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Karl Marx und die Kritik des Gothaer Programms

Michael R. Krätke

Heute ist diese kurze Programmkritik aus dem Jahre 1875 einer der berühmtesten und am
häufigsten zitierten Texte von Karl Marx.1 Doch war dieser Text, von Marx als „Randglossen zum
Programm der deutschen Arbeiterpartei“ betitelt bzw. brieflich als “Randglossen zu dem
Koalitionsprogramm“ bezeichnet, gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und blieb jahrelang
unbekannt. Marx wollte einigen seiner Freunde in der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei,
1869 gegründet), Wilhelm Bracke, August Bebel vor allem und Wilhelm Liebknecht, seinen Zorn über
das nicht verhehlen, was er als einen unnötigen theoretischen und politischen Rückschritt
betrachtete. Zornig war er nicht so sehr, weil die ihm nahestehenden „Eisenacher“ die Vereinigung
mit dem von Lassalle 1863 gegründeten ADAV (Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein) betrieben
hatten, ohne ihn oder Engels um Rat zu fragen, sondern weil ihm beim Lesen des Entwurfs klar
wurde, dass sein Einfluss auf die sozialistischen Parteiführer in Deutschland, selbst auf seine
Freunde, weit geringer war, als er angenommen hatte. Im Mai 1875 ging seine Kritik völlig unter,
niemand reagierte darauf.2

Erst 1891, fast acht Jahre nach Marx‘ Tod, wurde die Programmkritik veröffentlicht. Engels hat, von
Karl Kautsky gedrängt, den Text in die „Neue Zeit“ lanciert, wo er mit kleinen Kürzungen im
Januarheft unter dem Titel „Zur Kritik des sozialdemokratischen Parteiprogramms. Aus dem Nachlass
von Karl Marx“ erschien. Diesmal erregte der Marxsche Text einiges Aufsehen. Engels‘ Intervention
erfolgte rechtzeitig genug, um die Debatte um ein neues Parteiprogramm, die seit 1890 im Gang
war, zu beinflussen.3 Der Parteivorstand der SPD war nicht entzückt, August Bebel schmollte.
Engels hatte seinen Zweck erreicht, er schrieb eine „Kritik des sozialdemokratischen
Programmentwurfs“, die Wirkung zeigte, und seine Vertrauten Kautsky und Bernstein schrieben
und redigierten – mit Engels auf dem Rücksitz - die Endfassung des neuen „Erfurter Programms“, das
auf dem Parteitag der SPD angenommen wurde.

1875, im Jahr des Vereinigungsparteitags, lebten Marx und Engels in London.4 Sie waren in keiner
der deutschen sozialistischen Parteien Mitglied, wurden es auch später nicht. Aber die „Alten in
London“ hatten Kontakte zu beiden Parteien und einigen Einfluss, ihr Urteil und ihr Rat hatten

1
In der MEW – Ausgabe wird es noch, ganz im Sinne des kanonisierten „Marxismus-Leninismus“, als
das „wichtigste theoretische Dokument des Marxismus“, gleich nach dem „Kommunistischen Manifest“,
gepriesen (siehe MEW, Bd. 34, S. 522, Note 240).
2
Wie es im Lauf der Editionsgeschichte dieses Textes zu dem heute geläufigen Titel „Kritik des Gothaer
Programms“ kam, beschreibt detailliert Götz Langkau (siehe Götz Langkau, Kritik des Gothaer Programms?
Bibliographische Betrachtungen zur Fernwirkung einer ideologischen Weichenstellung, in: Beiträge zur Marx-
Engels-Forschung, NF 2008, S. 60 – 93).
3
Engels hat für diese Veröffentlichung einige Streichungen vorgenommen, andere wurden ihm von
Kautsky und Dietz empfohlen und er akzeptierte sie (vgl. dazu das Variantenverzeichnis in MEGA2 Band I/25).
Er meinte, die Reste des Lassalleanertums in der SPD seien überwunden, scharfe Polemik dagegen daher
überflüssig.
4
Beide waren nach der gescheiterten demokratischen Revolution von 1848/49 nach England emigriert,
Marx blieb in London bis zu seinem Tod, Engels verbrachte als Manager und später Teilhaber eines
erfolgreichen Textilunternehmens zwanzig Jahre in Manchester, bevor er seine Anteile verkaufte und 1870
nach London zurück kehrte.
Gewicht, so meinten sie wenigstens. Nur diesmal hatte sie niemand um Rat gefragt, sie erfuhren von
der bevorstehenden Fusion aus der Parteipresse. Entsprechend sauer reagierten sie. Engels war der
erste, der August Bebel in einem langen Brief vom 18./28. März 1875 die Leviten las: Vereinigung
gut und schön, aber nicht um jeden Preis, vor allem nicht um den Preis der Kapitulation vor den
speziellen Dogmen der Lassalleaner. In „theoretischer Beziehung, also in dem, was fürs Programm
entscheidend Ist“, hätten die Eisenacher von den Lassalleanern „absolut nichts zu lernen“, wohl aber
umgekehrt, die Lassalleaner von den Eisenachern.5 Aus dem inneren Kreis meldete sich Wilhelm
Bracke am 25. März mit einem Brandbrief an Marx und Engels: Der vorliegende Programmentwurf
tauge nichts und müsse dringend umgeschrieben werden. Bracke bot an, zusammen mit Marx und
Engels einen neuen Entwurf einzubringen.6 Daraufhin machte sich Marx ans Werk und schrieb eine
ausführliche und detaillierte Kritik des Entwurfs.

