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Nordau, Max Simon

Theodor Herzl und der


Judenstaat

149
H462
N6
Digitized by the Internet Archive
in 2010 witii funding from
University of Toronto

littp://www.arcliive.org/details/tlieodorlierzlunddOOnord
AN DER SCHWELLE DER WIEDERGEBURT
HERAUSGEBER: DAVIS ERDTRACHT

THEODOR HERZL
UND

DER JUDENSTAAT
VON

MAX NORDAU
Dr.
PROFESSOR Dr OTTO WARBURG
ISRAEL ZANGWILL
MIT EINEM VORWORT
DES HERAUSGEBERS
DAVIS ERDTRACHT

VIERTE AUFLAGE

INTERTERRITORIALER VERLAG „RENAISSANCE"


WIEN BERLIN NEW YORK
PROFESSOR DR CH. WEIZMANN
NAHUM SOKOLOW
DR SCHMARJAHU LEWIN

UNSEREN FÜHRERN, WELCHE DIE IDEE THEODOR


HERZL'S VERWIRKLICHEN.

AN DER SCHWELLE DER WIEDER-


GEBURT VOM HERAUSGEBER
ZUGEEIGNET
Vorwort.

„Wer nicht mit will, mag dableiben.


Der Widerspruch einzelner Individuen
ist gleichgültig.
Wer mit will, stelle sich hinter
unsere Fahne und kämpfe für sie in
Wort, Schrift und Tat".
Theodor Herzl : Der Judenstaat.

Wer Herzl ? Der Prometheus der Liebe zu seinem


ist

Volke. Diese unendliche Liebe schuf das edelste Buch des


modernen Judentums, den „judenstaat", in welchem Herzl sein
eigenes Wesen gegeben, sein Wollen, seine Ziele, seine Hoff-
nungen; sie schuf die Kongresse, diese große Schöpfung, mit
der er die zerstreuten Träger der Nationalidee einigte in dem
einmütigen Bekenntnis zur Zukunft des Volkes auf eigenem
Boden, im alten Stammeslande sie schuf die Organisation,
;

die auseinem kleinen Häuflein von Anhängern eine von allen


Mächten anerkannte Weltorganisation geworden ist; sie war
die Quelle seiner schlichten Opferbereitschaft, seines unver-
wüstlichen Optimismus, seiner ungeheuren Arbeitsfähigkeit,
seines Glaubens in die Zukunft der Nation, seines unzerstör-
baren Gefühles der Sendung und Berufung, seiner Größe. Herzl
lebte und starb an der Liebe zu seinem Volke. „Grüßen
Sie mir Palästina" sagte er am Sterbebette zu seinem
christlichen Zionsfreunde, der ihn am L Juli 1904 besucht,
„ichhabe mein Blut für me inVolk hingegeben".
* *
*

Was er wollte und hoffte, was er vorbereitete und was


er im „Altneuland" mit seinem prophetischen Blicke voraussah
und die nahe Verwirklichung verkündete, wird heute zur po-
litischen und historischen Tatsache. Die Herzl'sche Lehre vom
politischen und internationalen Charakter
der Jiidenfrage und
vom Zionismus deren Losung ist siegreich hervorgegangen.
als
.Die Saat, die HerzI im Judenstaat gelegt hat. ist nicht nur
herrlich aufgeganpen, sondern schon nahe daran heranzureifen.
Als Sieger steht HerzI vor uns da." Die „neue Uesellschafi"
ist im Begriffe zu entstehen. „Ein ganzes Leben wird nicht
ausreichen, Alles auszuführen" — schrieb HerzI unter dem
16. Juni 1805 in sein Tagebuch, als in den Tagen der Ent-
stehung des „Judenstaates' die Gedankenzüge durch seiie
Seele erschütternd jagten —
..aber ich hinterlasse ein geistiges
Vermächtnis". Und er hinterließ nicht nur das geistige Ver-
mächtnis, seine polilisciie Lehre, den „Judenstaat'', sondern
auch das großaitigste Wtrk eines Menschen, das im Selbst-
bewußtsein erwachte, zur Tat bereite, der frohen Zukunft ent-
gegenwandernde Volk.
* *
*

Schon im Jahre 1901 war HerzI nahe daran, das zu er-


reichen, was heute unseren Führern in San Remo gelungen
ist, wenn auch nicht in girich großzügiger und feierlicher
Art. Aber unter welch' schwierigeren Verhältnissen Weder hatte
!

er damals das Volk hinter t^ich, noch die mächtige Welt-


organisation, noch das i.ütige Kapital, noch waren die
politi-^chen Ereignisse so günstig gestaltet, wie heute. Zwei
Millionen Pfund verlangte er von der jüdischen Finanzmacht,
um den Charter von der Türkischen Regierung zu erlangen.
In seinem unendlichen üptimisiiius glaubte er an die jüdische
Finanzmacht. ,,ln der jüdischen Finanzmacht schlun-.mern noch
sehr viele ungenützte politische Kräfte. Die Kreditpolitik der
großen Finanzjuden müßte sich in den Dienst der Volksidee
stellen". Die jüdische Finanzwelt versagte, nur die Ärmsten
gehorchten dem Führer. Wenn es nun HerzI nicht gegönnt war
den Charter zu erlangen, und Palästina im großen Stile zu
kolonisierer, das Land für den heuligen geschichtlichen Mo-
ment vorzubereiten, wenn auch den heutig' n Führern nicht ge-
gönnt ist vor dem Forum der Mächte ai'f das jüdische Pa-
lästina hinzuweisen, so konnten sie am denkwürdigen San
Remo-Tagc auf den nach Erlangung der eigenen Heimstätte
im alten Lande organisierten Willen des jüdischen Volkes sich
stützen, auf die mächtige Organisation hinweisen — die das
große Werk Herzls ist — die beseelt ist von d:r glühenden
Liebe zu Zion und ihr Bestes auf dem Altare der Freiheit zu
opfern bereit ist. So stützen sich unsere Führer auf das große

Werk Herzls und verwirklichen seine Lehre und setzen seine Ar-
beit f(jrt. Olne HerzI würde es keine so machtvolle zionistische
III

Bewegung gegeben haben, und ohne diese nicht die offizielle

Anerl<ennung der zionistischen Bestrebungen seitens aller Groß-


mächte, die Anerkennung der unverjährten Rechte des jüdischen
Volkes an Palästina.

