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Mord im
Orient-Express
Roman
Hachette Collections
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
MURDER ON THE ORIENT EXPRESS
Für M.E.L.M. Arpachiya, 1933
Mord im Orientexpress
© 1999 Scherz Verlag, Bern, München, Wien
für die Neuausgabe in der Übersetzung von Otto Bayer.
Hotel Tokatlia
Die Tat
Eine Frau?
Die Leiche
A
brachte.
ls Mrs. Hubbard in den Speisewagen kam,
war sie im Zustand solcher Erregung, dass
sie kaum ein verständliches Wort heraus-
Werter Herr,
man hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass Sie
ein Agent der Detektei McNeil sind. Haben Sie bit-
te die Güte, sich heute Nachmittag um vier Uhr in
meiner Suite einzufinden.
Die Tatwaffe
Das Reisegepäck
Wer war’s?
M
geschlagen.
onsieur Bouc und Dr. Constantine unter-
hielten sich, als Poirot in den Speisewagen
zurückkam. Monsieur Bouc wirkte nieder-
Anmerkung:
Die Aussagen der Zeugen werden bestätigt durch
die Aussage des Schaffners, dass niemand zwischen
Mitternacht und 1 Uhr (als er selbst in den näch-
sten Wagen ging) und zwischen 1.15 Uhr und 2
Uhr Mr. Ratchetts Abteil betreten oder verlassen
hat.
«Wohlgemerkt», sagte Poirot, «diese Aufstellung ist
nichts weiter als eine Zusammenfassung der Aussa-
gen, die wir gehört haben, und soll uns nur zur Ori-
entierung dienen.»
Monsieur Bouc gab ihm die Liste mit missmutiger
Miene zurück. «Nicht sehr erhellend», meinte er.
«Dann ist das hier vielleicht mehr nach Ihrem Ge-
schmack», sagte Poirot mit einem feinen Lächeln und
reichte ihm ein weiteres Blatt Papier.
Zweites Kapitel
Zehn Fragen
A
uf dem Blatt stand:
Was der Erklärung bedarf
1. Wem gehört das Taschentuch mit dem
aufgestickten H?
2. Hat Colonel Arbuthnot den Pfeifenreiniger ver-
loren? Oder wer sonst?
3. Wer trug den roten Kimono?
4. Wer war der Mann oder die Frau in der Uniform
eines Schlafwagenschaffners?
5. Warum stehen die Zeiger der Uhr auf 1.15 Uhr?
6. Wurde die Tat zu dieser Zeit begangen?
7. Geschah sie früher?
8. Geschah sie später?
9. Können wir sicher annehmen, dass Ratchett von
mehr als einer Person erstochen wurde?
10. Wie könnten seine Wunden anders zu erklären
sein?
«So, dann wollen wir mal sehen, was wir tun kön-
nen», sagte Monsieur Bouc, der sich für diese Her-
ausforderung an seinen Grips zusehends erwärmte.
«Zuerst das Taschentuch. Wir wollen ja unter allen
Umständen methodisch vorgehen.»
«Gewiss», versicherte Poirot mit zufriedenem
Kopfnicken.
«Der Anfangsbuchstabe H», fuhr Monsieur Bouc in
lehrerhaftem Ton fort, «kommt bei drei Personen
vor – Mrs. Hubbard, Miss Debenham, deren zweiter
Vorname Hermione ist, und bei Hildegard Schmidt,
der Zofe.»
«Aha. Und welche von den dreien darf es sein?»
«Das ist schwer zu sagen. Aber ich glaube, ich stim-
me für Miss Debenham. Wer weiß, vielleicht wird sie
ja mit ihrem zweiten Vornamen gerufen statt mit
dem ersten. Außerdem gibt es bereits Verdachtsmo-
mente gegen sie. Dieses Gespräch, das Sie mitgehört
haben, mon cher, war ja wirklich etwas eigenartig, und
Gleiches gilt für ihre Weigerung, uns eine Erklärung
dafür zu geben.»
«Ich hingegen bin mehr für die Amerikanerin», sag-
te Dr. Constantine. «Es ist ein sehr teures Taschen-
tuch, und wie alle Welt weiß, ist es den Amerikanern
völlig egal, wie viel sie bezahlen.»
«Die Zofe schließen Sie also beide aus?»
«Ja. Nach ihren eigenen Worten gehört dieses Ta-
schentuch einer Dame aus der besseren Gesell-
schaft.»
«Nun die zweite Frage – der Pfeifenreiniger. Hat
Colonel Arbuthnot ihn verloren oder jemand an-
ders?»
