen, dass andere Per-
1954.
Segal, Paul: Resource rents, redistribution, and halving glo- sonen durch bestimmte Handlungen von uns oder
bal poverty: The resource dividend. In: World Develop- durch bestimmte von uns beeinflussbare Konstellatio-
ment 39/4 (2011), 475–489. nen geschädigt werden. Eine solche Möglichkeit be-
SERI/WU (o. J.): The online portal for material flow data. zeichne ich als eine realistische Möglichkeit. An-
URL: http://www.materialflows.net (4.9.2013). genommen wir finden eine Pistole. Solange wir nicht
Simmons, A. John: On the territorial rights of states. In:
wissen, ob die Pistole geladen ist oder nicht, müssen
Noûs 35/s1 (2001), 300–326.
Steele, Katie: The precautionary principle: A new approach wir von der realistischen Möglichkeit ausgehen, dass
to public decision-making? In: Law, Probability and Risk 5 sie geladen ist und dass deshalb das Risiko besteht, ei-
(2006), 19–31. ne andere Person mit der Pistole zu erschießen. Davon
Steiner, Hillel: Just taxation and international redistribution. müssen wir auch dann ausgehen, wenn die Pistole
In: Ian Shapiro/Lea Brilmayer (Hg.): Global Justice (No- nicht geladen ist. Denn das wissen wir nicht. Ich un-
mos XLI). New York 1999, 171–191.
Welzer, Harald: Selbst denken. Eine Anleitung zum Wider- terscheide eine realistische Möglichkeit von einer rea-
stand. Frankfurt a. M. 2013. len Möglichkeit, in der es objektiv offen ist, ob etwas
der Fall sein wird oder nicht. Reale Möglichkeiten
Eugen Pissarskoi sind indeterminiert, realistische Möglichkeiten kön-
nen auch in determinierten Verhältnissen bestehen.

Risiken und Gerechtigkeit

Die Frage der angemessenen Verteilung von Chancen


bzw. Vorteilen und Risiken ist eine Frage der Gerech-
tigkeit. In diesem Zusammenhang sind zwei unter-
schiedliche Problembereiche zu unterscheiden. Der
erste Problembereich betrifft Risikoaussetzungen, bei
denen im einfachsten Fall ein Handelnder durch sein
Handeln Risiken für andere schafft, d. h. sie der Mög-
lichkeit moralisch relevanter Schädigungen aussetzt.
Dies kann ganz unterschiedliche Fälle umfassen. Un-
ter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit stellt sich je-
weils die Frage, ob die unterschiedlichen Risikoaus-
72 Risiko 439

setzungen moralisch richtig oder fair sind. Der zweite gesetzt zu werden? Ein Verbot (nahezu) aller Risiko-
Problembereich betrifft vorhandene Risiken und Risi- aussetzungen (von Thomson 1990, 243 als risk thesis
kokonstellationen. Diese mögen sich dadurch ergeben bezeichnet) würde uns aber zu weitgehender Hand-
haben, dass Akteure rücksichtslos Risiken geschaffen lungsunfähigkeit verurteilen und hätte deshalb absur-
haben. Sie können sich aber auch unbemerkt gewis- de Konsequenzen (vgl. auch Hansson 2003, 297–299).
sermaßen hinter dem Rücken der Beteiligten, etwa Deshalb sind viele Autoren zumindest skeptisch, ob
aufgrund von kumulativen Effekten, aufgebaut haben. eine von Rechten ausgehende Ethik überhaupt dazu in
Risiken bestehen auch aufgrund der Situation des der Lage ist, plausible risikoethische Orientierungen
Menschen und seiner natürlichen Umwelt. Angesichts zu bieten (vgl. z. B. Nozick 1974, 73–78; Altham 1984;
vorhandener Risiken und Risikokonstellationen stel- McKerlie 1986; Thomson 1990, 243–246; vgl. auch
len sich Gerechtigkeitsfragen eines gerechten Risiko- MacLean 2012).
managements. Welche Risiken sind vorrangig anzuge- Die Erlaubnis von Risikoaussetzungen an den
hen, und um welche von Risiken betroffene Personen ›Konsens‹ der Betroffenen zu binden, hilft nur be-
oder Gruppen gilt es sich vorrangig zu kümmern? grenzt weiter (für gute Diskussionen des Konsenskri-
Welche Maßnahmen sind zu ergreifen (Eliminierung, teriums im Zusammenhang der Risikoethik vgl.
Minimierung, Umverteilung, d. h. Verlagerung oder Scheffler 1985; MacLean 1986; 2012). Sicherlich kön-
Streuung von Risiken; vgl. Moss 2002)? Wer muss die nen durch den expliziten Konsens einige Risikoaus-
entsprechenden Maßnahmen ergreifen oder unter- setzungen gerechtfertigt werden. Doch halten wir uns
stützen? Maßnahmen des Risikomanagements kön- zu bestimmten Risikoaussetzungen auch dann für be-
nen selbst wiederum Risiken schaffen. rechtigt, wenn Betroffene dem nicht zugestimmt ha-
Dieser Beitrag beschränkt sich auf die Frage nach ben oder ihre Zustimmung verweigern. Zudem mag
den Kriterien moralisch erlaubter oder unerlaubter es gute Gründe dafür geben, bestimmte Handlungen
Risikoaussetzungen. Denn diese Kriterien dürften für an anderen auch dann für unerlaubt zu halten, wenn
die Risikoethik fundamental und entsprechend auch die Betroffenen dem ausdrücklich zugestimmt haben.
für die Frage eines angemessenen Risikomanage- So ist es beispielsweise nicht selbstverständlich, dass
ments relevant sein. Ich werde zunächst zeigen, dass ein Transplantationschirurg moralisch richtig han-
die Standardtheorien der normativen Ethik große delt, wenn er eine gesunde Person auf deren ausdrück-
Schwierigkeiten haben, überzeugende Kriterien für lichen Wunsch hin verletzt und ihr eine Niere oder ei-
einen moralisch richtigen oder gerechten Umgang mit nen Leberlappen entnimmt, um die Niere oder den
Risiken zu begründen (vgl. Hansson 2003; Hansson Leberlappen auf eine andere Person zu übertragen, die
2013, Kap. 2; Hayenhjelm/Wolf 2012). Anschließend das Organ oder Organteil dringend benötigt (vgl. da-
werde ich umreißen, wie sich auf der Grundlage einer zu Steigleder 2006, 423–428). Konsens wäre dann in
von Rechten ausgehenden Ethik überzeugende Krite- vielen Fällen kein notwendiges und möglicherweise in
rien gerechter Risikoaussetzungen entwickeln lassen. einigen Fällen auch kein zureichendes Kriterium für
die Erlaubtheit von Risikoaussetzungen.
Problematisch ist es auch, von der Akzeptanz von
Das Problem der Bestimmung erlaubter und Risiken auf die Akzeptabilität vergleichbarer Risiken
unerlaubter Risikoaussetzungen schließen zu wollen (Starr 1969). So ist es oft unklar, ob
die Risiken überhaupt akzeptiert werden (vgl. Thom-
Eine Theorie der normativen Ethik sollte in der Lage son 1985, 137–140), falls ja, warum sie akzeptiert wer-
sein, Risikoaussetzungen ex ante überzeugend zu be- den und wann ein Risiko als normativ vergleichbar an-
werten, d. h. bevor wir wissen, ob der mögliche Scha- gesehen wird bzw. angesehen werden kann (Birnba-
den eintritt oder nicht. Die Bewertung sollte uns auch cher/Wagner 2003).
dann noch als richtig erscheinen, wenn wir wissen, Als Maßstab fairer Risikoaussetzungen wird in un-
wie sich die Dinge entwickelt haben. terschiedlicher Weise das Kriterium der Reziprozität
Von Rechten ausgehende Theorien haben den ge- vorgeschlagen. Einer der interessantesten und elabo-
wissermaßen natürlichen Impuls, (nahezu) alle Risi- riertesten Vorschläge stammt in diesem Zusammen-
koaussetzungen zu verbieten. Denn wenn jemand ein hang von Sven Ove Hansson (2013, Kap. 6), der ein
Recht darauf hat, nicht in bestimmten Weisen geschä- Kriterium fairer reziproker Risikoaussetzungen
digt zu werden, hat er dann nicht auch ein Recht da- schrittweise entwickelt und Risikoaussetzungen dann
rauf, nicht dem Risiko solcher Schädigungen aus- als gerechtfertigt sieht, wenn sie Teil einer um Gerech-
440 V Anwendungsfragen

tigkeit bemühten sozialen Praxis des Eingehens von engte) Suche nach den Kriterien erlaubter und un-
Risiken sind, die zum wechselseitigen Vorteil aller Be- erlaubter Risikoaussetzungen.
troffenen gereicht, von den Betroffenen dadurch ak- Aus der Diskussion von Risikoschwellen lassen sich
zeptiert wird, dass sie sich dieser Vorteile bedienen, auch schon Hinweise auf die Probleme utilitaristischer
und die es ermöglicht, dass die Betroffenen »gleichen Ansätze der Risikoethik entnehmen (diese Ansätze
maximalen Einfluss« auf das Ausmaß der Risiken neh- dominieren die so genannte cost benefit analysis bzw.
men können, denen sie ausgesetzt werden (ebd., 108). risk cost benefit analysis, vgl. einführend z. B. Wilson/
Ein Problem dieses Vorschlags liegt sicherlich darin, Crouch 2001; Mishan/Quah 2007; zur Kritik an einer
dass er für die Beurteilung konkreter Fälle von Risi- utilitaristischen cost benefit analysis vgl. Hansson
koaussetzungen schwer zu kontrollieren sein dürfte. 1993; 2003, 23–28). Zu den Standardkritiken am Uti-
Auch dürfte er nicht ganz frei von den Problemen sein, litarismus gehört dessen Orientierung an kumulati-
die im Zusammenhang von ›Konsens‹ und ›Akzep- ven Resultaten. Zwar ist die Steigerung des Gemein-
tanz‹ angesprochen wurden. Denn inwieweit wissen wohls für sich genommen sicherlich ein wichtiges
die Betroffenen beispielsweise um die wechselseitigen Ziel. Doch fragt sich, ob der Utilitarismus den Erfor-
Risikoaussetzungen, deren Vorteile sie akzeptieren? Ist dernissen der gerechten Verteilung von Kosten und
es relevant, wenn etwa bestimmte Personen das Auto- Nutzen ausreichend Rechnung tragen kann. Dies gilt
fahren weitgehend ablehnen und deshalb selbst auf die auch für eine mit Erwartungswerten arbeitende Kos-
Benutzung eines PKW ganz verzichten? Es kommt ten-Nutzen-Analyse. Unter Gesichtspunkten der Ge-
folglich darauf an, die Kriterien zu präzisieren. rechtigkeit ist es nicht nur von Belang, dass das Ge-
Ein weiterer Versuch, zwischen erlaubten und un- meinwohl durch das Eingehen von Risiken gesteigert
erlaubten Risikoaussetzungen zu unterscheiden, be- wird, sondern auch, wie die Risiken und Kosten ver-
steht darin, nach einer Risikoschwelle zu suchen, un- teilt sind. Auch ist fraglich, welchen möglichen Schä-
terhalb derer Risikoaussetzungen unproblematisch den überhaupt ein Preis zugeordnet werden kann, ob
sind (vgl. z. B. Comar 1979; Whipple 1987, vgl. auch bestimmte mögliche hohe Schäden durch Wahr-
Peterson 2002 und die Diskussion bei Rippe 2006, 82– scheinlichkeiten diskontiert werden dürfen und wie
85). Bei solchen Versuchen ist oftmals der engere Ri- belastbar die Einschätzungen der Wahrscheinlichkei-
sikobegriff leitend, der Risiko als Produkt von Wahr- ten sind. Vielfach muss wohl, statt von Risiken im en-
scheinlichkeit und Schadenshöhe zu verstehen sucht. geren Sinne, von Unsicherheit ausgegangen werden,
Sofern entsprechende Erwartungswerte gebildet wer- und es fragt sich, welche moralisch-normativ (und
den, setzt dies voraus, dass der Schaden sinnvoll be- nicht einfach nur prudentiell) validen Kriterien für
messen und in eine Berechnung einbezogen werden den Umgang mit Unsicherheit zur Verfügung stehen.
kann, was etwa bei Schädigungen von Leib und Leben
in der Regel nicht möglich sein dürfte. Ein ›triviales‹
Risiko könnte sich aus der geringen Wahrscheinlich- Grundlinien einer von Rechten
keit, der Geringfügigkeit des Schadens oder aus einer ausgehenden Risikoethik
Kombination von Wahrscheinlichkeit und Schadens-
höhe ergeben. Es dürfte aber unplausibel sein, die Ri- Der Schlüssel zur Lösung der Probleme einer von
sikoschwelle allein mittels der Wahrscheinlichkeiten Rechten ausgehenden Risikoethik liegt darin, zu reali-
definieren zu wollen, so dass alle Risikoaussetzungen sieren, dass ein Handelnder und die von seinen Hand-
unterhalb einer bestimmten Wahrscheinlichkeit (sa- lungen Betroffenen jeweils die gleichen Rechte haben.
gen wir 1:1.000.000) moralisch akzeptabel wären. Deshalb verletzt es nicht nur die Rechte von Betroffe-
Denn es liegt nahe, dass große oder katastrophale nen, bestimmten Risiken ausgesetzt zu werden. Es
Schäden ohne Not gar nicht riskiert werden dürfen. verletzt auch die Rechte von Handelnden, wenn sie
Auch fragt sich, woher wir die Einschätzungen der bestimmte mit Risiken für andere behaftete Handlun-
Wahrscheinlichkeiten beziehen und wie belastbar die- gen nicht ausführen dürfen. Denn dies kann auf eine
se sind. Sobald wir aber aus Eintrittswahrscheinlich- massive Einschränkung ihrer Entfaltungsmöglichkei-
keit und Schadenshöhe zusammengesetzte Risiko- ten hinauslaufen. Wenn also die Gleichheit der Rechte
schwellen und, je nach Zusammensetzung, unter- des Handelnden und der Betroffenen berücksichtigt
schiedliche Schwellen zuzulassen bereit sind, stellt wird, dann führt eine von Rechten ausgehende Risiko-
sich die Suche nach Risikoschwellen als nichts anderes ethik nicht zu einem Verbot aller Risikoaussetzungen,
dar als eine (auf einen bestimmten Risikobegriff ver- sondern zu einer an der Abwägung der jeweiligen
72 Risiko 441

Rechte orientierten Unterscheidung zwischen erlaub- andere verbunden sind. Der Handelnde ergreift aber
ten und unerlaubten Risiken. die erforderlichen Maßnahmen, um diese Schäden zu
Ich gehe davon aus, dass alle Personen gleiche Rech- vermeiden. 2) Indem er diese Maßnahmen ergreift,
te auf die notwendigen Voraussetzungen handelnder kann er davon ausgehen, dass die Risiken sich norma-
Selbstverwirklichung haben und dass diese Vorausset- lerweise nicht materialisieren werden. Doch er kann
zungen, je nachdem wie unentbehrlich sie für han- nicht vollständig ausschließen, dass es unter bestimm-
delnde Selbstverwirklichung sind, untereinander eine ten unwahrscheinlichen Umständen doch zu schwe-
Rangordnung aufweisen. Entsprechend kann situativ ren Schädigungen kommen wird. 3) Falls sich das Ri-
ein grundlegenderes Recht wie etwa das Recht auf Le- siko materialisiert, wird es normalerweise nur eine
ben des einen Handelnden ein weniger basales Recht einzelne Person oder einige wenige Personen betref-
wie etwa das Recht auf (nicht lebensnotwendiges) Ei- fen. 4) Die Erlaubnis zu solchen Handlungen würde
gentum eines anderen Handelnden überwiegen. die Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten der
Es mag hilfreich sein, eine grundlegende normative Personen beträchtlich erweitern.
Klassifikation von Risiken in Akteurs-Risiken oder A- Es ließe sich nun näher zeigen (mit einer Argumen-
Risiken und Rezipienten-Risiken oder R-Risiken vor- tation, die Kants Begründung der grundsätzlichen
zunehmen. A-Risiken sind Risiken, für die gilt, dass es Möglichkeit von Besitzrechten in § 2 der Rechtslehre
einem Handelnden moralisch erlaubt ist, andere Per- ähnelt, vgl. dazu die Rekonstruktion in Steigleder
sonen diesen Risiken auszusetzen, weil ein Verbot die 2002, 161–178), dass die allgemeine Erlaubnis zu sol-
Rechte der Betroffenen unangemessen privilegieren chen Handlungen für alle Personen vorteilhaft ist und
würde. R-Risiken sind Risiken, für die gilt, dass es ei- die Rechte der Personen nicht verletzt und entspre-
nem Handelnden grundsätzlich verboten ist, andere chend einen Fall des Rechts auf gleiche maximale
Personen (die Betroffenen, Rezipienten) diesen Risi- Freiheit der Personen darstellt. Ein zugegebenerma-
ken auszusetzen, weil eine Erlaubnis die Rechte der ßen kontroverses Beispiel für solche Restrisiken ist
Handelnden unangemessen privilegieren würde. Man das mit dem Autofahren verbundene Unfallrisiko. Die
mag gegen diese Klassifikation einwenden wollen, dass These ist, dass es, bestimmte Regulierungen und Rah-
sie nicht weiterführt, weil sie nur die Unterscheidung menbedingungen des Straßenverkehrs vorausgesetzt,
zwischen erlaubten und unerlaubten Risiken reprodu- möglich ist, so Auto zu fahren, dass man davon aus-
ziert. Dies ist jedoch nicht der Fall, weil R-Risiken nur gehen kann, dass man, soweit es an einem selbst liegt,
grundsätzlich verbotene Risiken sind, es also auch er- niemanden durch das Fahren des Autos schädigen
laubte R-Risiken gibt. Vor allem aber macht die Klas- wird. Gleichwohl kann auch der vorsichtige Autofah-
sifikation Gründe für die Erlaubnis oder das Verbot rer dies nicht völlig ausschließen. Die These ist aller-
bestimmter Risiken geltend. Eine von Rechten aus- dings nicht mit der Behauptung verbunden, dass die
gehende Risikoethik muss eine doppelte Perspektive meisten Autofahrer vorsichtige Autofahrer sind, die
verfolgen, nämlich einerseits die Perspektive der Risi- die Bedingungen 1) und 2) in ausreichendem Maße
kotoleranz, die die Freiheit, die Pläne und die Chancen erfüllten. Da die Rede von ›Restrisiken‹ vor allem aus
von Handelnden ernst nimmt, und andererseits die der Diskussion um Kernkraftwerke bekannt ist, sei
Perspektive der Risikoelimination, die Gefahren für die ausdrücklich betont, dass die Risiken von Kernkraft-
Rechte der von riskanten Handlungen Betroffenen zur werken keine Restrisiken im Sinne des Arguments
Geltung bringt. Da die Rollen des Handelnden und des sind, da sie nicht die Bedingung 3) erfüllen.
Betroffenen wechselnde Rollen sind, lässt sich auch Die andere Art von A-Risiken, A1-Risiken, betref-
Kants Bild von der gleichen maximalen Freiheit der fen Risikoaussetzungen, die einem Betroffenen zu-
Personen verwenden. Ein Verbot aller Risikoausset- zumuten sind, weil sie entweder in relativ geringen
zungen würde zwar zu Rechten auf gleiche Freiheit oder in mehr oder weniger vollständig kompensier-
führen, aber nicht das Recht auf die maximale Freiheit baren möglichen Schädigungen bestehen. Letzteres
realisieren, die mit den gleichen Rechten aller anderen dürfte nur für materielle Schädigungen zutreffen. Be-
Personen vereinbar ist. Die Konsequenzen für die Be- schränken wir uns hier auf Risikoaussetzungen, die
wertung von Risiken seien im Folgenden skizziert. mit relativ geringen möglichen Schädigungen der Be-
Es gibt zwei Arten von A-Risiken. Die wichtigste, troffenen verbunden sind. Diese Risikoaussetzungen
die ich als A2-Risiken bezeichne, stellen eine bestimm- sind moralisch zulässig, wenn die folgenden Bedin-
te Art Restrisiken dar. Diese betreffen 1) Handlungen, gungen erfüllt sind: 1) Die Risikoaussetzungen sind
die mit der Möglichkeit schwerer Schädigungen für nicht Teil der Handlungsbegründung. Der Handelnde
442 V Anwendungsfragen

unternimmt die Handlung nicht, um einen anderen und wirtschaftlichen Organisation verbunden
oder andere (beispielsweise eines gewissen Kitzels we- sind. Ein Beispiel ist die Rechtfertigung der mit
gen) einem Risiko auszusetzen. 2) Der Handelnde Marktwirtschaften verbundenen R-Risiken (z. B.
setzt andere nicht leichtfertig den fraglichen Risiken Systemrisiken, Verlust von Arbeitsplätzen auf-
aus, obwohl er die Risikoaussetzung leicht (was die grund von Strukturwandel). Marktwirtschaften
mögliche Schädigung oder die Wahrscheinlichkeit scheinen, bestimmte Rahmenbedingungen wie die
der Schädigung anbelangt) minimieren könnte. 3) Einbettung in einen Sozialstaat vorausgesetzt, die
Der Handelnde kann für einen großen Teil (allerdings Lebensgrundlagen und die Wohlfahrt der Betrof-
nicht für alle) A1-Risiken davon ausgehen, dass sich fenen besser zu sichern als alle anderen uns bislang
die mit seinen Handlungen verbundenen Risiken eher bekannten Wirtschaftsformen.
nicht materialisieren werden. 4) Falls sich die Risiken 2. Der situative Vorrang der Vermeidung des Risikos
(doch) materialisieren, sind die Schädigungen für die der größeren Schädigung. Es kann situativ erlaubt
Betroffenen zumutbar. Denn ein Verbot der Handlun- sein, Personen R-Risiken mit geringerem Schädi-
gen, mit denen die fraglichen möglichen Schädigun- gungspotenzial auszusetzen, wenn nur so vermie-
gen verbunden sind, würde den Handelnden in stär- den werden kann, dass andere Personen einem R-
kerem Maße in seinen Rechten einschränken, als der Risiko mit größerem Schädigungspotenzial aus-
Betroffene durch die Schädigungen in seinen Rechten gesetzt werden.
tangiert wird. 3. Die Abwehr einer akuten Notlage. Vermutlich kann
Dieser letzte Punkt ist der für A1-Risiken gewisser- es gerechtfertigt sein, eine Person einem geringen
maßen ausschlaggebende Punkt: Das Verbot der Todesrisiko oder einem geringen Risiko schwers-
Handlungen, mit denen die fraglichen Risiken ver- ter Schädigungen auszusetzen, wenn nur so der
bunden sind, wäre unverhältnismäßig. Von einer sol- (nahezu) sichere Tod oder die (nahezu) sichere
chen Unverhältnismäßigkeit kann aber nur ausgegan- schwerste Schädigung einer anderen Person abge-
gen werden, wenn der Handelnde in seinen Handlun- wendet werden kann. Die Begründung dafür wäre
gen den Rechten der von seinen Handlungen Betroffe- nicht, dass die eine Person mehr zählt als die ande-
nen grundsätzlich Rechnung trägt (Punkte 1 und 2). re, sondern die gerechtfertigte Hoffnung, dass sich
Das Verbot leichtfertiger Risikoaussetzungen (Punkt so keines der Risiken materialisiert.
2) ist jedoch von dem Gebot der Vorsicht und Sorgfalt 4. Konsens. Oftmals ist es erlaubt, andere Personen
im Zusammenhang mit Restrisiken (A2-Risiken) zu einem R-Risiko auszusetzen, wenn diese dem
unterscheiden. Eine solche Vorsicht wird im Zusam- ausdrücklich und frei und informiert zugestimmt
menhang mit A1-Risiken zuweilen gar nicht möglich haben.
sein, vor allem aber ist sie normativ gesehen nicht er- Die voranstehende Skizze versucht einen Weg zu wei-
forderlich, da dies die Handlungsfreiheit des Han- sen, wie überzeugende Kriterien gerechter Risikoaus-
delnden unangemessen einschränken würde. setzungen entwickelt werden können. Es ließe sich nä-
R-Risiken sind Risiken, die weder A1- noch A2-Risi- her zeigen, dass dies nicht einfach durch die Entwick-
ken sind. Die wichtigste Art von R-Risiken stellen Ri- lung völlig neuer Kriterien geschieht, sondern da-
siken möglicher schwerer Schädigungen dar, die sich durch, dass Gesichtspunkten, die in der Risikoethik
nicht als Restrisiken verstehen lassen. Allerdings sind prominent sind, jeweils ihre Rolle oder ihr angemes-
(solche) R-Risiken nur grundsätzlich verboten. Es gibt sener Platz zugewiesen wird.
mindestens die folgenden rechtfertigenden Gründe,
andere Personen R-Risiken auszusetzen. Diese seien Literatur
hier lediglich benannt: Altham, J. E. J.: Ethics of risk. In: Proceedings of the Aristote-
1. Die normative Unvermeidbarkeit von R-Risiken. R- lian Society 84 (1984), 15–29.
Birnbacher, Dieter/Wagner, Bernd: Risiko. In: Marcus Dü-
Risiken können dann normativ akzeptabel sein, well/Klaus Steigleder (Hg.): Bioethik. Eine Einführung.
wenn sie dazu beitragen, für alle Betroffenen grö- Frankfurt a. M. 2003, 435–446.
ßere Risiken abzuwenden, und die größeren Ri- Comar, Cyril L.: Risk. A pragmatic de minimis approach. In:
siken nur mittels der fraglichen oder mittels Science 203/4378 (1979), 319.
vergleichbarer R-Risiken abgewendet werden Hansson, Sven Ove: The false promises of risk analysis. In:
Ratio 6/1 (1993), 16–26.
können. Dieses Kriterium kann R-Risiken recht-
–: Ethical criteria of risk acceptance. In: Erkenntnis 59/3
fertigen, die mit verschiedenen Technologien, (2003), 291–309.
technischen Systemen und Formen der sozialen
73 Soziale Ungleichheit und Sozialwesen 443

–: The Ethics of Risk. Ethical Analysis in an Uncertain World. 73 Soziale Ungleichheit


Basingstoke 2013.
Hayenhjelm, Madeleine/Wolf, Jonathan: The moral problem
und Sozialwesen
of risk impositions. A survey of the literature. In: Euro-
pean Journal of Philosophy 20, S1 (2012), E26–E51.
MacLean, Douglas: Risk and consent. Philosophical issues In diesem Kapitel werden drei Fragen thematisiert:
for centralized decisions. In: Ders.: Values at Risk. Totowa Was sind soziale Ungleichheiten? Welche sozialen Un-
1986, 17–30. gleichheiten sollen durch den Staat ausgeglichen wer-
–: Ethics and risk. In: Sabine Roeser/Rafaela Hillerbrand/Per den? Wie sollte der Staat dies tun? Die erste Frage ist
Sandin/Martin Peterson (Hg.): Handbook of Risk Theory,
vornehmlich konzeptueller Natur. Die beiden anderen
Bd. 2. Dordrecht 2012, 791–804.
McKerlie, Dennis: Rights and risk. In: Canadian Journal of sind normativ und werden hier mit Bezug auf die
Philosophy 16/2 (1986), 239–252. Frage der Gerechtigkeit gestellt. Wie sich noch zeigen
Mishan, E. J./Quah, Euston: Cost-Benefit Analysis. London wird, sind im Bereich des Sozialwesens als eines Teil-
52007.
gebiets staatlicher Aufgaben nicht hauptsächlich nor-
Moss, David A.: When All Else Fails. Government as the Ulti- mativ-philosophische Argumente, sondern politische,
mate Risk Manager. Cambridge MA 2002.
Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. New York 1974.
rechtliche und pragmatische anzutreffen, die wiede-
Peterson, Martin: What is a de minimis risk? In: Risk ma- rum mit kulturellen und weltanschaulichen Überzeu-
nagement 4/2 (2002), 47–55. gungen und Traditionen verbunden sind. Eine Auf-
Rippe, Klaus Peter: Personen einem Risiko aussetzen. In: gabe der Philosophie ist es, die Stichhaltigkeit und nor-
Georg Pfleiderer/Christoph Rehmann-Sutter (Hg.): Zeit- mative Tragkraft solcher Argumente zu analysieren
horizonte des Ethischen. Zur Bedeutung der Temporalität in
und gegebenenfalls zu kritisieren.
der Fundamental- und Bioethik. Stuttgart 2006, 77–91.
Scheffler, Samuel: The role of consent in the legitimation of
risky activity. In: Mary Gibson (Hg.): To Breathe Freely.
Risk, Consent, and Air. Totowa 1985, 75–88. Was sind soziale Ungleichheiten?
Starr, Chauncey: Social benefit versus technological risk. In:
Science 165/3899 (1969), 1232–1238. Was sind soziale Ungleichheiten? Es sind dies in einer
Steigleder, Klaus: Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüg-
Annäherung alle Ungleichheiten hinsichtlich von Gü-
lichkeit reiner praktischer Vernunft. Stuttgart 2002.
–: Organtransplantation. In: Stefan Schulz/Klaus Steigleder/ tern, Fähigkeiten (capabilities) oder Status, die keine
Heiner Fangerau/Norbert W. Paul (Hg.): Geschichte, Theo- natürliche Ursache haben. Die Unterscheidung zwi-
rie und Ethik der Medizin. Eine Einführung. Frankfurt schen Natur und Sozialem ist dabei nicht eindeutig
a. M. 2006, 410–434. und soziale Ungleichheiten beruhen sowohl auf sozia-
Thomson, Judith J.: Imposing risks. In: Mary Gibson (Hg.): len Bedingungen (Ausbildung, sozialer Herkunft), an-
To Breathe Freely. Risk, Consent, and Air. Totowa 1985,
124–140. geborenen Eigenschaften (Talenten, dem Fehlen von
–: The Realm of Rights. Cambridge MA 1990. angeborenen Behinderungen) und individuellen Ent-
Whipple, Chris (Hg.): De Minimis Risk. New York 1987. scheidungen und Tätigkeiten. So ist z. B. der Gesund-
Wilson, Richard/Crouch, Edmund A. C.: Risk-Benefit Ana- heitszustand einer Person sowohl von seiner geneti-
lysis. Cambridge MA 22001. schen Ausstattung als auch von Umweltbedingungen
Klaus Steigleder und der Lebensführung abhängig (Bauer/Bittling-
mayer/Richter 2008). Personen, die als Kinder chro-
nisch unterernährt oder starken Umweltgiften aus-
gesetzt sind, können Entwicklungsstörungen und
massive gesundheitliche Schäden aufweisen, die jenen
ähnlich sind, die Kinder mit angeborenen Behin-
derungen und Beeinträchtigungen zeigen. Auch wenn
eine angeborene Beeinträchtigung (s. Kap. V.57) im
engen Sinne keine soziale Ungleichheit ist, kann es ein
Gebot für das Sozialwesen sein, in beiden Fällen die
damit verbundenen Nachteile möglichst zu kompen-
sieren bzw. zu beheben.
Zunächst ist aber das Konzept der sozialen Un-
gleichheit weiter einzugrenzen. In der Literatur wer-
den sehr unterschiedliche Dinge als relevant erachtet,
444 V Anwendungsfragen

