DAS BEDEUTUNGSVERHALTNIS
VON tAoc0@ta UND ,,PHILOSOPHIE”
Von Johannes Erich Heyde, Berlin
Es gilt als meist unbestrittene Selbstverstindlichkeit, gr. gudoaogla
und lat. philésophia sei ohne weiteres, d. h. ausnahmslos, mit dem ein
gedeutschten Wort ,Philosophie" wiederzugeben. Wie wenig eine
solche Gleichsetzung uneingeschrankt zutrifft, soll im folgenden gezeigt
werden.
Allein schon der Umstand, da es auch sonst sich als unzuldssig her-
ausstelit, das fremdsprachliche Urwort lediglich auf Grund des Gleich-
klangs auch als véllig bedeutungsgleich anzunehmen, sollte zur Vor-
sicht mahnen, So bedeutet doch bekanntlich gr. favavooc keineswegs
den ,Banausen*, sondern den Handwerker. Und gr. govt} ist durch-
aus nicht dasselbe wie unser .Physik", sondern umspannt fiir Aristo-
teles den ganzen Bereich der Naturwissenschaft sogar unter BinschluB
der Seele, so daB noch die Scholastiker zwischen physica corporis"
und ,physica animae* deutlich unterschieden. Wer wollte ferner
Gr. Wubeyg ernstlich mit dem klanggleichen Wort .Idiot* wieder-
geben, wo doch das Urwort den Privatmann (im Gegensatz zum Staat
den gemeinen Soldaten (im Gegensatz zum Feldherrn), den Pro-
saiker (im Gegensatz zum Dichter), dberhaupt den Unkundigen (im
Gegensatz zum Kundigen) bezeichnet? Ebensowenig deckt sich dem
Sinne nach unser Wort ,Biolog" mit gr. ftoXéyo¢: das griechische Wort
bedeutet ja vielmehr den Darsteller des Menschen nach dem Leben: den
Schauspieler!
Angesichts schon dieser wenigen Beispiele auffallenden Bedeutungs-
unterschiedes zwischen fremdsprachlichem Urwort und lautgleichem
Fremdwort erscheint denn nun im besonderen auch gréBte Vorsicht ge-
boten vor dem leidigen Verfahren, den Sinn des uns so geldufigen und
unentbehrlich gewordenen Fachausdrucks Philosophie” dem Laut-
gebilde gtAocogla bzw. philésophia einfach unterzulegen, als ob wahr-
haftig die Griechen von vornherein und durchweg mit goaogla genau
dasselbe gemeint hatten, was wir heute allgemein unter .Philosophie*
— unbeschadet der verschiedenen Begriffsbestimmungen eben dieses
unseres Fremdwortes — zu verstehen pflegen.
Eigentlich sollte ja vor derartig bedenkenlosem Gleichsetzen schon
die Besinnung auf die etymologische Herkunft des griechischen Laut-
gebildes bewahren! Besagt doch bekanntlich das zweiteilige Wort
gtho-copla von Haus aus soviel wie .Vorliebe fir (hdheres) Wissen",
d.h, den erstrebenswerten Erwerb solchen Wissens selbst und damit
denn weiterhin und weithin etwa soviel wie .Wissenschaft schlecht-BEDEUTUNGSVERHALTNIS 145
weg" ') — allerdings in der geistesgeschichtlich bedeutsamen Form des
noch Ungeschiedenseins von , Wissenschaft” als (neuzeitlich) strenger
Subjektentzogenheit und ,Bildung* als lebensvoller Subjektbezogen-
heit des je GewuBten’) ,(Bildende) Wissenschaft" — das ist in der Tat
der eigentliche und maBgebende Sinn des Wortes gtoaogla, bzw. phi-
losophia, nicht aber — trotz allem — ,Philosophie"!
Dafiir mégen vor der Erérterung des Verhiltnisses zwischen gtho-
cola (= .Wissenschaft*) und ,Philosophie” einige Beispielfalle als
Beleg dienen. Wenn Platon einmal (Theaitet 14 3.4) die yewperplay xat
@Aqy qdocoplay anfuhrt, dann kann man gidocopla doch nicht etwa
mit ,Philosophie*, sondern einzig und allein mit , Wissenschaft" diber-
setzen! In derselben Weise muB denn auch der hdufige Plural goaoptat
bel Platon und Aristoteles beurteilt werden. So bezeichnet auch bei
Herodot (I 30) in dessen Bericht von der Ansprache des Kroisos an
seinen athenischen Gast Solon: ,... &¢ yfy noddhy Seuplng efvexey
inedtdudac* der Ausdruck g:oaopéwy nicht im besonderen das ,Philo-
sophieren* als Zweck der Reise, sondern in dem viel umfassenderen
Sinne das nachdenkliche Betrachten und Forschen des wissenschaftlich
veranlagten Menschen. Aber auch fiir Thukydides (II 40) bedeutet das
auf die Athener gemiinzte Wort des Perikles in seiner berihmten
Leichenrede .... qooogodpey avev padantac" gewiB nicht héchst
einseitig die Beschaftigung mit ,Philosophie*, sondern ganz allgemein
das fir die Athener so bezeichnende Streben nach wissenschaftlicher
Bildung. Ganz Entsprechendes gilt denn auch von dem immer wieder
angefihrten Wort des Aristoteles am Eingang seiner Metaphysik
{1 982 b): , Ard xd Pavpdter... of dvdpwnor FpEavro prrocogety”.