«Das ist schon schwieriger. Die Engländer sind
keine Messerstecher, da haben Sie Recht. Ich neige
zu der Ansicht, dass jemand anders den Pfeifenreini-
ger dort fallen gelassen hat – und zwar mit der Ab-
sicht, den britischen Langweiler zu belasten.»
«Wie Sie schon sagten, Monsieur Poirot», warf der
Doktor ein, «zwei Hinweise auf einmal wären zu viel
des Leichtsinns. Ich stimme Monsieur Bouc zu. Das
Taschentuch war ein echtes Versehen – darum wird
sich niemand zu seiner Eigentümerschaft bekennen.
Der Pfeifenreiniger hingegen ist eine absichtlich ge-
legte falsche Spur. Für diese Theorie spricht, dass
Colonel Arbuthnot keinerlei Befangenheit an den
Tag legt und freimütig zugibt, dass er Pfeife raucht
und solche Pfeifenreiniger benutzt.»
«Gut kombiniert», lobte Poirot.
«Frage Nummer drei – wer trug den roten Kimo-
no?», fuhr Monsieur Bouc fort. «Dazu muss ich be-
kennen, dass ich nicht die mindeste Ahnung habe.
Können Sie zu diesem Thema etwas sagen, Dr. Con-
stantine?»
«Nein, nichts.»
«Dann müssen wir uns in diesem Punkt geschlagen
geben. Bei der nächsten Frage tun sich immerhin
einige Möglichkeiten auf. Wer war der als Schlafwa-
genschaffner verkleidete Mann oder die Frau? Hier
lassen sich einige Leute aufzählen, die es mit Be-
stimmtheit nicht gewesen sein können. Hardman, Co-
lonel Arbuthnot, Foscarelli, Graf Andrenyi und Hec-
tor MacQueen sind alle zu groß. Mrs. Hubbard, Hil-
degard Schmidt und Greta Ohlsson sind zu breit.
Bleiben der Diener, Miss Debenham, Fürstin Dra-
gomiroff und Gräfin Andrenyi – und von ihnen kann
es eigentlich niemand gewesen sein. Greta Ohlsson
schwört, dass Miss Debenham nie ihr Abteil verlas-
sen hat, Antonio Foscarelli beteuert dasselbe bei dem
Diener; Hildegard Schmidt schwört, dass die Fürstin
in ihrem Abteil war, und Graf Andrenyi hat uns ver-
sichert, dass seine Frau einen Schlaftrunk genommen
hatte. Es erscheint mithin unmöglich, dass es über-
haupt jemand war – und das ist einfach widersinnig!»
«Wie unser alter Freund Euklid schon sagte», mur-
melte Poirot.
«Es muss jemand von diesen vieren gewesen sein»,
sagte Dr. Constantine. «Es sei denn, es wäre doch
jemand von draußen hereingekommen und hätte
irgendwo ein Versteck gefunden – und das ist, wie
wir uns schon geeinigt haben, unmöglich.»
Monsieur Bouc ging zur nächsten Frage auf der Li-
ste über.
«Nummer fünf – warum stehen die Zeiger der ka-
putten Uhr auf ein Uhr fünfzehn? Ich sehe zwei
mögliche Erklärungen. Entweder hat der Mörder sie
so gestellt, um sich ein Alibi zu schaffen, konnte
dann aber das Abteil nicht verlassen, als er es wollte,
weil er draußen Leute hörte, oder – halt – mir
kommt gerade ein Gedanke –»
Die beiden anderen warteten respektvoll, während
Monsieur Bouc sich in geistigen Wehen wand.
«Ich hab’s», sagte er endlich. «Es war gar nicht der
Schlafwagenmörder, der die Uhr verstellt hat! Es war
die Person, die wir bisher ‹Zweiter Mörder› genannt
haben – die linkshändige – mit anderen Worten, die
Frau im scharlachroten Kimono. Sie kommt später
und stellt die Uhr zurück, um sich ein Alibi zu schaf-
fen.»
«Bravo!», rief Dr. Constantine. «Das ist gut über-
legt.»
«Mit anderen Worten», meinte Poirot, «sie hat Rat-
chett im Dunkeln erstochen, ohne zu ahnen, dass er
schon tot war, hat sich aber irgendwie gedacht, dass
er sicher eine Uhr in der Schlafanzugjacke habe; die
hat sie herausgenommen, die Zeiger blind zurückge-
stellt und zuletzt die erforderliche Delle in die Uhr
gemacht.»
Monsieur Bouc maß ihn mit einem kalten Blick.
«Haben Sie einen besseren Vorschlag?», fragte er.
«Im Augenblick – nein», gestand Poirot.
«Aber egal», fuhr er fort, «ich glaube nicht, dass ei-
ner von Ihnen das eigentlich Interessanteste an der
Uhr schon richtig gewürdigt hat.»