„Die Goldmagnaten werden sich vielleicht auch nur be-


gnügen, die Sache mit einem ablehnenden Lächeln abzutun":
„Ob die Mittelbanken die Sache aufgreifen werden, weiß ich
auch nicht. Jedenfalls ist die Sache auch mit der Ablehnung
des Mittelreichen nicht erledigt. Dann beginnt sie vielmehr
erst recht. Denn die Society of jews, die nicht aus Ge-
schäftsleuten besteht, kann dann die Gründung der Company
als eine volkstümliche versuchen. Das Aktienkapital der Company
kann ohne Vermittlung eines Hochbank- oder Mittelbank-
syndikates durch unmittelbare Ausschreibung einer
Subskription aufgebracht werden. Nicht nur die
armen kleinen Juden, sondern auch die Christen, welche die
Juden ioshaben wollen, werden bich an dieser in ganz klei ne
Teile zerlegten Geldbeschaffung beteiligen. Es wäre eine
eigentümliche und neue Form des Plebiszites, wobei jeder,
der sich für diese Lösungsform der Judenfrage aussprechen
will, seine Meinung durch eine bedingte Subskription äußern
könnte". Für Herzl sind entscheidend für die Verwirklichung
seiner Pläne die Macht des Volkes und die Macht
der Bewegung. „Und so wird es zugehen: Gerade die
Armen und Einfachen, die gar nicht ahnen, welche Gewal
über die Naturkräfte der Mensch schon besitzt, werden die
neue Botschaft am stärksten glauben. Denn sie haben die
Hoffnung auf das Gelobte Land nicht verloren." „Nun würden
ja schon die Ärmsten zur Gründung des Staates genügen, ja
sie sind das tüchtigste Menschenmaterial für eine Landnahme,
weil man zu großen Unternehmungen ein bißchen Verzweiflung^
in sich haben muß. Aber indem unsere Desperados durch ihr
Erscheinen, durch ihre Arbeit den Wert des Landes heben,
machen sie allmählich für Besitzkräftigere die Verlockung ent-
stehen, nachzuziehen. Immer höhere Schichten werden ein
Interesse bekommen, hinüberzugehen." „Aus den Mittelständen
fließen unsere überproduzierten, mittleren Intelligenzen, fließen
ab in unsere ersten Organisationen, bilden unsere ersten
Techniker, Offiziere, Professoren, Beamten, Juristen, Ärzte.
Und so geht die Sache weiter, eilig und doch ohne Erschütterung."
„Wenn die Bewegung entsteht, werden wir die Einen nach-
ziehen, die Anderen uns nachfließen lassen, die Dritten werden
mitgerissen und die Vierten wird man uns nachdrängen. Diese
die zögernden späten Nachzügler werden hüben und drüben
am daran sein. Aber die ersten, die gl.lubig
schlechtesten
begeistert und tapfer hinübergehen, werden die besten Plätze
haben." „Da ist es Juden! Kein Märchen, kein Betrug! Jeder
kann sich davon überzeugen, denn jeder trägt ein Stück vom
Gelobten Land hinüber: der in seinem Kopf, und der in seinen
Armen und jener in seinem erworbenen Gut."

Die Macht des Volkes und die Macht der Bewegung —


zwei Faktore. auf die sich unsere Führer in der Verwirklichung
der Herzischen Idee stützen. Die erlösende Botschaft aus San
Remo fand einen gewaltigen Widerhall im Herzen von Millionen
physisch und seelisch bedrückten Juden. Der Antisemitismus
hat seinen Höhepunkt erreicht. Die Juden werden auf tausend
Punkten gehänselt, gekränkt, gescholten, geprügelt, geplündert
und erschlagen. Es ist der Moment, den Herzl voraussah,
eingetreten. „In den Ländern, die wo sich die Juden augen-
blicklich Wohlbefinden, werden meine Stammesgenossen meine
Behauptungen vermutlich auf das heftigste bestreiten. Sie
werden mir erst glauben, bis sie wieder von der Judenhetze
heimgesucht sind. Und je länger der Antisemitismus auf sich
warten läßt, umso grimmiger muß er ausbrechen. Die Infiltration
hinwandernder, von der scheinbaren Sicherheit angezogener
Juden, sowie die aufsteigende Klassenbewegung der auto-
chthonen Juden wirken dann gewaltig zusammen und drängen
zu einem Umsturz." Die Notleidenden suchen in Palästina
einen sicheren Hafen, ein besseres wirtschaftliches Dasein, eine
Bedrückten ein freies Kultur-
friedliche, sichere Zukunft, die geistig
zentrum für ihre Tätigkeit, die Einen und die Anderen suchen
die Heimat und lechzen nach Freiheit im eigenen altneuen
Lande. Der historische Moment hatte das jüdische Volk nicht
unvorbereitet getroffen. Das Volk und die Jugend sind reif, um
den Herzischen Willen und Herzische Lehre heute zu ver-
wirklichen und in dieser Reife des Volkes spiegelt sich
Herzls Tat und Verdienst. Insbesondere die Jugend, die im
Kriege ihr Bestes auf dem Altare fremder Freiheit hingegeben
hat, ist heute bereit ihr Gut und Blut dem Wiederaufbaue der
eigenen Heimat zu opfern, die Jugend, in welche Herzl seine
größte Hoffnung setzt: „Wir werden sehen, ob uns schon die
Jugend, die wir brauchen, nachgewachsen ist die Jugend, welche
;

die Alten mitreißt, auf starken Armen hinausträgt und die Ver-
nunftgründe umsetzt in Begeisterung"; die Jugend, die den
Ruf, den Herzl in seinem „Judenstaate* ergehen ließ, mit folgender
Adresse im Mai 1896*) beantwortete Der Ruf, den Sie in
:

