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Wolfgang Drechsler
S. 363-376 in
Marburg: Metropolis
2015
Die Staatswissenschaften an der
Universität Erfurt
Zu ihrer Gründung 1991-92 und zu
Jürgen G. Backhaus’ Beitrag dazu
Wolfgang Drechsler*
Jürgen G. Backhaus kam kurz nach Aufnahme des Lehrbetriebs der neuen
Staatswissenschaften an die Universität Erfurt; er gehört im allgemeinen
Bewusstsein daher nicht zu den ‚Gründervätern‘ dieser Fakultät, die bereits
kurz zuvor den Lehrbetrieb aufgenommen hatte. Das ist aber so nicht ganz
richtig, und die Festschrift zu Backhaus’ Emeritierung 2015, der der Univer-
sität und Fakultät treu geblieben ist, ist ein geeigneter Ort, diese Ansicht ein
wenig zu korrigieren.
I.
*
Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Drechsler ist Lehrstuhlinhaber für Staatswissenschaften am
Ragnar-Nurkse-Institut für Innovation und Staatswissenschaften der Technischen Uni-
versität Tallinn, Estland. wolfgang.j.m.drechsler@gmail.com
2 Wolfgang Drechsler
geführt.1 Dabei führt Schluchter aus, dass wegen dieser Verzögerung das
„alte Gründungskonzept … den veränderten Umständen angepasst und wei-
terentwickelt werden [musste], und zwar unter der vom Wissenschaftsrat aus-
gesprochenen Vorgabe, dass ein innovatives Konzept für die Geistes- und
Sozialwissenschaften in Lehre und Forschung umzusetzen sei.“2 Er be-
schreibt die Wahl eines interdisziplinären Ansatzes, und da all „dies auch
nach außen sichtbar sein [sollte, … ] wählten wir den aus der Mode gekom-
menen Begriff ‚Staatswissenschaften‘“.3
Auch wenn diese Ereignisse in der Tat die Grundlage der heute real exis-
tierenden Fakultät darstellen, ist es historisch gesehen nicht so, dass das Kon-
zept, in Erfurt an der neu- oder wiedergegründeten Universität eine Staats-
wissenschaftliche Fakultät zu errichten, hierauf zurückzuführen ist, aber auch
nicht auf die Ausführungen der früheren Gründungskommission, die in der
Tat ohne Konsequenzen geblieben sind. Nicht nur das Konzept, sondern auch
die (wissenschafts-) politische Entscheidung, stammen aus einer deutlich
früheren Phase der Entwicklung. Die Staatswissenschaftliche Fakultät geht
direkt auf eine „Stellungnahme“ des Wissenschaftsrats vom Januar 1992 zu-
rück, die die Konzentration auf die Staatswissenschaften eindeutig und recht
detailliert empfiehlt.
Empfehlungen des Wissenschaftsrats sind zwar nicht bindend, da sie aber
für die Bundesförderung von Hochschulbaumaßnahmen entscheidend sind
und durch die Zusammensetzung des Wissenschaftsrats selbst fast immer
einen Konsens zwischen betroffener Landesregierung, den anderen Ländern,
dem Bund, der Wissenschaft und den großen Wissenschaftsorganisationen
darstellen, sind sie von großer Bedeutung. Zu dieser Zeit war das a fortiori
so, da der Wissenschaftsrat in Art. 38 des Einigungsvertrags vom August
1990 die Aufgabe der Evaluierung und Restrukturierung der Forschungs- und
Hochschuleinrichtungen der neuen Länder übertragen bekommen hatte; die
Erfurt-Empfehlung entstammt diesem Kontext.4
In dieser „Stellungnahme zur Gründung einer Universität in Erfurt“ vom
Januar 1992 lautet Abschnitt III 3 c 2 wie folgt:
1
Schluchter (2012), S. 13; s. auch Scherzberg (2012b), (2012a) passim.
2
Schluchter (2012), S. 13.
3
Ibid., S. 14.
4
S. hierzu Drechsler (1991); aus der Retroperspektive z.B., wenn auch mit Vorsicht hin-
sichtlich der Interpretationen, Bartz (2007), S. 158-183.