um soziale Ungleichheit zu bestimmen, von denen wort unterschiedlich sein können. Sie können sich auf
drei bereits genannt wurden: Güter, Fähigkeiten und philosophisch-normative, also ethische oder gerech-
Status. Hier lässt sich eine Parallele zur gerechtigkeits- tigkeitstheoretische Argumente beziehen, auf recht-
theoretischen Diskussion um die Frage ›Gleichheit liche Vorgaben, politische Kompromisse oder welt-
wovon?‹ (equality of what?) erkennen (Krebs 2000). anschauliche oder religiöse Überzeugungen. Ein Staat
Güterbasierte Ansätze sind vor allem mit der Gerech- kann Ungleichheiten im Einkommen seiner Bürgerin-
tigkeitstheorie von John Rawls verbunden, der die nen und Bürger deshalb verringern oder ausgleichen,
Meinung vertreten hat, dass Menschen einen An- weil dies in der Ansicht dieser Gesellschaft ein gött-
spruch auf bestimmte Grundgüter besitzen, die es ih- liches Gebot ist, weil sie die Ungleichheiten auf Basis
nen ermöglichen, ihre moralischen Fähigkeiten und einer breiten Deliberation für ungerecht hält oder auch
ihre Autonomie auszuüben (Rawls 1975). Rawls zählt nur weil eine politische Fraktion ihre Interessen auf
zu diesen Grundgütern Einkommen, Vermögen, Frei- Basis von gewonnenen Wahlen durchsetzen kann. Ei-
heiten, aber auch die sozialen Grundlagen der Selbst- nem Staat können aber auch schlicht die finanziellen
achtung. Daneben wurden Fähigkeiten (capabilities) Mittel fehlen, ein Sozialsystem im größeren Stil auf-
als relevante Betrachtungsgröße in die Diskussion ein- zubauen. Infolgedessen lassen sich große Unterschiede
gebracht (s. Kap. IV.43). Insbesondere Amartya Sen in der Ausgestaltung des Sozialwesens verschiedener
und Martha C. Nussbaum argumentieren dafür, dass Staaten finden (Leisering/Buhr/Traiser-Diop 2006;
soziale Ungleichheit nicht mit Gütern zu erfassen ist, Schmid 2006). Philosophische Überlegungen können
sondern gefragt werden sollte, was Menschen in ih- dann einerseits solche vorfindbaren Bedingungen und
rem Leben tatsächlich tun können und welche Eigen- Überzeugungen reflektieren, andererseits aber auch
schaften sie erlangen können (Nussbaum 2011; Neu- versuchen, unabhängig von diesen Antworten zu for-
häuser 2013). Zwei Menschen, die beide die gleiche mulieren, wie das Sozialwesen ausgestaltet werden soll
Ausstattung an Einkommen und Rechten haben, kön- und welche sozialen Ungleichheiten als ungerecht zu
nen sehr unterschiedliche Fähigkeiten aufweisen, et- bewerten sind.
wa weil eine dieser Personen chronisch krank ist und In der gerechtigkeitstheoretischen Debatte lassen
ihr Einkommen nicht ausreicht, um die medizinische sich auch hier wieder unterschiedliche Ansätze aus-
Behandlung zu bezahlen. Daher werden Fähigkeiten machen. In vielen Diskussionen zentral ist das Bedürf-
als sensitiver für bestimmte Ungleichheiten gesehen. nisprinzip, mit dem Ausgangspunkt, dass solche so-
Schließlich ist in den letzten Jahren auch verstärkt dis- zialen Ungleichheiten eine Intervention durch das So-
kutiert worden, ob soziale Ungleichheit sich nicht nur zialwesen verlangen, die die Befriedigung der Grund-
auf distributive Fragen hinsichtlich von Gütern oder bedürfnisse der Betroffenen unterminieren. Solche
Fähigkeiten beziehen sollte, sondern auf das Ideal ei- Grundbedürfnisse sind teilweise durch die Menschen-
ner Gesellschaft, in der sich alle Bürgerinnen und Bür- rechtskonvention, die Europäische Grundrechtechar-
gern als gleichwertig verstehen (Fourie/Schuppert/ ta, durch die entsprechende Verfassung oder in spezi-
Wallimann-Helmer 2015). Soziale Ungleichheit ist ellen Sozialgesetzen festgeschrieben (Becker/Hauser
dann eng damit verwoben, wie Menschen in einer Ge- 2009). Auch wenn es hier keinen Konsensus gibt, wer-
sellschaft einander betrachten und begegnen, ob sie den etwa Wohnen, Kleidung, Nahrung, soziale Teilha-
auf Augenhöhe agieren können oder Statusunter- be oder Gesundheit weitgehend als Grundbedürfnisse
schiede und soziale Hierarchien ihnen das Gefühl der anerkannt. Ersichtlich ist hier auch eine Überschnei-
Ungleichheit vermitteln. Eine Verbindung zu Fragen dung von Bedürfnissen, Interessen, Gütern und Fä-
der Verteilung von Gütern, Lebenschancen oder Fä- higkeiten festzustellen, und diese werden mitunter
higkeiten ist auch hier zumeist gegeben. nicht sauber voneinander getrennt. Suffizienztheoreti-
sche Ansätze verlangen dabei vom Sozialwesen, solche
Grundbedürfnisse nur bis zu einem angemessenen
Welche sozialen Ungleichheiten Maß zu befriedigen, und erlauben Ungleichheiten
sind ungerecht? oberhalb dieses Schwellenwerts (so z. B. bei Martha
Nussbaum (2011) oder Elizabeth Anderson (1999)).
Kommen wir damit zur zweiten Frage nach den rele- Egalitaristische Ansätze hingegen verlangen die glei-
vanten Ungleichheiten, also jenen, die durch das Sozi- che Befriedigung dieser Bedürfnisse für alle Bürgerin-
alwesen eines Staates ausgeglichen werden sollen. Zu- nen und Bürger, also etwa, allen einen gleichen Woh-
nächst ist festzuhalten, dass die Quellen für eine Ant- nungsstandard zu ermöglichen, wobei strikte Gleich-
73 Soziale Ungleichheit und Sozialwesen 445

heit im Bereich materieller Güter nur selten angestrebt der Sicherung eines minimalen Lebensstandards. Die-
wird (Phillips 2004). Im Bereich der Freiheitsrechte se Sicherung umfasst in vielen Ländern, darunter auch
und der politischen Mitbestimmung, die durch soziale Deutschland, zumeist die Einbindung in die Sozialver-
Ungleichheiten beeinflusst werden, jedoch zumeist au- sicherung und Geldleistungen, die zur Deckung des
ßerhalb der Sphäre des Sozialwesens verortet sind, ist Wohnbedarfs und des täglichen Lebens ausreichend
die Forderung nach Gleichheit weit verbreitet (klas- sein sollen (Kantel 2008). Aber auch im Kreis der
sisch bei Rawls oder auch Nussbaum). Grundsicherung sind immer wieder Überlegungen
Ein weiteres prominentes Prinzip ist jenes des Ver- hinsichtlich des Verdienstprinzips anzutreffen: Einer-
diensts oder der Leistung (s. Kap. V.68). Unter diesem seits sind mit dem Empfang solcher Grundsicherungs-
wird verstanden, dass bestimmte Ungleichheiten zu- leistungen bestimmte Verhaltens- und Mitwirkungs-
mindest so lange unproblematisch sind und keines pflichten verbunden, darunter die Bereitschaft, wieder
Ausgleichs durch das Sozialwesen bedürfen, wie sie eine geeignete Erwerbsarbeit anzunehmen. Verstöße
auf die bewussten Entscheidungen und Handlungen gegen die Pflichten werden sanktioniert, obwohl damit
der Betroffenen zurückzuführen sind (Olsaretti 2007). ein Unterschreiten des Existenzminimums einher-
Solche Verdienstgerechtigkeit kann etwa akzeptieren, gehen kann. Andererseits ist die Ausgestaltung der
dass Menschen unterschiedliche Einkommen aufwei- Grundsicherung doch zumeist derart gewählt, dass ein
sen, sofern diese sich auf unterschiedliche Tätigkeiten möglichst hoher Arbeitsanreiz gegeben ist, also die
am Arbeitsmarkt zurückführen lassen. Eine durch das Aufnahme einer Erwerbsarbeit sich zumindest in fi-
Sozialwesen zu garantierende Voraussetzung einer nanzieller Hinsicht lohnen sollte.
solchen Verdienstgerechtigkeit wäre dabei Chancen- Oberhalb der Grundsicherung sind eine ganze Rei-
gleichheit (s. Kap. II.26), etwa durch gleichen Bil- he an Leistungen anzutreffen, die einerseits auf die
dungs- und Arbeitsmarktzugang. Andere Positionen Absicherung von Risiken abzielen und durch die Ein-
stehen der Verdienstgerechtigkeit zumindest in eini- bindung aller möglichen Betroffenen solidarisch or-
gen Bereichen sehr skeptisch gegenüber und argu- ganisiert sind (Versicherung von Unfall, Krankheit,
mentieren stärker egalitaristisch. Ein Argument ge- Arbeitslosigkeit und Alter), andererseits Leistungen
gen die Legitimität von verdienstbasierten Ungleich- für bestimmte als besonders unterstützenswert aus-
heiten beruht auf der Kritik des Marktes als unzuläng- gewiesene Gruppen wie Familien (Schmid 2006).
liches Verteilungsinstrument von Einkommen (so Auch diese Leistungen orientieren sich überwiegend
kritisieren u. a. Nancy Fraser (2003) und Angelika am Bedürfnisprinzip, also der Festlegung der zuste-
Krebs (2001) die Minderbewertung von so genannten henden Leistungen gemäß dem Bedarf des Betroffe-
typischen ›Frauenberufen‹, ungleiche Bezahlung für nen (z. B. im Gesundheitswesen), ergänzt mitunter
Frauen oder die Nichtbezahlung von Fürsorgearbeit) durch Verdienstgerechtigkeit, also die Festlegung der
oder den Grenzen des (kapitalistisch organisierten) Höhe der Leistung gemäß vorherigen Einzahlungen
Marktes hinsichtlich der Inklusion von Menschen mit (z. B. das Arbeitslosengeld) und egalitären Gesichts-
Behinderung oder von chronisch kranken Personen punkten (das Kindergeld wird für alle Kinder un-
(Danermark/Gellerstedt 2004). abhängig vom Einkommen der Eltern in gleicher Hö-
he ausbezahlt).
Inwieweit eine solche Ausgestaltung des Sozialwe-
Leistungen des Sozialwesens sens nun den Anforderungen der Gerechtigkeit ent-
und Verteilung der Lasten spricht, lässt sich jeweils nur aus Perspektive der an-
genommenen Gerechtigkeitstheorie beantworten (ei-
Schließlich stellt sich die Frage, wie der Staat und sein nen Überblick bietet Kersting 2000). Egalitaristische
Sozialwesen diese für problematisch erachteten sozia- Theorien können die starke Ausrichtung der Grund-
len Ungleichheiten ausgleicht und wie er sie aus ge- sicherung an einem Schwellenwert kritisieren, da die-
rechtigkeitstheoretischer Perspektive ausgleichen soll- se große soziale Ungleichheiten oberhalb des Schwel-
te. In der Praxis können hier Sach-, Geld- und Dienst- lenwerts in Kauf nimmt. Aber auch Suffizienztheorien
leistungen unterschieden werden. Wem diese Leistun- können kritisieren, dass der verwendete Schwellen-
gen zur Verfügung gestellt werden, wird im wert prinzipiell zu niedrig angesetzt ist, etwa weil er
Sozialwesen hinsichtlich der oben diskutierten Prinzi- nur zu einer ungenügenden Deckung des Bedarfs aus-
pien organisiert; das Bedürfnisprinzip ist dabei das reicht. Ansätze, die das Verdienstprinzip stark ma-
vorherrschende in Fragen der Grundsicherung, also chen, können dem entgegenhalten, dass das Sozialwe-
446 V Anwendungsfragen

sen Personen ohne Leistungen und auf Kosten des dieser Grundsicherung von den oben angesproche-
Verdienstes alimentiert. Gemäß einem pluralen Kon- nen Pflichten angestrebt, um die Freiheitsspielräume
zept der Gerechtigkeit, wie es David Miller (2008) ver- der Menschen zu erweitern. Kritisch gesehen werden
tritt, wäre wiederum eine Ausdifferenzierung der kann an einem Grundeinkommen, dass es das soziale
Leistungen des Sozialwesens gemäß Bedarf, Leistung Bedürfnis nach Inklusion in den Arbeitsmarkt nicht
und Gleichheit gefordert. Aus gerechtigkeitstheoreti- hinreichend bewertet und Probleme der Finanzierung
scher Perspektive ist dann umstritten, wie die Lasten, aufwirft. Sowohl die Umsetzung eines Rechts auf Ar-
die mit diesen Leistungen des Sozialwesens einher- beit als auch die Gewährung eines Grundeinkom-
gehen, zu verteilen sind und welche Bedingungen für mens in einer stark ausgeweiteten Form würden das
ihre Inanspruchnahme gelten sollen. Das betrifft z. B. Sozialwesen in seiner heutigen Form jedenfalls stark
den Einbezug von Migrantinnen und Migranten in verändern.
das Sozialwesen (Cole 2007) sowie die Unterstützung
von Familien, also die Frage, warum Personen, die Literatur
keine Kinder haben (wollen), über das gemeinsame Anderson, Elizabeth: What is the point of equality? In: Ethics
Sozialwesen die Kinder anderer unterstützen sollen 102/2 (1999), 287–337.
Bauer, Ullrich/Bittlingmayer, Uwe H./Richter, Matthias
(Olsaretti 2013). (Hg.): Health Inequalities. Determinanten und Mechanis-
Zum Abschluss sollen noch zwei Weiterentwick- men gesundheitlicher Ungleichheit. Wiesbaden 2008.
lungsoptionen des Sozialwesens Erwähnung finden, Becker, Irene/Hauser, Richard: Soziale Gerechtigkeit – ein
die sowohl politisch als auch philosophisch diskutiert magisches Viereck. Zeitdimensionen, Politikanalysen und
werden: das Recht auf Arbeit und das Recht auf ein be- empirische Befunde. Berlin 2009.
Blaschke, Ronald/Otto, Adeline/Schepers, Norbert (Hg.):
dingungsloses Grundeinkommen. Beide zielen auf die
Grundeinkommen. Geschichte – Modelle – Debatten. Ber-
Reduzierung des individuellen Risikos von Armut, die lin 2010.
vor allem durch Arbeitslosigkeit und gering bezahlte Cole, Phillip: Human rights and the national interest: mi-
Arbeit verursacht wird, und in weiterer Folge auch um grants, healthcare and social justice. In: Journal of Medical
den Gewinn an Freiheitsräumen (insbesondere der Ethics 33/5 (2007), 269–272.
Grundeinkommensvorschlag von Philippe Van Parijs Danermark, Berth/Coniavitis Gellerstedt, Lotta: Social justi-
ce: redistribution and recognition – a non‐reductionist
enthält die Perspektive einer radikalen Dekommodifi-
perspective on disability. In: Disability & Society 19/4
zierung; vgl. Van Parijs 1995). (2004), 339–353.
Argumente für das Recht auf Arbeit leiten sich so- Fourie, Carina/Schuppert, Fabian/Wallimann-Helmer, Ivo
wohl aus dem eminenten Charakter von Erwerbs- (Hg.): Social Equality. On What It Means to Be Equals. Ox-
arbeit als Inklusionsmedium als auch aus den negati- ford 2015.
ven Auswirkungen von Arbeitslosigkeit ab (Gürtler Fraser, Nancy: Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Iden-
titätspolitik. Umverteilung, Anerkennung und Betei-
2000). Ein solches Recht würde daher soziale Un- ligung. In: Axel Honneth/Nancy Fraser: Umverteilung
gleichheit in einer wichtigen Dimension ausgleichen. oder Anerkennung. Eine philosophisch-politische Kontro-
Problematisch hingegen ist die Umsetzung eines sol- verse. Frankfurt a. M. 2003, 13–128.
chen Rechts auf Arbeit, da dies massive staatliche Ein- Gürtler, Sabine: Drei philosophische Argumente für ein
griffe erfordern würde, und es ist auch fraglich, ob sol- Recht auf Arbeit. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie
48/6 (2000), 876–888.
che Arbeit, die aufgrund des Rechtsanspruches aus-
Kantel, Heinz-Dieter: Grundsicherungsarbeit. Armuts- und
geübt wird, nicht als minderwertig angesehen würde. Arbeitsmarktpolitik nach Hartz IV. Wiesbaden 2008.
Dadurch wären zumindest auf Ebene des Status und Kersting, Wolfgang: Politische Philosophie des Sozialstaats.
der Anerkennung keine positiven Effekte gegeben. Weilerswist 2000.
Argumente für ein bedingungsloses Grundein- Krebs, Angelika (Hg.): Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte
kommen sind vornehmlich suffizienztheoretisch und der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt a. M. 2000.
–: Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer
beziehen sich auf den Anspruch eines jeden Men- Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 2001.
schen, vom Staat mit einer Sicherung ausgestattet zu Leisering, Lutz/Buhr, Petra/Traiser-Diop, Ute: Soziale
werden, die ein angemessenes Leben ermöglicht Grundsicherung in der Weltgesellschaft. Monetäre Mindest-
(Blaschke/Otto/Schepers 2010). Ein weiterer Bezugs- sicherungssysteme in den Ländern des Südens und des Nor-
punkt ist der egalitäre Anspruch aller Menschen auf dens. Weltweiter Survey und theoretische Verortung. Biele-
feld 2006.
die Ressourcen der Erde, die zur Produktion des
Miller, David: Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Frankfurt
Wohlstands verwendet werden. Mit der Betonung der a. M. 2008.
Bedingungslosigkeit wird auch eine Entkoppelung
74 Sprache 447

Neuhäuser, Christian: Amartya Sen zur Einführung. Ham- 74 Sprache


burg 2013.
Nussbaum, Martha C.: Creating Capabilities. The Human Sprache und Gerechtigkeit hängen auf vielfältige
Development Approach. Cambridge MA 2011.
Olsaretti, Serena (Hg.): Desert and justice. Oxford 2007. Weise zusammen. Wir verständigen uns im Medium
–: Children as public goods? In: Philosophy & Public Affairs der Sprache, durch das Geben von Gründen und Ge-
41/3 (2013), 226–258. gengründen darauf, was als gerecht gelten kann. Spra-
Phillips, Anne: Defending equality of outcome. In: Journal of che kann jedoch auch selbst zur Herstellung von Un-
Political Philosophy 12/1 (2004), 1–19. gerechtigkeit beitragen, auf der Ebene intentionalen
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
sprachlichen Handelns genauso wie auf der Ebene
1975 (engl. 1971).
Schmid, Josef: Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Siche- überindividueller Sprachstrukturen. Schließlich stel-
rung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen len sich Fragen der Gerechtigkeit angesichts der Viel-
und Probleme. Wiesbaden 22006. falt menschlicher Sprachen: Wenn manche Sprachen
Van Parijs, Philippe: Real Freedom for All. What (if anything) als Minderheitensprachen marginalisiert und andere
can Justify Capitalism? Oxford 1995. sogar vom Verschwinden bedroht sind, dann ergeben
Gottfried Schweiger sich Probleme der Sprachengerechtigkeit.

Gerechtigkeit im Medium der Sprache

Der Streit über Gerechtigkeit wird im Medium des


Wortes ausgetragen: Wir empören uns im Register der
Sprache über Ungerechtigkeiten, skandalisieren sie,
machen sie zum Vorwurf, erheben Einsprüche und
verlangen Rechtfertigungen. Diese Intuition hat Jürgen
Habermas mit seiner Diskursethik am prägnantesten
ausbuchstabiert (Habermas 1981; 1983; s. Kap. III.37).
Die zentrale diskursethische These lautet, dass wir nur
durch sprachliche Verfahren herausfinden können,
was als gerecht zu gelten hat. Es ist nicht möglich, ein-
sam über den Schreibtisch gebeugt ein substanzielles
Konzept der Gerechtigkeit zu entwerfen; wir bedürfen
dafür des argumentativen Austauschs zwischen meh-
reren Subjekten, genauer gesagt, zwischen all jenen,
die potenziell von der infrage stehenden kollektiven
Praxis betroffen sein könnten. Erst eine spezifische
sprachliche Prozedur stiftet Gerechtigkeit.
Im Gegensatz zu John Rawls’ Prozeduralismus, bei
dem der ›Schleier des Nichtwissens‹ eine gedankliche
Konstruktionsleistung darstellt, die gar keines wirk-
lichen Wortwechsels bedarf, ist der Habermassche
Prozeduralismus auf die intersubjektive Artikulation
von Geltungsansprüchen, deren Kritik und deren
Verteidigung im Raum der Gründe angewiesen. Auf
der Ebene dessen, was Habermas ›Diskurs‹ nennt,
können die in der Alltagskommunikation nur implizit
erhobenen Ansprüche auf sachliche Wahrheit und
normative Richtigkeit explizit gemacht und systema-
tisch bestritten oder gerechtfertigt werden. In seiner
idealen Form ist der Diskurs ein intersubjektiver Ver-
ständigungsprozess, in dem die Beteiligten zwanglos,
unparteilich und gleichberechtigt Gründe austau-
448 V Anwendungsfragen

schen und sich nur von der Kraft des besseren Argu- 1) Sprachliches Handeln in Gestalt von hate speech
ments leiten lassen. ist die offensive Beleidigung von diskriminierten so-
Allerdings besteht der sprachliche Prozess, der zu zialen Gruppen nach Maßgabe sozialer Kategorien wie
Gerechtigkeit führen soll, nicht nur im Vorbringen Geschlecht, sexueller Orientierung oder Ethnizität
von Gründen in der kontroversen Argumentation; es (Maitra/McGowan 2012). Die hasserfüllte Rede kann
gibt Formen moralischer Verständigung, bei denen die betroffenen Subjekte in ihrer Identität verletzen,
das subjektiv eingefärbte Erzählen und das geduldige und sie kann sogar direkte kausale Folgen haben, wie
Zuhören im Vordergrund stehen (vgl. Leeten 2013; ein vor Scham errötetes Gesicht oder erhöhten Blut-
Young 2002, 70–78). Die narrative Form sprachlicher druck (Delgado 1993). Im Fokus stehen jedoch weni-
Gerechtigkeit erweist sich in jenen Fällen als bedeut- ger die kausalen Folgen dieses Sprechens als der Um-
sam, wo die Betroffenen Schwierigkeiten haben, sich stand, dass ein solches Sprechen selbst eine Form des
hinsichtlich des ihnen widerfahrenen Unrechts Gehör Handelns bildet: Es hat konstituierende Kraft, und
zu verschaffen, etwa weil sie zu traumatisiert sind, um zwar dergestalt, dass es einen untergeordneten Status
ihr Leid in Worte zu fassen (Brison 2002), oder weil konstituiert. Damit steht die Frage der Konstitution,
die Artikulationsweisen marginalisierter sozialer nicht der Kausalität im Zentrum. Die Konstitutions-
Gruppen nicht dem entsprechen, was die dominanten these geht in der Debatte auf Catherine MacKinnon
Gruppen unter einem rational-argumentativen Dis- (1993) zurück. Rae Langton (2007) hat diese Idee
kussionsstil verstehen (Young 2002, 55–57). sprachphilosophisch verteidigt und erweitert, vor al-
Das Problem der Sprachlosigkeit stellt sich ins- lem im Anschluss an John L. Austins Sprechakttheorie
besondere dann, wenn die normative Begrifflichkeit (Austin 1979); kritisch dazu positioniert hat sich Ju-
gar nicht vorhanden ist, um ein erlittenes Leid zu the- dith Butler (1998), neuere Anschlüsse gibt es etwa von
matisieren und öffentlich anzuklagen. Miranda Fri- Mary K. McGowan (2009).
cker hat eine solche Form der Sprachlosigkeit als ›her- Die Konstitutionsthese lässt sich in Analogie zum
meneutische Ungerechtigkeit‹ bezeichnet (Fricker Sprechakt der Eheschließung erläutern, bei dem be-
2007, 147–169; vgl. auch Congdon 2015). Ein Beispiel reits der korrekte Vollzug bestimmter Äußerungen
hierfür ist das Widerfahrnis sexueller Belästigung zu während der Trauungszeremonie den Status der Ehe
jener Zeit, als unsere Sprache diese kritische Begriff- für das Brautpaar hervorbringt. Die Eheschließung hat
lichkeit noch gar nicht bereithielt; erst in den 1970er allerlei kausale Folgen, z. B. Freude beim Brautpaar,
Jahren hat sich dieser Terminus als moralischer und doch die Handlungsmacht des Sprechakts liegt vor al-
rechtlicher Begriff etabliert, der eine spezifische Form lem darin, dass er einen bestimmten Status konstitu-
der Schädigung benennt und verdeutlicht, weshalb iert, der im Wesentlichen durch bloße Worte erzeugt
dieses Leiden ein Unrecht darstellt. Davor litten Opfer wird. Ganz ähnlich geht es bei der Analyse oppressiver
sexueller Belästigung stumm an scheinbar grundlosen Sprache nicht in erster Linie darum, dass sie bestimm-
Gefühlen des Unbehagens und der Erniedrigung, oh- te kausale Folgen hat (z. B. Scham oder Wut), sondern
ne sprachliche Mittel, sich selbst zu verstehen oder gar darum, dass im Vollzug des Sprechens ein untergeord-
andere auf ihr Leid aufmerksam zu machen. neter Status konstituiert wird. Die sprachlich hervor-
gebrachte Unterordnung ist oppressiv, sie stellt eine
Form der Unterdrückung dar (ebd.), wobei das hier
Ungerechtigkeit im Medium der Sprache verwendete Konzept der Unterdrückung die systema-
tische, illegitime soziale Benachteiligung von Personen
Sprache ist stets auch mit Fragen der Macht und Herr- aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit meint; diese
schaft, mit Interessenkonflikten und sozialen Kämp- Form der Unterdrückung bedarf keines personalen
fen verbunden (Bourdieu 2005). Deshalb kann Spra- Unterdrückers, etwa eines tyrannischen Herrschers,
che nicht nur Medium der Verwirklichung von Ge- und sie bedarf auch nicht notwendigerweise der An-
rechtigkeit sein, sondern zugleich Medium der Her- wendung direkter physischer Gewalt (Young 1996;
stellung von Ungerechtigkeit. Das Spektrum reicht Haslanger 2004).
vom individuellen, intentionalen Sprachhandeln bis 2) Ungerechtigkeit gibt es nicht nur im Sprechen,
hin zu überindividuellen, vor-intentionalen Sprach- sondern auch in der Sprache. Geht es dort um Spre-
strukturen, die zu ungerechten Sozialverhältnissen chen als Handeln, bei dem die sprechenden Subjekte
beitragen, wobei die Übergänge innerhalb dieses grundsätzlich die Wahl haben, so oder anders zu spre-
Spektrums fließend sind. chen, geht es hier um die Sprache als Struktur, welche
74 Sprache 449

die Subjekte nicht individuell nach eigenem Ermessen und Männern erreicht wird bzw. trans- und inter-
verändern können, sondern allenfalls im Rahmen ei- sexuelle Personen nicht ausgeschlossen werden.
ner kollektiven Praxis. Gleichstellungspolitisch wurden Strategien wie die
Seit den 1970er Jahren hat die feministische Lin- Synonymverwendung (›Team‹ statt ›Mannschaft‹)
guistik und Sprachphilosophie kritisiert, dass die Be- oder die Sichtbarmachung des Geschlechts, etwa mit
nachteiligung von Frauen wesentlich auch im Horizont Hilfe des Splittings (›Ärzte und Ärztinnen‹), vor-
der Sprache, und zwar insbesondere der Sprachstruk- geschlagen. Weitergehende feministische Forderun-
tur, vollzogen wird (vgl. Talbot 2010; Trömel-Plötz gen richteten sich auf Formulierungen mit Binnen-
2008; Klann-Delius 2005, 19–37): Die androzentrische majuskel (›ÄrztInnen‹) oder im generischen Femini-
Struktur der Sprache verfestige die gesamtgesellschaft- num, bei dem die weibliche Form als allgemeine ver-
liche Ungleichbehandlung von Männern und Frauen. wendet wird; das soll dazu dienen, die eingespielten
Die Kritik richtet sich vor allem auf die Verwendung Routinen der Ungleichbehandlung zu stören und der
des generischen Maskulinums bei der Bezeichnung für männlichen Hegemonie in der Gesellschaft entgegen-
gemischtgeschlechtliche Personengruppen; hier wird zuwirken (Cameron 1992, 125–127). Angestoßen
die männliche Form als allgemeine gebraucht, etwa das durch den Transgender-Aktivismus der letzten beiden
Wort ›Professor‹ für Lehrkräfte beiderlei Geschlechts, Dekaden hat in Deutschland inzwischen der so ge-
wobei Frauen mit gemeint sein sollen, obwohl explizit nannte Gender-Gap (›Ärzt_innen‹) einige Verbrei-
nur die männliche Form genannt wird. Andere Kritik- tung gefunden, der auch Transgender-Identitäten und
punkte richten sich auf geschlechtlich kodierte Be- intersexuellen Menschen sprachlichen Raum bieten
zeichnungen in gesellschaftlichen Feldern wie der Be- soll (vgl. Herrmann 2003).
rufswelt (›Fachmann‹ oder ›Putzfrau‹).
Die ungleiche Behandlung in der Sprache ist dabei
keine Frage der bloßen ›politischen Korrektheit‹, son- Sprachliche Vielfalt und Sprachen-
dern eine Frage der Gerechtigkeit. Sprache trägt dazu gerechtigkeit
bei, Identitäten zu konstruieren. In der Sprache als
Subjekt aufzutauchen, entspricht einer Zuschreibung Fragen sprachlicher Gerechtigkeit stellen sich schließ-
von Bedeutsamkeit und Status, während umgekehrt lich auch angesichts des Faktums sprachlicher Vielfalt.
sprachliche Unsichtbarkeit eine Marginalisierung, eine Immer dann, wenn verschiedene Sprachen gesprochen
Herabsetzung des gesellschaftlichen Stellenwerts be- werden, können Probleme sprachlicher Gerechtigkeit
deutet. Das generische Maskulinum lässt Frauen ver- entstehen. Das Feld der ›Sprachengerechtigkeit‹ wird
schwinden, das Männliche wird als Norm etabliert. aus der Perspektive der Soziologie (May 2008), der
Das wirkt zurück auf die Selbstverständnisse der spre- Rechtstheorie (Mowbray 2012) und auch der politi-
chenden Subjekte und deren Handlungsfähigkeit schen Philosophie (Kymlicka/Patten 2003; De Schutter
(Pusch 1984). 2007; De Schutter/Ypi 2012) untersucht, wobei sich
In den letzten Jahren ist zunehmend auch jene Un- politische Fragen der Gerechtigkeit aus prinzipiellen
gerechtigkeit in den Blick gerückt, die darin besteht, Gründen stellen. Denn sprachpolitisch ist der Staat zur
dass Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau Nicht-Neutralität verdammt, er muss sich gezwunge-
identifizieren, aus den Strukturen der Sprache weit- nermaßen einer bestimmten Sprache bedienen, was
gehend ausgeschlossen sind. Die deutsche Sprache unweigerlich den Ausschluss oder die Nichtberück-
kennt, ähnlich wie viele andere Sprachen, nur zwei sichtigung anderer Sprachen mit sich bringt.
Geschlechter für Personen, das männliche und das Dieses prinzipielle Problem manifestiert sich in un-
weibliche, was sich unter anderem in der zweiwerti- terschiedlichen sozialen, kulturellen und politischen
gen Logik der personenbezogenen Pronomen artiku- Entwicklungen (vgl. zum Folgenden Kymlicka/Patten
liert. Diese binäre Geschlechterordnung, die kein 2003). Das spanische Baskenland, das belgische Flan-
Drittes, keine multiplen Differenzen und keine flie- dern und das kanadische Quebec bilden Beispiele für
ßenden Übergänge kennt, wurde in den 1990er Jahren einen sprachlichen Nationalismus, bei dem sich regio-
als »Zwangsordnung« (Butler 1991, 22) kritisiert. nale Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer gemein-
Aus diesen Kritiken ergeben sich Forderungen samen sprachlichen Identität als proto-nationale Ge-
nach einer geschlechtergerechten Sprache, die darauf meinschaften verstehen, die sich vom umfassenderen
zielt, Sprache in der Orthographie und im Vokabular staatlichen Gebilde abgrenzen oder sogar vollständig
so zu verändern, dass eine Gleichstellung von Frauen loszusagen versuchen. Hier ist umstritten, wie weit-
450 V Anwendungsfragen

gehend die Rechte sein können, die die Sprecher_in- sich förderungsorientierte Rechte auf den staatlich ga-
nen der Minderheitensprache für sich beanspruchen rantierten Anspruch auf den öffentlichen Gebrauch
können, bzw. welche institutionellen Gegenmaßnah- einer Sprache beziehen, etwa im Rechts- oder Bil-
men umgekehrt legitimerweise ergriffen werden dür- dungswesen. Auch das Verhältnis universeller und
fen, um den sprachlich motivierten Sezessionsbestre- partikularer Sprachenrechte ist umstritten: Soll Spra-
bungen entgegenzuwirken. chengerechtigkeit im Rahmen universeller Men-
Fragen der Sprachengerechtigkeit stellen sich auch schenrechte ausbuchstabiert werden oder ist sie an
im Kontext von Migration. Hier geht es nicht um das den partikularen Kontext eines spezifischen Landes
Verhältnis der dominanten Sprache zu alteingesesse- mit spezifischen Formen von Mehrsprachigkeit ge-
nen, regional verwurzelten Minderheitensprachen, bunden? Diejenigen Forscher_innen, die sich für
sondern um den Zuzug von Bevölkerungsgruppen, die sprachliche Menschenrechte starkmachen (Skutnabb-
die Mehrheitssprache nicht oder nur schlecht beherr- Kangas/Phillipson 1995), zielen vornehmlich auf das
schen und die ihre Herkunftssprache unter Umstän- universelle Recht, öffentlich geförderten Unterricht in
den nicht nur weiter pflegen möchten, sondern auch der Muttersprache zu institutionalisieren; doch die
öffentlich gefördert sehen wollen. Auch die Verwirk- Stärke dieses Ansatzes, sein Anspruch auf Universalis-
lichung von transnationaler Demokratie, sei es in der mus, geht mit der Schwäche einher, dass auf univer-
Europäischen Union, sei es in einer sich herausbilden- selle Weise nur recht minimale Sprachenrechte be-
den globalen Weltinnenpolitik, bringt Probleme der gründet werden können.
Sprachengerechtigkeit mit sich: Erst die Auswahl einer
lingua franca scheint die grenzüberschreitende For- Literatur
mierung eines demos zu ermöglichen, der sich als po- Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte (How to Do
litische Gemeinschaft versteht und in der sich die spre- Things with Words). Stuttgart 21979.
Bourdieu, Pierre: Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des
chenden Subjekte als gleichberechtigte Mitglieder be- sprachlichen Tausches. Wien 22005.
gegnen können (vgl. Van Parijs 2013). Die Wahl einer Brison, Susan: Aftermath. Violence and the Remaking of a
bestimmten Sprache als lingua franca verleiht aller- Self. Princeton 2002.
dings denjenigen, für die diese Sprache die Mutter- Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt
sprache darstellt, unfaire Privilegien; zugleich kann sie a. M. 1991 (engl. 1990).
–: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin 1998
von den Sprecher_innen anderer Sprachen als aus-
(engl. 1997).
schließend oder gar als ›linguistischer Imperialismus‹ Cameron, Deborah: Feminism and Linguistic Theory. Ba-
(Phillipson 1992) wahrgenommen werden. singstoke 21992.
Schließlich hat auch das rasche Verschwinden vie- Congdon, Matthew: Wronged beyond words: On the publi-
ler Sprachen der Welt Relevanz für Fragen der Ge- city and repression of moral injury. In: Philosophy and So-
rechtigkeit. Angesichts der Tatsache, dass weltweit bis cial Criticism (Online-Version April 2015), http://psc.sa-
gepub.com/content/early/2015/04/22/0191453715580158.
zu 90 Prozent aller Sprachen vom ›Aussterben‹ be-
full.pdf + html (27.10.2015).
droht sind – die meisten davon Sprachen indigener De Schutter, Helder: Language policy and political philoso-
Bevölkerungsgruppen – (Nettle/Romaine 2000), stellt phy. On the emerging linguistic justice debate. In: Langua-
sich die Frage, ob es so etwas wie ein Recht auf sprach- ge Problems and Language Planning 31/1 (2007), 1–23.
liches Überleben gibt (Freeland/Patrick 2004). Ein –/Ypi, Lea: Language and luck. In: Politics, Philosophy & Eco-
solcher garantierter Anspruch auf die Bewahrung von nomics 11/4 (2012), 357–381.
Delgado, Richard: Words that wound: A tort action for racial
Sprachen wird etwa mit dem Verweis auf den Wert insults, epithets and name calling. In: Kimberlé Crenshaw
sprachlicher Diversität begründet oder auch mit dem et al. (Hg.): Words That Wound. Critical Race Theory, As-
Argument, dass Sprache für viele Menschen nicht ein- saultive Speech, and the First Amendment. Boulder 1993.
fach ein beliebiges Mittel der Kommunikation sei, Freeland, Jane/Patrick, Donna (Hg.): Language Rights and
sondern konstitutiv für ihre Identität. Language Survival. Sociolinguistic and Sociocultural Per-
spectives. Manchester 2004.
Systematische Fragen der Sprachengerechtigkeit
Fricker, Miranda: Epistemic Injustice. Power and the Ethics of
(vgl. Kymlicka/Patten 2003) sind unter anderem das Knowing. Oxford 2007.
Verhältnis von toleranz- und förderungsorientierten Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns.
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beziehen sich auf die Nichteinmischung von Seiten –: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frank-
des Staates in die sprachliche Lebensführung, sei es in furt a. M. 1983.
Haslanger, Sally: Oppression: Racial and other. In: Michael
der eigenen Wohnung oder in Verbänden, während
75 Steuern 451