In seinem Begleitbrief an Wilhelm Bracke vom 5. Mai 1875 machte Marx seinem Ärger Luft. Es habe
ihm keineswegs Freude gemacht, „solch langen Wisch zu schreiben“. Er fand, das sei „ein durchaus
verwerfliches und die Partei demoralisierendes Programm“, daher könne er es nicht „durch
diplomatisches Stillschweigen“ anerkennen.7 Engels wie Marx drohten in den genannten Briefen, sie
würden sich nach dem Parteitag von dem Programm und der neuen Partei öffentlich distanzieren.8
Mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu drohen, war starker Tobak.

Marx‘ Kritik blieb unbeachtet; vermutlich haben nur Bracke und Liebknecht sie gesehen, die übrigen
Parteiführer - Geib, Auer, Bebel – sahen sie wohl nicht. Bebel wusste zwar vom Unmut der beiden
Alten, aber nahm keine Rücksicht auf sie. Der Text des Programmentwurfs wurde, leicht verändert,
auf dem Gothaer Vereinigungsparteitag am 22. bis 27. Mai 1875 angenommen; keine der
Textänderungen folgte Marx‘ Vorgaben. Marx und Engels hielten sich dennoch bedeckt, sie
verzichteten darauf, sich öffentlich gegen die neue vereinigte Arbeiterpartei zu stellen.9 Trotz ihrer
Wut über das Machwerk und die Stümperei ihrer Freunde. Marx glaubte, was er in seinem Brief an
Bracke geschrieben hatte: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend
Programme“.10 Die Vereinigung der beiden deutschen Arbeiterparteien sah er als einen solchen
„Schritt wirklicher Bewegung“ und zwar als Fortschritt, trotz des verfehlten Programms.

5
Friedrich Engels, Brief an August Bebel vom 18./28. März 1875, in: MEW, Bd. 34, S. 125.
6
Der Brief Wilhelm Brackes wurde in den entscheidenden Passagen wieder gegeben von Boris
Nikolajewski (siehe: Boris Nikolajewski, Aus dem nachgelassenen Briefwechsel von Marx und Engels. Marx und
Engels über das Gothaer Programm, in: Die Gesellschaft, 1927, Zweiter Band, Heft 8, S. 157 – 159).
7
Karl Marx, Brief an Wilhelm Bracke vom 5. Mai 1875, in: MEW, Bd. 34, S. 137.
8
Friedrich Engels, Brief an August Bebel vom 18./28. März 1875, in: MEW Bd. 34, S. 130, 131; Karl
Marx, Brief an Wilhelm Bracke vom 5. Mai 1875, in: MEW Bd. 34, S. 137.
9
Engels wiederholte die Kritik am „Programm in seiner schliesslichen Redaktion“ wenig später: Es
bestehe aus „Lassalleschen Phrasen und Stichwörtern“, aus einer „Reihe von vulgärdemokratischen
Forderungen“ und aus einer Reihe von Sätzen, dem „Manifest“ entlehnt, die „bei Licht betrachtet, samt und
sonders haarsträubenden Blödsinn enthalten“ (Friedrich Engels, Brief an Wilhelm Bracke vom 11. Oktober
1875, in: MEW Bd. 34, S. 155, 156). An Bebel schrieb er im gleichen Sinn: Unsere Partei habe sich mit diesem
Programm lächerlich gemacht, aber die Bourgeoispresse habe es aus Mangel an kritischen Köpfen nicht
gemerkt und die Arbeiter schienen den Unsinn nicht bemerkt zu haben. „Es ist dieser Umstand allein, der es
Marx und mir möglich gemacht hat, uns nicht öffentlich von einem solchen Programm loszusagen. Solange
unsere Gegner und ebenso die Arbeiter diesem Programm unsere Ansichten unterschieben, ist es uns erlaubt,
darüber zu schweigen“ (Friedrich Engels, Brief an August Bebel vom 12. Oktober 1875, in: MEW Bd 34, S. 159).
10
Karl Marx, Brief an Wilhelm Bracke vom 5. Mai 1875, in: MEW Bd. 34, S. 137.
Marx‘ Kritik