Ihrem „Judenstaate" an das jüdische Volk haben ergehen lassen,


findet einen mächtigen Widerhall in den Herzen von Tausenden
Ihrer Stammesgenossen. So alt wie unser Exil ist auch die
Sehnsucht unseres Volkes nach Freiheit; aber nur vereinzelt
waren die Stimmen, die diesem Wunsche lauten Ausdruck ge-
geben haben. Sie, hochverehrter Herr Doktor, haben den Mut
gehabt, diese Gefühle in klarer und prägnanter Weise auszu-
sprechen und den nationalen Bestrebungen unseres Volkes
neue und für die Zukunft verheißungsvolle Bahnen zu weisen.
Hiefür gebührt Ihnen der Dank der Nation, den die Gefertigten
— geistige Arbeiter des Judentums —
nicht besser dokumen-
tieren können, als indem Sie das Wiederaufrollen unserer
nationalen Fahne freudig begrüßen und sich in den Dienst der
heiligen Sache des jüdischen Volkes hingebungsvoll stellen".
Die Jugend hob Herzl auf ihr Schild und gab ihm Kraft
die Geschicke des Volkes zu lenken, die Jugend schwor Herzl
und dem Judenstaate Dienst und Treue, nun liegt es an der
Jugend, „daß aus dem Traum ein tagheller Gedanke wird",
daß Herzls Ideen im „Judenstaate" im Staate der Juden
verwirklicht werden.
*
Es war während des zweiten Baseler Kongresses. Da
stand Herzl mit den anwesenden Delegierten auf dem Balkon
des Kongreßhauses, als der Schweizer Festzug von St. Jacob
zurückkam, wo die Eidgenossen den Sieg über die Armagnacs
vom 26. August 1444 zu feiern pflegen. Seine königliche Er-
scheinung ergriff die Menge und als einige Delegierte „Hoch
die Schweiz" riefen, senkten sich die Fahnen des Zuges,
grüßten das vom Balkon flatternde blauweiße Banner und
brausend schallte es wohl zum ersten Male seit Jahrtausenden
herauf: „Hoch die Juden!" Wohl zum ersten Male seit Jahr-
tausenden senkte sich das Banner eines freien Volkes vor der
blauweißen Fahne und sandte dem jüdischen Volke Grüße der
Freiheit und der Verheißung, für die Herzl gerungen. Heute
ist uns Herzl die Fahne geworden, von der er dem Baron
Hirsch gesprochen, „mit der man die Menschen führt, selbst
ins Gelobte Land". Heute an der Schwelle der Wiedergeburt
wiederholen wir die Worte der Palästinenser an Herzl im
Jahre 1896 nach der Veröffentlichung des Judenstaates
*) Die Adresse wurde unterzeichnet von folgenden Verbindungen
Akademische Verbindung „Kadimah" in Wien Verbindung österr.-schles.
;

Hochschüler „Ivria" in Wien; Vereinigung jüd. Veter. -Med. „Libanonia" in


Wien; Akademische Verbindung „Hasmonäa in Czernowitz jüd akad. Ver-
;

bindung ,,Unitas" in Wien; Akademischer Verein „Gamalah" in Wien; Theo-


logischer Verein der Hörer an der isr. Theolog. Lehranstalt in Wien ; Aka-
demischer Verein „Humanitas" in Graz.
VI

..In der Geschichte des


jüdischen Volkes wird für alle
Zeiten ein Name goldenen Lettern glänzen, der Name des
in

Mannes, der durch seine herrliche Staatsschrift den Völkern


ein Friedensbote, seinem eigenen Stamme Licht und Leuchte
geworden.
Und mögen auch viele Jahre vergehen, ehe die große
Idee zur Verwirklichung wird, die treuen Söhne des jüdischen
Stammes werden voll Hoffnung und Zuversicht an den Ge-
danken des Judenstaates festhalten, werden mit tiefer
Dankbarkeit und N'erehrung an dem Manne hängen, der dem
alten Glauben neue Nahrung, der ererbten Hoffnung frische
Pflege gegeben, der seinem Volke ein begeisterter Sohn ge-
worden, ein weiser Lehrer und Kostspender."

DAVIS ERDTFMCHT.
WIR SIND EIN VOLK, EIN VOLK.
(THEODOR HERZL: „DER JUDENSTAAT")
Wir sind ein Volk, ein Volk.
Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns
umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur
den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man läßt es
nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen
Orten sogar überschwengliche Patrioten, vergebens
bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie
unsere Mitbürger, vergebens bemühen wir uns, den
Ruhm unserer Vaterländer und Wissen-
in Künsten
schaften, ihren Reichtum durch Handel und Verkehr
zu erhöhen. In unseren Vaterländern, in denen wir
ja auch schon seit Jahrhunderten wohnen, werden
wir als Fremdlinge ausgeschrieen; oft von solchen,
deren Geschlechter noch nicht im Lande waren, als
unsere Väter da schon seufzten. Wer der Fremde im
Lande ist, das kann die Mehrheit entscheiden es ist ;

eine Machtfrage, wie alles im Völkerverkehre. Ich


gebe nichts von unserem ersessenen guten Recht preis,
wenn ich das als ohnehin mandatloser Einzelner sage.
Im jetzigen Zustande der Welt und wohl noch in un-
absehbarer Zeit geht Macht vor Recht. Wir sind also
vergebens überall brave Patrioten, wie es die Hugenotten
waren, die zu wandern zwang. Wenn man uns
man
inRuhe ließe. . .