P. Levine/Tamas Pataki (Hg.): Racism in Mind. Ithaca 75 Steuern


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Herrmann, Steffen Kitty: Performing the Gap – Queere Ge- Steuern sind eine wesentliche Einkommensquelle mo-
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(2003), 22–26. derner Staaten. Öffentliche Ausgaben werden im Re-
Klann-Delius, Gisela: Sprache und Geschlecht. Stuttgart gelfall zu einem großen Teil aus ihnen gedeckt. Was auf
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Langton, Rae: Sprechakte und unsprechbare Akte. In: Stef- stellen sich Rechtfertigungsfragen in Bezug auf die
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Leeten, Lars (Hg.): Moralische Verständigung. Formen einer Zwecken ist Besteuerung gerechtfertigt? Diese Fragen
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distributiven Sinne auf. Erstens: Was sind die Kriterien
Journal of Philosophy 87/3 (2009), 389–407.
Mowbray, Jacqueline: Linguistic Justice. International Law einer fairen Verteilung der Steuerlast? Und zweitens:
and Language Policy. Oxford 2012. Welche Art von Steuersystem ist am ehesten dazu ge-
Nettle, Daniel/Romaine, Suzanne: Vanishing Voices. The Ex- eignet, eine solche faire Verteilung zu gewährleisten?
tinction of the World’s Languages. Oxford 2000. Unterschiedliche Konzeptionen von Gerechtigkeit ha-
Phillipson, Robert: Linguistic Imperialism. Oxford 1992. ben unterschiedliche Implikationen für die Beantwor-
Pusch, Luise: Das Deutsche als Männersprache. Frankfurt
tung der ersten dieser beiden Fragen. Die Beantwor-
a. M. 1984.
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. tung der zweiten Frage hängt zudem von empirischen
1979 (engl. 1971). Annahmen über individuelle Verhaltensdispositionen
Skutnabb-Kangas, Tove/Phillipson, Robert (Hg.): Linguistic und über ökonomische Interdependenzen ab.
Human Rights. Overcoming Linguistic Discrimination.
Berlin 1995.
Talbot, Mary: Language and Gender. An Introduction. Cam-
bridge 22010. Steuern und gesellschaftliche Wohlfahrt
Trömel-Plötz, Senta: Sprache: Von Frauensprache zu frauen-
gerechter Sprache. In: Ruth Becker/Beate Kortendiek Ein einflussreicher Strang der Literatur zu normativen
(Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Fragen der Besteuerung, nämlich der Beitrag der
Wiesbaden 22008, 748–751. Wohlfahrtsökonomie, nähert sich dem Thema primär
Van Parijs, Philippe: Sprachengerechtigkeit für Europa und
aus einer konsequentialistischen Perspektive (vgl. den
die Welt. Berlin 2013.
Young, Iris Marion: Fünf Formen der Unterdrückung. In: Überblick in Slemrod 2006). Als das grundlegende
Herta Nagl-Docekal/Herlinde Pauer-Studer (Hg.): Politi- Ziel von Besteuerung wird dort eine optimale Allokati-
sche Theorie. Frankfurt a. M. 1996, 99–139. on des gesamtgesellschaftlichen Einkommens auf den
–: Inclusion and Democracy. Oxford 2002. privaten und den öffentlichen Sektor angesehen. Das
Hannes Kuch wünschenswerte Steuersystem ist eines, das dieses auf
unterschiedliche Weisen spezifizierbare Optimum ge-
samtgesellschaftlicher Wohlfahrt realisiert. Besteue-
rung entzieht bestimmte Summen der privaten Ver-
fügung und stellt sie unter die Verfügung öffentlicher
Institutionen. Wünschenswert ist Besteuerung dann
genau in dem Maße und in der Weise, wie die Verwen-
dung dieser Summen durch die öffentliche Hand bes-
sere (wohlfahrtsrelevante) Folgen hat, als es die Ver-
wendung derselben Mittel durch die privaten Haushal-
452 V Anwendungsfragen

te hätte, denen diese Mittel entzogen werden. Gerech- ern dienen: Erstens verdankten sich ihr Schutz und ihre
tigkeitsfragen im engeren Sinne finden hierbei keine spezifische Ausgestaltung der Ausübung staatlicher
eigenständige Berücksichtigung, und die Frage nach Gewalt und damit zugleich der Praxis der Besteuerung
dem Verhältnis zwischen Wohlfahrtsmaximierung (Murphy/Nagel 2002, 8). Zweitens bemesse sich der
und Erfordernissen der Gerechtigkeit bleibt unbeant- moralische Umfang von Eigentumsrechten daran, was
wortet (vgl. dazu Kaplow 2008, Kap. 15). eine gerechte gesellschaftliche Verteilung von Gütern
Zu den aus wohlfahrtsökonomischer Perspektive darstelle, nicht umgekehrt. Deshalb seien unversteuer-
zu bewertenden Folgen eines Steuersystems gehört tes Einkommen und unversteuertes Vermögen anders
insbesondere die Schaffung spezifischer Handlungs- als nach libertärer Auffassung keine normative Basis,
anreize. Transaktionen, Güter und Lebensformen, die anhand derer sich die Gerechtigkeit von Steuerbelas-
einer relativ höheren Besteuerung unterliegen als an- tungen bemessen ließe (ebd., 75).
dere, werden gegenüber solchen, von denen das Ge- Der Disput zwischen der libertären und der kon-
genteil gilt, unattraktiver gemacht. Auf diese Weise ventionalistischen Eigentumskonzeption hat auch
beeinflusst Besteuerung z. B. die Entscheidungen von Implikationen im Hinblick auf die Frage, welche Ar-
Individuen zwischen Arbeit und Muße, Konsum und ten von staatlicher Aktivität und staatlichen Aus-
Sparen, Elternschaft und Kinderlosigkeit, unter- gaben legitimerweise durch Steuern finanziert wer-
schiedlichen Konsum- und Investitionsentscheidun- den können. Aus libertärer Sicht stellen Transfers
gen und viele mehr, aber auch die Produktionsent- zum Zwecke der allgemeinen Wohlfahrt und der Ver-
scheidungen von Firmen. Alle diese empirischen As- teilungsgerechtigkeit immer einen Eingriff in mora-
pekte sind aus konsequentialistischer Sicht insoweit lische Eigentumsrechte dar. Demgegenüber können
normativ relevant für die Gestaltung eines Steuersys- aus konventionalistischer Sicht nur diejenigen An-
tems, als es wünschenswert sein kann, die betreffen- sprüche überhaupt als moralische Eigentumsrechte
den Aktivitäten und Entscheidungen auf bestimmte gelten, die mit der Verfolgung weitergehender mora-
Weise zu beeinflussen oder umgekehrt eine solche lischer Ziele, insbesondere mit sozialer Gerechtigkeit,
nicht marktvermittelte Beeinflussung als ›effizienzver- vereinbar sind. Allerdings muss man nicht die kon-
zerrend‹ gerade zu minimieren (vgl. z. B. Musgrave/ ventionalistische These akzeptieren, um Besteuerung
Musgrave 1989, 279–284). und damit die Einschränkung von Eigentumsrechten
im Dienste bestimmter Ziele für gerechtfertigt halten
zu können. So halten viele Vertreter einer libertären
Steuern und Eigentumsrechte Eigentumskonzeption (darunter Epstein 1985 und
Nozick 1974) die Erhebung von Steuern zur Finanzie-
Die Möglichkeit der Rechtfertigung von Besteuerung rung bestimmter ›öffentlicher Güter‹ für legitim, das
insgesamt hängt wesentlich davon ab, welche mora- heißt solcher Güter, deren Bereitstellung ein freier
lischen Ansprüche Personen und Körperschaften auf Markt nicht effizient gewährleisten würde, weil nicht-
unversteuerte Einkommen und Vermögen haben. In zahlende Individuen von ihrer Nutzung nicht aus-
Bezug auf diese Frage, die von der Wohlfahrtsöko- geschlossen werden können und ihre private Produk-
nomie nicht gestellt wird, stehen sich in der neueren tion deshalb unrentabel wäre. Dazu gehören nach
philosophischen Literatur zwei paradigmatische Posi- verbreiteter Ansicht z. B. öffentliche Sicherheit und
tionen gegenüber. Libertäre Autoren wie Robert No- nationale Verteidigung. Auch so genannte Pigou-
zick und Richard Epstein betrachten u. a. unter Beru- Steuern auf Aktivitäten, die Kosten für unbeteiligte
fung auf die Eigentumskonzeption von John Locke Parteien verursachen (wie z. B. CO2-Ausstoß), und
Eigentumsrechte als natürliche Rechte. Besteuerung die steuerbasierte Finanzierung wohlfahrtsstaatlicher
erscheint aus dieser Sicht grundsätzlich moralisch frag- Transferleistungen stehen nicht in prinzipiellem Kon-
würdig, da sie eine Art von Enteignung darstelle (No- flikt mit einer libertären Konzeption von Eigentum.
zick 1974, 169–172). Auf der anderen Seite argumen- Sie müssen nicht einmal mit der weitergehenden The-
tieren insbesondere Thomas Nagel und Liam Murphy se konfligieren, dass sich die Einschränkung von Ei-
(2002), Eigentumsansprüche seien stets konventionel- gentumsrechten niemals oder nur innerhalb sehr en-
ler Natur und ließen sich jeweils nur in Bezug auf einen ger Grenzen rechtfertigen lässt (so bei Nozick 1974),
umfassenden institutionellen Kontext rechtfertigen. sofern der Umfang dieser Eigentumsrechte seiner-
Sie könnten aus zwei Gründen nicht als normativer seits entsprechend eng gefasst wird. Letzteres ist etwa
Maßstab für Fragen nach der Rechtfertigung von Steu- bei links-libertären Philosophen der Fall, denen zu-
75 Steuern 453

folge Eigentumsrechte sich auf die ›Früchte eigener Nachfrage nach solchen Gütern entspricht. Ob das
Arbeit‹ beschränken und sich nicht auf natürliche Äquivalenzprinzip in der Praxis eine progressive, eine
Ressourcen erstrecken (vgl. Steiner 1994, 266–280). proportionale oder eine regressive Form von Besteue-
rung impliziert, hängt davon ab, wie sich der indivi-
duelle Nutzen, den Personen aus staatlichen Ausgaben
Verteilungsgerechtigkeit beziehen, zur Größe ihres Einkommens oder Ver-
mögens verhält (Blum/Kalven 1952, 451 f.).
Abgesehen von der Frage, ob und in welchem Umfang Das Äquivalenzprinzip hat eine gewisse Affinität zu
Besteuerung insgesamt gerechtfertigt werden kann, gerechtigkeitstheoretischen Ansätzen, die das norma-
ergeben sich mit Blick auf die Praxis der Besteuerung tive Gewicht individueller Eigentumsrechte betonen
Fragen der distributiven Gerechtigkeit. Dabei kann es (dazu Fried 1999). Ein wesentliches Defizit des Äquiva-
1) um eine gerechte Verteilung der Steuerlast selber als lenzprinzips besteht darin, dass es staatliche Umvertei-
einer spezifischen Art von Bürde gehen oder 2) all- lung grundsätzlich ausschließt, da nach diesem Prinzip
gemeiner um eine gerechte gesellschaftliche Ressour- in einem gerechten Steuersystem jeder empfangenen
cen- oder Chancenverteilung, die sich unter anderem staatlichen Leistung eine gleichwertige Zahlung ent-
auf dem Wege der Besteuerung vollzieht. Aus der ers- sprechen muss. Deshalb ist das Äquivalenzprinzip nur
ten dieser beiden Perspektiven wird ein Steuersystem dort, wo Einkommen und Vermögen bereits unabhän-
als solches auf seine Gerechtigkeit hin beurteilt. Aus gig von staatlicher Intervention vollkommen gerecht
der zweiten Perspektive kann von distributiver Ge- verteilt sind, mit umfassenderen Forderungen distri-
rechtigkeit nur in Bezug auf eine Gesamtheit gesell- butiver Gerechtigkeit vereinbar (vgl. Murphy/Nagel
schaftlicher Institutionen die Rede sein, in deren Kon- 2002, 16–19). Zudem ergeben sich konzeptuelle und
text ein Steuersystem eine instrumentelle Rolle zur Si- epistemische Schwierigkeiten bei der Bezifferung des
cherung etwa von Chancengleichheit oder anderer Nutzens öffentlicher Güter für die einzelnen Indivi-
Gerechtigkeitsziele spielen kann. duen, da unklar ist, relativ zu welchem alternativen
1) Die erste, engere dieser beiden Perspektiven ist Zustand dieser Nutzen gemessen werden sollte und
über lange Zeit hinweg für Debatten über Steuerge- wie er sich in der Praxis ermitteln lässt (vgl. Fried 1999,
rechtigkeit prägend gewesen. Im Hinblick auf die Fra- 165–172; Kaplow 2008, 403 f.).
ge nach den Kriterien einer fairen Verteilung der Steu- Das Leistungsfähigkeitsprinzip erfordert im Gegen-
erlast sind dabei in der Literatur zwei grundlegende satz zum Äquivalenzprinzip nicht, dass sich der indivi-
Vorschläge artikuliert worden: das Äquivalenzprinzip duelle Nutzen öffentlich finanzierter Güter beziffern
(benefit principle) und das Leistungsfähigkeitsprinzip lässt. Stattdessen soll die individuelle Steuerlast sich
(ability to pay principle) (vgl. Musgrave 1959, 61–115). daran bemessen, wie viel eine Person zu den gegebe-
Vertreter des Äquivalenzprinzips betrachten Steu- nen Aufwendungen eines Staates beizutragen in der
ern als ›Schattenpreise‹ für die Güter und Dienstleis- Lage ist. Individuen mit gleicher Leistungsfähigkeit
tungen, die ein Staat seinen Bürgern zur Verfügung sollen gleich besteuert werden. Als eine Version des
stellt. Unter dem Gesichtspunkt distributiver Gerech- Leistungsfähigkeitsprinzips kann z. B. die einflussrei-
tigkeit sollten aus ihrer Sicht die Abgaben jeder einzel- che Position John Stuart Mills gelten, der zufolge Ge-
nen Person an den Staat den Gegenwert des indivi- rechtigkeit in der Besteuerung darin besteht, den Be-
duellen Nutzens darstellen, den diese Person aus den steuerten gleich große Opfer abzuverlangen (Mill
Aktivitäten des Staates bezieht. Steuern dienen dem- 1848/1965, 807). Um das Prinzip zu konkretisieren,
nach in erster Linie dazu, öffentliche Güter zur Ver- bedarf es allerdings einer Bestimmung dessen, was un-
fügung zu stellen, die von Bürgern gewünscht werden, ter Leistungsfähigkeit zu verstehen ist oder worin die
deren Produktion aber aufgrund ihrer oben beschrie- Gleichheit von Opfern besteht. So können z. B. Ein-
benen Struktur privatwirtschaftlich unrentabel ist kommen, Vermögen oder Konsum (oder eine Kom-
und deshalb nur durch die Erhebung von Steuern ge- bination davon) als Maßstäbe oder Approximationen
währleistet werden kann. Die Gerechtigkeitsnorm der von Leistungsfähigkeit herangezogen werden und so
Gleichbehandlung von Individuen durch den Staat als Bemessungsgrundlage dienen. Ein gleiches Opfer
wird nach dem Äquivalenzprinzip genau dann ge- könnte dann etwa in gleichen proportionalen Zahlun-
währleistet, wenn jede Person gleichermaßen so viel gen relativ zu der relevanten Bemessungsgrundlage
zur Finanzierung öffentlicher Güter beitragen muss, bestehen. Es könnte aber auch in der (absoluten oder
wie es ihrem Nutzen aus solchen Gütern oder ihrer proportionalen) Gleichheit des Nutzens bestehen, den
454 V Anwendungsfragen

die private Verfügung über die abgegebene Geldsum- steuerten Aktivität in höherem Maße nachzugehen,
me für eine Person bedeutet hätte. Bei abnehmendem um das durch die Besteuerung entgangene Einkom-
Grenznutzen von Vermögen würde das überpropor- men zu ersetzen, und reduzieren dafür andere, nicht
tionale Zahlungen seitens reicherer Individuen erfor- erwerbsförmige Aktivitäten (Einkommenseffekt). Ef-
dern, also eine progressive anstatt einer proportiona- fekte dieser Art werfen mindestens zwei Arten von
len Besteuerung von Individuen (vgl. Fried 1999, 188). Gerechtigkeitsfragen auf.
Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist anders als das Erstens sorgen sie dafür, dass die effektive Belas-
Äquivalenzprinzip mit redistributiven Maßnahmen tung, die durch eine Steuer entsteht, teils andere Per-
vereinbar. Dennoch ist es zweifelhaft, dass dieses Prin- sonen als diejenigen trifft, die formal gesehen die
zip sich dazu eignet, die Gerechtigkeit eines Steuersys- Steuer abführen müssen, z. B. aufgrund verringerter
tems zu ermessen, da es von der Ausgabenseite – der Nachfrage nach bestimmten Gütern oder aufgrund
Verwendung des Steueraufkommens – völlig abstra- von Entscheidungen für oder gegen bestimmte Akti-
hiert. Demgegenüber liegt aber der Gedanke nahe, vitäten, von denen wiederum andere betroffen sind.
dass ein und dieselbe Art von Besteuerung in Verbin- Formale und effektive Steuerbelastung bzw. ›Steuer-
dung mit unterschiedlich gearteten staatlichen Leis- inzidenz‹ können daher auseinanderklaffen (vgl.
tungen und Transfers die Erfordernisse distributiver Musgrave/Musgrave 1989, 234–238). Plausiblerweise
Gerechtigkeit entweder erfüllen oder verletzen kann ist unter Gesichtspunkten der Verteilungsgerechtig-
(Fried 1999; Murphy/Nagel 2002, 25). keit die effektive Inzidenz die relevante Größe. Diese
2) Gegenüber den beiden genannten Prinzipien ar- hängt aber zum großen Teil von empirisch variablen
gumentieren Murphy und Nagel (2002) im Sinne der Handlungsdispositionen und gesellschaftlichen Inter-
zweiten der beiden oben unterschiedenen Perspekti- dependenzen ab. Damit ist der Möglichkeit einer For-
ven, dass sich die Gerechtigkeit von Steuersystemen mulierung allgemeiner Kriterien für die Gerechtigkeit
überhaupt nicht angemessen auf eine Weise verstehen formaler steuerlicher Regelungen eine prinzipielle
lässt, die unversteuertes Einkommen oder Vermögen Grenze gesetzt.
als Bemessungsbasis zugrunde legt. Es gebe keine in- Zweitens manifestiert sich in den Verhaltenseffek-
stitutionelle Ebene unterhalb des Systems sozialer In- ten von Steuern der Umstand, dass unterschiedliche
stitutionen insgesamt, auf der sich distributive Ge- Arten der Besteuerung jeweils eine relative Besserstel-
rechtigkeit einschätzen ließe. Aus dieser letzteren Per- lung oder Benachteiligung bestimmter Aktivitäten,
spektive gibt es über Steuergerechtigkeit als solche Vorlieben, Lebensentwürfe etc. gegenüber anderen
nicht viel zu sagen. Steuern sind lediglich eines unter bedeuten. Dieser ›diskriminierende‹ Aspekt von Be-
verschiedenen Mitteln zur Herstellung sozialer Ge- steuerung steht in Spannung zu dem liberalen Ideal
rechtigkeit; ob ein Steuersystem die Erfordernisse die- staatlicher Neutralität gegenüber unterschiedlichen
ser oder jener Konzeption distributiver Gerechtigkeit Lebensentwürfen und individuellen Zielen. Aller-
erfüllt, hängt jeweils davon ab, welche anderen Vertei- dings lässt sich nicht leicht bestimmen, was die mora-
lungs- und Umverteilungsmechanismen in einer Ge- lisch relevante neutrale Basis sein könnte, relativ zu
sellschaft institutionalisiert sind (vgl. auch Fried 1999, welcher die steuerliche Beeinflussung individuellen
182; Dworkin 2006, 112–117). Handelns und Entscheidens eine ›Verzerrung‹ dar-
stellt. Sowohl aus Sicht derer, die die Schlüssigkeit des
Neutralitätsideals bezweifeln, als auch aus Sicht derer,
Verhaltenseffekte die dem liberalen Ideal der individuellen Wahlfreiheit
bestimmte Grenzen auferlegen möchten, bieten sich
Die Besteuerung bestimmter Transaktionen, Aktivitä- Steuern gerade aufgrund ihrer Verhaltenseffekte als
ten und Güter führt dazu, dass die Besteuerten sich – Mittel zur Verwirklichung perfektionistischer Ziele
im Einzelnen abhängig von Bemessungsgrundlage wie auch gerechter Güterverteilungen an.
und Steuersatz – anders verhalten, als sie es ohne die
jeweilige Besteuerung tun würden (vgl. dazu u. a.
Slemrod 2006). Beispielsweise weichen sie in gewis- Erbschaft
sem Umfang von steuerlich stärker belasteten Trans-
aktionen, Aktivitäten und Gütern auf andere aus (Sub- Aus Sicht von Gerechtigkeitstheorien, die die mate-
stitutionseffekt); zugleich entscheiden sie sich in Be- rielle Gleichstellung von Individuen oder zumindest
zug auf Erwerbsarbeit möglicherweise dazu, der be- eine Angleichung ihrer Lebenschancen fordern, ist
75 Steuern 455

die Besteuerung von Vermögenstransfers durch mend von Kapitaleinkommen auf Arbeitseinkommen
Schenkung oder Erbschaft ein wichtiges Mittel zur verschoben. Internationaler Steuerwettbewerb stellt
Herstellung sozialer Gerechtigkeit und insbesondere daher aus Sicht unterschiedlicher Theorien der Steu-
sozialer Chancengleichheit (vgl. Beckert 2013; White ergerechtigkeit ein Hindernis für die Realisierung
2008). Zugleich artikuliert sich gegen Erbschafts- und distributiver Gerechtigkeit innerhalb von Staaten dar
Schenkungssteuer häufig stärkerer Widerstand als ge- (Dietsch 2015).
gen die Besteuerung von Einkommen, Konsum oder Auch abgesehen von dem empirischen Phänomen
Vermögen, da solche Steuern in den Augen ihrer Kri- des Steuerwettbewerbs kann die Frage der Steuer-
tiker in private Entscheidungen und grundlegende gerechtigkeit eine Berücksichtigung der internationa-
Beziehungen von Freundschaft und Familie eingrei- len Ebene erfordern. Wenn es Erfordernisse distribu-
fen, die staatlicher Intervention entzogen bleiben tiver Gerechtigkeit gibt, die sich auf internationale
sollten (vgl. Murphy/Nagel 2002, 146). Verteidiger ei- oder globale Verteilungen beziehen (s. Kap. II.15, 16,
ner Erbschaftssteuer halten dem entgegen, dass als 17), dann kann Besteuerung ein wichtiges Instrument
Träger der Steuer nicht die Geber, sondern die Emp- für die Umsetzung solcher Erfordernisse sein, sei es
fänger solcher Transfers anzusehen seien (Alstott als Bestandteil globaler Transfers, zur Finanzierung
2007). Vermögenszuwachs durch Schenkung oder supranationaler öffentlicher Güter oder zur Schaffung
Erbschaft sollte demnach als eine Form von Einkom- wünschenswerter Anreizstrukturen für die Aktivitä-
men unter anderen behandelt werden; da es sich zu- ten von Staaten und privatwirtschaftlichen Akteuren
dem um unverdientes oder zugefallenes Eigentum (vgl. den Überblick in Brock/Pogge 2014). Hier stellen
handelt, wären verbreitete libertäre Einwände gegen sich über die Entscheidung zwischen den oben dis-
eine Einkommenssteuer in diesem Fall unwirksam kutierten Ansätzen hinaus insbesondere Fragen in Be-
(Murphy/Nagel 2002, 147; vgl. auch Haslett 1986 und zug darauf, welche Güter, Aktivitäten und Transaktio-
allgemeiner die Beiträge in Erreygers 2013). nen im Dienste globaler Gerechtigkeit besteuert wer-
den sollten; Vorschläge dazu finden sich etwa bei Pog-
ge (2002, Kap. 8) und bei Brock (2009, Kap. 5.3.). Die
Internationale und globale Steuer- Untersuchung dieser Fragen könnte auch die etablier-
gerechtigkeit te Debatte über innerstaatliche Steuergerechtigkeit
neu befruchten.
Zu den oben angesprochenen Verhaltenseffekten ge-
hören auch Anstrengungen auf Seiten von Einkom- Literatur
mensempfängern und Kapitaleigentümern (seien es Alstott, Anne: Equal opportunity and inheritance taxation.
natürliche Personen oder Körperschaften), Steuerzah- In: Harvard Law Review 121/2 (2007), 469–552.
Beckert, Jens: Erben in der Leistungsgesellschaft. Frankfurt
lungen durch die Ausnutzung internationaler Steuer- a. M. 2013.
differenziale auszuweichen, indem Kapital und wirt- Blum, Walter J./Kalven Jr., Harry: The uneasy case for pro-
schaftliche Aktivität real oder auf dem Papier in Län- gressive taxation. In: The University of Chicago Law Review
der mit geringerer Steuerbelastung verlegt werden. 19/3 (1952), 417–520.
Solche Bemühungen können zu einem Steuerwett- Brock, Gillian: Global Justice. A Cosmopolitan Account. Ox-
ford 2009.
bewerb zwischen Staaten führen, der die Struktur ei-
–/Pogge, Thomas: Global tax justice and global justice. In:
nes kollektiven Handlungsproblems hat und auf dem Moral Philosophy and Politics 1/1 (2014), 1–15.
Wege wechselseitigen Unterbietens zu einer Verringe- Dietsch, Peter: Catching Capital. Oxford 2015.
rung von Steuereinnahmen seitens aller Beteiligten Dworkin, Ronald: Is Democracy Possible Here? Princeton
führt (Brock 2009, Kap. 5.2.; Dietsch 2015, Kap. 1; Ko- 2006.
honen/Mestrum 2009). Epstein, Richard: Takings. Private Property and the Power of
Eminent Domain. Cambridge MA 1985.
Der Steuerwettbewerb zwischen Staaten unter-
Erreygers, Guido (Hg.): Inherited Wealth, Justice and Equali-
gräbt deren Fähigkeit, auf dem Wege selbstbestimm- ty. London 2013.
ter Steuerpolitik Ziele distributiver Gerechtigkeit zu Fried, Barbara: The puzzling case for proportionate taxation.
verfolgen. Zudem werden dabei kleinere, geogra- In: Chapman Law Review 2/1 (1999), 157–195.
phisch weniger flexible wirtschaftliche Akteure ge- Halliday, Daniel: Justice and taxation. In: Philosophy Com-
genüber großen multinationalen Konzernen benach- pass 8/12 (2013), 1111–1122.
Haslett, D. W.: Is inheritance justified? In: Philosophy & Pu-
teiligt und die Steuerlast wird infolge der Verringe- blic Affairs 15/2 (1986), 122–155.
rung von Unternehmens- und Kapitalsteuern zuneh-
456 V Anwendungsfragen

Kaplow, Louis: The Theory of Taxation and Public Economics. 76 Strafe und Strafvollzug
Princeton 2008.
Kohonen, Matti/Mestrum, Francine (Hg.): Tax Justice. Put- Wendet man sich der Frage nach der Gerechtigkeit
ting Global Inequality on the Agenda. London 2009.
Mill, John Stuart: The Principles of Political Economy [1848]. staatlicher Strafe zu, so hat man zunächst die mögli-
Toronto 1965. chen grundlegenden Prinzipien, auf denen das Straf-
Murphy, Liam/Nagel, Thomas: The Myth of Ownership. Ox- recht eines Staats fußen kann, einer allgemeinen
ford 2002. rechtsphilosophischen Kritik zu unterziehen. Man
Musgrave, Richard: The Theory of Public Finance. New York muss dann die möglichen Prinzipien daraufhin befra-
1959.
gen, ob und wie sie im Allgemeinen als gerecht be-
–: A brief history of fiscal doctrine. In: Alan J. Auerbach/
Martin Feldstein: Handbook of Public Economics, Bd. 1. gründet werden können und somit geeignet sind, als
Amsterdam 1985. Fundament einer rechtsstaatlichen Strafrechtsord-
–/Musgrave, Peggy: Public Finance in Theory and Practice nung zu dienen. Diese Fragen nach der allgemeinen
[1973]. New York 1989. Rechtfertigung ihrer Geltung betreffen die basalen
Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. New York 1974. Prinzipien der Strafbegründung, der Strafbemessung
Pogge, Thomas: World Poverty and Human Rights. Cam-
bridge 2002.
und des Strafverfahrens (s. Kap. II.19).
Slemrod, Joel: The consequences of taxation. In: Social Phi- Die Frage nach der Gerechtigkeit staatlicher Strafe
losophy and Policy 23/2 (2006), 73–87. reduziert sich jedoch nicht darauf, basale Prinzipien
Steiner, Hillel: An Essay on Rights. Oxford 1994. als gerecht zu begründen. Denn auch mit Blick auf sol-
White, Stuart: What (if anything) is wrong with inheritance che Prinzipien, die bereits als gerecht begründet gelten
tax? In: The Political Quarterly 79/2 (2008), 162–171.
und die als Basis einer bestehenden rechtsstaatlichen
Felix Koch Strafrechtsordnung anerkannt sind, kann noch ein-
mal gesondert gefragt werden, ob ihre Anwendung im
Allgemeinen den Bedingungen der Gerechtigkeit ge-
nügt. Diese Fragen nach der Anwendungsgerechtig-
keit innerhalb eines etablierten Strafrechtssystems be-
treffen dabei die näheren Bestimmungen der Straf-
zumessung sowie die näheren Bestimmungen zu Art
und Umfang der Strafvollstreckung.
Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich
exemplarisch auf das Strafrechtssystem der Bundes-
republik Deutschland als Beispiel einer bereits beste-
henden rechtsstaatlichen Strafrechtsordnung und
-praxis.