Die Staatswissenschaften an der Universität Erfurt 3
Ich selbst war in der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates von 1990 bis
1991/92 als Referent innerhalb des Wiedervereinigungs-Projekts tätig und
dort auch zuständig für die Arbeitsgruppe Neugründung Universität Erfurt;
ebenso war ich – informell – Landeskoordinator für Thüringen. Referenten
waren zur hektischen, überlasteten Zeit der Wiedervereinigung sehr viel
autonomer und einflussreicher, als das schon üblicherweise der Fall ist,6 und
die Vorformulierung dieses Abschnitts und das ursprüngliche Konzept stam-
men von mir. Und letzteres war von Jürgen Backhaus’ Initiative der Heil-
bronner Symposien zu den Wirtschafts- und Staatswissenschaften mit-
inspiriert.
Was folgt, sind Erinnerungen; sie sind daher nie sicher oder eindeutig, und
in der Retrospektive werden viele Ereignisse uminterpretiert und -gestaltet.
Es sind aber, erstens, die Erinnerungen des zuständigen Referenten im Wis-
senschaftsrat, und die Stellungnahme selbst ist, zweitens, eine ganz eindeuti-
ge Quelle.7
5
Wissenschaftsrat (1992), S. 170.
6
„Unter höchster Anspannung arbeitete … auch die Kölner Geschäftsstelle des Wissen-
schaftsrates, in der die Lichter zu dieser Zeit kaum einmal ausgingen und Mitarbeiter
häufig genug übernachteten.“ (Bartz 2007, S. 165) Das ist zwar übertrieben, aber in der
Tendenz nicht falsch.
7
Unterlagen oder Akten der Zeit habe ich – abgesehen von meinem Taschenkalender –
nicht verwendet und die Inhalte auch nicht mit den anderen Beteiligten der Zeit be-
sprochen; dies wäre für eine weitere historischere Aufarbeitung der Geschehnisse natür-
lich notwendig.
II.
Die Gründung oder Wiedergründung der Universität Erfurt nach dem Unter-
gang der DDR war, wie schon an den verschiedenen Termini zu sehen – recht
parallel zur Dichotomie Deutsche Einigung vs. Wiedervereinigung –, eine
höchst umstrittene Angelegenheit, und Wissenschaftsrat und Thüringer Lan-
desregierung waren eher dagegen. Dies lag daran, dass das kleine und relativ
arme Thüringen über sehr viel mehr Universitätskapazität verfügte, als es
brauchte und finanzieren konnte, und eine neue Universität Erfurt deswegen
mehr als nur überflüssig war – fast in Laufweite gab es die Friedrich-Schiller-
Universität Jena, die Technische Hochschule Ilmenau und das Bauhaus Wei-
mar; die beiden letzteren hatten zu dieser Zeit schon oder noch den Drang zur
Volluniversität, erstere war es bereits. In Erfurt gab es lediglich den örtlichen
Teil der Pädagogischen Hochschule Erfurt-Mühlhausen sowie kirchliche Stu-
dieneinrichtungen, katholisch wie evangelisch, wobei erstere, die Theologi-
sche Fakultät Erfurt mit Priesterseminar, außerordentlich relevant wurde.
Der Drang zur Universität war nämlich nicht nur in Erfurt selbst immens,
hauptsächlich aus landsmannschaftlich-konfessionellen Gründen. Es müsse,
so wurde argumentiert, auch in den Neuen Ländern eine quasi kulturell
katholische (also nicht rein kirchliche) Universität geben, und das alt-
Mainzer Land um Erfurt habe mit Sachsen-Weimar ja gar nichts zu tun, Jena
liege also quasi im inneren Ausland. (Das war auch die letztendlich erfolg-
reiche Begründung für zwei Volluniversitäten im noch ärmeren Mecklen-
burg-Vorpommern.) Außerdem bestanden wichtige Erfurter Lobbyisten, dass
eine Landeshauptstadt auch eine Universität haben sollte (obwohl etwa Wies-
baden im Schwesterland Hessen auch keine hat). Schließlich war die Neu-
gründung auf teilweiser Basis der PH eine Möglichkeit, diese in jene zu über-
führen und dadurch die „Abwicklung“, wie man damals sagte, der PH zu ver-
meiden. (Entgegen entsprechenden Empfehlungen auch des Wissenschafts-
rats und allen anderslautenden Beteuerungen kam es bald auch genau dazu.)