Marx war ein gefürchteter Polemiker, er konnte Gegner mit beissendem Spott erledigen und tat es
oft. Seine Kritik am Gothaer Programmentwurf ist zweifellos ein gnadenloser Verriss. Aus ihr spricht
Marx‘ tiefe Enttäuschung darüber, dass das, was er die „realistische Auffassung“ nannte, keineswegs
Allgemeingut geworden war und vulgärsozialistische Vorstellungen noch in allen Köpfen
herumspukten. Wütend attackierte er die „bürgerlichen Redensarten“, die „hohlen Phrasen“, die
„allgemeinen Redensarten“, die „ideologische[n] Rechts- und andere[n] … Flausen“, von denen es im
Programmentwurf nur so wimmelte. Am meisten ärgerte ihn, dass ganz im Stil Lassalles „lose
Vorstellung[en] … an die Stelle bestimmter ökonomischer Begriffe gesetzt“ wurden.11

Aber seine Kritik ist mehr als eine polemische Abrechnung mit den Lassalleanern bzw. mit der
Konfusion seiner eigenen Anhänger. Deshalb hat sie weiter gewirkt und wird heute als eine seiner
wichtigsten Schriften betrachtet, trotz ihrer Kanonisierung im „Marxismus-Leninismus“ unseligen
Angedenkens. Denn eines wollten Sozialisten aller Couleur immer schon wissen: Was kommt nach
dem Kapitalismus, wie werden sich Wirtschaft, Gesellschaft und Staat verändern, wenn die
sozialistische Arbeiterbewegung zur Macht kommen sollte und mit der Überwindung des
Kapitalismus Ernst machen könnte. Eine „Theorie des Sozialismus“ bzw. des „Kommunismus“ findet
sich in diesem Text aber nicht, nur einige Andeutungen, die nur wenig über das hinausgehen, was
sich in früheren Schriften schon findet.12

Die deutsche Sozialdemokratie und die Kritik der Politischen Ökonomie

Marx ärgerte sich, weil seine Freunde in Deutschland seine ökonomische Theorie nicht verstanden.
Sein unvollendetes Hauptwerk „Das Kapital“ war berühmt, galt als überragendes Werk des
europäischen Sozialismus, aber gelesen wurde es kaum. Selbst die Parteiintellektuellen hatten ihre
Schwierigkeiten damit. Das wusste Marx und es fuchste ihn.

Noch immer war Lassalle der strahlende Held der deutschen Arbeiterbewegung, seine Schriften
wurden gelesen, seine Schlagworte prägten die Vorstellungswelt. Marx hielt Lassalle nicht für einen
kongenialen Denker; über seinen Plan, die politische Ökonomie Hegelsch zu verhandeln, hatte er
sich nur lustig gemacht. Zu seinem Ärger musste er sehen, dass die Lassalleschen Formeln wie das
„Recht auf den unverkürzten Arbeitsertrag“, oder das „eherne Lohngesetz“ und die „Abschaffung
des Lohnsystems“ noch stets im Schwange waren. Er hielt das für doktrinären Unsinn, er meinte, er
habe im „Kapital“ mit diesen kruden Vorstellungen aufgeräumt. Daher seine Enttäuschung. In seiner
Kritik behauptete er, wider besseres Wissen, seit Lassalles Tod habe sich „die wissenschaftliche
Einsicht in unsrer Partei Bahn gebrochen, dass der Arbeitslohn nicht das ist, was er zu sein scheint,
nämlich der Wert respektive Preis der Arbeit, sondern nur eine maskierte Form für den Wert resp.