Gerechte Strafzumessung

Wie für jede rechtsstaatliche Ordnung im Allgemei-


nen, so gilt auch für eine rechtsstaatliche Strafrechts-
ordnung, dass sie dem Grundsatz der Gleichheit aller
Rechtsadressaten vor dem Gesetz (ius respicit aequita-
tem) verpflichtet sein muss, um als gerecht gelten zu
können (zum Begriff ›Gleichheit‹ s. Kap. II.28). Ein
solcher Gleichheitsgrundsatz muss für die rechtsstaat-
liche Legislative, Exekutive und Judikative bindend
sein. Er verbietet es, Rechtsadressaten etwa wegen ih-
res Geschlechts, ihrer Abstammung, ihrer Sprache, ih-
res religiösen Glaubens oder ihrer politischen An-
schauungen zu benachteiligen oder zu bevorzugen
(vgl. für die Bundesrepublik Deutschland Art. 3 Abs. 1
GG). Dadurch soll vor allem gewährleistet werden,
76 Strafe und Strafvollzug 457

dass Benachteiligungen ausgeschlossen sind, die der ten Rechts gibt es aber in vielen Strafrechtsordnungen
jeweiligen Sachfrage fremd sind und lediglich auf un- bestehender Rechtsstaaten noch eine weitere Ebene,
gerechtfertigten Vorurteilen gegenüber bestimmten die durch zum Teil erhebliche Ermessensspielräume
Bevölkerungsgruppen beruhen (vgl. Jescheck/Wei- gekennzeichnet ist. Dies betrifft die geltenden relati-
gend 1996, 875 f., 890, 899; Hörnle 2010, 105, 120– ven Strafdrohungen und die nach tatrichterlicher
122). Der Gleichheitsgrundsatz ist gemeinhin dann Feststellung der Schuldfähigkeit und Schuld eines An-
verletzt, wenn ein bestimmter Rechtsadressat im Ver- geklagten erfolgende Strafzumessung durch die Straf-
gleich zu den übrigen Rechtsadressaten rechtlich an- gerichte (vgl. Streng 2013, § 46 Rn 5).
ders behandelt wird, obwohl zwischen ihnen keine In den meisten Strafrechtsordnungen moderner
Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht Rechtsstaaten ist das System angedrohter Strafen für
bestehen, dass sie die rechtliche Ungleichbehandlung gesetzlich bestimmte Typen begangener Straftaten,
rechtfertigen würden. Die allgemeine Geltung des d. h. Normtatbestände, weitgehend durch relative
Gleichheitsgrundsatzes impliziert allerdings nicht, Strafdrohungen bestimmt. Ausnahmen bilden zu-
dass im Namen der Gerechtigkeit sämtliche bestehen- meist nur wenige absolute Strafdrohungen, die oft
de Unterschiede zwischen den einzelnen Rechtsadres- auch zugleich die höchstmöglichen Strafdrohungen
saten und ihrem jeweiligen rechtlich relevanten Tun innerhalb eines gegebenen Strafrechtssystems darstel-
ignoriert werden müssen oder sollen. Das vom Gleich- len. In der Bundesrepublik Deutschland ist dies die
heitsgrundsatz ausgehende Differenzierungsverbot ist Androhung einer lebenslangen Freiheitsstrafe für z. B.
daher ebenso wenig ein absolutes Verbot jeglicher Dif- Mord (vgl. StGB, § 211), für besonders schwere Fälle
ferenzierung, wie der Gleichheitsgrundsatz ein Grund- des Totschlags (vgl. StGB, § 212) oder für Völkermord
satz absoluter Gleichheit ist. Denn gerade die Forde- (vgl. VStGB, § 6). Bei einer lebenslangen Freiheitsstra-
rung nach Gerechtigkeit macht Differenzierungen er- fe kann zwar nach Verbüßung von mindestens 15 Jah-
forderlich, um rechtlich relevante Unterschiede im ren Haft erstmals die Aussetzung des Strafrestes über-
Tun der Rechtsadressaten angemessen erfassen und prüft werden (vgl. StGB, § 57a), und sofern dies abge-
würdigen zu können. Deshalb verlangt der Gleich- lehnt wird, kann der Verurteilte alle zwei Jahre erneut
heitsgrundsatz keine uniforme und kontextblinde An- einen Antrag stellen. Aber die Strafdrohung für z. B.
wendung des Rechts. Vielmehr geht von ihm die For- Mord ist in der Bundesrepublik Deutschland insofern
derung aus, gleiches Tun gleich und ungleiches Tun absolut, als es keine gesetzlich vorgesehene Varianz
ungleich zu behandeln (vgl. Bleckmann 1995; Wol- der Haftzeit bei der Strafzumessung durch die Strafge-
frum 2003). Im Rahmen des Strafrechts findet diese richte gibt (vgl. StGB, § 38), anders als etwa in Norwe-
Forderung ihren Ausdruck in dem Gebot, dass tat- gen oder Portugal, wo Mord durch so genannte ›zeiti-
bestandlich gleiches Handeln strafrechtlich gleich zu ge‹ (d. h. von vornherein zeitlich befristete) Strafen ge-
behandeln ist. ahndet wird. Allerdings ist auch in der Bundesrepu-
Obwohl durch die Befolgung des Gleichheits- blik Deutschland eine gewisse Varianz dadurch
grundsatzes dem Willkürverbot einer rechtsstaatli- gegeben, dass bei der Verurteilung zu einer lebenslan-
chen Ordnung im Allgemeinen Genüge getan wird, gen Freiheitsstrafe neben der Schuld zudem die ›be-
darf man nicht verkennen, dass dem Gesetzgeber hier sondere Schwere der Schuld‹ festgestellt werden kann,
ein recht weiter Ermessensspielraum bei der Formu- was eine Aussetzung des Strafrestes nach bereits 15
lierung gesatzten Rechts zukommt. Es obliegt nämlich Jahren auch bei guter Führung und guter Sozialprog-
weitgehend seiner Entscheidung, welche Merkmale nose ausschließt. (Das in den letzten Jahren viel dis-
einer Sachlage überhaupt als so relevant angesehen kutierte und 2013 reformierte Mittel der Unterbrin-
werden, dass sie in die Formulierung eines Gesetzes gung in der Sicherungsverwahrung kann jedoch nicht
Eingang finden. Dies ist mit Blick auf die Gerechtig- im Sinne einer solchen Varianz gedeutet werden, da es
keit in einem Rechtsstaat kein unwesentlicher Punkt. keine Freiheitsstrafe, sondern eine Maßregel der Bes-
Denn welches Tun in welcher tatbestandlichen Hin- serung und Sicherung ist, vgl. StGB § 66).
sicht im Allgemeinen als gleiche oder als ungleiche Im Gegensatz zu absoluten Strafdrohungen zeich-
Handlung zählen kann, wird zuallererst dadurch be- nen sich relative Strafdrohungen dadurch aus, dass die
stimmt, welche Merkmale einer Sachlage jeweils Ein- Angaben der jeweils angedrohten Strafen für die ge-
gang in die Formulierung eines geltenden Strafgeset- setzlich bestimmten Normtatbestände eine bestimm-
zes gefunden haben. Neben diesem Ermessensspiel- te Variabilität aufweisen, deren Grenzen durch eine
raum des Gesetzgebers bei der Formulierung gesatz- Mindest- und eine Höchststrafe bestimmt sind. Diese
458 V Anwendungsfragen

Variabilität der Strafzumessung für Normtatbestände den, um dann per Analogie womöglich auf die Bewer-
bildet den Strafrahmen, der vom Gesetzgeber im Vor- tung anderer Fälle zu schließen.
hinein festgelegt ist. Der jeweilige Strafrahmen soll Anders als z. B. in der anglo-amerikanischen Rechts-
dabei zum einen in allgemeiner Weise die Unrechts- tradition, in der tatrichterliche Entscheidungen seit
und Schuldbewertung von Normtatbeständen durch jeher als Präzedenzfälle selbst Eingang in das Rechts-
den Gesetzgeber zum Ausdruck bringen (vgl. Lack- system finden und Entscheidungen höherinstanzli-
ner/Kühl 2014, § 46 Rn 6). Zum anderen soll er die all- cher Strafgerichte bindende Wirkung für niedrigere
gemein denkbare Varianz adäquater tatrichterlicher Instanzen haben (binding precidents), wird die Auswei-
Strafzumessungserwägungen bei der Bestrafung tat- tung des tatrichterlichen Ermessensspielraums in der
bestandsmäßig handelnder Rechtsadressaten abbil- vom Rechtspositivismus geprägten deutschen und
den (vgl. Hassemer 1968, 281). Die Etablierung von kontinentaleuropäischen Rechtstradition jedoch häu-
Strafrahmen in Form gesatzten Rechts soll somit die fig kritisch gesehen (vgl. z. B. Krakau/Streng 2003).
tatrichterlichen Instanzen in die Lage versetzen, für Ausgehend von der grundlegenden Idee, dass sich die
jede einzelne konkrete Straftat eine angemessene Stra- Urteile der Gerichte an dem vom Gesetzgeber vorgän-
fe zu verhängen und dabei zugleich, fern aller Willkür gig beschlossenen gesatzten Recht und nicht an den
bei der Strafzumessung, an die allgemeinen Wertun- Entscheidungen anderer Gerichte zu orientieren ha-
gen des Gesetzgebers gebunden zu sein. ben, ist zwar die gesetzliche Angabe möglicher Straf-
Der dadurch in der Strafpraxis eröffnete tatrichter- rahmen als Bestandteil relativer Strafdrohungen weit-
liche Ermessensspielraum bei der Würdigung des je- gehend ebenso akzeptiert wie der durch die gesetzliche
weiligen Einzelfalls erfährt eine zusätzliche Erweite- Angabe des Strafrahmens vorgängig festgelegte Er-
rung durch die vom Gesetzgeber vorgesehene Mög- messensspielraum tatrichterlicher Strafzumessung. Im
lichkeit, dass das Strafgericht bei der Strafzumessung Gegensatz dazu wird jedoch die Möglichkeit, dass das
den jeweiligen Tatbestand als minder schweren oder Strafgericht bei der Strafzumessung den jeweiligen
besonders schweren Fall bewertet. Diese Möglichkeit Tatbestand als minder schweren oder besonders
stellt nicht nur eine weitere Flexibilisierung der tat- schweren Fall bewerten kann, mitunter stark kritisiert.
richterlichen Strafzumessung dar, um dem jeweiligen Kritiker monieren z. B., dass dadurch die Aufgabe des
Einzelfall noch besser Rechnung tragen zu können Gesetzgebers, das Strafmaß festzusetzen, zu stark auf
(vgl. Eisele 2004, 101). Mit ihr wird vom Gesetzgeber die Einzelfallentscheidungen der Strafgerichte ver-
auch noch einmal die gewichtige Rolle der tatrichterli- lagert werde. Dies führe nicht nur dazu, dass originär
chen Urteilskraft bei der Entscheidung über die im je- legislative Aufgaben tendenziell auf die Judikative
weiligen Einzelfall adäquate Strafzumessung hervor- übertragen werden und somit die Gefahr bestehe, dass
gehoben. Unter dem Gesichtspunkt der Anwendungs- gegen das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung
gerechtigkeit ist diese Hervorhebung der je situations- verstoßen werde. Vielmehr bedeute dies auch mit Blick
und kontextbezogenen Urteilskraft bei der Würdigung auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland,
des jeweiligen Einzelfalls begrüßenswert. Denn die je- dass die Gefahr bestehe, in Konflikt mit Artikel 103
weiligen situations- und kontextspezifischen Merk- Abs. 2 GG (und StGB, § 1) zu geraten, der besagt, dass
male, die für eine gerechte Strafzumessung relevant eine Tat nur dann bestraft werden kann, wenn die
sind, können zwar jeweils vom Tatrichter erfasst wer- Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat be-
den, nicht jedoch von den allgemeinen Bestimmun- gangen wurde (vgl. Streng 2013, § 46 Rn 8, mit weite-
gen, die vorgängig zum jeweiligen besonderen Einzel- ren Nachweisen kritischer Stellungnahmen). Denn
fall als Strafgesetze formuliert wurden. Daher kann durch die Möglichkeit, einen Tatbestand als minder
gesetzlich auch nur formal die Möglichkeit des Vor- schweren oder besonders schweren Fall zu bewerten,
liegens eines minder schweren oder besonders schwe- eröffneten sich derart große Interpretationsspiel-
ren Falls eingeräumt werden. Material kann das Vor- räume, dass die Beschreibungen einer Tat als minder
liegen eines solchen Falls sich jedoch nur aus dem je- schwerer Fall und als besonders schwerer Fall so stark
weiligen Verhältnis ergeben, das zwischen den Inhal- divergieren könnten, dass es fraglich werde, ob man
ten der betreffenden Gesetze, gegen die verstoßen überhaupt noch gerechtfertigterweise sagen kann,
wurde, und den je besonderen Umständen der Tat be- beide Fälle fielen unter ein und dieselbe Tatbeschrei-
steht. Im Gegensatz zu Normtatbeständen können bung. Damit könnte aber auch in Frage stehen, ob die
minder schwere oder besonders schwere Fälle deshalb Strafbarkeit des jeweiligen Tatbestands samt der da-
auch nur im Einzelnen exemplarisch angeführt wer- zugehörigen Strafdrohung hinreichend gesetzlich be-
76 Strafe und Strafvollzug 459

stimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Eben dies halb als solches begreifen, weil es unter das Allgemei-
könnte jedoch unmittelbar zum Konflikt mit Artikel ne fällt, zu dem es ins Verhältnis gesetzt wird. Denn
103 Abs. 2 GG führen und damit auch gegen den für nur so lässt sich bestimmen, was an dem Einzelnen
einen Rechtsstaat zentralen Grundsatz des Strafrechts das Besondere ist. Gerechtigkeit besteht jedoch nicht
verstoßen, dass ein potenzieller Straftäter vor Be- darin, das Allgemeine auf das Einzelne blind an-
gehung der Tat wissen können muss, was ihn als Strafe zuwenden, sondern darin, das Einzelne als Exemplar
erwartet (nullum crimen, nulla poena sine lege; vgl. v. a. des Allgemeinen in seiner Besonderheit zu würdigen
Feuerbach 1801/1986, § 20 I; von Liszt 1893/1970, 80; (vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Begriff der
Krey 1983). Billigkeit in: Aristoteles, NE V 14). Nur so kann man
Das rechtspositivistische Unbehagen an den zu- dem Einzelnen als das, was es in seiner Besonderheit
sätzlichen Ermessensspielräumen, die die bundes- ist, gerecht werden.
republikanische Strafrechtsordnung für die tatrichter- Aus dieser generellen Einsicht folgt mit Blick auf
liche Strafzumessung vorsieht, wäre dann berechtigt, die Anwendungsgerechtigkeit des Strafrechts: Nur
wenn von ihnen die Gefahr willkürlicher und geset- dann, wenn die weitreichende Möglichkeit ein-
zesferner Einzelfallentscheidungen der Strafgerichte geräumt wird, die vorgängig gesatzten allgemeinen
ausginge. Auf einem weitreichenden Missverständnis Formulierungen der bestehenden Strafgesetze auf den
würde dieses Unbehagen indes gründen, resultierte es je konkreten einzelnen Fall möglichst situations- und
aus der Ansicht, dass idealerweise jegliche Anwen- kontextsensibel anzuwenden, ist auch die Möglichkeit
dung allgemeiner Strafgesetze im konkreten Einzelfall gegeben, den einzelnen Fall in seiner jeweiligen Be-
selbst vollständig durch vorgängige Gesetze material sonderheit zu würdigen und somit vorgängig und all-
geregelt sein müsse, da die Anwendung ansonsten die gemein formuliertes Strafrecht je gerecht anzuwen-
Tendenz habe, ungenau oder gar beliebig zu sein. Das den. Mit Blick auf das Verhältnis zwischen gesatzten
weitreichende Missverständnis (das weit über den ju- Strafgesetzen und tatrichterlichem Ermessen ergibt
ridischen Bereich hinausweist) besteht dann darin zu sich daraus, dass die Notwendigkeit möglichst großer
glauben, die allgemeine Angabe einer finiten Liste kri- tatrichterlicher Ermessenspielräume nicht als ein not-
terieller Bedingungen könne als eine der jeweiligen wendiges Übel der Anwendung oder als notgedrunge-
konkreten Anwendung einer Regel vorgängige Regel ner Kompromiss zwischen gesetzgeberischer Vorgabe
die Anwendung jener Regel in der Weise regeln, dass und tatrichterlicher Interpretation zu begreifen ist.
man aus der Erfüllung der zuvor festgelegten Bedin- Vielmehr stellt die Erfüllung der Bedingung möglichst
gungen gleichsam deduktiv-mechanistisch auf die großer tatrichterlicher Ermessenspielräume ein kon-
korrekte Anwendung schließen kann. Dies ist deshalb stitutives Merkmal eines gediegenen Strafrechtssys-
ein Missverständnis, weil hier zum einen die prinzi- tems dar, das gerechte Strafzumessungen ermöglicht
pielle Unausweichlichkeit eines infiniten Regelregres- und befördert. Je geringer nämlich die tatrichterlichen
ses verkannt wird, die sich aus einem solchen Vor- Ermessenspielräume bei der Strafzumessung sind,
gehen ergibt (vgl. Wittgenstein 1953/1984, § 85, desto weniger kann die Würdigung des je Besonderen
§§ 198–201). Zum anderen besteht das Missverständ- eines jeweiligen Falls in der Strafzumessung ihren
nis aber auch darin, dass hier ein bestimmtes Ver- Niederschlag finden.
ständnis von ›Genauigkeit‹, das am deduktiven Schlie- Gegenüber einer bloß blind-mechanistischen An-
ßen orientiert und in bestimmten theoretischen (z. B. wendung gesatzten Strafrechts erhöhen möglichst gro-
mathematischen) Kontexten auch angemessen ist, ße Ermessenspielräume situations- und kontextsen-
bruchlos auch auf praktische Kontexte übertragen sibler Tatrichter daher erheblich die Wahrscheinlich-
und zum alleinigen Paradigma gemacht wird. Damit keit, dass es nicht zu ungerechten Urteilen – zu Fehl-
wird jedoch nicht nur verkannt, dass ›Genauigkeit‹ in urteilen – kommt, gänzlich verhindert werden können
praktischen Kontexten anders zu charakterisieren ist Fehlurteile dadurch jedoch nicht. Auch die größten
als in theoretischen (vgl. Aristoteles, NE I 1, 1094b tatrichterlichen Ermessenspielräume wären keine Ga-
12 ff., 1094b 21; NE III 5), sondern auch, dass die Ge- rantie dafür, dass es nie zu Fehlurteilen kommt. Eine
rechtigkeit der Anwendung von etwas Allgemeinem solche Garantie zu fordern, würde allerdings vollends
(wie einer Regel oder einem Gesetz) auf ein Einzelnes verkennen, dass eine gerechte Anwendung allgemei-
verlangt, das Einzelne so zu begreifen, dass es als ein ner Gesetze eine praktische Tätigkeit ist, die als solche
Besonderes das Allgemeine exemplifiziert. Das Be- stets auf die wohlinformierte und kluge praktische Ur-
sondere des Einzelnen lässt sich dabei zwar nur des- teilskraft des Tatrichters angewiesen bleibt. Die damit
460 V Anwendungsfragen

notwendig einhergehende interpretative und dezisio- des geschlossenen Strafvollzugs vorliegt, ist das Voll-
nistische Freiheit tatrichterlichen Ermessens kann da- zugsziel der Resozialisierung ein zentrales Anliegen
her rechtsphilosophisch weder ignoriert noch eli- des Strafvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland
miniert werden (vgl. Derrida 1991; Fish 2011) – auch (vgl. StVollzG, § 2). Dementsprechend zielt die Gestal-
und gerade dann nicht, wenn einem an der Anwen- tung des Strafvollzugs (vgl. StVollzG, § 3) auch darauf
dungsgerechtigkeit des Strafrechts gelegen ist. ab, die Lebensverhältnisse innerhalb einer Justizvoll-
zugsanstalt den allgemeinen Lebensverhältnissen so
weit als möglich anzugleichen (etwa durch Erwerbs-
Gerechter Strafvollzug tätigkeit, Freizeitmöglichkeiten, Ausbildungsange-
bote), den schädlichen Folgen der Haft entgegen-
Abhängig davon, welche Tat einem Angeklagten zuwirken und den Inhaftierten auf sein Leben nach
während eines Strafprozesses nachgewiesen und der Haftverbüßung vorzubereiten (vgl. StVollzG,
welche Schwere der Tat festgestellt wurde, werden §§ 15 f., §§ 74 f.). Das Vollzugsziel der Resozialisie-
sich auch Art und Umfang der Strafe unterscheiden, rung kann als eigenständiger Strafzweck betrachtet
die mit der Urteilsverkündung verhängt und dann oder aber auch instrumentell als Mittel zur Verwirk-
auch für gewöhnlich vollstreckt wird. Im Strafrechts- lichung (general- oder spezial-)präventiver Strafzwe-
system der Bundesrepublik Deutschland sind als cke aufgefasst werden. Allerdings kann die Idee der
Formen der Strafvollstreckung vor allem Geld- und Resozialisierung nicht durch jene Strafzwecktheorien
Freiheitsstrafen vorgesehen. Wird eine Freiheitsstra- begründet werden, die auf dem Talionsprinzip (ius ta-
fe rechtskräftig verhängt, so wird die betreffende lionis) beruhen und den primären Zweck einer ge-
Person in einer Justizvollzugsanstalt inhaftiert. Ur- rechten Strafe in der Vergeltung der Straftat sehen.
sprünglich in einem bundeseinheitlichen Strafvoll- Anders als Resozialisierung, Prävention oder Süh-
zugsgesetz (StVollzG) geregelt, liegt die Regelung des ne ist der Strafzweck der Vergeltung allerdings auch
Strafvollzugs seit der Föderalismusreform von 2006 fragwürdig, was die berechtigten Erwartungen an das
bei den einzelnen Bundesländern der Bundesrepu- Strafrechtssystem eines gediegenen Rechtsstaats be-
blik Deutschland. Dementsprechend regeln seitdem trifft. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich bei
die Strafvollzugsgesetze der einzelnen Bundesländer dem zu bestrafenden Tatbestand um Mord handelt
Art und Umfang des Strafvollzugs im Detail. Grund- und wenn seine Vergeltung in der Vollstreckung der
sätzlich kann jedoch zwischen den Formen des of- Todesstrafe besteht. Die Auffassung, dass letztlich nur
fenen und des geschlossenen Strafvollzugs in ei- die Hinrichtung des wegen Mordes Verurteilten wie-
ner Justizvollzugsanstalt unterschieden werden. Die der Gerechtigkeit herstellen könne, vertrat unter an-
Form des offenen Strafvollzugs zeichnet sich gegen- derem schon Immanuel Kant (vgl. Kant AA VI, 331–
über dem geschlossenen Vollzug vor allem dadurch 337). Die mit dieser Auffassung einhergehenden Prak-
aus, dass es keine oder nur verminderte Vorkehrun- tiken der Hinrichtung lassen sich aber auch heutzuta-
gen gegen Entweichungen der Inhaftierten gibt. ge noch in den Rechtssystemen vieler Länder finden,
Während ein Inhaftierter des geschlossenen Straf- so etwa in denen der Vereinigten Staaten von Ame-
vollzugs sich in Räumen bewegt, die baulich beson- rika, der Volksrepublik China und des Königreichs
ders gegen seine mögliche Entweichung gesichert Saudi-Arabien.
sind, und sowohl die Besuche, die er empfängt, wie Während man Kant und mit ihm allen Vergeltungs-
auch sein Schriftverkehr überwacht werden, können theoretikern darin Recht geben muss, dass eine Haft-
Insassen des offenen Strafvollzugs auch Freigang er- strafe kein Surrogat für den Tod sein kann, lässt sich
halten, um tagsüber einer Arbeit außerhalb der Jus- allerdings sehr wohl fragen, ob eine gerechte Strafe
tizvollzugsanstalt nachzugehen. Dies ist im Rahmen überhaupt in der Gleichartigkeit des Verbrechens und
des Strafvollzugs das weitestgehende Instrument der Wiedervergeltung bestehen muss. Dies gilt gerade
zum Zweck der Resozialisierung eines Inhaftierten, dann, wenn man sich nicht Kants Ausführungen zur
das im Zuge der Strafvollstreckung nur von der vor- Todesstrafe, sondern seine formaleren Überlegungen
zeitigen Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung zur praktischen Vernunft, zur Achtung vor der Ver-
mit anschließender Bewährungsüberwachung als nunft und zur Würde des (menschlichen) Vernunft-
Instrument zum Zweck der Resozialisierung über- wesens ins Gedächtnis ruft (vgl. z. B. Kant AA IV, 385–
troffen wird. 464). Dann liegt es nämlich nahe zu sagen, dass eine
Unabhängig davon, ob die Form des offenen oder Strafe nur dann gerecht sein kann, wenn mit der Straf-
76 Strafe und Strafvollzug 461

vollstreckung die zu bestrafende menschliche Person buchstäblich lebenslange Vollstreckung der lebenslan-
insofern als Vernunftwesen im vollen Sinne geachtet gen Freiheitstrafe herangezogen werden. Denn auch
wird, als ihr nicht nur die Einsicht zu vermitteln ver- eine Haftstrafe, die tatsächlich ein Leben lang andau-
sucht wird, dass ihre Tat nicht verallgemeinerungs- ert, nimmt dem Verurteilten die Möglichkeit, sich in
würdig, sondern bereuenswert ist und sie sich mit der Freiheit zu einem Handeln zu bestimmen, das seine
geltenden Rechtsordnung wieder zu versöhnen hat. Reue und seine Versöhnung mit der geltenden Rechts-
Vielmehr muss der Person auch die Möglichkeit gege- ordnung praktisch manifestiert. Zwar kann er unter
ben werden, sich zukünftig aus dieser Einsicht und in den Bedingungen des Strafvollzugs ein Verhalten an
Freiheit zu einem Handeln zu bestimmen, das ihre den Tag legen, das als ›gute Führung‹ zu bewerten ist,
Reue und Versöhnung mit der geltenden Rechtsord- aber unter den allgemeinen gesellschaftlichen Lebens-
nung Wirklichkeit werden lässt. Daher ist es mehr als bedingungen jenseits des Strafvollzugs könnte er seine
fraglich, ob ein Straftäter durch die Vollstreckung der durch die Strafe gewonnene Einsicht nicht mehr in
Todesstrafe an ihm in hinreichendem Maße als Ver- freier intersubjektiver Kooperation mit anderen Men-
nunftwesen geachtet werden kann. Denn seine Reue schen (als Vernunftwesen) praktisch verwirklichen.
und Versöhnung mit der Rechtsordnung könnte bes- Daher ist es einleuchtend, dass das Bundesverfas-
tenfalls nur noch theoretischer Art sein. Indem ihm sungsgericht der Bundesrepublik Deutschland be-
nämlich durch seine Hinrichtung seine Existenz als tont, die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstra-
Vernunftwesen genommen wird, wird ihm damit zu- fe sei nur dann mit dem im Grundgesetz verankerten
gleich auch die Möglichkeit genommen, sich in Frei- Schutz der Menschenwürde (Art. 1 GG) vereinbar,
heit zu einem Handeln zu bestimmen, das seine Reue wenn durch die Verurteilung zu einer lebenslangen
und seine Versöhnung mit der geltenden Rechtsord- Freiheitsstrafe nicht von vornherein die Möglichkeit
nung praktisch manifestiert. Damit wird aber die ausgeschlossen wird, dass der Verurteilte auf recht-
praktische Vernunft in seiner Person nicht hinrei- mäßigem Wege jemals wieder seiner Freiheit teilhaftig
chend geachtet und er somit auch nicht als Vernunft- werden könne (BVerfGE 45, 187, 253–255).
wesen im vollen Sinn, d. h. sowohl als theoretisches
wie auch praktisches Vernunftwesen. So ließe sich ge- Literatur
wissermaßen mit der praktischen Philosophie Kants Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hg. von Ursula Wolf.
gegen den Vergeltungstheoretiker Kant (und gegen Hamburg 2006 [NE].
Bleckmann, Albert: Die Struktur des allgemeinen Gleichheits-
die meisten anderen Vergeltungstheoretiker) argu- satzes. Köln 1995.
mentieren, dass vernünftigerweise die Abschaffung Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der
der Todesstrafe geboten ist, weil durch die Hinrich- Autorität«. Frankfurt a. M. 1991.
tung der verurteilten menschlichen Person diese gera- Eisele, Jörg: Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht. Zugleich
de nicht hinreichend als Vernunftwesen geachtet wird ein Beitrag zur Lehre vom Tatbestand. Tübingen 2004.
Feuerbach, Paul Johann Anselm von: Lehrbuch des gemeinen
und mit der Vollstreckung der Todesstrafe daher ge-
in Deutschland gültigen peinlichen Rechts [1801]. Aalen
gen die Würde des Menschen (als Vernunftwesen) 141986.
verstoßen wird. Fish, Stanley: Das Recht möchte formal sein. Essays. Frank-
Auf diesen Punkt bezugnehmend, kann auch gegen furt a. M. 2011.
Arten der Strafvollstreckung argumentiert werden, Hassemer, Winfried: Die rechtstheoretische Bedeutung des
die die systematische Androhung und/oder Zufügung gesetzlichen Strafrahmens. In: Arthur Kaufmann (Hg.):
Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch: 21.11.1878 –
von physischem Schmerz bzw. Folter umfassen. Denn
23.11.1949. Göttingen 1968, 281–290.
sie zielen nicht auf eine vernünftige Einsicht durch Hörnle, Tatjana: Strafzumessungslehre im Lichte des
Gründe ab, sondern wollen lediglich durch die Ver- Grundgesetzes. In: Eva Schumann (Hg.): Das strafende
ursachung von Neigungen (wie Angst und Leid) den Gesetz im sozialen Rechtsstaat. Berlin 2010, 105–137.
Willen des Straftäters brechen. Damit achten auch sie Jescheck, Hans-Heinrich/Weigend, Thomas: Lehrbuch des
den Straftäter nicht als Vernunftwesen, das sich als Strafrechts: Allgemeiner Teil. Berlin 51996.
Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
solches autonom und aus Gründen zu seinem Han- [1785]. In: Königlich Preußische Akademie der Wissen-
deln bestimmt. Schließlich kann das soeben gegen die schaften (Hg.): Kant’s gesammelte Schriften [Akademie-
Todesstrafe angeführte Argument, dass ihre Vollstre- Ausgabe], Bd. IV. Berlin 1968 [AA IV].
ckung dem Verurteilten die Möglichkeit nimmt, seine –: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre [1797]. In:
Reue und seine Versöhnung mit der geltenden Rechts- Akademie-Ausgabe, Bd. VI. Berlin 1968 [AA VI].
Krakau, Knud/Streng, Franz (Hg.): Konflikt der Rechtskul-
ordnung praktisch zu manifestieren, auch gegen die
462 V Anwendungsfragen

turen? Die USA und Deutschland im Vergleich / American 77 Tiere


and German Legal Cultures. Contrast, Conflict, Convergen-
ce? Heidelberg 2003. Die Beziehung zwischen Mensch und Tier sowie der
Krey, Volker: Keine Strafe ohne Gesetz: Einführung in die
Dogmengeschichte des Satzes »Nullum crimen, nulla poena moralische Status von Tieren sind seit der Antike im-
sine lege«. Berlin 1983. mer wieder auch Gegenstand philosophischen und
Lackner, Karl/Kühl, Kristian: Strafgesetzbuch: StGB. Kom- ethischen Nachdenkens gewesen. Als eigenständige
mentar. München 282014. Bereichsethik gibt es die moderne Tierethik aber erst
Liszt, Franz von: Über den Einfluß der soziologischen und seit den 1970er Jahren (einen Überblick findet man in:
anthropologischen Forschung auf die Grundbegriffe des
Wolf 2008; Schmitz 2014; Grimm/Wild 2016). Gegen-
Strafrechts [1893]. In: Ders.: Strafrechtliche Aufsätze und
Vorträge, Bd. II [1905]. Berlin 1970, 75–93. stand der Tierethik sind die Mensch-Tier-Beziehung
Streng, Franz: § 46 Rn. 5, Rn. 8. In: Urs Kindhäuser/Ulfrid und insbesondere die ethischen Fragen, die sich aus
Neumann/Hans-Ullrich Paeffgen (Hg.): Nomos Kommen- dem Umgang des Menschen mit Tieren ergeben (Wolf
tar. Strafgesetzbuch, Bd. 1. Baden-Baden 42013. 2012). Dies betrifft in der Hauptsache die Nutzung
Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen von Tieren durch den Menschen (etwa als Nutz-, Ver-
[1953]. In: Ders.: Werkausgabe, Bd. I. Frankfurt a. M.
1984, 225–618.
suchs-, Zoo- oder Heim- und Begleittiere), aber auch
Wolfrum, Rüdiger (Hg.): Gleichheit und Nichtdiskriminie- den Umgang mit freilebenden Tieren (Armstrong/
rung im nationalen und internationalen Menschenrechts- Botzler 2008). Damit verbunden sind teilweise um-
schutz. Berlin 2003. fangreiche Debatten über den moralischen Status von
Tieren, über die Fragen, ob man Tiere töten darf, ob
Thomas Hoffmann
(zumindest einigen) Tieren eine eigene Würde zu-
kommt, und auch darüber, ob sich Gerechtigkeits-
pflichten gegenüber (zumindest einigen) Tieren be-
gründen lassen bzw. ob man (zumindest einigen) Tie-
ren sinnvoll moralische Rechte zuschreiben kann.
In der tierethischen Debatte spielen Argumente
und Ansätze, die den Umgang des Menschen mit
(nichtmenschlichen) Tieren als ein Thema der Ge-
rechtigkeit begreifen, bislang eher eine untergeord-
nete Rolle. Dies liegt insbesondere daran, dass Ge-
rechtigkeit von vielen als ein Thema zwischenmensch-
licher Beziehungen angesehen wird. Dafür werden
hauptsächlich zwei Gründe genannt (Garner 2013):
Zum einen wird behauptet, eine Inklusion von Tieren
in eine Theorie der Gerechtigkeit sei schwierig, da die-
se es vorrangig mit dem Problem der gerechten Ver-
teilung von Gütern zu tun habe. Während diesem Ein-
wand damit begegnet werden kann, dass eine an-
gemessene Theorie der Gerechtigkeit nicht nur die
Verteilung von (materiellen) Vorteilen und Lasten
zum Gegenstand hat, sondern auch die Allokation
von Grundgütern, Rechten oder Freiheiten berück-
sichtigen sollte und insofern im Prinzip auch auf Tiere
Anwendung finden kann, wiegt der zweite Einwand
schwerer. Dieser lautet, dass Gerechtigkeit nur unter
Gleichrangigen möglich sei. Da Tieren jedoch mora-
lische Akteur-Eigenschaften nicht sinnvoll zuge-
schrieben werden könnten, so das Argument, weil sie
beispielsweise weder als Autoren von Regeln oder
Normen in Frage kämen noch diesen zustimmen
könnten, könne es auch keine Gerechtigkeitspflichten
gegenüber Tieren geben.
77 Tiere 463