Es gab schon vor der Wiedervereinigung selbst, aber auch später, regio-
nale wie überregionale Initiativen, die sich für eine Neugründung der alten
Universität einsetzten; diese Stränge werde ich hier nicht entwirren, zumal
sie am Ende keine institutionellen Auswirkungen hatten.8 Die Gründung
einer Stiftungsuniversität, die eine Gruppe in Angriff genommen hatte,
scheiterte aber schon daran, dass es in Deutschland eben keine derartige
8
Vgl., wenn auch stark verkürzt und deutlich eine spezifische Perspektive betonend,
Raßloff (2014), S. 30-34.
Die Staatswissenschaften an der Universität Erfurt 5
philanthropische Tradition gibt; selbst wo das der Fall ist, ist es schwierig,
ohne bereits vorhandene Ehemalige oder Großspenden erfolgreich zu ein. So
kam denn auch nur eine Zusage zur Förderung eines einzigen betriebswirt-
schaftlichen Lehrstuhls über drei ganze Jahre zu Stande.
Jedenfalls gab es sicher in der Stadt Erfurt ein teilweise auch romantisches
Interesse an einer Wiedergründung, wobei es legitim ist zu fragen, ob fast
200 Jahre Nichtexistenz – die alte Universität war 1816 durch Preußen
geschlossen worden – die Rede von einer Kontinuität noch möglich machen.9
Günstig wirkte sich in dieser Beziehung aus, dass es in Erfurt noch Gebäude
der alten Universität gab, zumal das schöne Tor des alten Collegium Maius,
des 1945 durch Bomben zerstörten Hauptgebäudes. Die Universität wurde
am Ende in den Gebäuden und auf dem Grund der alten PH errichtet. Das
wiedererbaute Collegium Maius, Symbol der Wiedergründung, wurde 2008
an die Evangelische Landeskirche verkauft; es gehört also nicht zur heutigen
Universität, was nicht ganz ohne Symbolkraft ist.10
Gegen die Gründung sprachen die erwähnten übergeordneten Gründe – es
gab nur begrenzte Mittel, und Wissenschaftsrat wie auch Ministerium waren
der Meinung, lieber eine gute, gut ausgestattete Universität in Thüringen als
zwei unterfinanzierte. Ilmenau und Weimar – wo es auch eine Musikhoch-
schule gab – galten zudem als mit die besten Hochschuleinrichtungen in den
Neuen Ländern, wenn im Falle des Bauhauses eher als – historisch geschaf-
fenes – Potenzial denn als Realität.11 Besonders aber Jena galt als die ver-
gleichsweise noch intakteste, universitätshafteste, am wenigsten – wenn auch
erheblich – von Staat und Partei verformte und deswegen reformierbare Uni-
versität in den Neuen Ländern, und diese wollte man nicht durch eine Neu-
gründung in Erfurt gefährden.
9
S. z.B. Blaha und Metze (1992), S. 42-43. Diese sehr schön illustrierte, frühe, noch
vielfach im DDR-Jargon geschriebene Darstellung zeigt auch, dass die alte Erfurter
Universität nur bis etwa 1530 eine bedeutende Hochschule war. 1664-1812 war sie Kur-
mainzische Landesuniversität und mit Ausnahmen außerordentlich provinziell, also eine
Institution des Alten Reiches und etwa so gegenwartsrelevant, aber lange nicht so be-
deutend, wie etwa das Reichskammergericht in Wetzlar. Aber selbst wenn es sich um
eine Neugründung gehandelt haben sollte, war der Bezug auf die alte Universität außer-
ordentlich geschickt und erfolgreich, da er entscheidend zur Legitimierung der ersteren
beitrug.
10
S. Raßloff (2014), S. 14-15, 34-35.
11
Hier hatte der Wissenschaftsrat schon größeren Erfolg und trug zur Verhinderung
einer technischen „Universität des Bauens“ im von den damaligen Mitarbeitern an-
gestrebten Maße entscheidend bei; auch für die hier zuständige AG war ich der Referent.
S. Drechsler (1992), S. 29-31.
12
S. auch Bartz (2007), S. 176-177.
13
Vgl. Raßloff (2014), S. 31. Der Bundespräsident ist der Dienstherr der Geschäftsstelle
des Wissenschaftsrates und der Generalsekretär ist beim Bundespräsidialamt ver-
beamtet; v. Weizsäckers allgemeine Reputation war damals auch außerordentlich hoch.