11
Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW Bd. 19, S. 15, 16, 17, 22, 18. Die Vorliebe für
hochtönende Phrasen und reine Leerformeln statt
12
Für Marx‘ Werk insgesamt gilt: Es ist eine kritische Theorie des Kapitalismus, die beste, die wir
kennen, aber keine Theorie des Sozialismus / Kommunismus.
Preis der Arbeitskraft“.13 Marx versuchte also, seinen Freunden diesen zentralen Punkt seiner
Theorie der Lohnarbeit und des Arbeitslohns noch einmal eindringlich unter die Nase zu reiben:
Hinter dem Arbeitslohn und dem durch ihn erzeugten Schein, die gesamte Arbeit des Lohnarbeiters
sei bezahlt worden, steckt ein Ausbeutungsverhältnis, das gesamte Verhältnis zwischen Kapital und
Lohnarbeitern dreht sich darum, die unbezahlte Mehrarbeit, die Gratisarbeit, die der Lohnarbeiter
leisten muss, so viel wie möglich zu verlängern. Das hätte sich, so Marx, doch inzwischen in unserer
Partei herumgesprochen (bzw. herumsprechen können, wie er hoffte), eine Rückkehr zu den
Dogmen Lassalles, der „nicht wusste, was der Arbeitslohn war, sondern, im Gefolg der bürgerlichen
Ökonomen, den Schein für das Wesen der Sache nahm“, sei daher umso schändlicher.14

Marx und der Sozialismus / Kommunismus

Von Marx und Engels gibt es bekanntlich nur wenige, gelegentliche Randbemerkungen über die
Gestaltungen der zukünftigen, nachkapitalistischen Gesellschaft. „Das Kapital“ ist keine Analyse des
Sozialismus oder Kommunismus der Zukunft, in diesem Buch geht es ausschliesslich um den
modernen Kapitalismus. Marx hat sich stets geweigert, in der Art der utopischen Sozialisten seiner
Zeit „Rezepte für die Garküche der Zukunft“ zu schreiben.15 Seine Lebensaufgabe war die Kritik der
Politischen Ökonomie, die zugleich eine Kritik des Kapitalismus und, implizit, auch eine Kritik der bei
den Vulgärsozialisten geläufigen falschen Kapitalismuskritik war. Er hat sich heftig gegen die Lesart
gewehrt, er habe ein „sozialistisches System“ in die Welt gesetzt.16 Marx, der grosse Anti-Utopist,
verzichtete ganz bewusst darauf, der schlechten Realität des Kapitalismus ein Bild der besseren,
zukünftigen Wirtschaft und Gesellschaft jenseits des Kapitalismus entgegenzusetzen. Wie die
zukünftige, nachkapitalistische Wirtschaft und Gesellschaft aussehen werde, könne kein ernsthafter
Sozialwissenschaftler vorhersagen.17 Diese, als „Bilderverbot“ bekannte Eigenart des Marxschen
Denkens, war ganz konsequent für einen Sozialwissenschaftler, der wie Marx von Geschichts-
philosophie nichts hielt, und sich dagegen verwahrte, dass aus seinen historischen und auf
Westeuropa beschränkten Skizzen im „Kapital“ eine „allgemeine[n] geschichtsphilosophische[n]
Theorie“ gedrechselt wurde.18 Marx‘ (wie auch Engels‘) Zurückhaltung hat dazu geführt, dass sich
Generationen von Marx-Interpreten und -anhängern auf Marx‘ „Wisch“ von 1875 gestürzt haben.
Denn da hat er doch einmal etwas zur nachkapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft gesagt.