Vertreterinnen und Vertreter von Gerechtigkeits- (Fairness, Gleichheit) voraussetzen (contractualism),


ansätzen in der Tierethik haben demgegenüber be- ist die Inklusion von nichtmenschlichen Tieren, wie
tont, dass diese aus verschiedenen Gründen anderen das Beispiel der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit
Moralkonzeptionen wie z. B. dem Utilitarismus über- zeigt, zumindest problematisch. John Rawls geht da-
legen und insofern auch in der Tierethik von großer von aus, dass es sich bei den Parteien im Urzustand
Bedeutung seien. Sie heben in diesem Zusammen- um ›Gleiche‹ handelt, um ›moralische Subjekte‹, d. h.
hang insbesondere hervor, dass die Formulierung von »Wesen mit einer Vorstellung von ihrem Wohl und ei-
normativen Ansprüchen von Tieren als Rechten es nem Gerechtigkeitssinn« (Rawls 1993, 36), die die Fä-
verhindere, die Forderung nach einem angemessenen higkeit besitzen, die »jeweils festgelegten Grundsätze
Umgang mit Tieren als Ausdruck moralischer Senti- zu verstehen und nach ihnen zu handeln« (ebd., 36).
mentalität misszuverstehen. Dabei verweisen sie auf Da nichtmenschliche Tiere diese Voraussetzungen
den in Gerechtigkeitstheorien üblicherweise betonten nicht erfüllen, fallen sie für Rawls aus dem Gegen-
Schutz von Individuen, deren normative Ansprüche standsbereich der Theorie der Gerechtigkeit heraus.
nicht gegen einen möglichen sozialen Nutzen auf- Diese befasst sich vielmehr »nur mit unseren Bezie-
gewogen werden dürften, und betonen die Anschluss- hungen zu anderen Menschen, nicht aber zu Tieren
fähigkeit einer Rechtetheorie an den politischen und oder zur übrigen Natur« (ebd., 34). Auf das Problem,
vor allem an den rechtlichen Diskurs, was die Chance dass die genannten Voraussetzungen auch bestimmte
auf eine gesellschaftliche Durchsetzung tierethischer menschliche Lebewesen (so genannte marginal cases)
Forderungen wesentlich erhöhe. aus dem Geltungsbereich der Theorie der Gerechtig-
keit ausschließen, reagiert Rawls, indem er – zumin-
dest teilweise – die Ausgangsbedingungen im Hin-
Streitfragen und Positionen blick auf diese ›Spezialfälle‹ modifiziert.
Aus kontraktualistischer Perspektive kann man auf
In der tierethischen Diskussion spielen v. a. drei Vari- diesen – eher ernüchternden – Befund auf dreierlei
anten von Gerechtigkeitstheorien eine Rolle: 1) kon- Weise reagieren:
traktualistische Ansätze (s. Kap. III.30), 2) der von a) Verschiedentlich ist eine ›indirekte‹ Inklusion
Martha Nussbaum und anderen ausgearbeitete Fähig- nichtmenschlicher Tiere vorgeschlagen worden.
keiten-Ansatz (Capability Approach; s. Kap. IV.43) so- Diesem Ansatz zufolge lassen sich nicht gegenüber
wie 3) verschiedene Varianten eines Rechte-Ansatzes. Tieren, wohl aber in Bezug auf Tiere Gerechtig-
1) Schwierigkeiten bereitet eine Einbeziehung keitspflichten begründen. Tierschutz, so lautet die
nichtmenschlicher Tiere in die moralische Gemein- Kernthese indirekter Ansätze, liegt im Interesse
schaft solchen Ethiktheorien, die, wie der Kontraktua- des Menschen; moralische Verpflichtungen in Be-
lismus, Moral als eine soziale Institution verstehen, die zug auf Tiere bestehen (nur) insofern, als sie sich
den Zweck hat, die Interaktion zwischen Menschen zu auf menschliche Interessen zurückführen lassen
erleichtern bzw. deren Kooperation zu ermöglichen, (Hoerster 2004).
und die moralische Normen oder Regeln als Ergebnis b) Eine zweite Antwort findet sich bei Rawls selbst,
einer wechselseitigen Übereinkunft ansehen. Dies gilt der auf den »beschränkten Anwendungsbereich
insbesondere für jene kontraktualistischen Ansätze, der Gerechtigkeit« (Rawls 1993, 34) verweist und
die, in der Tradition des Hobbesschen Sozialvertrages, auf eine »umfassendere Theorie« (ebd., 556), de-
moralische Normen als durch eine Übereinkunft ei- ren Teil die Gerechtigkeitstheorie sei. Im Rahmen
gen-interessierter Entscheider begründet ansehen dieser – von Rawls selbst freilich nicht ausgearbei-
(contractarianism). Die Einbeziehung von Tieren ist teten – Theorie bestehe eine »Pflicht des Mitleids
für solche Ansätze schwierig, weil die Forderung nach und der Menschlichkeit« gegenüber Tieren (ebd.).
einer Berücksichtigung der Interessen nichtmensch- Es sei aber nicht erforderlich, gegenüber solchen
licher Lebewesen solchen Ethiktheorien insofern die Wesen, denen die Fähigkeit zu einem Gerechtig-
Motivationsquelle zu entziehen droht (Carruthers keitssinn abgehe, »strenge Gerechtigkeit« zu üben
1992), als die Einbeziehung der Interessen von Tieren (ebd.). Wenn überhaupt, dann lassen sich, so
aufgrund einer grundlegenden Machtasymmetrie ge- scheint es, mit Rawls nur relativ schwache Pflich-
rade nicht im Interesse aller Vertragspartner ist. ten gegenüber Tieren begründen.
Aber auch für solche kontraktualistischen Ansätze, c) Eine dritte Antwortoption besteht darin, den
die die Geltung bestimmter moralischer Prinzipien ›Schleier des Nichtwissens‹ (veil of ignorance), hin-
464 V Anwendungsfragen

ter dem die Parteien in der Rawlsschen Theorie Nussbaum rechnet realistischerweise mit der Mög-
über die Gerechtigkeitsprinzipien entscheiden, lichkeit von (dauerhaften und nicht auflösbaren)
die das gesellschaftliche Zusammenleben regieren Konflikten zwischen dem Wohl von Menschen und
sollen, gewissermaßen ›dichter‹ zu machen, so dem Wohl von Tieren, wie sie aus ihrer Sicht bei-
dass die Parteien im Urzustand neben anderen spielsweise im Falle von Tierversuchen in der biome-
›wesentlichen Eigenschaften‹ (soziale Stellung, dizinischen Forschung auftreten, und gesteht ein,
Geschlechtszugehörigkeit etc.) auch ihre Spezies- dass die »meisten der gegenwärtig existierenden reli-
zugehörigkeit nicht kennen (Rowlands 2002). Ob giösen und säkularen umfassenden Lehren [...] mei-
diese Strategie aussichtsreich ist oder vielmehr da- lenweit« (ebd., 526) von der von ihr verteidigten Po-
ran scheitert, dass der Ausschluss von Tieren bei sition entfernt sind. Da sich ein ݟbergreifender poli-
Rawls theoriestrategisch bereits ›vorher‹ stattfin- tischer Konsens‹ hinsichtlich einer ›gleichen Würde‹
det, also bereits bei der Formulierung der Ein- im Falle von nichtmenschlichen Tieren anders als im
trittsbedingungen in den Urzustand (original po- Falle von Menschen nicht abzeichne, plädiert sie da-
sition), und nicht erst durch dessen konkrete Aus- für, »auf die etwas vagere Idee zurückzugreifen, daß
gestaltung, wird kontrovers diskutiert (Garner alle Lebewesen Anspruch auf eine angemessene
2013, 31 f.). Chance auf ein gedeihliches Leben haben« (ebd.,
2) Anders als für Rawls ist der Umgang des Menschen 518). Da die angesprochenen umfassenden Lehren ei-
mit nichtmenschlichen Tieren für Martha Nussbaum ne ›umfassendere Anerkennung der Ansprüche von
eine Frage der Gerechtigkeit und damit eine Frage jen- Tieren‹ aber keineswegs ausschlössen, sieht Nuss-
seits von »Mitleid und Menschlichkeit« (Nussbaum baum immerhin eine Chance dafür, dass einige ihrer
2010, 456). Ausgangspunkt der Überlegungen von Überlegungen Gegenstand eines übergreifenden
Nussbaum ist dabei die – an Rawls orientierte – ge- Konsenses werden könnten (ebd., 527).
rechtigkeitstheoretische These, Gerechtigkeit bestehe 3) Im Unterschied zu (den meisten) kontraktualis-
darin, jene Fähigkeiten eines Lebewesens zu schützen tischen Ansätzen und im Unterschied auch zum Fä-
bzw. zu fördern, die dieses in die Lage versetzen, ein higkeiten-Ansatz fordern die Vertreterinnen und Ver-
gutes Leben zu führen. Da auch (viele) nichtmensch- treter von Rechte-Ansätzen in der Tierethik in der Re-
liche Tiere Wesen sind, von deren Gedeihen man gel eine Gleichberücksichtigung von Menschen und
sprechen kann und die über entsprechende Fähigkei- Tieren.
ten und Bedürfnisse verfügen, kann man (und muss Dem von Tom Regan in seinem einflussreichen
man) auch Tieren nach Nussbaums Auffassung ge- Buch The Case for Animal Rights (1984) ausgearbeite-
rechtigkeitsbasierte Ansprüche »auf ein breites Spek- ten Rechte-Ansatz zufolge besitzen alle Lebewesen, die
trum an Fähigkeiten« zuschreiben, die »für ein ge- empfindende Subjekte eines Lebens (experiencing sub-
deihliches und ihrer Würde gemäßes Leben wesent- ject of a life) sind, einen inhärenten Wert (inherent va-
lich sind« (ebd., 528). Dies macht es möglich, die von lue). Moralische Rechte von Tieren sieht Regan im
ihr im Hinblick auf Menschen formulierte Fähigkei- Respekt vor eben diesem inhärenten Wert begründet:
ten-Liste artspezifisch und mit Bezug auf die charak- »Tiere respektvoll zu behandeln ist kein Akt der
teristischen Formen des Lebens und des Wohlerge- Freundlichkeit. Es ist ein Akt der Gerechtigkeit. Es ist
hens von Tieren zu spezifizieren. Nussbaum nennt 1) nicht ›das sentimentale Interesse‹ moralischer Subjek-
Leben, 2) körperliche Gesundheit, 3) körperliche In- te (moral agents), das unsere Gerechtigkeitspflichten
tegrität, 4) Sinne, Vorstellungskraft und Denken, 5) gegenüber Kindern, geistig Behinderten, senilen Men-
Gefühle, 6) praktische Vernunft, 7) Zugehörigkeit, 8) schen oder anderen moralischen Objekten (moral pa-
andere Spezies, 9) Spiel und 10) Kontrolle über die ei- tients) inklusive der Tiere begründet. Es ist der Respekt
gene Umwelt. Bei diesen Fähigkeiten handelt es sich vor ihrem inhärenten Wert« (Regan 1984, 280).
Nussbaum zufolge »um allgemeine Ziele«, die zu einer Für Regan ergibt sich daraus ein kompromissloser
»minimalen Konzeption von Gerechtigkeit« gehören. Egalitarismus: Alle ›empfindenden Subjekte eines Le-
Auch Nussbaum versteht den Fähigkeiten-Ansatz in- bens‹ haben Regan zufolge gleichermaßen einen mo-
sofern »nicht als umfassende Theorie der Gerechtig- ralischen Anspruch auf Respektierung ihres gleich-
keit« (ebd., 111). Der Fähigkeiten-Ansatz formuliert artigen inhärenten Wertes (respect principle) und, da-
vielmehr (nur) Schwellenwerte, unterhalb derer ein von abgeleitet, darauf, nicht geschädigt zu werden
moralisch angemessener, d. h. gerechter Umgang mit (harm principle). Dieser Anspruch darf durch Zweck-
Tieren verfehlt ist. und Nutzenargumente nicht eingeschränkt werden.
77 Tiere 465

Regan vertritt daher eine abolitionistische Position, spektive eines rechte-basierten Diskurses, plausi-
die jede Form einer interindividuellen Interessen- bel zu sein scheint, wenn man sagt, dass solche
oder Güterabwägung ablehnt und eine Instrumentali- Menschen einen stärkeren Anspruch auf ein Recht
sierung selbst in solchen Fällen verbietet, in denen die auf Leben und auf Freiheit haben sollten als Tiere«
fraglichen Handlungen nicht mit Schmerzen oder (ebd., 133).
Leiden verbunden sind.
Gegen den Ansatz von Regan ist nicht nur ein-
gewendet worden, dass dieser die Idee eines ›inhären- Desiderate und Prognosen
ten Wertes‹ als bloßes Postulat einführt; kritisiert wur-
de darüber hinaus auch, dass er a) der Vielfalt der kon- Gerechtigkeitspflichten gegenüber Tieren werden in
kreten Beziehungen zwischen Menschen und Tieren der tierethischen Diskussion häufig als negative Ver-
nicht gerecht werde bzw. b) dem Umstand nicht Rech- pflichtungen verstanden, die ein Unterlassen fordern,
nung trage, dass sich Menschen und Tiere in signifi- insbesondere als Verpflichtung zur Unterlassung von
kanter Weise unterscheiden. Verletzungen oder Leidenszufügungen. Tom Regan
a) Als Reaktion auf den erstgenannten Einwand ha- beispielsweise gesteht zwar zu, dass Gerechtigkeit
ben Sue Donaldson und Will Kymlicka für einen »nicht nur Pflichten der Nichtschädigung auferlegt;
differenzierteren, relationalen Ansatz der Tier- sie erlegt auch Pflichten zur Hilfeleistung auf, verstan-
rechte (Donaldson/Kymlicka 2013) plädiert, der, den als die Pflicht, jene zu unterstützen, die an Unge-
den aus der politischen Philosophie bekannten rechtigkeit erleiden« (Regan 1984, 249), in seiner
Citizenship-Ansatz aufnehmend, verschiedenen Theorie genießen negative Pflichten jedoch explizit ei-
Kategorien von Tieren Mitbürger-, Koexistenz- ne Vorrangstellung (Cohen/Regan 2001, 198). Auch
oder Souveränitätsansprüche zuspricht. Der in- Martha Nussbaum, die der Unterscheidung zwischen
trinsische moralische Status von Tieren reicht ih- positiven und negativen Pflichten vor dem Hinter-
rer Auffassung nach nicht aus, um zu bestimmen, grund ihres Fähigkeiten-Ansatzes ansonsten eher
welche Rechte sie haben. Diese hängen vielmehr, skeptisch gegenübersteht, hält diese Unterscheidung
folgt man Donaldson und Kymlicka, auch von im Falle von Tieren für durchaus sinnvoll: »Daß die
den verschiedenen Arten politischer Beziehun- Menschheit dazu verpflichtet ist, von besonders
gen ab, in denen Tiere zu menschlichen Gemein- schlimmen Schädigungen von Tieren abzusehen,
schaften stehen. nicht aber dazu, das Wohlergehen aller Tiere zu för-
b) Anders als Donaldson und Kymlicka, die im We- dern, ist zumindest eine kohärente Position« (Nuss-
sentlichen am Reganschen Egalitarismus festhal- baum 2010, 504). Diese Entscheidung hat den doppel-
ten, diesen aber durch eine relationalistische ten Vorteil, dass möglichen Überforderungs- oder
Komponente komplementieren, stellt Robert Gar- Absurditätseinwänden auf diese Weise der Wind aus
ner als Antwort auf den zweiten Einwand den den Segeln genommen werden kann, da ganz all-
›Spezies-Egalitarismus‹ in Frage. Vor dem Hinter- gemein mögliche Verpflichtungen zur Bereitstellung
grund einer Interessen-basierten Rechtetheorie wohlfahrtsfördernder Bedingungen abgewiesen wer-
vertritt Garner einen an Fähigkeiten orientierten den können und speziell mögliche Hilfsverpflichtun-
Ansatz (capacity-oriented approach), dem zufolge gen des Menschen in solchen Fällen zurückgewiesen
»moralischer Status oder Wert auf der Basis des werden können, in denen, wie es beispielsweise bei
Besitzes der einen oder anderen Eigenschaft zu- Wildtieren häufig der Fall ist, das Leiden von Tieren
geschrieben wird, sei es bloßes Empfindungsver- nicht vom Menschen verursacht ist. Manche halten
mögen oder eine höhere kognitive Fähigkeit« dies für einen Vorzug von Gerechtigkeitstheorien ge-
(Garner 2013, 100). Der Fehler einer spezies-ega- genüber konkurrierenden Theorien wie etwa dem
litaristischen Position liegt für Garner darin, dass Utilitarismus (Garner 2013, 104 f.). Ob sich die Unter-
diese übersehe, dass die Unterschiede zwischen scheidung zwischen positiven und negativen Pflichten
›normalen‹ erwachsenen Menschen und erwach- tatsächlich aufrechterhalten lässt bzw. wie es gegebe-
senen Tieren tatsächlich substanziell und mora- nenfalls zu begründen wäre, dass zwar gegenüber
lisch signifikant seien (ebd., 15). Insbesondere ha- Menschen, nicht aber gegenüber Tieren auch positive
ben ›normale‹ erwachsene Menschen Garner zu- Gerechtigkeitspflichten bestehen, ist freilich umstrit-
folge ein größeres Interesse an Leben und Freiheit ten. Nussbaums Forderung, es sei »eine allmähliche
als Tiere. »Dies führt dazu, dass es, aus der Per- Ersetzung des Natürlichen durch das Gerechte nötig«
466 V Anwendungsfragen

(Nussbaum 2010, 538), deutet jedenfalls an, dass es in Cohen, Carl/Regan, Tom: The Animal Rights Debate. Lan-
dieser Frage weiteren Diskussionsbedarf gibt. ham 2001.
Eine weitere Kontroverse rankt sich um das Argu- Donaldson, Susan/Kymlicka, Will: Zoopolis. Eine politische
Theorie der Tierrechte. Frankfurt a. M. 2013 (engl. 2011).
ment der menschlichen Grenzfälle (argument from Garner, Robert: A Theory of Justice for Animals. Animal
marginal cases; Narveson 1977, der das Argument Rights in a Nonideal World. Oxford 2013.
selbst allerdings nicht für überzeugend hält), das ins- Grimm, Herwig/Wild, Markus: Tierethik zur Einführung.
besondere von Vertreterinnen und Vertretern spezies- Hamburg 2016.
egalitärer Positionen vorgetragen wird (vgl. z. B. Re- Hoerster, Norbert: Haben Tiere eine Würde? Grundfragen der
Tierethik. München 2004.
gan 1984, 156 f.; Singer 1996, 53). In der ›bikonditio-
Narveson, Jan: Animal Rights. In: Canadian Journal of Phi-
nalen‹ Version fordert das Argument, dass es, wenn losophy 7 (1977), 161‒178.
man ›menschlichen Grenzfällen‹ wie beispielsweise Nussbaum, Martha C.: Grenzen der Gerechtigkeit. Behin-
anenzephalen Neugeborenen oder permanent be- derung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Frankfurt
wusstlosen Menschen die gleichen Rechte zugestehe a. M. 2010 (engl. 2006).
wie normalen erwachsenen Menschen, ein Gebot der Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
71993 (engl. 1971).
Konsistenz sei, diese Rechte auch nichtmenschlichen Regan, Tom: The Case for Animal Rights. London 1984.
Lebewesen mit vergleichbaren Fähigkeiten zu- Rowlands, Mark: Animals Like Us. London 2002.
zuschreiben. In der ›kategorischen‹ Version sagt das Schmitz, Friederike (Hg.): Tierethik. Grundlagentexte.
Argument, dass Tieren mit vergleichbaren Fähigkei- Frankfurt a. M. 2014.
ten dieselben Rechte zugeschrieben werden müssen Singer, Peter: Die Befreiung der Tiere. Reinbek bei Hamburg
1996 (engl. 1975; 21990).
wie normalen erwachsenen Personen, weil auch den
Wolf, Ursula (Hg.): Texte zur Tierethik. Stuttgart 2008.
menschlichen Grenzfällen diese Rechte zugeschrie- –: Ethik der Mensch-Tier-Beziehung. Frankfurt a. M. 2012.
ben werden. Proponentinnen und Proponenten sehen
im Argument der menschlichen Grenzfälle ein ge- Johann S. Ach
wichtiges Argument gegen die traditionelle Auffas-
sung, der zufolge zwar alle Menschen moralisch be-
rücksichtigenswert sind, Tiere jedoch nicht bzw. je-
denfalls nicht in gleichem Maße.
Die abolitionistischen Forderungen, die sich ins-
besondere aus manchen Tierrechtspositionen er-
geben, haben im gerechtigkeitstheoretisch orientier-
ten Lager der Tierethik (aber selbstredend nicht nur
dort) eine Diskussion darüber ausgelöst, ob die For-
mulierung von ›utopischen‹ Forderungen, die kaum
eine Chance auf eine kulturelle, politische oder recht-
liche Durchsetzung haben, sinnvoll bzw. zielführend
ist. Vor diesem Hintergrund hat Garner komplemen-
tär zu einer ›idealen‹ eine ›nichtideale‹ Theorie der
Gerechtigkeit für Tiere vorgeschlagen, die einen Weg
weisen soll, wie man das langfristige und durch die
ideale Theorie vorgegebene Ziel erreichen kann. Im
Anschluss an eine Formulierung bei Rawls fordert er,
dass sich die Schritte hin zu diesem Ziel dadurch aus-
zeichnen müssen, dass sie moralisch zulässig, poli-
tisch möglich und voraussichtlich wirksam sind (Gar-
ner 2013, 10 f.).

Literatur
Armstrong, Susan J./Botzler, Richard G. (Hg.): The Animal
Ethics Reader. London 22008.
Carruthers, Peter: The Animal Issue. Moral Theory in Practi-
ce. Cambridge 1992.
78 Unternehmen 467

78 Unternehmen Gegenstand der philosophischen


Beschäftigung mit Unternehmen
In den letzten Jahrzehnten ist verstärkt in den Fokus
geraten, in welch großem Maße Unternehmen Ein- Auch wenn historische Vorläufer bis zurück in die
fluss auf das Leben fast jedes Einzelnen haben. Bei- Antike weisen, ist die Unternehmensethik eine sehr
spielhaft zeigt sich dies an der bedeutenden Rolle, die junge philosophische Disziplin, deren Anfänge im
von wenigen Unternehmen bereitgestellte Kom- anglo-amerikanischen Sprachraum in den 1970er Jah-
munikationsgeräte und -programme in Alltag und ren, im deutschsprachigen Raum in den 1980er Jahren
Beruf spielen. Es zeigt sich ebenso an den Folgen un- liegen. Nachdem die Beschäftigung mit wirtschafts-
ternehmerischer Entscheidungen für Umwelt, Arbei- und unternehmensethischen Fragen um 1990 ein ers-
ter und ganze Sozialsysteme, wie sie einer großen Öf- tes Hoch erlebte (vgl. Homan/Blome-Drees 1992), ist
fentlichkeit durch Katastrophen wie die Explosionen sie erst in Folge der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise
auf der Ölförderplattform Deepwater Horizon, der seit 2007 wieder verstärkt aufgekommen.
Einsturz einer Textilfabrik in Sabhar in Bangladesch Im Bereich der Wirtschaftsethik wird die Unterneh-
mit über eintausend Todesopfern oder die Insolvenz mensethik gemeinhin der so genannten Meso- bzw.
der weltweit agierenden Investmentbank Lehman Molarebene zugeordnet. Sie ist die mittlere Analyse-
Brothers vor Augen geführt wurden. Hauptgegen- ebene zwischen der Makroebene und der Mikroebene,
stand der philosophischen Beschäftigung mit Unter- der Ebene der wirtschaftlichen Rahmenordnung und
nehmen sind, ausgehend von Beobachtungen wie der der individuellen Wirtschaftsakteure. Viele Ant-
diesen, Fragen und Probleme der Verantwortungs- worten auf die Fragen und Probleme der Unterneh-
zuschreibung an Unternehmen oder einzelne Mit- mensethik sind jedoch nicht ohne Bezug auf die beiden
arbeiter von Unternehmen. Es ist daher sinnvoll, anderen Ebenen zu geben (vgl. Solomon 1993, 359 f.;
nach einer genaueren Bestimmung des Gegenstands Göbel 2013, 87–106). Dies zeigt sich z. B. an der der
der philosophischen Beschäftigung mit Unterneh- Mikroebene zugeordneten Management- und Kon-
men das Feld der in ihr diskutierten Probleme vor al- sumentenethik, die beide starke inhaltliche Verbin-
lem im Hinblick auf die verschiedenen Konzepte und dungen zur Unternehmensethik aufweisen. Im Ver-
Fragen zu ordnen, die in diesem Zusammenhang dis- gleich zu den englischsprachigen Business Ethics ist die
kutiert werden. Unternehmensethik inhaltlich enger und klarer umris-
Die in der Unternehmensethik diskutierten Kon- sen. Die Business Ethics umfassen neben dem, was im
zepte der Corporate Social Responsibility (CSR), der deutschen Sprachraum unter Unternehmensethik ver-
Corporate Citizenship (CC) und der Corporate Go- standen wird, auch viele Fragen, die im Bereich der
vernance (CG) sowie der Unterschied zwischen den Makro- und Mikroebene diskutiert werden (vgl. Hoff-
Shareholdern bzw. Stockholdern und den Stakeholdern man/Frederick/Schwartz 2014), sind mithin Wirt-
eines Unternehmens führen zu den grundlegenden schaftsethik mit besonderem Schwerpunkt auf der
Fragen, welcher Art die Verantwortung ist, die Unter- Rolle der Unternehmen und Manager im Wirtschafts-
nehmen tragen sollen, und ob Unternehmen als Trä- geflecht. Versuche, innerhalb der Business Ethics eigen-
ger von Verantwortung überhaupt in Frage kommen. ständige Corporate Ethics zu etablieren, haben sich
Ausgehend von der Verantwortungsproblematik wer- (noch) nicht durchgesetzt (vgl. Marcoux 2008). Die
den in der Literatur beispielsweise die Fragen dis- deutschsprachige Unternehmens- und Wirtschafts-
kutiert, inwiefern Angestellte zur Loyalität gegenüber ethik ist bis zu Beginn des neuen Jahrtausends in ver-
Unternehmen verpflichtet sind und ab wann es in der schiedene Schulen eingeteilt worden (vgl. Aßländer
Verantwortung des Einzelnen steht, zum Mittel des 2011, 71–131). Zu nennen sind hier die sich explizit auf
Whistleblowing zu greifen (Solomon 1993, 363 f.; moralphilosophische Gerechtigkeitstheorien stützen-
James 1994), oder was in der Werbung behauptet wer- de ethische Ökonomie (Koslowski 1988), die öko-
den darf (Solomon 1993, 361 f.). Sowohl bei der Ver- nomische Ethik (Homann/Bloom-Drees 1992), der
antwortungsproblematik als auch bei der vor allem in strategisch-situative, auch als republikanisch bezeich-
der Politik- und Wirtschaftswissenschaft diskutierten nete Ansatz (Steinmann/Löhr 1994), die integrative
Rolle transnationaler Unternehmen (TNU) kommen Wirtschaftsethik (Ulrich 2001) sowie der Governance-
dabei Gerechtigkeitsaspekte in den Blick. Ansatz (Wieland 2004). Durch die zunehmende Annä-
herung der Schulen aneinander löst sich diese Eintei-
lung mehr und mehr auf (vgl. Heidbrink/Hirsch 2008).
468 V Anwendungsfragen

Die wirtschaftswissenschaftliche und die philoso- rung des Gewinns liege (Friedman 2014), diskutieren
phische Auseinandersetzung mit unternehmensethi- die Frage, ob Unternehmer mehr als reine Gewinn-
schen Problemen verlaufen bis heute weitgehend ge- maximierung anstreben sollten. Nach Friedman ist je-
trennt voneinander, selbst dort, wo sie sich thematisch de Art sozialen Engagements Diebstahl an den Stock-
berühren, z. B. bei handlungstheoretischen Fragen. holdern eines Unternehmens, den Anteilseignern ei-
Während philosophische Theoretiker vor allem mit ner Firma. Nur wenn der Angestellte des Unterneh-
Verantwortungs- und Pflichtenvokabular argumen- mens durch als sozial deklariertes Engagement die
tieren, wird der wirtschaftswissenschaftliche Diskurs Markt- oder Verhandlungsposition des Unterneh-
von Fragen zum Ablauf von Entscheidungsfindungs- mens verbessert, ist dies gerechtfertigt. Es handelt sich
prozessen und von Fragen der Verhaltensökonomie nach Friedman dann aber um kein soziales Engage-
dominiert (vgl. Barlett 2003; Priddat 2010). Auffällig ment mehr (vgl. Friedman 2014, 156 f.). Nonprofit-
an der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Organisationen sind für Theoretiker wie Friedman
Thema Unternehmen ist der weitgehende Verzicht auf auch keine Unternehmen, da sie nicht dem Gebot der
die Klärung des Gegenstands im engen Sinne. Defini- Profitmaximierung unterworfen sind. In bewusster
tionen dessen, was unter Unternehmen zu verstehen begrifflicher Absetzung von der Stock- bzw. Sharehol-
ist, fehlen in der einschlägigen Literatur oftmals. Da- der-Theorie hat Edward Freeman die Stakeholder-
bei ist offensichtlich, dass einige Fragen der Wirt- Theorie entworfen (Freeman 2010). Nach Freeman
schaftsethik nur in Bezug auf bestimmte Unterneh- sind in unternehmerischen Entscheidungsfindungs-
men von Belang sind und Differenzierungen, wie sie prozessen neben den Interessen der Anteilseigner
in der Betriebswirtschaftslehre vorgenommen wer- (Shareholder) auch die Interessen derjenigen zu be-
den, dabei helfen können, Antworten auf diese Fragen rücksichtigen, die Einfluss auf das Erreichen der Un-
zu finden. Ebenso sind einige Fragen nicht nur in Be- ternehmensziele haben, sowie insbesondere die Inte-
zug auf Unternehmen relevant, weswegen es unklar ressen der von den Unternehmerentscheidungen Be-
bleibt, warum bestimmte moralische Forderungen al- troffenen (Stakeholder). Hierzu gehören u. a. Kon-
lein an Unternehmen gestellt werden und nicht bei- sumenten, Zulieferer oder Ortsansässige. Freeman
spielsweise auch an staatliche Akteure oder Kon- versteht seine Theorie explizit als moralisch fundierte
sumenten (vgl. Marcoux 2008). Unternehmen sind als Managementtheorie. Gerechtigkeit kommt bei ihm
Betriebe neben öffentlichen und privaten Haushalten als eine mögliche Antwort auf die von jedem Manager
diejenigen Einheiten, die als Wirtschaftssubjekte am im Hinblick auf seine Stakeholder zu stellende Frage
wirtschaftlichen Geschehen beteiligt sind. Sie werden »Wofür stehen wir?« in den Blick (Freeman 2010, 83,
nach diversen Kriterien unterschieden: nach Größe, 105). Manager könnten sich, so Freeman, im An-
nach Güterart, nach Rechtsstatus, danach, ob sie sich schluss an John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit als
mehrheitlich in privater oder öffentlicher Hand be- Werkzeuge des sozialen Wandels verstehen. Wenn sie
finden, und neuerdings auch danach, ob sie gewinn- wahrnehmen, dass sie mit ihrem unternehmerischen
orientiert ausgerichtet sind (vgl. Vahs/Schäfer-Kunz Handeln Einfluss auf eine große Anzahl von Stakehol-
2012, 2–6; Haric/Berwanger o. J.). dern aus ganz unterschiedlichen sozialen Gruppen
haben, und an einer gerechten Gesellschaft interes-
siert sind, dann würden sie sich Rawls’ Gerechtigkeits-
Konzepte der Unternehmensethik theorie verschreiben, indem sie das Wohlergehen der
am wenigsten begünstigten Stakeholder befördern
Die in der Unternehmensethik diskutierten Konzepte und dafür sorgen, dass die in dem Unternehmen zu
sind jeweils Versuche, das Verhältnis von betriebs- vergebenden Positionen prinzipiell jedem offenstehen
wirtschaftlichem, sozialem und moralischem Han- (Freeman 2010, 105 f.).
deln zu klären. Die von Richard De George als »My- Wie bei Freemans Stakeholder-Prinzip zeigt sich
thos des amoralischen Wirtschaftens« (De George auch in der unübersichtlichen Debatte um die in den
2014, 3) bezeichnete Auffassung einer radikalen Tren- 1950er Jahren in Amerika erstmals diskutierte Corpo-
nung der Bereiche Wirtschaft und Ethik ist nur noch rate Social Responsibility (CSR), dass in den zentralen
bei in der Diskussion randständigen Positionen zu Konzepten der Unternehmensethik kaum Verbind-
finden (vgl. Ulrich 2001, Kap. 10). Selbst Theoretiker, lichkeit von moralischen Forderungen ausgeht, wie et-
die wie Milton Friedman behaupten, dass die soziale wa der nach einem Unternehmerhandeln, das sich an
Verantwortung von Unternehmen allein in der Steige- Gerechtigkeitsprinzipien orientiert (vgl. Hiß 2009;
78 Unternehmen 469