Aber ich glaube, man wird uns nicht in


Ruhe lassen.
Durch Druck und Verfolgung sind
wir nicht zu vertilgen. Kein Volk der Geschichte
hat solche Kämpfe und Leiden ausgehalten wie wir.
Die Judenhetzen haben immer mir unsere Schwäclilinge
zum Abfall bewogen. Die starken Juden kehren trotzig
zu ihrem Stamme heim, wenn die Verfolgungen aus-
brechen. Man hat das deutlich in der Zeit unmittelbar
nach der Judenemanzipation sehen können. Den geistig
und materiell h(>herstehonden Juden kam das Gefühl
der Zusaminen'.^eh()rigkeit gänzlich abhanden. Bei
einiger Dauer des politischen Wohlbefindens assimilieren
wir uns überall ; ich glaube, das ist nicht unrühmlich.
Der Staatsmann, der für seine Nation den jüdischen
Rasseneinschlag wünscht, mül5te daher für die Dauer
unseres politischen Wohlbefindens sorgen. Und selbst
Bismarck vermochte das nicht.
Denn tief im Volksgemüt sitzen alte Vorurteile
gegen uns. Wer sich davon Rechenschaft geben will,
braucht nur dahin zu horchen, wo das Volk sich auf-
richtig und einfach äußert: das Märciien und das
Sprichwort sind antisemitisch. Das Volk ist überall
ein großes Kind, das man freilich erziehen kann doch ;

diese Erziehung würde im günstigsten Falle so ungeheure


Zeiträume erfordern, daß wir uns, wie ich schon sagte,
vorher längst auf andere Weise können geholfen haben.
Wir sind ein Volk —
der Feind macht uns ohne
unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte
so war. In der Bedrängnis stehen wir zusammen, und
da entdecken wir plötzlich unsere Kraft. Ja, wir haben
die Kraft, einen Staat, und zwar einen Musterstaat zu
bilden. Wir haben alle menschlichen und sachlichen
.Mittel, die dazu nötig sind.
*

Wer untergehen kann, will und muß, der soll


untergehen. Die V ol k sp er so n I i c li ke i t der
Juden kann, will und muß aber nicht
untergehen. Sic kann nicht, weil äußere Feinde sie
zusammenhalten. Sie will nicht, das hat sie in zwei
Jahrtausenden unter ungeheuren Leiden bewiesen. Sie
muß nicht, das versuche ich in meiner Schrift nach
vielen anderen Juden, welche die Hoffnung nicht auf-
gaben, darzutun. Ganze Äste des Judentums können
absterben, abfallen; der Baum lebt.

Niemand ist stark oder reich genug, um ein Volk


von einem Wohnort nach einem anderen zu versetzen.
Das vermag nur eine Idee. Die Staatsidee hat wohl
eine solche Gewalt. Die Juden haben die ganze Nacht
hindurch nicht aufgehört, diesen königlichen Traum
zu träumen : „Übers Jahr in Jerusalem !" ist unser altes
Wort. Nun handelt es sich darum, zu zeigen, daß aus
dem Traum ein tagheller Gedanke werden kann.
* *

Zunächst muß es licht werden in den Köpfen.


Der Gedanke muß hinausfliegen bis in die letzten

jammervollen Nester, wo unsere Leute wohnen. Sie


werden aufwachen aus ihren dumpfen Brüten. Denn
in unser aller Leben kommt ein neuer hihalt. Jeder
braucht nur an sich selbst zu denken und der Zug
wird schon ein gewaltiger.
Und welcher Ruhm erwartet die selbstlosen
Kämpfer für die Sache!
Darum glaubeich, daß ein Geschlecht wunderbarer

Juden aus der Erde wachsen wird. Die Makkabäer


werden wieder aufstehen.
Noch einmal sei das Wort wiederholt : d e
i
J u de n,

die wollen, werden ihren Staat haben.


Wir sollen endlicli als freie Männer auf unserer
eigenen Scholle leben und in unserer eigenen Heimat
ruhig sterben.
Die Welt ui.d durch unsere Freiheit befreit, durch
unseren Reichtum bereichert und vergrößert durch
unsere Größe.
Und was wir dort nur für unser eigenes Ge-
deihen versuchen, wirkt machtvoll und beglückend
hinaus zum Wohle aller Mensc.^en.
MAX NORDAU :

Herzls Zionismus und „Judenstaat."


11

Theodor Herzls Gestalt wächst in dem Maße,

wie sie zeitlich in die Ferne rückt. Wir übersehen


heute besser sein Wollen als zur Zeit, da er es zuerst
ausdrückte. Wir erkennen die Entwicklungen, die von
ihm ausgehen und die bei seinem Auftreten kaum an-
gedeutet waren. Es gibt Verstä'^dnislose, die behaupten,
der Zionismus habe sich von Herzl wegentwickelt.
Andere prahlen hochnäsig, sie hätten im Zionismus
Herzl „überwunden", das heißt, sie wären über ihn
hinausgegangen.
Beide Gruppen beweisen lediglich, daß sie Herzl
nicht begriffen haben. Ein Zionismus, der von
sich
Herzl wegentwickelt, ist keiner ; denn Herzls Zionismus
will die Befreiung der jüdischen Masse aus der Zer-
streuung der Verbannung, dem Elend der Fremde, den
Höllenkreisen des Hasses, der Verachtung, der Ver-
folgung, der Verleumdung, er will die Sammlung der
umhergeschleuderten Glieder des jüdischen Volkes zu
einem verjüngten, lebenskräftigen, gesund und fröhlich
weiter wachsenden Organismus, der nach zweitausend-
jähriger Unterbrechung wieder in normale Daseins-
bedingungen versetzt ist, er will die Rückkehr des
wiedergeeinigten Judenvolkes in das Land seiner Väter
und die Fortsetzung seiner Dreitausendjährigen Ge-
schichte auf dem sicheren Boden, aus dem es die Kraft
zum neuen Sein und Wirken ziehen soll. Eine Be-
wegung, deren Ziele nicht innerhalb des Rahmens dieses
Programmes liegen würde, wäre kein Zionismus. Und
ebensowenig ist ein Zionismus denkbar, der über Herzl
12