Die Staatswissenschaften an der Universität Erfurt 7
Thüringer Hochschulgespräche nicht.14 Fickel kam von Haus aus vom Mühl-
hausener Standort der PH, wo er Chemiedozent gewesen war; er war vor
seinem Ministeramt auch Vorsitzender der LDPD im Kreis Mühlhausen
gewesen. Komusiewicz war ebenfalls lokalpolitisch engagiert (CDU) und
später Staatssekretär in Brandenburg. Ich habe beide als zuständiger Landes-
referent häufig und durchaus gern getroffen und als außerordentlich engagiert
und an übergeordneten Thüringer Belangen orientiert kennengelernt, was
nicht nur in den Neuen Ländern nicht unbedingt die Regel war.
III.
14
S. aber seinen Erinnerungsaufsatz zu diesem Thema, Brans (2007).
15
So auch Schluchter (2012), S. 13.
16
Schuppert (2012), bes. S. 35-36.
17
S. Drechsler (2004). Die Bedrohung der deutschen Verwaltung in ihrer erfolgreichen
Weberianischen Dimension durch das Konzept des New Public Management stellte sich
damals zumindest bei der Wiedervereinigung noch nicht in dem Maße dar, wie es aus
heutiger Sicht nahezuliegen scheint; vgl. Drechsler (2008).
18
Ich war im Wissenschaftsrat damals auch Referent für die AG Rechtswissenschaft.
19
Das war z.B. ein Problem in Konstanz und – hinsichtlich der Nichtjuristen-Ausbil-
dung – Speyer und heute auch in Potsdam und Berlin/Hertie, bei allen Entwicklungen,
die sich seitdem in dieser Hinsicht ergeben haben.
20
S. aber Brodersen (2012a), S. 7, der die staatswissenschaftlichen Studienplätze in Er-
furt für besonders teuer hält.
Die Staatswissenschaften an der Universität Erfurt 9
Und genau hier sind wir nun bei Jürgen Backhaus’ Beitrag. Zwar war ich
am Konzept der Staats- und Verwaltungswissenschaften mindestens seit
meinem eigenen Studium in Speyer (1989) und meiner Zeit als (Senior)
Legislative Analyst im United States Congress, House Administration Com-
mittee, als ASPA Congressional Fellow (1989-1990), besonders interes-
siert.21 Der Hauptgrund, warum mir dieses Thema auch und gerade im Hin-
blick auf die deutsche Tradition sehr präsent war (auch wenn später immer
einmal behauptet wurde, dass es darum in Erfurt gerade nicht ging)22, war
aber meine Teilnahme an einer Konferenzserie, die Backhaus von Maastricht
aus in Heilbronn – ebenfalls einer historischen Stadt ohne Universität, aber
einer sehr reichen, die sich das sponsoring solcher Veranstaltungen gut leis-
ten konnte – ab 1988 etabliert hatte: Die Heilbronner Symposien zu den Wirt-
schafts- und Staatswissenschaften (Heilbronn Symposia in Economics and
the Social Sciences).23
Hier wurden alljährlich um Johanni im Heilbronner Schießhaus mit
zeitgenössischen zumal ökonomischen Methoden die großen Leistungen
dieses Feldes mit besonderer Betonung der zu diesem Zeitpunkt völlig ver-
nachlässigten und auch heute noch radikal unterschätzten Deutschen Histo-
rischen Schule24 und ihrer Zeit überprüft und diskutiert, bewusst auf Englisch
und mit englischsprachigen Veröffentlichung, um eine Rezeption durch den
wirtschaftswissenschaftlichen mainstream wenigstens einigermaßen zu er-
möglichen.25 Gerade die Konferenzen der ersten Jahre waren außerordentlich
erfolgreich und zogen so gut wie alle Fachleute zu den entsprechenden
Themen an. Ich selbst war seit dem 2. Symposium 1989 zum Thema Fried-
rich Althoff dabei, in dem es auch um die zentrale und kreative Rolle einer
kompetenten Verwaltung in der Wissenschaftspolitik ging26; auch das war im
und durch den Wissenschaftsrat zu Zeiten der Wiedervereinigung ganz offen-
sichtlich. Anfang Juli 1991 war dann das 3. Symposium, zu Werner Sombart,
21
In Speyer war ich unter anderen mit Klaus König in Kontakt gekommen, dem Doyen
der deutschen Verwaltungswissenschaft, der sich mit dem Zusammenhang Staats- und
Verwaltungswissenschaften sowie Jura bereits in seiner Habilitation über ein Viertel-
jahrhundert zuvor grundlegend beschäftigt hatte; s. König (1970), S. 11-19.