Neuhäuser 2011, 17–19). Hinter CSR steht die »Idee nen verstanden, die selber moralfähige Akteure sind.
einer freiwilligen Übernahme gesellschaftlicher Ver- Nach Josef Wieland ist der »Gegenstandsbereich der
antwortung durch Unternehmen« (Hiß 2009, 287), Governanceethik die Analyse der Funktionen und
genauere Definitionen der begrifflichen Elemente von Wirkungen von Moralregimes innerhalb der Füh-
CSR fehlen jedoch weiterhin (vgl. Crane et al. 2008, rung, Steuerung und Kontrolle von wirtschaftlichen
5–7). Freiwillig ist die Übernahme von Verantwor- Transaktionen« (Wieland 2001, 16). Die diesen Mo-
tung dann, wenn Unternehmer jenseits des durch ge- ralregimes zugrundeliegenden Prozesse werden mit
setzliche Regelungen und Normen begrenzten Rau- denen nicht-moralischer Verfahren im Hinblick auf
mes verbindlichen Handelns agieren. Diese Auffas- ihre moralfördernde Wirkung verglichen und in ein
sung von CSR hat zur Konsequenz, dass lockerere »Überlegungsgleichgewicht« gebracht, so dass nicht
rechtliche Rahmenbedingungen den Bereich vergrö- schon ökonomische oder moralische Erwägungen die
ßern, in dem Unternehmer auf freiwilliges soziales Ergebnisse vorgeben (ebd., 24). Hierbei werden bei-
Engagement hinweisen können. In der Debatte wird spielsweise die ökonomischen Kosten für den Aufbau
die aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive wich- von Strukturen zur Bekämpfung von Korruption in
tige Frage nicht beantwortet, was bei diesem Selbst- den Produktions- und Lieferketten eines Unterneh-
verpflichtungskonzept als soziales Handeln gilt. So mens mit den bei entsprechender Öffentlichkeits-
weist das die Debatte um CSR breit wiedergebende arbeit zu erwartenden gesteigerten positiven Folgen
Oxford Handbook of Corporate Social Responsibility zueinander in Beziehung gesetzt, wobei unter diesen
nur einen einzigen Eintrag zur Gerechtigkeit unter Folgen nicht allein der langfristig zu erwartende öko-
dem Stichwort »Verteilungsgerechtigkeit« auf (vgl. nomische Gewinn zu verstehen ist, sondern etwa
Crane et al. 2008). auch ein besseres Ansehen. Ziel ist es, Empfehlungen
Eng verbunden und oftmals nicht trennscharf un- hinsichtlich »moralisch besserer Ergebnisse« (ebd.,
terschieden von der CSR wird die Corporate Citizen- 20) zu geben, wobei das moralische Bewertungskrite-
ship (CC). Die grundlegende Idee der CC ist, dass un- rium relativ zu den jeweiligen Werten des Unterneh-
ternehmerisches Engagement formal mit dem eines mens und der es umgebenden Gesellschaft(en) be-
Bürgers verglichen werden kann. Dadurch wird der stimmt wird. Aus gerechtigkeitstheoretischer Per-
Fokus auf den örtlichen Nahbereich eines Unterneh- spektive besonders problematisch ist hierbei die glo-
mens gelegt. CC ist aber weitreichender in seinen mo- bale Arena, auf die bei der CG ein besonderes
ralphilosophischen Implikationen als CSR, wenn die Augenmerk gelegt wird. International agierenden
unternehmerische Bürgerschaft beim Wort genom- Unternehmen kommt im globalen Kontext eine be-
men wird und mehr beinhaltet, als dass sich Unter- sondere Rolle der Implementierung von CG-Prozes-
nehmen wie zivilgesellschaftlich engagierte Bürger am sen zu, da im internationalen Raum staatliche Steue-
Gemeinwohl interessiert zeigen. Bei den verschiede- rungsprozesse für wirtschaftliche Transaktionen nur
nen Modellen der CC bleibt jedoch oftmals unklar, ob schwach ausgebaut sind. Da jedoch nicht von einer
den Unternehmen die Rolle eines Bürgers mit einher- einheitlichen globalen Gerechtigkeitsvorstellung aus-
gehenden Rechten und Pflichten zukommt (vgl. Ha- gegangen werden kann (s. Kap. II.17), ließe die CG
bisch 2003), und wenn ja, ob die Rechte und Pflichten den Unternehmen weitreichende Freiräume in der
eines Bürgers sich von denen eines Unternehmens un- Bestimmung moralisch besserer Ergebnisse.
terscheiden, oder ob Unternehmen gar als Garanten
von Bürgerrechten fungieren und damit zunehmend
staatspolitische Aufgaben übernehmen (vgl. Matten/ Akteursstatus und Verantwortung
Crane 2005). Eine gerechtigkeitstheoretische Fundie- von Unternehmen
rung der institutionell verankerten Rolle, die Unter-
nehmen in gehaltvollen Theorien der CC zukommt, Die inhaltliche Ausbuchstabierung der Konzepte
steht noch aus. CSR, CC und CG kommt nicht ohne die Beantwor-
Aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive eben- tung der Frage aus, ob Unternehmen verantwortungs-
falls unterbestimmt ist das Konzept der Corporate fähige Akteure sind (vgl. Neuhäuser 2011, 21–23). In
Governance (CG), wobei gerade bei diesem Konzept der philosophischen Auseinandersetzung mit Unter-
Fragen der Gerechtigkeit ins Zentrum gerückt wer- nehmen ist der Ansatz von Peter French einschlägig
den müssten. Unternehmen werden bei der CG ana- (French 1995). French vertritt einen methodischen
log zu Staaten als von Menschen gesteuerte Institutio- und ontologischen Kollektivismus. Er argumentiert
470 V Anwendungsfragen

für eine starke Auffassung von kollektiver Verantwor- Ungereich/Raith 2010). Für diese Position spricht,
tung, nach der Unternehmen Handelnde im voll- dass diese Eigenschaften Unternehmen von außen
umfänglichen Sinn sind. Für diese Auffassung spricht und von ihren Mitarbeitern faktisch zugesprochen
nach French, dass die Entscheidungsstruktur und die werden. Es muss sich zeigen, ob bei dem dieser Positi-
Zielsetzung von Unternehmen nicht auf die Handlun- on zugrundeliegenden Verantwortungsbegriff die
gen und Ziele einzelner Mitarbeiter reduziert werden Übertragung des Konzepts individueller moralischer
können. Dies versucht er unter anderem an dem ho- Verantwortung auf Kollektive gelingt (vgl. Gerber
hen Komplexitätsgrad von Unternehmensentschei- 2010) und er nicht wie derjenige von French mit star-
dungen zu verdeutlichen. Aufgrund ihrer klaren Ent- ken ontologischen Annahmen einhergeht.
scheidungsstruktur sind Unternehmen nach French Aus praktischer Perspektive ist es drängend, Ver-
als Personen aufzufassen, die moralische Rechte ha- antwortung jenseits rein rechtlicher Verantwortung
ben und als Kollektiv moralische Verantwortung tra- zu etablieren, damit nicht nur retrospektiv der Ver-
gen. Die Schwierigkeit bei der Position von French ist stoß rechtlicher Pflichten geahndet wird, sondern Un-
unter anderem, dass jeder mögliche Kandidat zur Ver- ternehmer auch prospektiv ihr Handeln nach mora-
ortung von Bewusstsein, Rationalität und Intention lischen Regeln ausrichten. Es geht darum, ob Unter-
der Person, als die das Unternehmen aufgefasst wird, nehmen neben anderen Akteuren moralisch dafür
zu unplausiblen ontologischen Konsequenzen führt. verantwortlich sind, z. B. für Lohngerechtigkeit zu
Weder die Managementebene oder die CID-Struktur sorgen (s. Kap. V.68), Chancengleichheit zu etablieren
noch langfristiger ausgerichtete Unternehmensstrate- (s. Kap. II.26) oder höhere Umweltstandards zu imple-
gien können hier überzeugend eingesetzt werden (vgl. mentieren (s. Kap. V.66). Wie die Diskussion um CSR
Miller 2002, 279–284). und CG zeigt, ist diese Verantwortungszuschreibung
Der Position von French stehen mehrere schwäche- vor allem dort wichtig, wo andere Normordnungen
re Auffassungen von kollektiver Verantwortung gegen- schwach etabliert sind, so im globalen Wirtschafts-
über. Einerseits werden Argumente vorgebracht, nach und Politikraum.
denen jeweils nur Individuen Träger von Verantwor-
tung sind, im Fall von Unternehmen deren Mitarbeiter
und Shareholder. Hier sind zwei Unterpositionen zu Transnationale Unternehmen (TNU)
unterscheiden. Entweder wird die Position vertreten,
dass kollektive Verantwortung immer auf individuelle In der Wirtschafts- und der Politikwissenschaft rückt
Verantwortung reduziert werden kann. Dies ist die in den letzten Jahren die besondere Rolle, die TNU im
weit verbreitete Position des methodischen Individua- Prozess der wirtschaftlichen Globalisierung spielen,
lismus (Miller 2002). Oder kollektive Verantwortung immer deutlicher in den Fokus. 80 Prozent der globa-
bleibt als eine eigenständige Form von Verantwortung len Wertschöpfungskette laufen über von TNU ge-
bestehen, die aber jeweils der Einzelne trägt. Danach steuerte Prozesse ab (vgl. UNCTAD 2014). Aufgrund
fallen der ontologische und der methodische Kollekti- eines rechtlich nur schwach regulierten globalen
vismus auseinander (vgl. Gerber 2010, 72 f.). Wirtschaftssystems stehen TNU-Vertretern Optionen
Andererseits ist im Anschluss an die Theorien so- offen, die Politiker unter Handlungsdruck setzen. Von
zialer Gruppen und kollektiver Intentionen von Mar- besonderer Relevanz ist hier das so genannte regime
garet Gilbert und John Searle für ein Verständnis shopping, die Möglichkeit von Investoren, aufgrund
kollektiver moralischer Verantwortung argumentiert nationaler Differenzen vor allem in der Steuerpoli-
worden, nach dem Unternehmen als Träger mora- tik, der Arbeitsmarktregulierung, den Arbeitnehmer-
lischer Pflichten aufgefasst werden können, ohne sie rechten und bei Umweltauflagen unter verschiedenen
wie French als Personen mit eigenen Rechten zu ver- Staaten die für sie günstigsten Rahmenbedingungen
stehen. Die bei French wichtige Unterscheidung zwi- selbst auszuwählen. Dies führt in verschiedenen Be-
schen korporativem und individuellem Handeln reichen zu einem race to the bottom, d. h. der Tendenz
bleibt hier bestehen: Korporationen, die wiederum politischer Entscheidungsträger, Umwelt-, Arbeits-
aufgrund ihrer gefestigten Struktur von anderen Kol- und Sozialstandards herabzusenken, um ausländische
lektiven wie einer Gruppe von Theaterbesuchern zu Investoren anzuziehen (Hahn 2009, 118–126). Wegen
unterscheiden sind, werden so beschrieben, dass sie des immensen Investitionsvolumens, das TNU zur
eigene Pläne entwickeln, eine stabile Identität haben Verfügung steht, richten nationale politische Akteure
und frei handeln können (Neuhäuser 2011; Korenjak/ ihre wirtschaftspolitischen Entscheidungen auf TNU
78 Unternehmen 471

aus, wobei soziale Ungleichheiten sowohl im nationa- Hiß, Stefanie: Corporate Social Responsibility – Innovation
len wie auch im internationalen Vergleich verschärft oder Tradition? Zum Wandel der gesellschaftlichen Ver-
werden (vgl. Crouch 2011; Stiglitz 2006). Unterneh- antwortung von Unternehmen in Deutschland. In: Zeit-
schrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 10/3
men spielen daher eine wichtige Rolle beim Zustande- (2009), 287–303.
kommen »unfaire[r] und entwürdigende[r] Zustän- Hoffman, W. Michael/Frederick, Robert E./Schwartz, Mark
de« (Neuhäuser 2011, 90). Hier zeigt sich, dass in der S. (Hg.): Business Ethics. Readings and Cases in Corporate
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472 V Anwendungsfragen

79 Weltwirtschaft und Finanz- Wohlstand beizutragen. Dadurch wird es möglich,


märkte von Menschen, die in funktionierenden Marktwirt-
schaften leben, elementare Bedrohungen fernzuhalten
bzw. diese Bedrohungen zu begrenzen und verlässlich
Die Weltwirtschaft ist seit etwa 30 bis 40 Jahren durch die Grundlagen zur Befriedigung ihrer Grundbedürf-
eine zunehmende ökonomische Globalisierung be- nisse zu sichern. Insofern schaffen Marktwirtschaften
stimmt. Diese Entwicklung wird auch als ›zweite‹ Glo- wesentliche Voraussetzungen für den effektiven
balisierung bezeichnet und von der ›ersten‹ (großen) Schutz der Rechte von Menschen. In dieser Perspekti-
Globalisierung unterschieden, die die Weltwirtschaft ve entscheiden Maßnahmen, die Einfluss darauf ha-
in den 40 bis 50 Jahren bis zum Ersten Weltkrieg ben, ob die Funktionsfähigkeit von Marktwirtschaften
(1914) gekennzeichnet hat (siehe z. B. Frieden 2006; erhalten bleibt, verbessert, gestört, bedroht oder zer-
Rodrik 2011, Kap. 2). Globalisierung (bezieht sich im stört wird oder ob sich Marktwirtschaften allererst
Folgenden immer auf die ökonomische Globalisie- entwickeln können, über die effektive Gewährleistung
rung) meint die zunehmende Einbettung der nationa- der gleichen Rechte der Menschen und sind daher ge-
len Volkswirtschaften in einen weltweiten wirtschaft- rechtigkeitsrelevant.
lichen Austausch und Wettbewerb und die Ausbil- So gesehen ist es von entscheidender Bedeutung,
dung weltweiter Märkte. Dies erlaubt es ökonomi- dass sich in den armen Ländern der Welt Marktwirt-
schen Akteuren, nicht zuletzt Firmen, global zu schaften entwickeln können und über Wirtschafts-
operieren, beispielsweise die Produktion zu verlagern wachstum Wohlstand generiert wird. An die Globali-
oder auf unterschiedliche Standorte aufzuteilen. Für sierung bindet sich nicht nur die Hoffnung, dass sie
diese Entwicklungen spielen Fortschritte etwa auf den genau dazu beiträgt, sondern es stellt für viele auch ei-
Gebieten des Transports, der Logistik und der Kom- ne kaum zu bestreitende Tatsache dar, dass sie genau
munikation, aber auch die von einflussreichen Play- dazu schon signifikant beigetragen hat (siehe z. B.
ern geteilten Wertauffassungen und ökonomischen Bhagwati 2009; Wolf 2004). Andere sehen in der ge-
Einschätzungen eine bedeutende Rolle. Ein wichtiger genwärtigen Globalisierung bzw. in einigen ihrer Er-
Teil der Globalisierung ist die Ausbildung weltweiter scheinungsformen und Strukturmerkmale wenn
Finanzmärkte. Diese ermöglichen nicht nur länger- nicht den, dann doch wenigstens einen entscheiden-
fristige Investitionen im Ausland, sondern auch den den Grund dafür, dass die Entwicklung der armen
grenzüberschreitenden kurzfristigen Handel mit fi- Länder blockiert wird oder diese Länder in Armut ge-
nanziellen Vermögenswerten. halten werden (vgl. z. B. Altvater/Mahnkopf 2007; vgl.
Für die Behandlung der mit Weltwirtschaft und Fi- aber auch Reinert 2008 und Chang 2008). Die entspre-
nanzmärkten verbundenen Gerechtigkeitsfragen stellt chende Kritik tritt aber in ganz unterschiedlichen Ge-
sich das Problem, wie grundsätzlich oder auf welcher stalten auf. Sie kann einerseits Ausdruck einer Fun-
Ebene die Diskussion ansetzen sollte: auf der Ebene damental- und Systemkritik sein (und berührt dann
des Systems, auf der Ebene der Verwobenheit der die angesprochene Systemebene), die die Globalisie-
Weltwirtschaft mit den globalen Menschheitsfragen rung oder gar die Marktwirtschaft selbst durch letzt-
(wie Weltarmut, Klimawandel und Übernutzung der lich nicht reformierbare Struktur- oder Konstrukti-
natürlichen Umwelt) oder auf der Ebene der konkre- onsfehler bestimmt sieht (vgl. z. B. auch Kurz 2005;
ten Ausgestaltung. McMurtry 2013). Sie kann andererseits als Kritik be-
stimmter Formen entfesselter Globalisierung auftre-
ten, die in der Globalisierung durchaus ein mehr oder
Das Problem der Gerechtigkeitsebenen minder großes Potential erblickt, aber auf die Not-
wendigkeit einer Änderung der Rahmenbedingungen
Beginnen wir mit der Systemebene. Es spricht vieles und stärkeren Steuerung entfesselter globaler Märkte
dafür, von einer tiefgreifenden moralischen Relevanz dringt oder sich gegen bestimmte Formen einer pro-
und einer sich davon herleitenden moralischen Quali- blematischen Überhöhung des Potentials der öko-
tät einer dauerhaft funktionierenden Marktwirtschaft nomischen Globalisierung wendet (vgl. z. B. Stiglitz
auszugehen (vgl. dazu auch Homann/Blome-Drees 2008; Rodrik 2011). In dieser Form ist die Kritik dann
1992; Homann 2002; Steigleder 2011). Dies liegt vor der zweiten Ebene, der Ebene der globalen Mensch-
allem an der Fähigkeit von Marktwirtschaften, zu heitsfragen, oder der dritten Ebene, der konkreten
technischem Fortschritt und dauerhaftem materiellen Ausgestaltung, zuzuordnen.
79 Weltwirtschaft und Finanzmärkte 473

Bleiben wir aber noch bei der Systemebene. Auch Grundlegende Orientierungen und
wenn man die angesprochene Fundamentalkritik Gerechtigkeitsforderungen
nicht teilt, die moralische Qualität einer funktionie-
renden Marktwirtschaft anerkennt und von der Die gegenwärtige Umwelt- und Klimaökonomik ist
Wichtigkeit von Wirtschaftswachstum in den armen durch die Suche nach dem optimalen Niveau des Res-
Ländern überzeugt ist, stellt sich das Problem, dass sourcenverbrauchs, der Umweltverschmutzung und
die wachstumsbasierte Marktwirtschaft nicht nach- der Klimaerwärmung gekennzeichnet, das die Kosten
haltig zu sein scheint. Einerseits bedarf es in den ar- und den Nutzen ökonomischer Aktivitäten zur De-
men Ländern dringend der wirtschaftlichen Entwick- ckung bringt. Hinter diesem Ansatz steht zwar die
lung und des wirtschaftlichen Wachstums, anderer- wichtige Einsicht, dass das Ziel nicht einfach darin be-
seits dürfte es mit Blick auf Ressourcenverbrauch und stehen kann, jede Umweltverschmutzung oder Um-
Belastung der Umwelt ökologisch nicht zu verkraften weltzerstörung zu vermeiden, dass eine solche Zielset-
sein, dass die armen Länder auf das materielle Wohl- zung sogar außerordentlich schädlich wäre, denn es
standsniveau der industrialisierten Länder aufschlie- müsste dann auf nahezu jegliche Produktion und jeg-
ßen (für eine optimistischere Einschätzung vgl. aber lichen Konsum verzichtet werden. Kritikwürdig sind
Helm 2015). Es ist nicht klar, was aus einem solchen aber an der vorherrschenden ökonomischen Behand-
Befund normativ folgt und wie die mit diesem Sys- lung der Probleme die folgenden drei eng miteinander
temproblem verbundenen Gerechtigkeitsfragen zu verwobenen Annahmen: erstens die Annahme einer
beantworten sind. Bedarf es, zumindest zunächst in grundsätzlichen Kommensurabilität aller Vorteile und
den entwickelten Ländern, einer nicht wachstums- Schäden und die damit einhergehende Annahme, dass
basierten Wirtschaftsform oder einer »Postwachs- sich aus intra- und intergenerationellen Cost-Benefit-
tumsökonomie« (vgl. z. B. Jackson 2011; Miegel 2011; Analysen sinnvolle oder vertretbare Zielsetzungen po-
Paech 2012)? Müssen die Menschen in den entwickel- litischen Handelns ableiten lassen (im Unterschied zu
ten Ländern genügsamer werden (vgl. z. B. Skidelsky/ Analysen, wie anders begründete Zielsetzungen mög-
Skidelsky 2012)? lichst effizient realisiert werden können). Dies stellt
Auch wenn es zutreffen dürfte, dass die gegenwär- den (impliziten) moralisch-normativen Anspruch
tige wachstumsbasierte Weltwirtschaft nicht nachhal- umweltökonomischer Analysen dar. Zweitens die An-
tig ist, ist wohl davon auszugehen, dass es vorerst we- nahme, dass aufgrund langfristigen Wirtschaftswachs-
der eine tragfähige Vorstellung von einer Alternative tums zukünftige Generationen über ein bedeutend hö-
gibt, die wirklich Besserung verspricht (und die Si- heres Wohlstandsniveau verfügen werden als die heu-
tuation der Armen in der Welt nicht noch mehr ver- tigen Generationen, sie deshalb mit Schäden sehr viel
schlechtert), noch davon, wie ein vertretbarer Über- besser werden umgehen können und (auch) deshalb
gang von einer Wachstums- zu einer Postwachstums- die künftigen Schäden gegenüber der Bemessung heu-
ökonomie bewerkstelligt werden könnte. Hinzu tiger Schäden und Vorteile diskontiert werden sollten.
kommt, dass unfreiwillige Einbußen materiellen Es handelt sich um eine Bewertung der Relevanz der
Wohlstands in einer Volkswirtschaft offenbar leicht Zustände künftiger Menschen auf der Basis einer opti-
zu sozialen Spannungen und politischen Verwerfun- mistischen Prognose. Drittens die Annahme, dass sich
gen führen können (Friedman 2005). Durch solche den möglichen künftigen Schäden sinnvolle oder be-
Feststellungen wird, auch wenn sie richtig sind, das lastbare Wahrscheinlichkeiten zuordnen und sie sich
fundamentale Problem nicht aufgehoben. Da aber die entsprechend als Risiken (im technischen Sinne), d. h.
globalen, von der Ökonomie entscheidend abhängi- als Produkte von Wahrscheinlichkeit und Schadens-
gen Menschheitsfragen, nämlich Weltarmut, Klima- höhe behandeln und deshalb auch über die Wahr-
wandel und Übernutzung der natürlichen Umwelt, scheinlichkeiten diskontieren lassen. In dieser Annah-
außerordentlich dringlich sind, gilt es sie bis auf Wei- me spricht sich zusätzlich ein ungedecktes Zutrauen in
teres und so weit wie möglich innerhalb der vorhan- die vorhandenen Wissensmöglichkeiten aus.
denen Wachstumsökonomie anzugehen. Allerdings Diese Annahmen stellen entweder selbst moralisch
muss dies etwa mit Blick auf den Klimawandel und normative Urteile dar, oder es gehen in sie moralisch
die weiteren ökologischen Probleme (s. Kap. V.64) ei- normative Urteile ein. Die entsprechenden Urteile fal-
ne Kritik der vorherrschenden neoklassischen öko- len weder in die Kompetenz der Ökonomie noch dürf-
nomischen Theorie einschließen. ten sie sonderlich plausibel sein. Im Folgenden wird
vorausgesetzt, dass
474 V Anwendungsfragen

1. alle Personen gleiche (moralische) Rechte auf die Personen, die in der Zukunft (tatsächlich) leben wer-
notwendigen Voraussetzungen handelnder Selbst- den (s. Kap. V.80). Zugleich sind die Aufgaben, die aus
verwirklichung haben (z. B. auf Leben, physische den Rechten der Personen, auch aus den Rechten zu-
und psychische Integrität, Eigentum), dass künftiger Personen erwachsen, begrenzt. Mit Blick auf
2. diese Rechte untereinander eine Rangordnung die Rechte zukünftiger Personen gilt es die notwendi-
aufweisen (z. B. ist das Recht auf Leben grund- gen Voraussetzungen ihrer handelnden Selbstverwirk-
legender als das Recht auf Eigentum), dass lichung zu erhalten (nicht zu zerstören). Insbesondere
3. situativ das grundlegendere Recht einer Person ei- gilt es katastrophale Schädigungen zu vermeiden, die
nen Vorrang haben kann vor dem weniger grund- eine Vielzahl von Menschen ihrer Lebensmöglichkei-
legenden Recht einer anderen Person, dass ten berauben. Entsprechend stehen Wohlstandsein-
4. die Personen selbst normalerweise nicht miteinan- bußen, die mit den erforderlichen Maßnahmen zur
der verrechnet werden dürfen (z. B. darf eine un- Eindämmung des Klimawandels oder der langfristigen
schuldige Person normalerweise nicht getötet wer- Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen ver-
den, um einer anderen Person oder einer Mehrzahl bunden sind, mit dem Schutz elementarer Rechte wie
anderer Personen das Leben zu retten), Leben und physischer Integrität von (auch zukünfti-
5. dass die Rechte der Personen nicht nur negative gen) Menschen nicht auf einer Stufe (Steigleder 2016).
Rechte sind (Rechte darauf, dass andere Handlun- Sofern aber Maßnahmen, die dem Schutz grund-
gen unterlassen, die eine Person in den Gegen- legender Rechte von Menschen dienen, die grund-
ständen der Rechte schädigen), sondern auch po- legenden Rechte anderer Menschen bedrohen, bedarf
sitive Rechte (Rechte darauf, dass andere einer es flankierender Maßnahmen, um dies zu verhindern.
Person helfen, die Gegenstände der Rechte zu be- So muss beispielsweise dafür gesorgt werden, dass
wahren oder zu erlangen, wenn sie sich selbst Menschen sozial abgesichert sind, die aufgrund der
nicht helfen kann und andere einzeln oder kollek- Umstellung von der Nutzung fossiler Brennstoffe auf
tiv ohne vergleichbare Kosten zur Hilfeleistung in alternative Energien ihren Arbeitsplatz verlieren.
der Lage sind; vgl. Gewirth 1996, Kap. 2) und Auch ist sicherzustellen, dass arme Menschen den Zu-
6. dass es Teil der Rechte der Personen ist, dass diese gang zu dringend benötigten Energiequellen nicht da-
effektiv geschützt werden (etwa durch bestimmte durch verlieren, dass sich fossile Brennstoffe durch
Institutionen; Gewirth 1978, Kap. 5; Steigleder Maßnahmen verteuern, die das (wichtige) Ziel haben,
2014). den Verbrauch dieser Brennstoffe zu reduzieren (vgl.
Vor dem Hintergrund dieser Annahmen besteht die dazu Shue 2014).
basale Gerechtigkeitsfrage darin, ob Handlungen, In- Weil einerseits die realistische und gut begründete
stitutionen sowie die vielfältigen Formen technischer, Möglichkeit besteht, dass auch schon mit einer relativ
sozialer und wirtschaftlicher Organisation jeweils die geringen durchschnittlichen Erwärmung des globalen
Rechte aller Betroffenen in angemessener Weise wah- Klimas katastrophale Folgen verbunden sind, zugleich
ren bzw. diesen Rechten in angemessener Weise Rech- aber unsicher ist, welche Menge an kumulativen Emis-
nung tragen oder nicht. Ein wesentlicher, aber schwie- sionen von Kohlendioxyd und weiteren Klimagasen
riger Aspekt ist, ob die Verteilung möglicher Vorteile zu welcher durchschnittlichen Erwärmung führen
und Schädigungen, also von Chancen und Risiken, wird, besteht die grundsätzliche Pflicht, so umfassend,
mit den Rechten der Betroffenen vereinbar ist. Diese wirksam und so schnell wie möglich die entsprechen-
Annahmen können hier nicht näher begründet wer- den Emissionen zu reduzieren bzw. zu begrenzen, wie
den (vgl. aber z. B. Gewirth 1978; Steigleder 1999). Es dies ohne eine (vergleichbare) Schädigung der grund-
sei lediglich darauf hingewiesen, dass sie gewisserma- legenden Rechte von Menschen möglich ist. Sofern
ßen einen Kern der gängigen Menschenrechts- und durch diese Reduzierung keine vergleichbaren Schä-
Grundrechtskataloge formulieren. Es dürfte aber in- digungen drohen, dürfen die entsprechenden Kata-
struktiv sein herauszustellen, welche grundlegenden strophen nicht riskiert werden. Schon aus normativen
normativen Prinzipien aus diesen Annahmen für die Gründen dürfen dann die Schäden nicht vermittels
Bearbeitung der vielfältigen Problembereiche im Feld vermeintlich geringer Wahrscheinlichkeiten diskon-
von Weltwirtschaft und Finanzmärkten folgen. tiert werden. Außerdem fehlt für eine belastbare Zu-
Eine Konsequenz der Gleichberechtigung der Per- ordnung von Wahrscheinlichkeiten die Wissensbasis.
sonen ist, dass die heute lebenden Personen nicht Die möglichen Schäden sind deshalb nicht als Risiken
mehr (aber auch nicht weniger) Rechte haben als die (im technischen Sinne), also als Produkte von Wahr-
79 Weltwirtschaft und Finanzmärkte 475

scheinlichkeit und Schadenshöhe, sondern als Unsi- me, wie die gegenwärtige Eurokrise deutlich vor Au-
cherheiten zu behandeln. gen führt, wenn etwa vom Reformstau bestimmter
Die Ausbildung funktionierender Marktwirtschaf- Volkswirtschaften, deren nicht zu bewältigenden
ten und die ökonomische Entwicklung sind für die Schuldenlasten oder den Problemen gesprochen wird,
Gewährleistung der Rechte der Menschen, die in den die bestimmten Volkswirtschaften aus der nicht län-
armen und den sich entwickelnden Ländern leben, ger bestehenden Möglichkeit erwachsen, eine eigene
von ausschlaggebender Bedeutung. Zugleich ist ein Währung abzuwerten.
zusätzliches massives Wachstum von Volkswirtschaf- Ob die Rechte der in einem Staat lebenden Men-
ten, die große Teile der Menschheit umfassen, mit gra- schen effektiv geschützt sind oder geschützt werden
vierenden ökologischen Problemen verbunden. Da- können, hängt nun wiederum nicht unwesentlich
raus ergibt sich für die (Menschen in den) reichen vom materiellen Wohlstandsniveau eines Staates und
Länder(n) die Pflicht, die armen oder sich entwickeln- damit von der Funktionsfähigkeit seiner Volkswirt-
den Länder durch die Bereitstellung umweltverträgli- schaft ab. Daraus ergibt sich das fundamentale Recht
cherer Technologien zu unterstützen und die Kosten der Bewohner jedes Landes auf eine dauerhaft funk-
dafür (weitgehend) zu tragen. (Dies führt zu Proble- tionierende Volkswirtschaft. Diesem Recht ent-
men, wie diese Kosten zwischen den reichen Ländern spricht die grundlegende Pflicht, wirtschaftliche Ak-
gerecht aufzuteilen sind und wie sich die Pflichten für tivitäten so zu gestalten und zu regeln, dass jedes
›willige‹ Länder darstellen, wenn andere Länder ihre Land eine dauerhaft funktionierende Volkswirtschaft
Pflichten nicht anerkennen oder diesen nicht nach- entwickeln oder erhalten kann. Diese Pflicht ist pri-
kommen wollen.) Solche technologische Unterstüt- mär eine negative Pflicht, besteht also in dem Verbot
zung muss beispielsweise darin bestehen, den armen von Aktivitäten, Maßnahmen und Regelungen, die
oder sich entwickelnden Ländern zu ermöglichen, geeignet sind, die dauerhafte Funktionsfähigkeit ei-
Kohlekraftwerke auf dem (umwelt-)technisch fort- ner Volkswirtschaft zu untergraben oder die Ent-
geschrittensten Stand zu errichten und zu nutzen oder wicklung einer dauerhaft funktionsfähigen Volks-
von vornherein Gaskraftwerke statt Kohlekraftwerke wirtschaft zu behindern oder zu stören. Da es darauf
zu bauen. ankommt, Rechte effektiv zu gewährleisten, gilt es
aber auch aktiv an der Einrichtung, Gestaltung und
Umgestaltung globaler Institutionen zu arbeiten, um
Das Recht auf eine dauerhaft den Schutz der dauernden Funktionsfähigkeit der
funktionierende Volkswirtschaft Volkswirtschaften zu sichern. Die Frage, ob und ge-
gebenenfalls welche Hilfspflichten sich aus dem
Die Bewohner eines jeden Landes haben ein fun- Recht auf eine dauerhaft funktionierende Volkswirt-
damentales Recht auf eine dauerhaft funktionierende schaft ergeben, ist eine eigene Frage, die hier nicht
Volkswirtschaft. Die Behauptung dieses Rechtes mag behandelt werden soll.
mit Blick auf die gegenwärtige, durch Globalisierung Wichtig ist, dass sich aus dem fundamentalen
gekennzeichnete Weltwirtschaft anachronistisch an- Recht der Menschen jedes Landes auf eine dauerhaft
muten. Es ist aber nicht so, dass die Globalisierung zu funktionierende Volkswirtschaft ein Maßstab für die
einer Weltgesellschaft oder einem Weltstaat geführt Beurteilung der ökonomischen Globalisierung, glo-
hätte oder in absehbarer Zeit führen würde. Vielmehr baler Märkte, der Aktivitäten global agierender Unter-
bleiben die Staaten unverändert relevant, und an ihrer nehmen und der diese Globalisierung beeinflussen-
Organisation, ihren Institutionen, aber auch an ihren den Institutionen ergibt. Pauschal gesagt hat die öko-
Möglichkeiten entscheidet sich in erster Linie, ob bzw. nomische Globalisierung bzw. haben bestimmte Aus-
in welchem Maße die Rechte der in ihnen lebenden prägungen derselben an der moralischen Qualität
Menschen effektiv geschützt sind oder nicht. Ebenso funktionierender Marktwirtschaften teil, insofern sie
machen es die durch Globalisierung gekennzeichnete die dauerhafte Funktionsfähigkeit von Marktwirt-
Weltwirtschaft und die Ausbildung globaler Märkte schaften befördern, und sind (in dieser Perspektive)
(noch) nicht sinnlos, von einzelnen Volkswirtschaften moralisch neutral, sofern sie den Bestand oder die
zu sprechen und das mit diesen Volkswirtschaften Entwicklung dauerhaft funktionsfähiger Volkswirt-
verbundene materielle Wohlstandsniveau oder deren schaften nicht beeinträchtigen, und moralisch kritik-
Entwicklungsrichtungen miteinander zu vergleichen. würdig oder falsch, wenn von ihnen solche beein-
Dies gilt selbst innerhalb regionaler Wirtschaftsräu- trächtigenden Wirkungen ausgehen.
476 V Anwendungsfragen