hinausgeht. Wo hinaus? Höchstens ins Blaue, Phan-


tastische, Absurde. Wer mehr verlangt als die Wicder-
hersteUung des Judenvolkes in Palästina, mit eigenem
Land, eigener Kultur, eigener Sprache, eigenen poli-
tischen Geschicken, der ist nicht mehr ein zionistischer
Idealist, sondern, wenn aufrichtig, ein Narr, und wenn
unaufrichtig, ein verächtlicher demagogischer Phrasen-
drescher. Diejenigen, die sich rühmen, Herzl über-
wunden zu haben, sind meist solche Zionisten, deren
Zionismus sich mit dem Ausbau der bestehenden, be-
gonnenen oder geplanten palästinischen Einrichtungen,
der Schulen, Lelirfarmen, Pflanzungen, Arbeiterfie-
nossenschaften usw. begnügt, hi Wahrheit gehen sie
nicht über Herzl hinaus, sondern bleiben weit hinter
ihm zurück, einfach um die ganze Ausdehnung seiner
Idee. Was sie wollen, wollte Herzl auch, aber er wollte
noch viel mehr, was zu erfassen ihr enger und kleiner
Denn sein Streben ging auf das
Geist nicht ausreicht.
Ganze. Er träumte die Erlösung des ganzen jüdischen
Volkes und seine Wiedererstehung zu Ruhm und Ehre,
nicht die Niederlassung einiger tausend oder selbst
einiger hunderttausend Juden in einem arabischen Pa-
lästina, in das sie vorsichtig, auf den Fußspitzen,
äng>^tlich um sich lugend, hineinschleichen.
Es ist eine dankenswerte Tat, Herzls „Judenstaat"
dem jungen Geschlecht zugänglich zu machen, das seit
dem Beginn der zionistichen Bewegung heraufgekommen
ist und das ihre Anfänge nur ungenau, wie einen
Mythus, Aber es ist nötig, diesem Buche seinen
l-enrt.

genauen Platz im Lebenswerke Herzls anzuweisen und


dem Leser über seine Bedeutung keinen Zweifel zu lassen.
,,Der Judenstaat" ist ein idealistischer Höhenflug,
er ist kein politisch-nationales Programm. Er ist die
literarische Kristallisation der Stimmung, aus der der
Zionismus erwachsen sollte, er ist nicht die Darstellung
des Zionismus. Im „Judenstaat" hat Herzl sich seine
glühende Sehnsucht nach einem neuen, schönen, stolzen,
13

großen Dasein des Judenvolkes von der Seele ge-


schrieben. Er hat ein Ideal definiert, ohne sich bei der
Bahnung des Weges aufzuhalten, auf dem dieses Ideal
zu erreichen wäre. „Der Judenstaat" ist eine Dichtung,
die im Äther schwebt, nicht auf prosaischem, doch
festem Boden steht. Im „Judenstaat" träumt Herzl einen
malerischen Auszug aller Juden aus den Ländern des
Galuth, in soldatisch geordneten Scharen, womöglich
mit fliegenden Fahnen und mit Musik, eine kurzfristige
Abwicklung aller jüdischen wirtschaftlichen Existenzen,
eine bankmäßige Übertragung aller Vermögen in die
neue Heimat unter Mitwirkung der Regierungen und
Völker, von denen wir uns brüderlich und gerührt ver-
abschieden ; mit schwärmendem Blick sieht er uns in

Schiffe steigen, an deren Masten die Flagge des Juden-


staates im Winde flattert, und nach einer epischen Meer-
fahrt an einem fernen Gestade, in einer nicht genannten, geo-
graphisch nicht lokalisierten Insel, auf einem überseeischen
Kontinent, in einemTraumland „Irgendwo" landen, an
der Küste mit blumenumwundenen Triumphbogen, mit
jauchzenden Hymnen, mit weihevollen Feiern empfangen.
Schließen wir die Augen und schwelgen wir in
diesen Prophetengeschichten. Sie wollen keine Wirk-
lichkeit seinund sind es nicht.
Im „Judenstaat" war Herzl nur Dichter. Er blieb
in der hohen Sphäre außerhalb des Realen, wo die

Phantasie die Schwingen frei ausbreiten kann, ohne zu


fürchten, daß sie irgendwo anstößt. „Leicht beieinander
wohnen die Gedanken, doch hart im Räume stoßen
sich die Sachen". An dieses Schillerwort hat man zu
denken, wenn man den „Judenstaat" kritisch beurteilen
will. In diesem Buch „wohnen die Gedanken leicht
beieinander". Aber damit begnügte Herzl sich nicht. Er
wollte sich seine Aufgabe nicht bequem, nicht leicht
machen. Als er sein Lied der Sehnsucht ausgesungen
hatte, senkte er sich aus dem Äther auf die Erde herab,
in den Raum „wo die Sachen sich hart stoßen". Nach-
14

dem er trunken von ihm selbst heraufbe-


an der
schworenen zauberschönen Fata Morgana gehangen
hatte, richtete er den BMck auf das Gelände, das sich
vor ihm ausbreitete und suciite es als geduldiger, ge-
schickter, energischer Straßen- und Brückenbauer weg-
sam zu machen. Aus der Fabelinsel, dem Traum-
kontinent „Irgendwo" wurde Zion, die genau begrenzte
ottomanische Provinz Palästina, und aus dem mythischen
Auszug der Judenkolonnen, die langsame Vorbereitung
der Besiedlung von Erez Israel mit Hilfe der zionistischen
Weltorganisation, ihrer Finanz- und ihrer Kulturinstitute.
,,
Judenstaat" und Zionismus sind also nichtidentisch
und dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Ist

aber ein derartiges Mißverständnis, vor dem gewarnt


sei, vermieden , dann erlangt und behält „der Juden-
staat", seinen vollen Wert. Hier findet sich Herzls
Grundgedanke, ungehemmt durch praktische Rück-
sichten, voll ausgedrückt. Dieser Grundgedanke ist:

Erlösung des Judenvolkes, seine Verjüngung, seine Er-


höhung; kurz: „die Geulah".
An die Verwirklichung des Gedankens hat er
später gedacht. Das war die eigentlich zionistische
Phase seiner Entwicklung. Aber diese Phase wird erst
durch die frühere, rein ideale, ganz verständlich.
Um den eigentlichen Willen Herzls zu erfassen,
muß man den Judenstaat" kennen. Dieses Märchen
,,

durchleuchtetden Zionismus. Es klärt auf, was in


diesem Dunkel scheinen könnte. „Der Judenstaat" ist

der Schlüssel der zionistischen Organisation, der Kon-


gresse, der Kolonialbank, des Nationalfonds, der
Palästinaarbeit. Er verhält sich zum Zionismus, wie die
platonischen „Ideen" zu ihren Verkörperungen in der
Welt des Stoffes. Man kann aus ihm keine Richtlinien
für die praktische im Zionismus gewinnen,
Tätigkeit
wohl aber die Gesinnung, die aus gleichgültigen, zu-
kunftlosen, den Abfall zutreibenden Juden hoffnungs-
freudige, selbstvertrauende Zionisten macht.
THEODOR HERZL
über

die Judenfrage und den Judenstaat.