22
S. etwa Selbstdokumentation der Universität Erfurt aus dem Jahre 2004, zit. in
Schuppert (2012), S. 28.
23
S. Drechsler (1998), S. v-vii.
24
S. zusammenfassend Drechsler (2015).
25
S. etwa Backhaus (1997).
26
S. Backhaus (1993).
dem Haupt der sog. Jüngsten Historischen Schule.27 Und wenn man sich mit
dieser Zeit und diesem Thema unter diesen Voraussetzungen beschäftigt,
werden die Logik der Staatswissenschaften als einer Objekt- und nicht Me-
thode-zentrierten Wissenschaft und die Notwendigkeit einer nicht nur inter-
oder transdisziplinären, sondern integrierten Lehre und Forschung zu einem
der Hauptthemen unserer verwalteten Welt, damals – und damals auf allen
Ebenen sehr erfolgreich – wie heute, im nationalen wie internationalen Kon-
text, in der Beziehung zu Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch den Staat
selbst betreffend, mehr als deutlich.28
Nun ist es nicht so, dass auch der stärkste Referent Entscheidungen wie
die Stellungnahmen des Wissenschaftsrates selbst treffen oder auch nur her-
beiführen kann; auch beeinflussen kann er sie nur, wenn die Umstände das
nahelegen und er sozusagen mit dem Strom schwimmt und nicht dagegen;
ihn kann er aber gerade in Ausnahmesituationen durchaus lenken. Hier lag
diese staatswissenschaftliche Orientierung wirklich nahe, da sie alle oben
genannten Kriterien erfüllte, einschließlich einer gewissen Heterodoxie, die
sonst im Wiedervereinigungsprozess nicht willkommen war, hier aber wegen
des ‚Unikatsbedarfs‘ schon. Alle involvierten Partner sind ihr gefolgt – erst
Komusiewicz und Fickel, dann die Wissenschaftsrats-leadership wie Block,
Scherf und Simon und nicht zuletzt die AG Erfurt, die Wissenschaftliche
Kommission und dann der Wissenschaftsrat in seiner Vollversammlung im
Januar 1992. Nicht weil man sie hätte überreden müssen oder können, son-
dern weil sich das aus der Sache selbst so ergab. Deswegen hat es auch an
Konzept und Entwurf des entsprechenden Absatzes kaum Änderungen ge-
geben.
IV.
Wer sind nun die Gründerväter, geistig oder real, der Staatswissenschaften
bzw. der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt? Schluchter
und die quasi-offizielle Geschichtsschreibung liegen nicht falsch, wenn sie
die direkte Geschichte auf die Gründung – ich würde sagen: „zweite Grün-
dung“ – in der zweiten Hälfte der 90er Jahre zurückführen, und Schluchters
persönliche Verdienste hier wie auch hinsichtlich des Max-Weber-Kollegs
sind unbestreitbar. Allerdings ist die Festlegung auf eine solche Institution
1992 durch die Wissenschaftsrats-Stellungnahme dem eindeutig vorge-
27
S. Backaus (1996), (2000); Drechsler (1996a), (1996b), (2000).
28
Ausführlich Drechsler (2001).
Die Staatswissenschaften an der Universität Erfurt 11
schaltet, und sie kann bei der zweiten Gründung, schon wegen der nachge-
raden Verbindlichkeit der Empfehlungen des Wissenschaftsrats, die wohlbe-
kannt waren, nicht außer Acht gelassen worden sein. Hier würde ich die Er-
innerungen der Protagonisten an die zweite Gründung zumindest dement-
sprechend ergänzen wollen. Dass man während der zweiten Gründung „den
Wissenschaftsrat … von dem Konzept einer neuen ‚Staatswissenschaftlichen
Fakultät‘ überzeugen“ musste,29 ist historisch insofern nicht zutreffend, als
dass sich dieser bereits zuvor eindeutig genau darauf festgelegt und diese
Ausrichtung gefordert hatte.30 Von einer Entwicklung der Staatswissenschaf-
ten während der zweiten Gründung „kurzerhand und gleichsam in einem
Geniestreich“31 kann man jedenfalls nicht sprechen.