Finanzmärkte einen dauerhaft funktionsfähigen Finanzmarkt ha-


ben, sind die jeweiligen Finanzmärkte so zu gestalten,
Das Kriterium der dauerhaften Funktionsfähigkeit dass sie sowohl die dauerhafte Funktionsfähigkeit des
von Volkswirtschaften stellt auch ein fundamentales eigenen Finanzmarktes erhalten als auch keinen der
Kriterium der makroethischen (also an den Struktu- anderen Finanzmärkte untergraben, auf die die Men-
ren ansetzenden) Beurteilung von Finanzinstrumen- schen anderer Länder und Volkswirtschaften ange-
ten, Finanzinstitutionen und Finanzmärkten dar wiesen sind.
(Steigleder 2011). Wenn wir nämlich (zumindest bis Eine wichtige Frage ist in diesem Zusammenhang,
auf Weiteres) davon ausgehen müssen, dass dauerhaft inwieweit die Volkswirtschaften und Finanzmärkte
funktionierende Volkswirtschaften entwickelte Markt- der sich entwickelnden Länder überhaupt in die glo-
wirtschaften sind und dass entwickelte Marktwirt- balen Finanzmärkte einbezogen werden sollten. Die
schaften ohne ein entwickeltes und effizientes Finanz- Gefahren, die für die sich entwickelnden Länder mit
system nicht funktionsfähig sind, dann müssen wir einer Öffnung ihrer Finanzmärkte verbunden sind,
auch davon ausgehen, dass die Bewohner eines jeden dürften kaum zu bestreiten sein. Die Diskussion dreht
Landes ein fundamentales Recht auf einen effizienten sich um die Frage, ob diesen Gefahren durch institu-
und dauerhaft funktionsfähigen Finanzmarkt haben. tionelle Maßnahmen realistischerweise gegengesteu-
Dieses Recht ist von dem fundamentalen Recht auf ei- ert werden kann. Frederic S. Mishkin (2006; 2009),
ne dauerhaft funktionsfähige Volkswirtschaft abgelei- der grundsätzlich in der Einbeziehung der armen
tet. Es schließt auch die Rechtfertigung der mit Fi- Länder in die finanzielle Globalisierung eine große
nanzmärkten unvermeidlich verbundenen Systemrisi- Chance für diese Länder sieht, hat detailliert die erfor-
ken mit ein, sofern nur so dauerhaft funktionierende derlichen institutionellen Maßnahmen und Voraus-
Volkswirtschaften möglich sind. setzungen aufzuzeigen versucht. Dani Rodrik und Ar-
Das Recht auf einen dauerhaft funktionsfähigen vind Subramanian (2009) haben dagegen eingewandt,
Finanzmarkt bezieht sich mit ›dem‹ Finanzmarkt auf dass eine Öffnung der Finanzmärkte der armen Län-
eine aggregierte und systemische Größe. ›Der‹ Fi- der weder für deren Entwicklung notwendig sein
nanzmarkt meint die Gesamtheit der Finanzinstru- dürfte, noch es realistisch ist, dass die erforderlichen
mente, Finanzinstitutionen und Finanzmärkte, die je- institutionellen Schutzvorkehrungen etabliert werden
weils für eine dauerhaft funktionierende Volkswirt- können. Diese Debatte weist auf die wichtige Aufgabe
schaft erforderlich sind bzw. zu dieser beitragen. Es hin, die armen Länder vor negativen Folgen der finan-
geht also einerseits nicht einfach um einzelne Märkte. ziellen Globalisierung zu schützen und seitens der rei-
Vielmehr sind diese einzelnen Märkte danach zu be- chen Länder Vorkehrungen dagegen zu treffen, zu Fi-
urteilen, ob sie zu ›dem‹ effizienten und dauerhaft nanzkrisen in den sich entwickelnden Ländern bei-
funktionsfähigen Finanzmarkt beitragen, mit diesem zutragen (vgl. zu diesem Themenkomplex auch
vereinbar sind oder vielmehr die dauerhafte Funk- Emunds 2014).
tionsfähigkeit des Finanzmarktes untergraben oder Durch die hier skizzierte Argumentation wird ei-
gefährden. ›Der‹ Finanzmarkt ist aber andererseits nerseits die Bedeutung effizienter Finanzmärkte he-
nicht einfach der globale Finanzmarkt. Auch ›der‹ rausgestellt, andererseits ist die Rechtfertigung von Fi-
globale Finanzmarkt als Gesamtheit der globalen Fi- nanzmärkten rein instrumentell. Dies liegt an den
nanzmärkte ist danach zu beurteilen, ob er die für die (wohl) unvermeidlichen Systemrisiken, die mit ent-
einzelnen Volkswirtschaften jeweils relevanten Fi- wickelten Finanzmärkten verbunden sind. Da die mit
nanzmärkte befördert, nicht beeinträchtigt oder be- Systemrisiken verbundenen möglichen Schädigungen
schädigt. Inwieweit ›der‹ Finanzmarkt unter den Be- die Lebensgrundlage einer Vielzahl von Menschen
dingungen der Globalisierung und globaler Finanz- untergraben, gilt der Imperativ, dass Systemrisiken so
märkte jeweils mehr oder weniger auf eine einzelne weit wie möglich, also ohne größere Risiken oder
Volkswirtschaft beschränkt sein kann, ist eine eigene Schädigungen zu schaffen, zu vermeiden sind. Die
Frage. Die Rede von ›dem‹ bzw. ›den‹ Finanzmärkten Rechtfertigung der mit Finanzmärkten verbundenen
setzt dies nicht notwendig voraus. Systemrisiken erfolgt über das risikoethische Kriteri-
Entscheidend ist die distributive Perspektive. Da um der normativen Unvermeidbarkeit von Risiken,
die Bewohner eines jeden Landes ein über ihr fun- hängt also davon ab, inwieweit die mit diesen Risiken
damentales Recht auf eine dauerhaft funktionierende verbundenen Strukturen zur Reduktion größerer Ri-
Volkswirtschaft vermitteltes fundamentales Recht auf siken oder zu einem besseren Schutz aller von den Ri-
79 Weltwirtschaft und Finanzmärkte 477

siken betroffenen Menschen beitragen. Entsprechend Miegel, Meinhard: Exit. Wohlstand ohne Wachstum. Berlin
ist jedes Finanzinstrument, jede Finanzinstitution 2011.
und jeder Finanzmarkt dem Test zu unterziehen, ob Mishkin, Frederic S.: The Next Great Globalization. How Dis-
advantaged Nations Can Harness Their Financial System to
sie zu einem effizienten und dauerhaft funktionsfähi- Get Rich. Princeton 2006.
gen Finanzmarkt beitragen oder nicht. Es ist davon –: Why we shouldn’t turn our backs on financial globalizati-
auszugehen, dass viele der heute gebräuchlichen Fi- on. In: IMF Staff Papers 56/1 (2009), 139–170.
nanzinstrumente sowie der heute existierenden Fi- Paech, Niko: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die
nanzmärkte und Finanzinstitutionen diesen Test nicht Postwachstumsökonomie. München 2012.
Reichert, Wolf-Gero: Finanzregulierung zwischen Politik und
bestehen (zur Bewertung von Finanzmarktrisiken mit
Markt. Perspektiven einer Politischen Wirtschaftsethik.
einem Fokus auf Finanzderivate vgl. Heinemann Frankfurt a. M. 2013.
2014; für eine anders ansetzende Bewertung von Bör- Reinert, Eric S.: How Rich Countries Got Rich and Why Poor
sen vgl. Grzebeta 2014). Daraus ergeben sich erhebli- Countries Stay Poor. London 2008.
che normative Anforderungen an die erforderliche Rodrik, Dani: Das Globalisierungs-Paradox. Die Demokratie
Regulierung von Finanzmärkten (Reichert 2013; vgl. und die Zukunft der Weltwirtschaft. München 2011 (engl.
2011).
Emunds 2014). –/Subramanian, Arvind: Why did financial globalization
disappoint? In: IMF Staff Papers 56/1 (2009), 112–138.
Ziel dieses Kapitels war es, die grundlegenden Prinzi- Shue, Henry: Climate Justice. Vulnerability and Protection.
pien und Kriterien herauszustellen, die die normative Oxford 2014.
Arbeit in den hier angesprochenen Themenfeldern Skidelsky, Robert/Skidelsky, Edward: Wie viel ist genug? Vom
Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens.
leiten sollten. Dies kann aber die geduldige ethische
München 2012 (engl. 2012).
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478 V Anwendungsfragen

80 Zukünftige Generationen 400 Jahren lebende Menschen Zeitgenossen irgend-


einer heute lebenden Person sein werden. Manche
Die Frage der Gerechtigkeit gegenüber zukünftigen Autoren verstehen unter zukünftigen Generationen
Generationen hat durch Phänomene wie Ressourcen- zukünftig lebende Personengruppen, die sich zeitlich
übernutzung, Verlust an Biodiversität, Umweltver- nicht mit der gegenwärtig lebenden Generation über-
schmutzung und Klimawandel deutlich an praktischer lappen werden (vgl. Golding 1972, 86), während an-
Bedeutung gewonnen. Da wir nicht davon ausgehen dere einen weiteren Begriff zukünftiger Generationen
können, dass zukünftige Generationen in jedem Fall haben, der auch zukünftige überlappende Generatio-
mindestens denselben Lebensstandard genießen kön- nen umfasst (vgl. Birnbacher 1988, 25 f.). Im vorlie-
nen wie wir, stellt sich die Frage nach Gerechtigkeits- genden Kapitel wird dieser weitere Begriff verwendet.
pflichten ihnen gegenüber akut. War die Frage der Ge-
rechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen vor
einigen Jahrzehnten noch ein neues Forschungsfeld in Besonderheiten unseres Verhältnisses zu
der Philosophie, so gibt es heute eine ausdifferenzierte zukünftigen Generationen
Literatur zu diesem Thema (darunter mehrere Sam-
melbände: Sikora/Barry 1978; Partridge 1981; Laslett/ Aus der Tatsache, dass Angehörige zukünftiger Gene-
Fishkin 1992; Gosseries/Meyer 2009). rationen Nicht-Zeitgenossen sind, ergeben sich einige
Besonderheiten, welche möglicherweise eine beson-
dere Theorie, die sich von Gerechtigkeitstheorien für
Der Begriff zukünftiger Generationen gleichzeitig lebende Personengruppen unterscheidet,
notwendig machen. Eine oft erwähnte Besonderheit
Der Begriff der Generation wird in unterschiedlicher ist die der Einseitigkeit des Verhältnisses (vgl. Meyer
Bedeutung verwendet (Tremmel 2012, Kap. II; Gosse- 2010; Mulgan 2013): Aktuell lebende Personen kön-
ries 2003, 460; Birnbacher 1988, 23). Erstens kann er nen auf die Lebensumstände zukünftig lebender Per-
sich auf die Position von Individuen innerhalb einer sonen Einfluss nehmen, während dies Letzteren um-
Familie beziehen (z. B. Großmutter – Mutter – Toch- gekehrt unmöglich ist (dies gilt jedenfalls dann, wenn
ter). Es geht hierbei um Abstammungsverhältnisse, keine zeitliche Überlappung besteht). Eine zweite Be-
und Individuen lassen sich eindeutig einer bestimm- sonderheit ist, dass große Ungewissheit über die Zu-
ten Generation zuordnen. Dieser Generationenbegriff kunft besteht: Wir wissen weder, wie viele Angehörige
ist allenfalls für die Frage nach moralischen Pflichten zukünftiger Generationen es insgesamt geben wird,
gegenüber Familienangehörigen relevant. Zweitens noch wie die technologische Entwicklung verlaufen
kann mit einer Generation eine bestimmte Alters- wird. Drittens haben viele unserer heutigen Handlun-
gruppe im Verhältnis zu anderen Altersgruppen be- gen, etwa mit Bezug auf den Klimawandel, das Arten-
zeichnet werden (z. B. ›die jüngere Generation‹). Die- sterben oder das Hinterlassen radioaktiver Abfälle, ir-
ses Verständnis von Generation ist in Debatten um reversible Folgen für zukünftige Generationen (de-
Gerechtigkeit in der Altersvorsorge präsent (s. Kap. Shalit 1995, 5). Viertens beeinflussen unsere Entschei-
II.20). Drittens – und für vorliegendes Kapitel am rele- dungen, wer überhaupt in der Zukunft leben wird.
vantesten – kann mit einer Generation auch die Ge- Die Debatte über Gerechtigkeit gegenüber zukünf-
samtheit aller derzeit lebenden Individuen in Abgren- tigen Generationen lässt sich grob in drei Themen-
zung von zukünftig lebenden Individuen gemeint komplexe unterteilen. Erstens gibt es eine Debatte über
sein. Als Angehörige zukünftiger Generationen wer- die Frage, ob angesichts der Tatsache, dass die Identität
den nach diesem Verständnis alle zu einem bestimm- zukünftig lebender Personen vom Verhalten der heute
ten Zeitpunkt t0 noch nicht lebenden Individuen be- lebenden Menschen abhängt, die üblichen Konzepte
zeichnet. Angehörige zukünftiger Generationen sind von Schädigung und Rechteverletzung gegenüber An-
so genannte ›Nicht-Zeitgenossen‹ der heute lebenden gehörigen zukünftiger Generationen überhaupt an-
Personen. Aus Nicht-Zeitgenossen können gemäß wendbar sind. Dies wird unter dem Titel ›Nichtiden-
dieser Definition zu einem späteren Zeitpunkt t1 Zeit- titätsproblem‹ diskutiert. Zweitens gibt es eine Debatte
genossen werden (vgl. Tremmel 2012, 51). Für einige über Fragen der so genannten ›Populationsethik‹, dies
Personengruppen lässt sich allerdings sagen, dass sie vor allem im Zusammenhang mit utilitaristischen
niemals Zeitgenossen sein werden. Beispielsweise Theorien – Stichworte hierzu sind repugnant conclusi-
können wir nach bestem Wissen ausschließen, dass in on und mere addition paradox (Parfit 1984). Eine dritte
80 Zukünftige Generationen 479

Debatte im Anschluss an John Rawls (1971) dreht sich Nicht nur direkt mit der Fortpflanzung zusam-
um die Frage, inwiefern kontraktualistische Theorien menhängende Entscheidungen einzelner Personen
Gerechtigkeitspflichten gegenüber zukünftigen Gene- beeinflussen, welche Individuen geboren werden.
rationen begründen können. Parfit diskutiert das folgende Beispiel (1984, 362 f.,
371): Angenommen, wir haben die Wahl, entweder
eine Energiepolitik zu betreiben, die in hohem Maße
Das Nichtidentitätsproblem nicht-erneuerbare Ressourcen verbraucht, oder aber
auf erneuerbare Energien umzusteigen. Diese politi-
Ein Problem für die Begründung von Gerechtigkeits- sche Entscheidung hat einen Einfluss darauf, welche
pflichten gegenüber Angehörigen zukünftiger Genera- Personen in der Zukunft existieren werden. Beispiels-
tionen, das vor allem durch Derek Parfit (1984, 351 f.) weise werden abhängig von der verfolgten Energie-
bekannt geworden ist, ist das so genannte ›Nichtiden- politik Menschen in anderen Berufen tätig sein und
titätsproblem‹ (vgl. auch Schwartz 1979; Kavka 1982; so andere Partner kennenlernen. Die Energiepolitik
Woodward 1986; Shiffrin 1999; Kumar 2003; Meyer beeinflusst auch die in einer Gesellschaft verwende-
2003; 2010; Heyd 2009a). Die Grundlage für das Auf- ten Technologien und das allgemeine Wohlfahrts-
kommen des Nichtidentitätsproblems ist das Faktum, level, und diese Faktoren nehmen ebenfalls Einfluss
dass aktuell lebende Personen nicht nur einen Einfluss darauf, wer sich wann und mit wem fortpflanzt. Wenn
auf die Lebensumstände zukünftiger Personen haben, nun also diejenige Politik gewählt wird, welche nicht-
sondern darüber hinaus auch darauf, welche Personen erneuerbare Ressourcen in einem höheren Maß ver-
zukünftig leben werden. Handlungen, die typischer- braucht, so scheint es, dass die Menschen, die nach
weise als schädigend oder rechteverletzend eingestuft der Wahl dieser Politik zukünftig leben werden, nicht
werden, wenn sie keine Folgen für die Identität der Be- durch diese geschädigt werden – denn hätte man auf
troffenen haben, können möglicherweise nicht als erneuerbare Energien gesetzt, würden diese Personen
Schädigung oder Verletzung eines Rechts gelten, wenn gar nicht erst existieren. Das Nichtidentitätsproblem
sie gleichzeitig die Identität der Betroffenen verändern stellt also eine Schwierigkeit für die Begründung na-
(Parfit bezeichnet Entscheidungen über Handlungs- heliegender Gerechtigkeitspflichten gegenüber zu-
alternativen, welche mit der Erzeugung unterschiedli- künftigen Generationen dar – etwa der Forderung,
cher Personen einhergehen, als »different people choi- den Verbrauch an nicht-erneuerbaren Ressourcen
ces«, 1984, 356). einzuschränken, um zukünftig lebende Menschen
Das Nichtidentitätsproblem lässt sich am einfachs- nicht zu schädigen.
ten mit dem folgenden Beispiel einführen: Wenn ein Bei der Diskussion des Nichtidentitätsproblems
Paar entscheidet, sich zum Zeitpunkt t0 fortzupflan- stellt sich zunächst die Frage, für welche Theorien das
zen, dann ist das entstehende Kind nicht genetisch Problem überhaupt eines ist. Das Nichtidentitätspro-
identisch mit dem Kind, das entstehen würde, wenn blem ist eine Herausforderung für alle Gerechtigkeits-
die Fortpflanzung stattdessen zu einem späteren Zeit- konzeptionen, die eine so genannte person-affecting
punkt t1 erfolgen würde. Wenn das zum Zeitpunkt t0 view mit einem komparativen Standard intrapersona-
gezeugte Kind später sagt: »Es wäre besser für mich len Vergleichs für das Vorliegen einer Schädigung kom-
gewesen, wenn ihr mich einige Jahre später gezeugt binieren (vgl. Meyer 2010). Die person-affecting view
hättet« (beispielsweise, weil die Eltern zu jenem Zeit- ist durch die Annahme gekennzeichnet, dass eine Ge-
punkt materiell besser gestellt gewesen wären), so er- rechtigkeitspflicht nur dann verletzt sein kann, wenn
gibt dies keinen Sinn, denn unter diesen Umständen Ansprüche bestimmter Personen verletzt wurden. Be-
hätte ja ein anderes Kind existiert. Somit wäre die Si- steht keine Verletzung eines Anspruchs einer be-
tuation nicht für das existierende Kind besser gewesen, stimmten Person, dann kann auch keine Gerechtig-
dessen Identität eben davon abhängig ist, dass es zu keitspflicht verletzt worden sein. Der komparative in-
einem bestimmten Zeitpunkt gezeugt wurde. Für Ent- trapersonale Vergleichsstandard für das Vorliegen ei-
scheidungen, die notwendig mit der Existenz einer be- ner Schädigung besagt, dass eine solche nur dann
stimmten Person verbunden sind, kann nicht gesagt vorliegen kann, wenn es besser für die betreffenden
werden, dass eine andere Entscheidung besser oder Personen gewesen wäre, wenn eine andere Handlung
schlechter für diese Person gewesen wäre; deshalb als die tatsächlich ausgeführte erfolgt wäre (Parfit 1984,
kann augenscheinlich auch keine Schädigung geltend 487). Kann man also aufgrund des Nichtidentitätspro-
gemacht werden (vgl. Meyer 2003, 147–149). blems nicht zeigen, dass es den betreffenden Personen
480 V Anwendungsfragen

bei der Ausführung einer alternativen Handlung bes- rung unklar ist, was beispielsweise an einer in hohem
ser ergangen wäre, dann kann nicht von einer Schädi- Maße ressourcenverbrauchenden Politik unabhängig
gung (und, so die Annahme, auch nicht von der Verlet- von deren Effekten auf die Wohlfahrt von Angehörigen
zung einer Gerechtigkeitspflicht) gesprochen werden. zukünftiger Generationen moralisch falsch sein sollte.
Eine mögliche Lösung besteht folglich darin, den Eine rechtebasierte Argumentation muss ausweisen
komparativen intrapersonalen Schädigungsstandard können, welches Recht durch eine stark ressourcenver-
zurückzuweisen. Entweder man bezieht sich alternativ brauchende Politik verletzt wird, wenn es sich gerade
auf einen anderen Wohlfahrtsstandard (nämlich auf ei- nicht um ein auf die Wohlfahrt zukünftiger Personen
nen absoluten Standard) oder man formuliert einen bezogenes Recht handeln soll.
wohlfahrtsunabhängigen Standard. Gemäß der ersten Eine weitere Möglichkeit besteht darin, von der
Variante – einer Schwellenwertskonzeption von Schä- person-affecting view Abstand zu nehmen. In diese Ka-
digung – kann man sagen, dass Angehörige zukünfti- tegorie fallen die utilitaristischen Ansätze, die im Fol-
ger Generationen geschädigt werden, wenn ihre Wohl- genden dargestellt werden.
fahrt als Konsequenz unseres Verhaltens unter ein be-
stimmtes absolutes Niveau fällt (McMahan 1998, 223–
229; Meyer 2003; 2010). Dieser Standard wird normativ Utilitaristische Ansätze
festgelegt, etwa als das Minimum, das für ein men- und Populationsethik
schenwürdiges Leben oder die Befriedigung von
Grundbedürfnissen notwendig ist. Beispielsweise wäre Utilitaristische Ansätze (s. Kap. III.34) haben zu-
ein solcher Standard verletzt, wenn wir zukünftigen nächst den Vorteil, dass sie sich ohne Modifikationen
Generationen eine Welt hinterlassen, die aufgrund des auf zukünftige Generationen anwenden lassen, ohne
Klimawandels keine ausreichenden Ernährungsmög- dem Nichtidentitätsproblem ausgesetzt zu sein. Ge-
lichkeiten mehr bereitstellt. Eine solche auf einem ab- mäß einer utilitaristischen Position gilt: Eine Maxi-
soluten Schädigungsstandard beruhende Position er- mierung des Nutzens über alle Generationen hinweg
laubt es, bestimmte Gerechtigkeitspflichten gegenüber ist aus Gerechtigkeitssicht geboten. Die utilitaristische
Angehörigen zukünftiger Generationen zu begründen: Argumentation ist nicht an die Identität von Indivi-
Das Verursachen einer Unterschreitung des Schwellen- duen gebunden und umgeht somit die Nichtiden-
werts sollte aus Gerechtigkeitsgründen vermieden titätsproblematik gänzlich. So kann etwa eine ressour-
werden. Eine zweite Möglichkeit, unter Beibehaltung cenverschwendende, stark umweltverschmutzende
einer person-affecting view dem Nichtidentitätspro- oder klimawandelverursachende Politik auf der
blem zu begegnen, besteht darin, sich nicht auf ein Grundlage verurteilt werden, dass sie den Gesamtnut-
Wohlfahrtskriterium zu beziehen, sondern zu argu- zen über alle Generationen hinweg reduziert.
mentieren, dass ein Verhalten moralisch verboten sein Allerdings ist der Utilitarismus auch mit verschie-
kann, selbst wenn es die betreffenden Personen nicht denen Schwierigkeiten konfrontiert, was zukünftige
schlechter stellt – und zwar dann, wenn das entspre- Generationen betrifft: Ein erstes Problem ist, dass un-
chende Verhalten deren moralische Rechte verletzt sere Verpflichtungen gegenüber zukünftigen Genera-
(Woodward 1986). James Woodward diskutiert ver- tionen potenziell alle anderen Verpflichtungen über-
schiedene Beispiele, in denen durch eine Handlung die wiegen könnten, insbesondere dann, wenn mit einer
Rechte einer Person verletzt werden, ohne dass diese hohen Anzahl zukünftig Lebender zu rechnen ist. Das
gleichzeitig schlechter gestellt wird. In einem Beispiel Problem der Überforderung, das oft im Zusammen-
wird ein Passagier durch das Personal einer Fluggesell- hang mit dem Utilitarismus diskutiert wird, tritt hier
schaft aus Gründen rassistischer Diskriminierung am also in verschärfter Form auf (Mulgan 2013, 3).
Einsteigen in ein Flugzeug gehindert. Anschließend Eine weitere, oft unter dem Stichwort ›Populations-
stürzt das Flugzeug ab (ebd., 810 f.). Die Handlung hat ethik‹ diskutierte Problematik ist die der repugnant
den Passagier in diesem Fall zwar nicht schlechter ge- conclusion (Parfit 1984, 388): Versteht man den Uti-
stellt, aber dennoch seine moralischen Rechte verletzt. litarismus als Nutzensummenutilitarismus, dann
Auch wenn man die Existenz solcher Fälle zugesteht, ist scheint es, dass ihm zufolge eine maximale Reproduk-
aber nicht unmittelbar klar, ob sich eine entsprechende tionsrate gefordert ist, selbst wenn dies mit einer nied-
Argumentation auch auf zukünftige Generationen be- rigen Lebensqualität der zukünftig lebenden Personen
treffende Handlungen übertragen lässt. Die Schwierig- einhergeht, solange der Gesamtnutzen durch die zu-
keit liegt darin, dass anders als im Fall der Diskriminie- sätzlich lebenden Personen steigt. Die repugnant con-
80 Zukünftige Generationen 481

clusion besteht darin, dass es für jede Anzahl zukünf- Rawls betrachtete die Gerechtigkeit gegenüber zu-
tig lebender Personen mit einer bestimmten Lebens- künftigen Generationen als besonders schwieriges
qualität eine höhere Anzahl zukünftig lebender Per- theoretisches Problem (ebd., 284). Das Gedankenex-
sonen mit etwas geringerer Lebensqualität gibt, deren periment des Urzustandes, in dem sich Personen hin-
Existenz derjenigen der ersten Gruppe mit höherer ter einem ›Schleier des Nichtwissens‹ (also ohne Wis-
Lebensqualität aus der Perspektive des Nutzensum- sen über ihre eigene Position in der Gesellschaft) über
menutilitarismus vorzuziehen ist. Vertritt man hin- Gerechtigkeitsprinzipien einigen, wirft in Bezug auf
gegen die Position, dass der Durchschnittsnutzen ent- zukünftige Generationen Interpretationsprobleme
scheidend sei, dann tritt gerade das umgekehrte Pro- auf. Die nächstliegende Interpretation – dass Vertreter
blem auf: Die Zeugung einer zusätzlichen Person, de- aller Generationen am Urzustand beteiligt sind, wobei
ren Lebensqualität unter dem Durchschnittsnutzen die Vertragspartner aber nicht wissen, zu welcher Ge-
liegen würde, wäre gemäß dieser Auffassung mora- neration sie gehören (Barry 1989, 194) – weist Rawls
lisch schlecht, unabhängig davon, wie gut das Leben zurück. Seine Begründung ist die, dass das Gedanken-
dieser Person absolut betrachtet ist (diese Problematik experiment des Urzustands mit dieser Modifikation
ist als mere addition paradox bekannt, Parfit 1984, zu kompliziert würde (Rawls 1971, 139). Einige Auto-
420–441). Beide Positionen – Nutzensummenutilita- ren haben in diesem Zusammenhang auf ein grund-
rismus und Durchschnittsnutzenutilitarismus – sind legendes Problem hypothetisch-kontraktualistischer
also jeweils mit einer unplausiblen Folgerung verbun- Ansätze bei der Formulierung von Prinzipien interge-
den. Die Formulierung einer überzeugenden utilita- nerationeller Gerechtigkeit hingewiesen: Die zu be-
ristischen Theorie in Bezug auf zukünftige Generatio- schließenden Prinzipien haben einen Einfluss darauf,
nen erweist sich aus diesem Grund als schwierig. wie viele Personen in der Zukunft existieren werden.
Damit müssten die Vertragsparteien aber unter ande-
rem über ihre eigene Existenz entscheiden, was zu lo-
Kontraktualistische Theorien gischen Schwierigkeiten führt (Barry 1989, 194 f.; de-
Shalit 1995, 110 f.; Heyd 2009b, 173).
Kontraktualistische Theorien bilden eine weitere Rawls favorisierte die so genannte Present-time-of-
wichtige Theoriefamilie im Zusammenhang mit der entry-Interpretation des Urzustandes, wonach alle
Begründung von Gerechtigkeitspflichten gegenüber Teilnehmer des Urzustands zu derselben Generation
zukünftigen Generationen. Voneinander zu unter- gehören (1971, 292). Dies wirft die Frage auf, weshalb
scheiden sind kontraktualistische Theorien, welche sie dann zukünftige Generationen bei der Formulie-
Gerechtigkeitspflichten aus dem rationalen Eigeninte- rung von Gerechtigkeitsprinzipien berücksichtigen
resse von Individuen abzuleiten versuchen (Gauthier sollten (Heyd 2009b, 174). Der Urzustand ist so kon-
1986), und hypothetisch-kontraktualistische Theo- struiert, dass die Unparteilichkeit der Entscheidung
rien (Rawls 1971). Für kontraktualistische Gerechtig- durch den Schleier des Nichtwissens gesichert ist und
keitskonzeptionen, welche auf dem Eigeninteresse die Teilnehmer des Urzustands keine altruistische Mo-
von Individuen aufbauen, ist das Vorliegen von Rezi- tivation haben, sondern allein aufgrund eigeninteres-
prozität zentral (Gauthier 1986; s. auch Kap. III.30). sierter Erwägungen bestimmte Gerechtigkeitsprinzi-
Genau diese fehlt bei zukünftigen Generationen, und pien gegenüber anderen vorziehen. Rawls modifizierte
deshalb ist es für kontraktualistische Theorien dieser diese Annahme für die Formulierung von Gerechtig-
Art schwierig, Gerechtigkeitspflichten gegenüber zu- keitsprinzipien, die gegenüber zukünftigen Generatio-
künftig lebenden Personen zu begründen. Aus Sicht nen gelten sollen: Die Teilnehmer des Urzustands gel-
der heute lebenden Personen gibt es aufgrund der ten als Vertreter von Familien und haben als solche ein
mangelnden Reziprozität keine auf ihr Eigeninteresse Interesse am Wohlergehen ihrer Nachkommen (1971,
bezogenen Gründe, Angehörige zukünftiger Genera- 128). Diese Annahme ist allerdings kritisiert worden.
tionen moralisch zu berücksichtigen (vgl. hierzu de- Sie weicht von den üblichen Rahmenbedingungen des
Shalit 1995, 92–98; Arrhenius 1999). Urzustands ab und scheint zudem bloß Verpflichtun-
Aussichtsreicher ist die Anwendung eines hypothe- gen gegenüber unmittelbar folgenden Generationen
tisch-kontraktualistischen Ansatzes. Der Anknüp- begründen zu können (English 1977; Heyd 2009b,
fungspunkt vieler Beiträge zu Gerechtigkeit gegen- 175). Rawls modifizierte später seine Position und ar-
über zukünftigen Personen ist Rawls’ Behandlung die- gumentierte, dass jede Generation sich gemäß einem
ser Frage in seiner Theorie der Gerechtigkeit (1971). Prinzip verhalten solle, von dem sie wünscht, dass es
482 V Anwendungsfragen

von allen vergangenen Generationen befolgt worden eines utilitaristischen Theorierahmens formuliert er
sei (Rawls 1993, 273 f.; 2001, 159). eine Reihe von Praxisnormen, welche die Erhaltung
Inhaltlich fordert Rawls’ Theorie, dass die Angehö- der Menschheit und der höheren Tiere (ebd., 202–
rigen einer Generation jeweils so viel Kapital sparen 206), die Vermeidung der Gefährdung einer zukünfti-
sollen, dass gerechte Institutionen für zukünftig leben- gen menschenwürdigen Existenz (ebd., 206 f.) sowie
de Generationen geschaffen bzw. erhalten werden kön- den Erhalt einer gewissen Entscheidungsfreiheit für
nen. Dies bedeutet, dass es für die früheren Generatio- Angehörige zukünftiger Generationen durch die Ver-
nen zunächst eine Akkumulationsphase gibt, in der die meidung irreversibler Risiken (ebd., 208–217; ähnlich
Nettosparquote positiv ist. Sind erst einmal gerechte auch Callahan 1981, 83 f.) zum Inhalt haben. Aus den
Institutionen geschaffen, muss nur noch so viel gespart genannten Praxisnormen lässt sich etwa eine kritische
werden, dass diese erhalten werden können (»steady Position gegenüber der Kernenergie (irreversibles Ri-
state«, Rawls 1971, 287). Interessant daran ist, dass sich siko durch die Lagerung radioaktiver Abfälle) oder
mit Rawls beispielsweise keine Erhaltung bestimmter dem Verursachen eines starken Klimawandels (irre-
natürlicher Ressourcen fordern lässt (Birnbacher 1977, versibles Risiko, Gefährdung menschenwürdiger Exis-
386; Gosseries 2008). Relevant ist nach seiner Argu- tenz) ableiten.
mentation nur die Gesamtgröße des Kapitalstocks. Viel hängt allerdings bei der ethischen Beurteilung
Dieter Birnbacher (1977, 387) weist zudem darauf hin, konkreter Handlungsoptionen davon ab, wie stark
dass Rawls die Gerechtigkeitsprinzipien, die gegen- man die Risiken für zukünftige Generationen in der
über zukünftigen Generationen zur Anwendung kom- Abwägung gegenüber den Interessen heute lebender
men, als sekundäre Prinzipien versteht: Sie werden ab- Menschen gewichtet. Der Interessenausgleich zwi-
geleitet aus der Schaffung bzw. der Erhaltung gerechter schen heute lebenden Personen und Angehörigen
Institutionen. Substanzielle Prinzipien der Vertei- (verschiedener) zukünftiger Generationen und die
lungsgerechtigkeit (s. Kap. II.12) kommen zwischen Rolle der Bewertung von Risiken hierbei ist auch ein
Generationen hingegen nicht zur Anwendung. zentrales Thema der Klimaethik, die mittlerweile ein
eigenes Forschungsfeld darstellt (s. Kap. V.66). Was die
Thematik der Biodiversität und des Ressourcenver-
Anwendungsfragen brauchs betrifft, so ist eine wichtige Frage, ob bestimm-
te natürliche Ressourcen wie Tier- oder Pflanzenarten
Neben grundlegenden Fragen der Begründung von aus Gerechtigkeitsperspektive als substituierbar gelten
Pflichten gegenüber Angehörigen zukünftiger Genera- können, ob also ein Verlust bestimmter natürlicher
tionen spielen in der Debatte auch Anwendungsfragen Ressourcen durch einen höheren Kapitalstock kom-
eine wichtige Rolle. Dabei stehen Probleme der Um- pensiert werden kann (vgl. Gosseries 2001, 342).
weltverschmutzung und des übermäßigen Ressourcen-
verbrauchs durch die heute lebende Generation im Literatur
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Autorinnen und Autoren