Da erkennt doch Aristoteles im Staunen der Menschen nicht etwa den
Anfang lediglich des ,Philosophierens*, sondern — gemaB dem psycho-
logischen Wesen der Verwunderung — uneingeschrankt den Begin
ersten Nachdenkens und Uberlegens iberhaupt! — Ferner sei an jene
nicht weniger oft gerihmte Stelle bei Platon erinnert, wo es (Politeia,
473 D) heiBt: “Edy wh , Hol grAdoopat Baorhesamary by cate néheatv 9 of
Baowets te viv eyspevor xal Buvdorar prosophawary yvnating te nat
Ixavng xal toto ele cadtév ounnéoy Sévaplc te noktixh nal piocopla,
«+. 00% Bott naxGy rable”, Wie ungereimt und sachlich unzutreffend
muB es erscheinen, wenn man im Zuge der iblichen Gleichung
piroaoplz, = .Philosophie” so dbersetzt, als werde der Ubel der
Menschheit kein Ende sein, ehe nicht die Herrscher ,philosophieren*
oder die .Philosophen” herrschen — wo doch tatsdchlich nur gemeint
sein kann, da ,die Regierung in den Handen der wissenschaftlichen
Bildung sein solle"')! SchlieBlich ist noch auf eine beachtenswerte
Bemerkung des Aristoteles tiber das Verhiltnis von Dichtkunst und
Geschichtsschreibung hinzuweisen. Wenn er in der Poetik (c. 9 =146 JOH'S ERICH HEYDE
1451 b 6) das mit den Worten beschreibt: ,,Ard notyarg nal grAocagth-
repov xalonoudarétepoy loropiac geri, dann ist und bleibt es eine arge
Entstellung seitens der allermeisten deutschen Ubersetzer, den
griechischen Wortlaut folgendermafen wiederzugeben: ,Daher ist
die Dichtung ,philosophischer’ und bedeutender als die Geschichts-
schreibung.” Der Sinn des aristotelischen Urteils, durch und durch
erklarbar aus der Verstandeshaltung des griechischen Menschen,
namentlich des Aristoteles selbst, ist dieser: Dichtung steht der Er-
kenntnisweise der Wissenschaft naher als der Geschichtsschreibungs-
art, Den Grund fiir diese seine Uberzeugung teilt er unmittelbar
darauf mit. Die Dichtung befasse sich ndmlich mit dem Mehrmalig-
gegebenen, dem Allgemeinen, die Geschichtsschreibung dagegen mit
dem Einmaligen. Was dies besagen will, wird sofort klar, wenn man
sich dessen erinnert, daf fiir Aristoteles es gerade das Allgemeine ist,
auf das Wissenschaft als solche geht: es ist die Verwandtschaft der
durch Typen-Darstellung dem Allgemeinen verhafteten Dichtung mit
der ahnlich gearteten Wissenschaft‘). Beachtet man diesen gedanklichen
Zusammenhang, dann leuchtet unschwer ein, wie unangebracht es ist,
das gr. gthocoptisepoy mit »philosophischer” zu dbersetzen und das
etwa obendrein gar im Sinne eines romantisch oder idealistisch ver-
farbten Philosophie-Begriffs, als ob es ohne weiteres zulissig sei,
aristotelischen Gedanken deutsche Denkweise unterzulegen.
‘Wenn nun an Hand der angefihrten Proben, die dbrigens durch
weitere, fiir lat. philosophia geltende vermehrt werden sollen, jeden-
falls dies ersichtlich geworden ist, da8 g:ocogla von Haus aus soviel
wie , Wissenschaft", aber eben nicht soviel wie ,Philosophie* bedeutet,
dann wird in der Tat die Frage um so dringender, wie denn nun di
Verhaltnis von gudocogla und Philosophie’ zu begreifen sei. Denn,
da die Griechen nicht nur Wissenschaft, sondern im hohen Mafie auch
=Philosophie" getrieben haben — diese Tatsache steht ja auSer allem
Zweifel, wie es denn nicht minder gewiB ist, da8 ,Philosophie", dh.
das, was wir (im Deutschen) als ,Philosophie" zu bezeichnen pflegen,
von ihnen — abgesehen wohl von der Spatzeit der griechischen Kul-
tur — als Wissenschaft, wohlgemerkt als eine besondere Wissenschaft
aufgefaBt worden ist. Damit wird denn das Verhaltnis der ,Philosophie’
zur Wissenschaft, also zur gioaopla, schon einigermaBen deutlich. Ins
rechte Licht gertickt wird es aber durch Aristoteles selbst, der es ndm-
lich scharfer sogar als sein Meister Platon erfaBt und unzweideutig
formuliert hat. Grenzt er doch aus dem Gesamtbereich der gtdoaogle,
also der Wissenschaft diberhaupt, eine besondere — die weit spater so
genannte Metaphysik — aus, und er betitelt sie ausdriiddlich als xpdrm,
idooopia, das heist aber (eben wegen der Grundbedeutung von
pdoaogla = Wissenschaft): Erste Wissenschaft; und zwar ist sie be-