17

Die Notlage der Juden vv'ird niemand leugnen,


In allen Ländern, wo sie in merklicher Anzahl leben,
werden sie mehr oder weniger verfolgt. Die Gleich-
berechtigung ist Ungunsten fast überall
zu ihren
tatsächlich aufgehoben, wenn sie im Gesetze auch
existiert. Schon die mittelhohen Stellen im Heer, in
öffentlichen und privaten Ämtern sind ihnen unzugänglich.
Man versucht sie aus dem Geschäftsverkehr hinaus-
zudrängen : „Kauft nicht bei Juden !"

Die Angriffe in Parlamenten, Versammlungen.


Presse, auf Kirchenkanzeln, auf der Straße, auf Reisen —
Ausschließung aus gewissen Hotels und selbst an —
Unterhaltungsorten mehren sich von Tag zu Tag. Die
Verfolgungen haben verschiedenen Charakter nach
Ländern und Gesellschaftskreisen. In Rußland werden
Judendörfer gebrandschatzt, in Rumänien erschlägt
man ein paar Menschen, in Deutschland prügelt man
sie gelegentlich durch, in Östereich terrorisieren die
Antisemiten das ganze öffentliche Leben, in Algerien
treten Wanderhetzprediger auf, in Paris knöpft sich
die sogenannte bessere Gesellschaft zu, die Cercles
schließen sich gegen die Juden ab. Die Nuancen sind
zahllos. Es soll hier übrigens nicht eine wehleidige
Aufzählung aller jüdischen Beschwerden versucht
werden. Wir wollen uns nicht bei Einzelheiten auf-
halten, wie schmerzlich sie auch seien.
Ich beabsichtige nicht, eine gerührte Stimmung
für uns hervorzurufen. Das ist alles faul, vergeblich
und unwürdig. Ich begnüge mich, die Juden zu fragen»
18

ob es wahr ist, dab in den Ländern, wo wir in merk-


licher Anzahl wohnen, die Lage der jüdischen Advokaten,
Arzte. Techniker, Lehrer und Angestellten aller Art
immer unerträglicher wird? Ob es wahr, dal5 unser
ganzer jüdischer Mittelstand schwer bedroht ist? Ob
es wahr, daß gegen unsere Reichen alle Leiden-
schaften des F^öbels gehetzt werden? Ob es wahr,
dab unsere Armen viel härter leiden als jedes andere
Proletariat?
Ich glaube, der Druck ist überall vorhanden. In

den wirtschaftlich obersten Schichten der Juden be-


wirkt er ein Unbehagen. In den mittleren Schichten
ist es eine schwere dumpfe Beklommenheit. In den
unteren ist es die nackte Verzweiflung. '

ist, daß es überall auf dasselbe hinaus-


Tatsache
geht, und es läßt sich im klassischen Berliner Rufe
zusammenfassen Juden raus : !

ich werde nun die Judenfrage in ihrer knappsten


Form ausdrücken: Müssen wir schon „raus"? und
wohin?
Oder können wir noch bleiben? und wie lange?
Erledigen wir zuerst die Frage des Bleibens.
Können wir auf bessere Zeiten hoffen, uns in Geduld
fassen, mit Gottergebung abwarten, daß die Fürsten
und Völker der Erde in eine für uns gnädigere
Stimmung geraten? Ich sage, wir können keinen Um-
schwung der Strömung erwarten. Warum ? Die Fürsten --
selbst, wenn wir ihrem Herzen ebenso nahe stehen,
wie die anderen Bürger —
können uns nicht schützen.
Sie würden den Judenhaß indossieren, wenn sie den
Juden zuviel Wohlwollen bezeigten. Und unter diesem
„zuviel" ist weniger zu verstehen, als worauf jeder
gewöhnliche Bürger oder jeder Volksstamm Anspruch hat.
Die Völker, bei denen Juden wohnen, sind alle samt
und sonders verschämt oder unverschämt Antisemiten.
Das gewöhnliche Volk hat kein historisches Ver-
ständnis und kann keines haben. Es weiß nicht, daß
19

die Sünden des Mittelalters jetzt an den europäischen-


Völkern heimkommen. Wir sind, wozu man uns in den
Ghetti gemacht hat. Wir haben zweifellos eine Über-
legenheit im Geldgeschäfte erlangt, weil man uns im
Mittelalter darauf geworfen hat. Jetzt wiederholt sich
der gleiche Vorgang. Man drängt uns wieder ins
Geldgeschäft, das jetzt Börse heißt, indem man uns
alle anderen Erwerbszweige abbindet. Sind wir aber
in der Börse,so wird das wieder zur neuen Quelle
unserer Verächtlichkeit. Dabei produzieren wir rastlos
mittlere Intelligenzen, die keinen Abfluß haben und
dadurch eine ebensolche Gesellschaftsgefahr sind, wie
die wachsenden Vermögen. Die gebildeten und besitz-
losen Juden fallen jetzt alle dem Sozialismus zu. Die
soziale Schlacht müßte also jedenfalls auf unserem
Rücken geschlagen werden, weil wir im kapitalistischen
wie im sozialistischen Lager auf den exponiertesten
Punkten stehen.
*

DerGedanke, den ich in m ein e r Schrift


ausführe, ist ein uralter. Es ist die Her-
stellung des Juden Staates.
Die Welt widerhallt vom Geschrei gegen die Juden,
und das weckt den eingeschlummerten Gedanken auf.