Johann S. Ach, PD Dr., Centrum für Bioethik, Univer- phie, Institut für Philosophie, Universität Bern (I.1
sität Münster (V.77 Tiere). Einleitung, zus. mit C. Mieth und C. Neuhäuser,
Valentin Beck, Dr., Institut für Philosophie, Freie V.70 Politische Zugehörigkeit).
Universität Berlin (V.56 Armut). Stefan Gosepath, Professor für Praktische Philoso-
Martin Beckstein, Dr., Princeton University (III.36 phie, Institut für Philosophie, Freie Universität
Kommunitaristische Gerechtigkeit). Berlin (II.28 Gleichheit).
Dagmar Borchers, Professorin für Angewandte Svantje Guinebert, Institut für Philosophie, Univer-
Philosophie, Universität Bremen (III.29 Gerechtig- sität Bremen (III.29 Gerechtigkeit als Tugend, zus.
keit als Tugend, zus. mit S. Guinebert). mit D. Borchers).
Christine Bratu, Dr., Lehrstuhl für Philosophie IV, Henning Hahn, PD Dr., Institut für Philosophie, Uni-
Ludwig-Maximilians-Universität München (II.25 versität Kassel (II.17 Globale Gerechtigkeit).
Das Differenzprinzip). Martin Hartmann, Professor für Praktische Philoso-
Andreas Cassee, Dr. des., Justitia Amplificata, Freie phie, Philosophisches Seminar, Universität Luzern
Universität Berlin (V.69 Migration). (I.10 Kritik am Gerechtigkeitsbegriff).
Robin Celikates, Associate Professor of Philosophy, Jan-Christoph Heilinger, Dr., Münchner Kompetenz-
Department of Philosophy, Universität Amster- zentrum Ethik, Ludwig-Maximilians-Universität
dam (IV.50 Politik und Demokratie, V.59 Demo- München (V.60 Enhancement).
kratie und Selbstbestimmung). Jan-Hendrik Heinrichs, PD Dr., Institut für Neuro-
Francis Cheneval, Professor für Politische Philoso- wissenschaften und Medizin, Forschungszentrum
phie, Universität Zürich (IV.48 Staat). Jülich (IV.43 Grundgüter und Fähigkeiten).
Sonja Dänzer, Dr. des., Ethik-Zentrum, Universität Christoph Henning, PD Dr., Max Weber Kolleg,
Zürich (II.27 Fairness). Universität Erfurt (III.33 Sozialistische Gerech-
Sarhan Dhouib, Dr., Institut für Philosophie, Univer- tigkeit).
sität Kassel (I.8 Inter- und transkulturelle Perspek- Wilfried Hinsch, Professor für Praktische Philoso-
tiven, zus. mit F. Dübgen). phie, Philosophisches Seminar, Universität Köln
Franziska Dübgen, Dr., Fachbereich Gesellschaftswis- (II.12 Distributive Gerechtigkeit, II.21 Verfahrens-
senschaften, Universität Kassel (I.8 Inter- und gerechtigkeit).
transkuluturelle Perspektiven, zus. mit S. Dhouib). Magdalena Hoffmann, Dr., Kultur- und Sozialwis-
Franziska Felder, Dr., Institut für Erziehungswissen- senschaftliche Fakultät, Universität Luzern (V.61
schaft, Universität Zürich (V.57 Behinderung). Familie).
Andreas Fischer-Lescano, Professor für Rechtswis- Thomas Hoffmann, PD Dr., Institut für Philosophie,
senschaft, Zentrum für europäische Rechtspolitik, Universität Magdeburg (V.76 Strafe und Strafvoll-
Fachbereich Rechtswissenschaft, Universität Bre- zug).
men (IV.47 Positives Recht und Völkerrecht, zus. Sabine Hohl, Dr. des., Institut für Philosophie, Uni-
mit J. Horst). versität Graz (V.80 Zukünftige Generationen).
Oliver Flügel-Martinsen, Professor für Politische Christoph Horn, Professor für Praktische Philosophie
Theorie und Ideengeschichte, Fakultät für Soziolo- und Philosophie der Antike, Institut für Philoso-
gie, Universität Bielefeld (I.9 Ungerechtigkeit, zus. phie, Universität Bonn (I.2 Geschichte des Gerech-
mit F. Martinsen). tigkeitsbegriffs: Antike und Mittelalter).
Anna Goppel, Assistenzprofessorin für Praktische Johan Horst, Zentrum für europäische Rechtspolitik
Philosophie mit Schwerpunkt Politische Philoso- Fachbereich Rechtswissenschaft, Universität Bre-
Autorinnen und Autoren 487

men (IV.47 Positives Recht und Völkerrecht, zus. Kirsten Meyer, Professorin für Praktische Philoso-
mit A. Fischer-Lescano). phie und Didaktik der Philosophie, Institut für
Stefan Huster, Professor für Öffentliches Recht, So- Philosophie, Humboldt-Universität Berlin (II.26
zial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphiloso- Chancengleichheit, V.58 Bildung).
phie, Juristische Fakultät, Universität Bochum Corinna Mieth, Professorin für Politische Philosophie
(V.63 Gesundheit). und Rechtsphilosophie, Institut für Philosophie,
Jan C. Joerden, Professor für Strafrecht und Rechts- Universität Bochum (I.1 Einleitung, zus. mit A.
philosophie, Europa-Universität Viadrina Frank- Goppel und C. Neuhäuser, I.4 Geschichte des Ge-
furt (Oder) (II.19 Strafgerechtigkeit). rechtigkeitsbegriffs: Neuzeit und Gegenwart, zus.
Paulus Kaufmann, Dr., Japan-Zentrum, Ludwig-Ma- mit C. Neuhäuser und A. Pinzani, IV.46 Pflicht
ximilians-Universität München (I.5 Religiöse und Verantwortung, zus. mit C. Neuhäuser).
Wurzeln und Perspektiven: Buddhismus und Kon- Johannes Müller-Salo, Philosophisches Seminar,
fuzianismus). Universität Münster (V.64 Gewalt und Krieg, zus.
Felix Koch, Dr., Institut für Philosophie, Freie Univer- mit R. Schmücker).
sität Berlin (V.75 Steuern). Esther Neuhann, Institut für Philosophie, Universität
Peter Koller, Professor emeritus für Rechtsphiloso- Frankfurt (III.38 Gerechtigkeit in der Kritischen
phie und Rechtssoziologie an der Universität Graz Theorie, zus. mit B. Ronge).
(I.3 Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs: Neu- Christian Neuhäuser, Professor für Praktische Phi-
zeit, II.13 Tauschgerechtigkeit, II.18 Soziale Ge- losophie, Universität Dortmund (I.1 Einleitung,
rechtigkeit). zus. mit A. Goppel und C. Mieth, I.4 Geschichte
Carsten Köllmann, Dr., Ethikzentrum, Universität des Gerechtigkeitsbegriffs: Neuzeit und Gegen-
Zürich (V.68 Lohn und Leistung). wart, zus. mit C. Mieth und A. Pinzani, IV.46
Regina Kreide, Professorin für Politische Theorie und Pflicht und Verantwortung, zus. C. Mieth).
Ideengeschichte, Institut für Politikwissenschaft, Andreas Niederberger, Professor für Philosophie, In-
Universität Gießen (II.16 Transnationale Gerech- stitut für Philosophie, Universität Duisburg-Essen
tigkeit, III.37 Gerechtigkeit in der Diskursethik). (III.35 Kosmopolitische Gerechtigkeit).
Gerhard Kruip, Professor für Sozialethik, Katholisch- Walter Pfannkuche, Professor für Praktische Philoso-
Theologische Fakultät, Universität Mainz (I.6 Re- phie, Institut für Philosophie, Universität Kassel
ligiöse Wurzeln und Perspektiven: Judentum und (V.55 Arbeit und Einkommen).
Christentum). Alessandro Pinzani, Professor für Philosophie,
Hannes Kuch, Dr., Philosophie und Geisteswissen- Departamento de Filosofia, Universidade Federal
schaften, Freie Universität Berlin (V.74 Sprache). de Santa Catarina (I.4 Geschichte des Gerechtig-
Bernd Ladwig, Professor für Politische Theorie und keitsbegriffs: Neuzeit und Gegenwart, zus. mit C.
Philosophie, Otto-Suhr-Institut für Politikwissen- Mieth und C. Neuhäuser, II.24 Personale Gerech-
schaft, Freie Universität Berlin (IV.49 Mensch, tigkeit).
Bürger, moralische Person). Eugen Pissarskoi, Dr., Forschungsfeld Umweltöko-
Alexander Lenger, Dr., Vertretungsprofessor für So- nomie und -politik, Institut für ökologische Wirt-
ziologie des Wissens, Institut für Soziologie, Medi- schaftsforschung GmbH, gemeinnützig, Berlin
en- und Kulturwissenschaften, Karlsruher Institut (V.71 Ressourcen).
für Technologie (II.11 Empirische Gerechtigkeits- Arnd Pollmann, PD Dr., Institut für Philosophie, Uni-
forschung, zus. mit S. Wolf). versität Magdeburg (IV.45 Menschenrechte und
Maria-Sibylla Lotter, Professorin für Ethik und Äs- Grundrechte).
thetik, Institut für Philosphie I, Universität Bo- Peter Rinderle, PD Dr., Philosophisches Seminar,
chum (IV.51 Gesellschaft und Kultur). Universität Tübingen (III.30 Kontraktualistische
Franziska Martinsen, PD Dr., Institut für Politikwis- Gerechtigkeit).
senschaft Politische Ideengeschichte und Theorien Bastian Ronge, Dr., Institut für Philosophie, Hum-
der Politik, Universtität Hannover (I.9 Ungerech- boldt-Universität Berlin (III.38 Gerechtigkeit in
tigkeit, zus. mit O. Flügel-Martinsen, V.62 Ge- der Kritischen Theorie, zus. mit E. Neuhann).
schlecht). Dominic Roser, Dr., University of Oxford (V.66 Klima
Katrin Meyer, PD Dr., Philosophisches Seminar, Uni- und Umwelt).
versität Basel (IV.53 Macht, zus. mit M. Saar). Beate Rössler, Professorin für praktische Philosophie,
488 VI Anhang

Abteilung Philosophie, Universität von Amster- Christoph Schuck, Professor für Politikwissenschaft /
dam (II.14 Feministische Gerechtigkeit). Internationale Beziehungen und Politische Theo-
Daniel Saar, Institut für Philosophie, Universität Bo- rie, Institut für Philosophie und Politikwissen-
chum (V.67 Konsum). schaft, Universität Dortmund (II.15 Internationale
Martin Saar, Professor für Politische Theorie, Institut Gerechtigkeit, zus. mit S. Schlegel).
für Politikwissenschaft, Universität Leipzig (IV.53 Mark Schweda, PD Dr., Institut für Ethik und Ge-
Macht, zus. mit K. Meyer). schichte der Medizin, Universität Göttingen (V.54
Peter Schaber, Professor für Angewandte Ethik, Alter).
Philosophisches Seminar, Universität Zürich Gottfried Schweiger, Dr., Zentrum für Ethik und Ar-
(IV.40 Menschenwürde). mutsforschung, Universität Salzburg (V.73 Soziale
Michael Schefczyk, Professor für Praktische Philoso- Ungleichheit und Sozialwesen).
phie, Institut für Philosophie, Karlsruher Institut Ludwig Siep, Professor em. für Philosophie, Philo-
für Technologie (II.20 Generationengerechtigkeit, sophisches Seminar, Universität Münster (IV.41
II.23 Historische Gerechtigkeit). Moral).
Christine Schirrmacher, Professorin der Islamwissen- Klaus Steigleder, Professor für Angewandte Ethik,
schaft, Institut für Orient- und Asienwissenschaf- Institut für Philosophie, Universität Bochum (V.72
ten, Universität Bonn (I.7 Religiöse Wurzeln und Risiko, V.79 Weltwirtschaft und Finanzmärkte).
Perspektiven: Islam). Markus Stepanians, Professor für Praktische Philoso-
Steve Schlegel, Institut für Philosophie und Politik- phie mit Schwerpunkt Politische Philosophie, In-
wissenschaft, Universität Dortmund (II.15 Inter- stitut für Philosophie, Universität Bern (IV.44 Mo-
nationale Gerechtigkeit, zus. mit C. Schuck). ralische Rechte).
Stephan Schlothfeldt, PD Dr., Abteilung Philoso- Eva Weber-Guskar, PD Dr., Philosophisches Seminar,
phie, Universität Bielefeld (II.22 Ergebnisgerech- Universität Göttingen (IV.42 Gutes Leben).
tigkeit). Fabian Wendt, PD Dr., Abteilung Philosophie, Uni-
Cord Schmelzle, Dr., SFB Governance in Räumen versität Bielefeld (III.32 Libertäre Gerechtigkeit).
begrenzter Staatlichkeit, Freie Universität Berlin Ulla Wessels, Professorin für Praktische Philosophie,
(V.65 Institutionen und Organisationen). Institut für Philosophie, Universität Saarbrücken
Susanne Schmetkamp, Dr., Philosophisches Semi- (III.34 Utilitaristische Gerechtigkeit).
nar, Universität Basel (IV.52 Anerkennung und Stephan Wolf, Dr., Institut für Umweltsozialwissen-
Toleranz). schaften, Universität Freiburg (II.11 Empirische
Reinold Schmücker, Professor für Philosophie, Phi- Gerechtigkeitsforschung, zus. mit A. Lenger).
losophisches Seminar, Universität Münster (V.64 Gabriel Wollner, Juniorprofessor für Politische Phi-
Gewalt und Krieg, zus. mit J. Müller-Salo). losophie und Umweltethik, IRITHESys und Insti-
Jens Schnitker, Dr., Institut für Philosophie, Univer- tut für Philosophie, Humboldt-Universität Berlin
sität Kassel (V.78 Unternehmen). (III.39 Luck Egalitarianism).
Jörg Schroth, PD Dr., Philosophisches Seminar, Uni-
versität Göttingen (III.31 Liberale Gerechtigkeit).
Personenregister

A Bell, David 34 Dasgupta, Partha 436


Abaelard, Petrus 185 Bell, Derek 133 De George, Richard 468
‘Abduh, Muhammad 44 Benhabib, Seyla 95, 109, 116, 237–238 Den Uyl, Douglas 207
Abizadeh, Arash 426, 431, 433 Benjamin, Walter 58, 241, 243, 246, Denzin, Norman K. 68
Abu Zaid, Nasr Hamid 45 303 Derrida, Jacques 54, 58–59, 62, 243,
Ackermann, Bruce 214 Bentham, Jeremy 23, 217, 264, 281 246, 303, 337
Adorno, Theodor W. 54, 241–242 Bieberstein, Klaus 38 Deutsch, Morton 72–74
Aegidius Romanus 12 Birnbacher, Dieter 257, 482 Dieterich, Heinz 215
Aischylos 35, 182 Blake, Michael 308, 424 Diogenes von Sinope 223
Albertus Magnus 11, 14, 88 Blanc, Louis 215 Donaldson, Sue 315, 465
Alkire, Sabina 275 Boethius 10 Dong, Zhongshu 33
Allen, Anita 94 Boxill, Bernard 153 Doyal, Len 275, 277–279
Anaximander 6 Brighouse, Harry 364–366, 378 Durkheim, Émile 327
Anderson, Elizabeth 166, 252, 360, Brock, Gillian 455 Düwell, Marcus 278
366, 444 Broome, John 171 Dworkin, Ronald 80, 121, 133, 163,
Anderson, Joel 377 Brown, Wendy 246 177, 199–200, 204, 250–251, 285–
Anscombe, Elizabeth 188 Buchanan, Allen 371 286, 312, 348, 359
Anselm von Canterbury 10–11, 156, Buchanan, James 208, 210
185 Buddhadasa Bhikkhu 32 E
Apel, Karl-Otto 236 Butler, Judith 59, 381, 448 Elliot, Robert 133
Archibugi, Daniele 228 Ellsberg, Daniel 436
Arendt, Hannah 298–299, 311 C Elshtain, Jean B. 95
Aristoteles 8, 11, 14, 20, 40, 61, 71, 77– Cabrera, Luis 116 Elster, Jon 69, 219
83, 86–88, 119, 133, 143, 155, 174– Caney, Simon 112, 225 Empedokles 6
175, 183–184, 211, 230, 263, 268– Carens, Joseph H. 425, 427, 431 Engels, Friedrich 17, 24, 214, 306
269, 276, 283, 309–310, 316, 327, Carr, Craig 171 Epikur 8, 191, 270
345, 393, 395, 420 Celikates, Robin 431 Epstein, Richard 208, 452
Arneson, Richard J. 166, 199, 250–252 Chen, Beixi 33 Estlund, David 403
Augustinus, Aurelius 9–10, 54, 58, Chen, Xunwu 34 Etzioni, Amitai 230, 307
156, 185, 230, 306, 396 Cheng, Yi 33
Austin, John L. 448 Chwaszcza, Christine 116 F
Averroës 11, 40 Cicero, Marcus Tullius 9, 12, 56, 155, Fan, Ruiping 34
Azmanova, Albena 247 280–281, 393, 395–396 Feinberg, Joel 132, 257
Claassen, Rutger 278 Feldman, Fred 220
B Clausewitz, Carl von 393, 395 Ferrara, Alessandro 247
Baier, Annette C. 189 Coase, Ronald 420 Feuerbach, Paul J. A. 126
Baier, Kurt 262 Coates, Anthony J. 397 Finnis, John 285
Bakunin, Michail Aleksandro- Cohen, Gerald A. 157, 162–163, 199, Fleurbaey, Marc 252
witsch 394 204, 216, 251–253, 403 Foot, Philippa 183, 188
Barry, Brian 131, 199 Cohen, Hermann 40 Fornet-Betancourt, Raúl 48
Bauböck, Rainer 430–431, 433 Cohen, Jean 94 Forst, Rainer 241, 243, 245–247, 332
Bauer, Raymond 274 Connolly, Niall 132 Foucault, Michel 325
Beauvoir, Simone de 27, 341 Corning, Peter A. 278–279 Fourier, Charles 212
Bebel, August 212, 215 Frankena, William K. 185
Beccaria, Cesare 127 D Frankfurt, Harry 178
Beda Venerabilis 10 Daniels, Norman 373 Fraser, Nancy 246, 330, 445
Beitz, Charles 99, 107–108, 112, 116, Dante Alighieri 12 Freeman, R. Edward 468
226–227, 435 Darwall, Stephen 257–258 Frege, Gottlob 132
490 VI Anhang

French, Peter 298, 469 Hobbes, Thomas 15–16, 20–21, 99, Lehmann, Wilhelm 242
Fricker, Miranda 97, 448 102, 114, 151, 156, 175, 186, 192, 198, Leibniz, Gottfried Wilhelm 39
Friedman, Milton 207, 215, 468 207, 265, 307–308, 317, 335, 393–394 Lewis, Hywel D. 298
Friedrich II. von Hohenstaufen 232 Höffe, Otfried 104, 107, 109, 112, 228 Lichtenberg, Judith 297
Frohlich, Norman 75 Hohfeld, Wesley N. 282 Liebig, Stefan 69, 72–73
Fukuyama, Francis 395 Honderich, Ted 392 List, Christian 298
Honneth, Axel 54, 64, 117, 214, 241, Locke, John 15–16, 21, 152, 175–176,
G 243–247, 329–330, 332 192, 201, 205–206, 212–213, 270,
Galtung, Johan 99–100, 392 Horkheimer, Max 241–242, 245 316, 346, 394, 401–402, 424, 435, 452
Gardiner, Stephen 136, 406 Horn, Christoph 186 Lomasky, Loren 207, 210
Garner, Robert 465–466 Huang, Zongxi 34 López‐Guerra, Claudio 433
Gaus, Gerald 209–210 Humboldt, Wilhelm von 363 Luhmann, Niklas 303, 317
Gauthier, David 194 Hume, David 23, 63–64, 130–131, 157, Luther, Martin 39–40
Geertz, Clifford 326 186, 262, 269 Lyotard, Jean-François 395
Geuss, Raymond 55, 114–115, 317, Hurka, Thomas 275
325–326 Hurley, Susan L. 252 M
Gewirth, Alan 259–260, 278 Hutcheson, Francis 186, 217 Machiavelli, Niccolò 317, 395
al-Ġannūšī, Rāšid 46 MacIntyre, Alasdair 183, 188, 230, 325
al-Ġazālī, Abū Óāmid Muªammad b. I Mack, Eric 206–207, 209
Muªammad 43 Iamblichos von Chalkis 9 Mackie, John L. 298
Gilbert, Margaret 298, 470 MacKinnon, Catherine 93, 95, 448
Gilligan, Carol 189, 237, 381 J Macklin, Ruth 259
Glendon, Mary Ann 95 Jaeggi, Rahel 245–246 Macleod, Colin 378
Gluckman, Max 324 Jaspers, Karl 150–151, 297–298 MacPherson, Stephen 230
Godwin, William 212, 401 Jellinek, Georg 289 Madison, James 306
Goodin, Robert 431–432 Jessup, Philip C. 302 Mahbub ul-Haq 274
Goodman, Lenn Evan 40 Jesus von Nazareth 35, 37, 39 Maimonides 40
Gosepath, Stefan 243, 291, 320, 348, Jost, John T. 71, 73 Mardas, Dimitris 148
419–420 Justinian 280 Margalit, Avishai 63–64, 259–261,
Gouges, Olympe de 381 332–333, 417
Gough, Ian 275, 277–279 K Marinos 9
Gramsci, Antonio 334 Kallikles 7 Marx, Karl 17, 24, 64, 175, 213–215,
Gregor Paul 49 Kamali, Mohammad Hashim 45 230, 241, 243–244, 306, 334, 345
Griffin, James 226, 260, 290 Kant, Immanuel 11, 16, 22, 98, 111, Mathis, Klaus 136
Grosseteste, Robert 11 125–127, 156, 175, 187–188, 191– Maus, Ingeborg 238
Grotius, Hugo 393 194, 198, 201, 224, 228, 236, 256, 258, McDowell, John 183
Günther, Klaus 238 264–265, 269, 277, 281, 284, 296, McGowan, Mary K. 448
Gutmann, Amy 366 302, 310, 316, 329, 381, 394, 397, Mead, George Herbert 237
401–402, 441, 460–461 Meinong, Alexius 132
H Kapur, Ratna 59 Meister Eckhart 13
Habermas, Jürgen 109, 116–117, 193, Kay, Aaron C. 71, 73 Menke, Christoph 246–247, 259
236–239, 241, 243–247, 265, 291, Kelsen, Hans 214, 302 Menzius 33
306, 310, 321, 368–370, 447 Keown, Damien 32 Metz, Thaddeus 52
Hackett Fisher, David 170 Kersting, Wolfgang 108, 187 Meyer, Lukas 134
Halbig, Christoph 182–183, 188, 263 Kirchheimer, Otto 246 Mill, John Stuart 23–24, 79, 131, 148,
Hansson, Sven Ove 439 Kleingeld, Pauline 377 217, 264, 270, 284–285, 296, 310,
Hare, Richard M. 80, 194, 218–219, Knight, Carl 250 336, 353, 376, 453
234 Knight, Frank H. 436 Miller, David 113–114, 152, 225, 345,
Harsanyi, John C. 74–75, 80, 162, 199 Kohlberg, Lawrence 237 419, 423, 426, 435, 446
Hart, Herbert L. A. 312 Konow, James 73–75 Mises, Ludwig von 207
Haybron, Daniel 271 Kosiol, Erich 421 Mishkin, Frederic S. 476
Hayek, Friedrich A. von 63, 83–85, 91, Krebs, Angelika 345, 347, 445 Moellendorf, Darrell 107
120, 208–211, 214, 418–420 Kukathas, Chandran 209–210 Molina, Luis de 14, 89
Hayward, Tim 435 Kutz, Christopher 415–416 Moller Okin, Susan 97, 376
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 8, 54, Kuznet, Simon 274 Montesquieu 234
125, 214, 230, 244, 266, 281, 325, 328, Kymlicka, Will 169, 315, 331, 424, 465 Morgenthau, Hans J. 99, 101
395 Mouffe, Chantal 321, 370
Held, David 112, 228 L Mujawar, Wasiyoddin R. 44
Heraklit 6, 395 Langton, Rae 448 Müller, Julia 261
Hesiod 6 Lassalle, Ferdinand 18 Münkler, Herfried 102, 393
Personenregister 491

Munoz-Dardé, Véronique 377 Polemarchus 280 Schmidtz, David 210


Müntzer, Thomas 212 Pollmann, Arnd 259 Schmoller, Gustav 18, 120
Murove, Munzaradyi F. 52 Porphyrios 9 Schopenhauer, Arthur 125, 293
Murphy, Liam 452, 454 Pospisil, Leopold 323 Searle, John 393, 470
Price, Matthew 425 Seel, Martin 270
N Proudhon, Pierre-Joseph 213 Sen, Amartya 26, 50, 80–81, 102, 108,
Nagarjuna 31 Pufendorf, Samuel 15, 157, 302 115, 121, 161, 163, 168–169, 177,
Nagel, Thomas 113–114, 134, 199, 225, Putnam, Robert D. 307 199, 272, 274, 276–279, 352–354,
239, 452, 454 359–360, 419, 444
Narveson, Jan 207, 466 Q Seneca, Lucius Annaeus 125
Nell-Breuning, Oswald 18 Qutb, Sayyid 44–45 Shachar, Ayelet 429, 431, 433
Neuhäuser, Christian 261 Shacknove, Andrew E. 425
Neumann, Franz 246 R ash-Shafi’i, Muhammad ibn Idris 42
Nida-Rümelin, Julian 298 Radbruch, Gustav 287, 301 Sher, George 275
Nietzsche, Friedrich 36, 61, 236, 325, Ramadan, Tariq 44 Shin, Doh Chull 34
335, 393 Ramose, Mogobe 52 Shklar, Judith 53–56, 59
North, Douglass 400 Rancière, Jacques 369 Shue, Henry 226, 289
Nozick, Robert 83–85, 91, 120, 141, Rand, Ayn 207 Sidgwick, Henry 217, 270
143, 151, 163, 199, 205–210, 230, Rasmussen, Douglas 207 Simmons, John 401
233, 270–271, 296, 348, 354, 356, Rawls, John 2, 5, 18, 25–28, 40, 50–51, Simonides 7, 280
435, 452 64, 74–75, 79–80, 82–84, 96, 99, 106, Singer, Peter 106, 112, 239, 261, 355,
Nussbaum, Martha C. 8, 26, 62, 80–81, 108, 112, 114, 121, 131, 135–136, 358
108, 116, 169, 183, 188, 199, 204, 258, 140–142, 147, 150, 157–166, 168– Sloterdijk, Peter 236
260, 272, 274, 276–279, 291, 312, 169, 172, 177, 187–188, 191–195, Smith, Adam 16, 50, 74, 90, 169, 262,
352–354, 359–360, 415, 444, 463– 199–204, 209–211, 215–216, 225– 413
465 226, 230, 234–239, 243–244, 249, Sokrates 183
259–260, 264–265, 271, 275–278, Solon 7
O 286–287, 295, 307, 312, 316, 318– Sorel, Georges 243
Oberman, Kieran 430 320, 325, 329, 332, 342, 348, 353, 355, Southwood, Nicholas 192
Odera Oruka, Henry 51 358–359, 365–366, 373, 376–377, Spinoza, Baruch de 58, 186, 336
Ogburn, William F. 274 402, 418, 420, 435, 444–445, 447, Spivak, Gayatri Chakravorty 59
Ogyū, Sorai 33 463–464, 468, 479, 481–482 Stein, Lorenz von 213
O’Neill, Onora 164, 182, 188, 295–296 Raz, Joseph 271, 331 Steiner, Hillel 206–207, 209, 285, 435
Oppenheimer, Joe A. 75 Regan, Richard J. 397 Steinfath, Holmer 271–272
Otsuka, Michael 206 Regan, Tom 464–465 Stemmer, Peter 197–198
Owen, Robert 213 Reus-Smit, Christian 307 Stewart, Frances 80
Ricardo, David 213 Stiglitz, Joseph 216
P Ricœur, Paul 62 Strauss, Leo 8
Paine, Thomas 17, 212 Risse, Matthias 116 Suárez, Francisco 397
Parfit, Derek 79, 135, 251, 270, 479 Rodrik, Dani 476 Subramanian, Arvind 476
Parijs, Philippe van 49 Roemer, John E. 199 Swift, Adam 364–366, 378
Pateman, Carol 94 Roller, Edeltraut 70
Paulus 37, 39–40 Roth, Alvin 75 T
Pereira, Gustavo 247 Rothbard, Murray 206 Tamimi, Azzam S. 46
Pesch, Heinrich 18 Rousseau, Jean-Jacques 7, 17, 22, 54, Tan, Kok-Chor 253, 403
Petrus Lombardus 38 175, 191–192, 198, 201, 230, 336, Taylor, Charles 120, 188, 230, 325, 331
Pettit, Philip 298 381, 393 Temkin, Larry S. 250
Pevnick, Ryan 424, 427 Teubner, Gunther 304
Phillips, Anne 95 S Thich Nhat Hanh 32
Philo von Alexandrien 40 Sandel, Michael 162–163, 188, 199, Thomas von Aquin 11–12, 14, 38, 40,
Pigou, Arthur Cecil 452 216, 230–231, 325 87–88, 156, 183, 186, 230, 281–285,
Pitcher, George 134 Sangiovanni, Andrea 105 396–397
Pizan, Christine de 381 Sartre, Jean-Paul 393 Thompson, William 212
Platon 7, 9–10, 20, 54, 60–61, 125, 154, Satz, Debra 366 Thrasymachos 7, 393
174–175, 183–184, 264, 268–269, Scanlon, Thomas 168, 191–198, 237 Thukydides 335
280, 306, 316, 325, 334–335, 381 Scarano, Nico 186 Tocqueville, Alexis de 336
Plotin 9 Schefczyk, Michael 298 Tomasi, John 210
Pogge, Thomas 106, 108, 112, 116, Scheffler, Samuel 199, 252, 403 Trapp, Rainer 220
225–227, 298, 300, 355–356, 426, Schlothfeldt, Stephan 347 Triki, Fathi 48–49
435, 455 Schmidt, Volker H. 69 Trusen, Winfried 89
492 VI Anhang

Tugendhat, Ernst 397 W Wolf, Ursula 184


Tully, James 369, 372 Waldron, Jeremy 153, 424 Wollstonecraft, Mary 381
Twain, Mark 327 Walker, Rob B.J. 307 Wolterstorff, Nicholas 285
Waltz, Kenneth 99 Woodward, James 480
U Walzer, Michael 188, 199, 230–232,
Ullrich, Carsten G. 70 325–326, 345, 419, 423, 427 X
Ulpian 7, 11, 156, 174, 280–281, 283 Weber, Max 211, 317 Xunzi 33
Wegener, Bernd 69
V Weitling, Wilhelm 212 Y
Valentini, Laura 147 Wellman, Christopher H. 424–426 Young, Iris M. 54, 56–57, 59, 64, 95,
Van Parijs, Philippe 446 Welsch, Wolfgang 48 243, 247, 299–300, 321, 336, 361,
Vattel, Emer de 396–397 Welzer, Harald 437 414–416, 431
Villoro, Luis 50 Wieland, Josef 469 Yourgrau, Palle 132
Vitoria, Francisco de 14, 89, 224, 396– Williams, Bernard 55, 184–185, 325, Ypi, Lea 116
397 327
Vitoria, Franciscus de 396–397 Wimmer, Franz M. 48 Z
Vlastos, Gregory 79, 285 Winstanley, Gerrard 212 Zenon von Kition 9, 223
Voltaire 54 Wiredu, Kwasi 49 Zhu, Xi 33
Wittgenstein, Ludwig 49 Zurbuchen, Simone 431
Wolff, Jonathan 252

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