Die „Erstgründung“ selbst basierte auf meinen Gesprächen mit dem zu-
ständigen Minister und Abteilungsleiter, und der ursprüngliche Vorschlag
wiederum ist zumindest auch und nicht zufällig auf die Wiedereinführung des
Konzepts der Staatswissenschaften in einen internationalen und gegenwarts-
bezogenen wissenschaftlich-wissenschaftspolitischen Diskurs durch Jürgen
Backhaus und seine Heilbronner Symposien zurückzuführen.
Und wie ist es den Staatswissenschaften in Erfurt ergangen? Die Idee zu-
mindest der Erstgründung ist zumindest hinsichtlich der Fakultät in vielerlei
Hinsicht nicht verwirklicht worden:
Die Interdisziplinarität im geforderten, vielleicht unrealistischen Maße
kam trotz aller positiven Darstellungen und Ergebnisse32 wohl hauptsächlich
deswegen nicht zustande – wie ich selbst immer wieder aus der Fakultät hörte
– dass auch diejenigen Lehrenden, die mit der Vorgabe der Staatswissen-
schaft sich nach Erfurt berufen ließen, häufig sich nicht als Staatswissen-
schaftler sehen wollten, sondern nur traditionell als Ökonomen oder Juristen.
Das ist insofern verständlich, als dass in Berufungen (leider) oft versucht
wurde, lieber mainstream nach Erfurt zu bringen als heterodox denkende
Wissenschaftler, der mainstream aber sehr disziplinär denken muss. Das auch
deshalb, weil Erfurt auch und gerade in den Staatswissenschaften eine step-
ping-stone university wurde und blieb; das ist zwar an sich nicht von Nach-
teil, aber für eine Wegbewerbung sind die Kriterien der Zunft ausschlag-
29
Schluchter (2012), S. 16.
30
Dass man dem auch innerhalb des Wissenschaftsrats einige Jahre später nicht unbe-
dingt selbst gefolgt ist, und man ihn eventuell wieder an seine eigene Position erinnern
musste, ist aber nicht auszuschließen. (Schluchter war ab 2000 selbst Mitglied des Wis-
senschaftsrates.)
31
Händschke in Scherzberg (2012a), S. 45.
32
S. Scherzberg (2012a) passim.
33
Schluchter (2012), S. 14.
34
Ich habe diese Professur im Sommersemester 2007 als Gastprofessor quasi vertreten
und mich rein auf die Staats- und Verwaltungswissenschaften konzentrieren können.
35
S. sehr schön Händschke (2012); s. auch Scherzberg (2012b), S. 18. Die hier erzählten
Erinnerungen habe ich in Erfurt das erste Mal während einer Lehrveranstaltung im
Sommersemester 2007 vorgetragen, dann aber auf einer Veranstaltung des Alumniver-
eins im Oktober 2012, auf Einladung von Hendrik Leue, auf einer Podiumsdiskussion
Die Staatswissenschaften an der Universität Erfurt 13
haus seinen Anteil, aber das ist eine andere Geschichte, die andere Autoren
dieser Festschrift besser würdigen können als ich.
Literatur
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the Althoff System, Journal of Economic Studies, Bd. 20, Nr. 4/5.
Backhaus, Jürgen G., Hg. (1996): Werner Sombart (1863-1941): Social Scientist, 3
Bde., Marburg: Metropolis.
Backhaus, Jürgen G. (1997): Essays on Social Security and Taxation: Gustav von
Schmoller and Adolph Wagner Reconsidered, Marburg: Metropolis.
Backhaus, Jürgen G., Hg. (2000): Werner Sombart (1863-1941): Klassiker der So-
zialwissenschaft. Eine kritische Bestandsaufnahme, Marburg: Metropolis.
Bartz, Olaf (2007): Der Wissenschaftsrat: Entwicklungslinien der Wissenschafts-
politik in der Bundesrepublik Deutschland 1957-2007, Stuttgart: Steiner.
Blaha, Walter und Josef Metze (1992): Kleine illustrierte Geschichte der Universität
Erfurt, 1392-1816, Erfurt: Verlagshaus Thüringen.