Ich erfinde nichts,, das wolle man sich 'vor allem


und auf jedem Punkte meiner Ausführungen deutlich
vor Augen halten. Ich erfinde weder die geschichtlich
gewordenen Zustände der Juden, noch die Mittel zur
Abhilfe. Die materi,ellen Bestandteile des Baues, den
ich entwerfe, sind in der Wirklichkeit vorhanden, sind
mit Händen zu greifen ;
jeder kann sich davon über-
zeugen. Will man also diesen Versuch einer Lösung
der Judenfrage mit einem Worte kennzeichnen, so
darf man ihn nicht „Phantasie" sondern höchstens
„Kombination" nennen.
Gegen die Behandlung als Utopie muß ich meinen
Entwurf zuerst verteidigen. Eigentlich bewahre ich
20

damit mir die oberflächlichen Beurteiler vor einer


Albernheit, die sie begehen könnten. Es wäre ja keine
Schande, eine menschenfreundliche Utopie geschrieben zu
haben. Ich könnte mir auch einen leichteren literarischen
Erfolg bereiten, wenn ich für Leser, die sich unterhalten
wollen, diesen Plan in den gleichsam unverantwortlichen
Vortrag eines Romans brächte. Aber das ist keine
solche liebenswürdige Utopie, wie man sie vor und nach
Thomas Morus so häufig produziert hat. Und ich glaube,
die Lage der Juden in verschiedenen Ländern ist arg
genug, um cinleitendeTändeleien überflüssig zu machen.
Um den Unterschied zwischen meiner Konstruktion
und einer Utopie erkennbar zu machen, wähle ich
ein interessantes Buch der letzten Jahre : „Freiland"
von Dr. Theodor Hertzka. Das ist eine sinnreiche
Phantasterei, von einem durchaus modernen, national-
ökonomisch gebildeten Geist erdacht, und so lebensfern,
wie der Äquatorberg, auf dem dieser Traumstaat
liegt. „Freiland" ist eine komplizierte Maschinerie mit
vielen Zähnen und Rädern, die sogar ineinander greifen;
aber nichts beweist mir, daß sie in Betrieb gesetzt
werden könne. Und selbst, wenn ich Freilands-Vereine
entstehen sehe, werde ich es für einen Scherz halten.
Hingegen enthält der vorliegende Entwurf die
Verwendung einer in der Wirklichkeit vorkommenden
Treibkraft, Die Zähne und Räder der zu bauenden
Maschine deute ich nur an, in aller Bescheidenheit,
unter Hinweis auf meine Unzulänglichkeit und im Ver-
trauen darauf, daß es bessere ausführende Mechaniker
geben wird, als ich einer bin.
Auf die treibende Kraft kommt es an.
Und was ist diese Kraft? D e J u d e n n o i t.

Wer wagt zu leugnen, dali diese Kraft vorhanden


sei? Wir werden uns damit im Kapitel über die
Gründe des Antisemitismus beschäftigen.
Man kannte auch die Dampfkraft, die im Tee-
kessel durch Erhitzung des Wassers entstand und den
21

Deckel hob. Diese Teekesselerscheinung sind die


zionistischen Versuche und viele andere Formen der
Vereinigung „zur Abwehr des Antisemitismus". -

Nun sage ich, daß diese Kraft, richtig verwendet,


mächtig genug ist, eine große Maschine zu treiben,
Menschen und Güter zu befördern. Die Maschine mag
aussehen, wie man will.

bin im Tiefsten davon überzeugt, daß ich


Ich
Recht habe —
ich weiß nicht, ob ich in der Zeit
meines Lebens Recht behalten werde. Die ersten
Männer, welche diese Bewegung beginnen,
werden schwerlich ihr ruhmvolles Ende
sehen. Aber schon durch das Beginnen
kommt ein hoher Stolz und das Glück der
innerlichen Freiheit in ihr Dasein.
Um den Entwurf vor dem Verdacht der Utopie
zu schützen, will ich auch sparsam sein mit malerischen
Details der Schilderung. Ichdaßvermute ohnehin,
gedankenloser Spott durch von mir
Zerrbilder des
Entworfenen das Ganze zu entkräften versuchen wird.
Ein im übrigen gescheiter Jude, dem ich die ganze
Sache vortrug, meinte : „das als wirklich dargestellte
zukünftige Detail sei das Merkmal der Utopie." Das
ist falsch. Jeder Finanzminister rechnet in seinem
Staatsvoranschlage mit zukünftigen Ziffern und nicht
nur mit solchen, die er aus dem Durchschnitt früherer
Jahre oder aus anderen vergangenen und in anderen
Staaten vorkommenden Erträgen konstruiert, sondern
auch mit präzedenzlosen Ziffern, beispielsweise bei
Einführung einer neuen Steuer. Man muß nie ein Budget
angesehen haben, um das nicht zu wissen. Wird man
darum einen Finanzgesetzeritwurf für eine Utopie halten,

selbst wenn man weiß, daß der Voranschlag nie ganz


genau eingehalten werden kann ?
Aber ich stelle noch härtere Zumutungen an meine
Leser, ich verlange von den Gebildeten, an die ich
mich wende, ein Umdenken und Umlernen mancher
22

alten Vorstellung. Und gerade den besten Juden, die


sich um Lösung der Judenfrage tätig bemüht haben^
die
mute ich zu, ihre bisherigen Versuche als verfehlt und
unwirksam anzusehen.
In der Darstellung der Idee habe ich mit einer
Gefahr zu kämpfen. Wenn ich all' die in der Zukunft
liegenden Dinge zurückhaltend sage, wird es scheinen,
als glaubte ich selbst nicht an ihre Möglichkeit. Wenn
ich dagegen die Verwirklichung vorbehaltlos ankündige,
wird alles vielleicht wie ein Hirngespinst aussehen.
Darum sage ich deutlich und fest: ich glaube an
die Möglichkeit wenn ich mich auch
der Ausführung,
nicht vermesse, die endgültige Form des Gedankens ge-
funden zu haben. Der Juden Staat ist ein Welt-
bedürfnis, folglich wird er entstehen.
Von irgend einem Einzelnen betrieben, wäre es
eine recht verrückte Geschichte — aber wenn viele