13
Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW 19, S. 25.
14
Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW 19, S. 26. Der alte Marx hätte würde sich noch
mehr wundern, wenn er eine Ahnung vom Ausmass des ökonomischen Analphabetismus in den heutigen
Parteien der Linken gehabt hätte
15
Das Originalzitat befindet sich im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes des „Kapital“ von
1872, wo Marx die Kritik der Pariser „Revue Positiviste“ paraphrasiert (siehe Karl Marx, Nachwort zur zweiten
Auflage, in: MEW Bd. 23, S. 25).
16
Vgl. Karl Marx, Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie“, in: MEW Bd.
19, S. 357.
17
Allerdings könnte eine gründliche Analyse „der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen
Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft“
aufzeigen, wenn auch „verhüllt“. Ohne diese Analyse und ohne diesen Nachweis, „wären alle Sprengversuche
Donquichoterie“ (Karl Marx, Ökonomische Manuskripte 1857/1858, in: MEW Bd. 42, S. 93).
18
Karl Marx, Brief an die Redaktion des Otetschestwennyje Sapiski, in: MEW Bd. 19, S. 112.
Marx versetzt den in der Sozialdemokratie damals (wie heute) weit verbreiteten Vorstellungen vom
Sozialismus / Kommunismus als Reich der „sozialen Gerechtigkeit“ etliche harte Dämpfer. Von einem
Eden des Egalitarismus, in dem Milch und Honig für alle flieβen werden, kann keine Rede sein, die
Arbeit wird nicht aufhören, auch wenn die Arbeitsmittel Gemeineigentum geworden sind. Von
„gerechter Verteilung“ zu reden, und zwar im Sinn der Verteilung des gesamten Sozialprodukts unter
den individuellen Produzenten für deren individuellen Gebrauch (also der individuellen
Einkommens-verteilung), wie die Lassalleanische Phrase vom Recht auf den „unverkürzten
Arbeitsertrag“ nahelegt, ist Unfug. Denn vor jeder individuellen Verteilung von Konsumtionsmitteln
muss eine andere Verteilung stattfinden: Jede Gesellschaft, auch die nachkapitalistische, wird
Abzüge vom gesellschaftlichen Gesamtprodukt machen müssen, bevor an eine individuelle
Einkommens-verteilung auch nur zu denken ist. Marx zählt sie auf: Erstens Abzüge für den Ersatz der
verbrauchten Produktionsmittel, zweitens für die Erweiterung der Produktion, drittens für einen
gesellschaftlichen Reservefonds gegen allerlei Störungen und Ausfälle (z.B. durch
Naturkatastrophen). Diese Abzüge sind eine „ökonomische Notwendigkeit“, ihre Gröβe ist jedoch „in
keiner Weise aus der Gerechtigkeit“ zu bestimmen. Bevor der Rest individuell verteilt werden kann,
müssen weitere Abzüge erfolgen: Erstens für die allgemein Verwaltungskosten (die aber „im
Vergleich zur jetzigen Gesellschaft“ deutlich geringer sein dürften), zweitens für die
gemeinschaftliche Befriedigung gemeinschaftlicher Bedürfnisse, wie Schulen,
Gesundheitseinrichtungen usw. (die „im Vergleich zur jetzigen Gesellschaft“ bedeutend zunehmen
dürften), und drittens für den Lebensunterhalt von Arbeitsunfähigen (im weitesten Sinne). Allerdings
betont Marx, dass all das, was dem Produzenten „in seiner Eigenschaft als Privatindividuum“ durch
diese Abzüge entgeht, ihm direkt oder indirekt „in seiner Eigenschaft als Gesellschaftsglied zugut
kommt“.19

Die Verteilung, die danach möglich sei, werde eine nach der individuellen Arbeitsleistung sein. Da die
individuelle Arbeitsleistung ebenso verschieden sei wie die individuellen Lebensbedürfnisse der
Arbeitenden, werden die individuellen Arbeitseinkommen, also die gesamte Einkommensverteilung
durchaus ungleich sein. Nur mit dem Unterschied, dass es in der nachkapitalistischen Ökonomie
keine „arbeitslosen“ Einkommen, sondern nur noch Arbeitseinkommen geben werde. Für die
einzelnen Produzenten herrsche gleiches Recht: Jeder bekommt das, was seiner individuellen
Arbeitsleistung entspricht. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, jeder nach seinen Fähigkeiten und jedem
nach seiner Leistung.20 Also ungleicher Lohn, ungleiche Arbeitseinkommen für ungleiche
Arbeitsleistungen. Da die arbeitenden Individuen verschieden sind, der eine fleiβiger, intelligenter,
schneller oder geschickter ist als der andere, wird es auch in einer nachkapitalistischen Gesellschaft
Einkommensunterschiede geben müssen.21