Brans, Werner (2007): „Hinter den Kulissen – Anmerkungen zur Aufbauhilfe in den
neuen Bundesländern [sic]“, in Norbert Kartmann und Dagmar Schimpanski,
Hgg., Hessen und Thüringen. Umbruch und Neuanfang 1989/90, Frankfurt/
Main: Societäts-Verlag.
Brodersen, Kai (2012): „Grußwort“, in Scherzberg (2012a), S. 6-8.
Bulletin (2013) = „Die Staatswissenschaften: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft“,
Bulletin des Alumnivereins Staatswissenschaften, Nr. 01/2013, S. 5-7.
Drechsler, Wolfgang, Hg. (1991): Reforming Higher Education and Research in
Eastern Germany, World Affairs, Bd. 154, Nr. 1.
Drechsler, Wolfgang (1996a): „Werner Sombart After Fifty Years: What Makes His
Work so Intriguing?“, in Backhaus (1996), Bd. 1: His Life and Work, S. 131-
134.
Drechsler, Wolfgang (1996b): „The Revisiting of Werner Sombart: Implications for
German Sociological Thinking and for the German Debate about the Past“,
ibid., Bd. 3: Werner Sombart: Then and Now, S. 287-296.
Drechsler, Wolfgang (1998): „Christian Wolff, Law & Economics, and the Heil-
bronn Symposia in Economics and the Social Sciences: An Introduction“, in
Jürgen G. Backhaus, Hg.: Christian Wolff and Law & Economics: The Heil-
zusammen mit Scherzberg und Sebastian Händschke, moderiert von Fabian Disselbeck
(s. Bulletin 2013), bei der ich Verein und Mitglieder etwas näher kennenlernen konnte. –
Joachim A. Groth und Ingbert Edenhofer danke ich für nützliche Hinweise.
bronn Symposium = Christian Wolff, Gesammelte Werke, III. Serie, Bd. 45,
Hildesheim: Olms, S. v-x.
Drechsler, Wolfgang (2000): „Zu Werner Sombarts Theorie der Soziologie und zu
seiner Biographie“, in Backhaus (2000), S. 83-100.
Drechsler, Wolfgang (2001): „On the Viability of the Concept of Staatswissen-
schaften“, European Journal of Law and Economics, Bd. 12, Nr. 2, S. 105-
111.
Drechsler, Wolfgang (2004): „Governance, Good Governance, and Government:
The Case for Estonian Administrative Capacity“, Trames, Bd. 8, Nr. 4, S.
388-396.
Drechsler, Wolfgang (2008): „Aufstieg und Untergang des New Public Manage-
ment“, Kurswechsel, Bd. 23, Nr. 2, S. 17-26.
Drechsler, Wolfgang (2015): „The German Historical School and Kathedersozialis-
mus“, in The Elgar Handbook of Alternative Theories of Economic De-
velopment, Jayati Ghosh et al., Hgg., Cheltenham – Northampton, Mass.:
Edward Elgar, im Druck.
Händschke, Sebastian G.M. (2012): „10 Jahre Staatswissenschaften an der Univer-
sität Erfurt. Bestandsaufnahme aus der Sicht eines Alumnus“, in Scherzberg
(2012a), S. 43-61.
König, Klaus (1970): Erkenntnisinteressen der Verwaltungswissenschaft, Berlin:
Duncker & Humblot.
Raßloff, Steffen (2014): Erfurt. Die älteste und jüngste Universität Deutschlands,
Erfurt: Universitätsgesellschaft Erfurt.
Scherzberg, Arno, Hg. (2012a): 10 Jahre Staatswissenschaftliche Fakultät, Berlin:
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Scherzberg, Arno (2012b): „10 Jahre Staatswissenschaften in Erfurt“, in ders., Hg.,
S. 17-25.
Schluchter, Wolfgang (2012): „Warum gründet und wie entwickelt man eine Staats-
wissenschaftliche Fakultät?“, in Scherzberg (2012a), S. 12-16.
Schuppert, Gunnar Folke (2012): „Staatswissenschaft – alter Zopf oder modernes
Brückenkonzept?“, in Scherzberg (2012a), S. 26-42.
Wissenschaftsrat (1992): „Stellungnahme zur Gründung einer Universität in Erfurt.“
In Empfehlungen zur künftigen Struktur der Hochschullandschaft in den
neuen Ländern und im Ostteil von Berlin, Köln: Wissenschaftsrat, S. 161-174.