«Hat es mit Frage Nummer sechs zu tun?», erkun-
digte sich der Arzt. «Auf diese Frage – ob der Mord
um diese Zeit begangen wurde – um ein Uhr fünf-
zehn –, sage ich nämlich nein.»
«Ich auch», erklärte Monsieur Bouc. ‹«War es frü-
her?›, lautet die nächste Frage. Ich sage ja. Sie auch,
Doktor?»
Der Doktor nickte.
«Ja, aber die Frage: ‹War es später?› kann ebenfalls
mit ja beantwortet werden. Ich stimme Ihrer Theorie
zu, Monsieur Bouc, und Monsieur Poirot tut das
auch, glaube ich, obwohl er sich nicht festlegen
möchte. Der Erste Mörder kam vor ein Uhr fünf-
zehn, der Zweite Mörder kam nach ein Uhr fünfzehn.
Und zur Frage der Linkshändigkeit: Sollten wir nicht
irgendwie festzustellen versuchen, wer von den Rei-
senden Linkshänder ist?»
«Ich habe diesen Punkt nicht ganz außer Acht ge-
lassen», sagte Poirot. «Vielleicht haben Sie bemerkt,
dass ich jeden Passagier entweder eine Unterschrift
leisten oder seine Adresse habe niederschreiben las-
sen. Das sagt noch nichts Endgültiges aus, denn
manche Leute tun das eine mit der rechten und das
andere mit der linken Hand. Manche schreiben zum
Beispiel mit der Rechten, spielen aber Golf mit der
Linken. Aber es ist immerhin etwas. Alle, die ich da-
zu aufforderte, haben den Federhalter in die rechte
Hand genommen, mit Ausnahme der Fürstin Dra-
gomiroff, die sich zu schreiben weigerte.»
«Fürstin Dragomiroff, unmöglich», rief Monsieur
Bouc.
«Ich bezweifle, dass sie die Kraft gehabt hätte, die-
sen einen linkshändigen Stich zu führen», meinte Dr.
Constantine skeptisch. «Dieser Stich wurde nämlich
mit erheblicher Kraft geführt.»
«Mehr Kraft, als eine Frau aufbieten könnte?»
«Das würde ich nicht unbedingt sagen. Aber ich
glaube, es war mehr Kraft dahinter, als eine alte Da-
me aufbieten könnte, und die Fürstin Dragomiroff
ist von besonders schwächlicher Statur.»
«Es könnte eine Frage der Macht des Geistes über
den Körper sein», meinte Poirot. «Fürstin Dragomi-
roff ist eine starke Persönlichkeit von großer Wil-
lenskraft. Aber lassen wir das für den Augenblick
beiseite.»
«Zu den Fragen neun und zehn. Können wir sicher
annehmen, dass Ratchett von mehr als einer Person
erstochen wurde, und wie könnten seine Wunden
anders zu erklären sein? Aus medizinischer Sicht
kann es für mich keine andere Erklärung für die
Wunden geben. Die Annahme, ein und derselbe
Mensch habe zuerst nur schwach und dann mit gro-
ßer Kraft zugestochen, zuerst mit der Rechten, dann
mit der Linken, und nach einer Pause von vielleicht
einer halben Stunde habe er dem Leichnam weitere
Wunden zugefügt – also, das ergibt doch keinen
Sinn.»
«Nein», sagte Poirot, «das ergibt keinen Sinn. Und
Sie meinen, zwei Mörder ergäben einen Sinn?»
«Wie Sie selbst gesagt haben: Welche andere Erklä-
rung könnte es geben?»
Poirot blickte starr vor sich hin.
«Das frage ich mich ja auch», sagte er. «Das frage
ich mich unaufhörlich.»
Er lehnte sich zurück.
«Von nun an spielt sich alles hier drinnen ab.» Er
tippte sich an die Stirn. «Wir haben das Letzte her-
ausgeholt. Alle Tatsachen liegen wohl geordnet vor
uns ausgebreitet. Die Fahrgäste haben einer nach
dem anderen hier gesessen und ihre Zeugnisse abge-
legt. Wir wissen alles, was es zu wissen gibt… äußer-
lich…»
Er lächelte Monsieur Bouc liebevoll an.
«Wir beide, mon vieux, haben schon oft darüber ge-
scherzt, nicht wahr – über meine Behauptung, man
könne sich einfach zurücklehnen und durch Denken
zur Wahrheit gelangen. Nun, ich werde diese Theorie
jetzt in die Praxis umsetzen – hier vor Ihren Augen.
Sie müssen aber beide das Gleiche tun. Schließen wir
alle drei unsere Augen und denken…
Einer oder mehrere von den Reisenden haben Rat-
chett getötet. Wer war’s?»
Drittes Kapitel