19
Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW Bd. 19, S. 19.
20
Diese Formel stammt allerdings nicht von Marx, sondern aus der Stalinschen Verfassung der UdSSR,
wie Gerd Koenen richtig bemerkt (vgl. Gerd Koenen, Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des
Kommunismus, München 2017, S. 1065, Fn. 18).
21
Über die Frage, ob die Ungleichheit der Arbeitseinkommen aufgrund der unterschiedlichen
individuellen Leistungsfähigkeit gerecht sei oder nicht, gibt es eine lange Debatte in der angelsächsischen
Sozialphilosophie. Es gibt einen weitreichenden Konsens darüber, dass Unterschiede der Leistung und
Leistungsfähigkeit, die auf „unverdiente“, z.B durch den Zufall der Geburt ererbte, nicht durch eigene Arbeit
erworbene Talente zurück zu führen sind, nicht besonders belohnt werden sollten. Allerdings ist das eine
Scheinlösung des Problems, da auch das grösste musikalische, malerische, schauspielerische usw. Talent nichts
nützt, wenn es nicht durch harte Arbeit ausgebildet und erhalten wird.
Jedoch bemüht sich Marx, den Modus dieser Verteilung auf der Grundlage der Arbeitsleistung zu
erläutern. Und das führt zu einer der unklarsten Passagen seiner Programmkritik, zur Freude der
marxistischen Philosophen und Doktrinäre. Er behauptet nämlich, in der „genossenschaftlichen, auf
Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft“ tauschten die Produzenten ihre
Arbeitsprodukte nicht mehr aus, die auf deren Produktion verwandte Arbeit würde nicht mehr als
Wert erscheinen. Dennoch solle das Prinzip der Äquivalenz gelten: jeder erhält an individuellen
Konsumtionsmitteln soviel (in Arbeitseinheiten berechnet) wie er für die Gesellschaft an Arbeit
geleistet habe (nach Abzug der für die Gesellschaft insgesamt notwendigen Leistungen). Es gebe
keinen Warenaustausch mehr, aber es herrsche „dasselbe Prinzip, das den Warenaustausch regelt,
soweit er Austausch Gleichwertiger ist. Inhalt und Form sind verändert“.22 Marx geht sogar soweit,
die von ihm in Grund und Boden kritisierte Utopie des Arbeitsgeldes zu bemühen, um den Vorgang
zu erläutern: Jeder erhält von der Gesellschaft einen Schein als Nachweis der von ihm geleisteten
Arbeitsmenge, und kann mit diesem Schein eine äquivalente Menge von Konsumtionsmitteln (in
Arbeitseinheiten berechnet) von der Gesellschaft beziehen.23 Es soll also keinen „Wert“ mehr geben,
dennoch soll das Prinzip der Äquivalenz gelten. Marx geht da eindeutig zu weit und widerspricht sich
selbst. Denn er behauptet im gleichen Atemzug, in der nachkapitalistischen Gesellschaft werde die
Arbeit jedes Einzelnen „nicht mehr auf einem Umweg“ (d.h. über den Markt und die Konkurrenz),
„sondern unmittelbar“ als Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit anerkannt.24 Offenbar ist dem
nicht so, eine bestimmte Form der Vermittlung des Zusammenhangs von individueller
Arbeitsleistung und gesellschaftlicher Gesamtarbeit hat auch Marx vor Augen, wenn er auf die
Arbeitsscheine und ihren Gebrauch zu sprechen kommt. Zwar ist es möglich, die tatsächliche
Arbeitsleistung jedes Einzelnen zu berechnen, aber in den Produkten (mit Ausnahme einiger weniger
Artefakte) steckt unweigerlich gesellschaftliche Arbeit, die Arbeit vieler Einzelner. Marx‘
Behauptung, dass individuelle und gesellschaftliche Arbeitsleistung „unmittelbar“ vergleichbar und
daher äquivalent sein könnten, ist recht gewagt. Richtiger wäre gewesen, auf eine andere, nicht
mehr oder nicht mehr vollständig marktförmige Form der Regulierung der individuellen
Einkommensverteilung und -verwendung zu verweisen. Eine Form, von der auch Marx nicht genau
sagen konnte, wie sie denn aussehen werde.25

Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit

Ganz im Sinne seiner wissenschaftlichen Überzeugung betonte Marx, dass es überhaupt verfehlt
gewesen sei, in der Art der Vulgärsozialisten, die auf das Heil durch „Umverteilung“ hoffen, so viel
Aufhebens von der Einkommensverteilung zu machen. Die jeweilige Verteilung ergebe sich aus dem
Charakter der jeweiligen Produktionsweise. Wenn die Produktionsmittel Gemeineigentum oder
„genossenschaftliches Eigentum der Arbeiter selbst sind“, so ergibt sich daraus eine andere, „von

22
Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW Bd. 19, S. 20.
23
Ebd.
24
Ebd. Die gleiche Behauptung findet sich bereits im ersten Band des „Kapital“ schon im ersten Kapitel,
wo Marx versucht, die Eigenart der Warenproduktion im Vergleich mit anderen Gesellschaftsformen klar zu
machen. Tatsächlich wiederholt er in der Programmkritik 1875 sein als Illustration gedachtes Argument aus
dem ersten Band des „Kapital“, allerdings umständlicher und missverständlicher (siehe Karl Marx, Das Kapital.
Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, in: MEW Bd. 23, S. 92, 93).
25
Auf jeden Fall enthält diese Passage der Programmkritik keine Widerlegung der Möglichkeit oder
Notwendigkeit eines „Marktsozialismus“.
der heutigen verschiedne Verteilung der Konsumtionsmittel“.26 Marx macht klar, dass die
„gerechte“ Verteilung auch in der nachkapitalistischen Gesellschaft eine ungleiche Verteilung sein
wird, auf der Grundlage gleicher Rechte, aber unterschiedlicher individueller Arbeitsleistung und
unterschiedlicher individueller Bedürfnisse. Was die Art der Vermittlung (jenseits von Arbeits- und
Warenmärkten) angeht, bleibt er unklar.

Desto entschiedener greift er auf das vor, was in einer „höheren Phase der kommunistischen
Gesellschaft“ alles möglich werden wird. Das ist, in einem langen Satz, die Quintessenz der
Marxschen Vorstellung vom „Jenseits des Kapitalismus“: Letzten Endes, nach einer langen
Übergangsperiode, wird erstens die alte Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung verschwinden –
sowohl die „knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit“, als auch „der
Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit“; zweitens wird die Arbeit vom „Mittel zum Leben“
selbst zum „erste[n] Lebensbedürfnis“ geworden sein, womit jeglicher gesellschaftliche
Arbeitszwang entfällt; drittens werden „mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre
Produktivkräfte gewachsen“ sein. Dann kann die Gesellschaft es sich erlauben, nach dem Prinzip
„Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ zu verfahren und das Prinzip der
Äquivalenz von individueller Leistung und individueller Belohnung fallen lassen.27 In dieser
zukünftigen Gesellschaft, die Reichtum im Überfluss für alle schaffen werde, erledigt sich sozusagen
das Problem der Ungleichheit bzw. der sozialen Ungerechtigkeit von selbst.

Nicht Gleichheit, nicht Gerechtigkeit, sondern Freiheit ist es, was in Marx‘ Vorstellung auf dieser
höheren Stufe walten soll: Freie Entwicklung jedes Einzelnen, was individuelle Freiheit zur
Entwicklung aller Fähigkeiten voraussetzt – ebenso wie Förderung aller Talente. Diese Freiheit zur
„menschlichen Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit“ setzt
freie Zeit für jeden Einzelnen voraus, und zwar viel freie Zeit. Die ist nur möglich, wenn die
Produzenten gemeinsam ihre Produktion, ihr Verhältnis zur Natur und zueinander „rationell regeln,
unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen“, sie mit „mit dem geringsten Kraftaufwand und
unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen“ betreiben, so
beschreibt es Marx im Entwurf zum dritten Band des „Kapital“ 1865.28 Dann wird eine Gesellschaft
möglich, in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.29
Diese freie Entwicklung der Individuen, also die Verwirklichung der individuellen Freiheit oder die
„reale Freiheit für alle“, ist in Marx‘ Denken über die „höhere Gesellschaftsform“, die historisch auf
den Kapitalismus folgen soll, immer präsent. Auch im ersten Band des „Kapital“ benennt er die „volle
und freie Entwicklung jedes Individuums“ als ihr „Grundprinzip“.30

Friedrich von Hayek hätte seine Freude gehabt, wenn er sich je die Mühe gemacht hätte, Marx
ernsthaft zu studieren. Denn er hätte gefunden, dass auch Marx nicht behauptet hat, die zukünftige
sozialistische / kommunistische Gesellschaft werde ein Reich der Gerechtigkeit errichten. Vielmehr
ging es Marx und Engels um ein Reich der individuellen Freiheit, in dem die Individuen so ungleich
sein können, wie sie sind, und die „reiche Individualität“ jedes Einzelnen, die „universelle“ Ent-
wicklung des Individuums als oberster Wert im gesellschaftlichen Leben gelten soll. Erst in dieser

26
Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW Bd. 19, S. 22.
27
Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW Bd. 19, S. 21.
28
Karl Marx, Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, Dritter Band, in: MEW Bd. 25, S. 828.
29
Karl Marx / Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, S. 482.
30
Karl Marx, Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, in: MEW Bd. 23, S. 618.
reichen Gesellschaft der Freien ist der „enge bürgerliche Rechtshorizont“ des formell gleichen, dem
Inhalt nach aber ungleichen Rechts für alle überschritten, das Problem der sozialen Ungerechtigkeit
entfällt.31 Allerdings wäre Hayeks Freude nicht ungetrübt geblieben, denn er hätte ebenso gefunden,
dass Marx den naiven und höchst beschränkten Freiheitsbegriff der Liberalen nicht teilte. Weder sah
er Freiheit nur negativ, als Freiheit von Zwang, sondern ebensosehr als Freiheit zum individuellen
und gesellschaftlichen Handeln. Noch sah er die individuelle Freiheit jedes Einzelnen unabhängig von
der Art des gesellschaftlichen Zusammenhangs und des gesellschaftlichen Zusammenhalts, in dem
alle Einzelnen sich befinden und an dem sie beteiligt sind. Das berühmte „Reich der Freiheit“, das
allen gehören sollte, konnte er sich nur jenseits der Klassengesellschaft vorstellen, also jenseits jener
historischen Form der sozialen Ungleichheit, die einigen, sogar vielen individuelle Freiheit gestattet,
aber nur auf Kosten der Unfreiheit, in der viele andere leben müssen. Heutigen Liberalen, die wie
Hayek auf den Markt schwören, einen Markt, den sie für ein „Reich der Freiheit“ halten, sind
perplex, wenn sie von Marx erfahren, dass die wirkliche individuelle und gesellschaftliche Freiheit,
die freie Tätigkeit, für alle erst jenseits der „Sachzwänge“ des Marktes beginnen. Dort also, wo der
individuelle und der kollektive „gesellschaftliche Verstand“ sich auch des „Reichs der Notwendigkeit“
annimmt und den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur (also die materielle Reproduktion
mitsamt ihren ökologischen Bedingungen und Folgen) gemeinschaftlich regelt.32

31
Vgl. Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW Bd. 19, S. 21. Daraus folgt jedoch, dass das
Problem der ungleichen und ungerechten Verteilung für sozialistische Parteien und Bewegungen im real
existierenden Kapitalismus wichtig ist und bleibt. Nur sind die Maβstäbe der Gerechtigkeit, an denen die
faktische Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung zu messen ist, unweigerlich die Maβstäbe
einer bürgerlichen Gesellschaft auf kapitalistischer Grundlage. Das Problem, wie die notwendigen Abzüge vom
gesellschaftlichen Gesamtprodukt, die Marx zu Recht hervorhebt, ausgestaltet, d.h. auf die arbeitenden und
nicht arbeitenden Mitglieder einer bürgerlichen Gesellschaft verteilt werden sollen – traditionell – bürgerlich
gesprochen das Problem der „Steuergerechtigkeit“ – ist verzwickt, und Marx hat dazu nichts gesagt.
32
Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Dritter Band, in: MEW Bd. 25, S. 828.

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