Juden gleichzeitig darauf eingehen, ist es vollkommen


vernünftig, und die Durchführung bietet keine nennens-
werten Schwierigkeiten. Die Idee hängt nur von der
Zahl ihrer Anhänger ab. Vielleicht werden
unsere aufstrebenden jungen Leute, denen
jetzt schon alle Wege versperrt sind, und
denen sich im Juden Staate die sonnige
Aussicht auf Ehre, Freiheit und Glück er-
öffnet, die Verbreitung der Idee besorgen.
ist das, was ich sage, heute noch nicht richtig?
Bin ich meiner Zeit voraus? Sind die Leiden der Juden
noch nicht groß genug? Wir werden sehen.
Es hängt also von den Juden selbst
ab, ob diese Staatsschrift vorläufig nurein
Staa t s r m a 11 ist. Wenn d i c j e t z i ge Gene-
ration noch zu dumpf ist, wird eine andere,
höhere, bessere kommen. Die Juden, die
wol len, werden ihren Staat haben, und sie
werden ihn verdiene n.
ISRAEL ZANGWIL L:
Zwei Träumer des Ghettos.
(Two Dreamers of the Ghetto.)
25

de n st aat" ist einBuch, das ewig leben


Herzls „J u
wird — wenn auch nur ein Museumleben weil es —
weit mit der edelsten Gestalt des modernen jüdischen
Lebens verknüpft ist und das Vorspiel dessen wichtigster
Bewegung ist. Es gibt Bücher, die, wie Rousseaus
Contract Social, durch ihre Wirkung auf die Welt
leben, Herzls Judenstaat wird kraft seiner Wirkung
auf Herzl leben. Der Einfluß des Buches auf Juda war
unbedeutend, selbst in seiner ersten Frische, und jetzt

ist es bereits veraltet. Was die Judenheit zur Tat be-


geisterte, das war Herzl der Mensch, und was Herzl
zur Tat begeisterte, das war Herzls Buch, Er schrieb
es lediglich als Flugschriftenschreiber, der an die
Männer der Tat appelliert, dessen Arbeit mit der Rück-
sendung der letzten Korrekturen an den Drucker be-
endigt ist, aber er war der einzige Mann der Tat, den
es entflammte. Das Buch entdeckte Herzl für Herzl,
es führte ihn zur Führerschaft. Ohne Herzl würde es
keine zionistische Bewegung gegeben haben, aber ohne
den „Juden Staat" würde es auch keinen Herzl ge-
geben haben — daher das historische Interesse dieses
Buches,
Aber wenn es ohne den Judenstaat keinen Herzl
— in irgend einer jüdischen Beziehung gegeben —
hätte, so würde es ohne Fr eil and keinen Juden-
staat gegeben haben. Denn
Jahre, ehe
einige
Dr. Theodor Herzl den „J u d e n sta at" schrieb, hatte
Dr. Theodor H e r t z k a „Freiland, ein soziales Zu-
kunftsbild", veröffentlicht, ein Bild einer idealen Re-
26

publik, das in ganz Österreich und Deutschland be-


deutendos Aufsehen erre<;te und soc;ar zur Bildung von
Lokalgruppen behufs Gründung einer hiternationalen
Freiland-Gesellschaft führte. Das Zusammentreffen
Dr. TheodorHerzls und Dr.TheodorHertzkasbeschränkte
sich nicht auf ihre Namen. Beide waren Wiener, beide
waren Juden, beide waren in dem Stab der „Neue
Freie Presse" tätig. Dr. Hertzka war volkswirtschaft-
licher Redakteur, Dr. Herzl war Pariser Korrespondent.
Der Dreyfus-Fall verschärfte den stimulierenden An-
prall des Hertzka'schen Buches auf Herzls Seele; im

Hotel de Castile zu Paris, als die Dreyfus-Agitation


auf der Höhe stand, geschc^h es, daß Herzl in einem
Fieber prophetischer Übererregung seinen Juden-
staat ausströmen ließ, mit seinem Ruf an die Juden,
sich behufs Abwanderung von Europa nach irgend
einem jüdischen Gebiet, zu organisieren. Es ist ein

abstrakter Territorialismus, dem es nicht nur an


historischen, sondern auch an realen Beziehungen ge-
bricht, nicht auf irgendwelcher beobachteten oder
möglichen Auswanderungsbewegung basiert, sondern
auf reiner Phantasie, ohne jegliche Angabe wie das
eine oder andere der alternativen Territorien — Palästina
oder Argentinien, die beide nicht feil waren — zu er-
werben sei. Dr. Hertzkas Utopia oder Atlantis spielte

sich in Britisch-Ostafrikaund der lange Arm des


ab
Zusammentreffens der Dinge, der diese zwei Träumer
umhalste, fügte es tatsächlich, daß Britisch-Ostafrika
— das sogenannte Uganda der Zionisten die Region —
war, in der Dr. Herzl seine jüdische Kolonie zu er-
richten aufgefordert wurde. Es scheint, daß die Ge-
schichte den Hertzka ebenso sehr kopierte, als Herzl

ihn selbst.
Habent sua fata libelli. Und wenn trotz

des Paradierens von Finanzwesen und Volkswirtschaft,


die Verfasser von „Freiland" und des „Judenstaat"
beide gleiche Ideologen waren, gleiche Träumer des
27

Ghetto, gleiche nicht mit derReahtät rechnende Verein-


facher des tragischen Lebenskomplexes, gleiche enthu-
siastische Ruhmredner der MögÜchkeiien unserer er-
bärmlichen Humanität, die in gleicher Weise sich
fangen litßen durch den Scheinprurk einer Zivilisation
und Kultur, die lediglich der Firniß des Christentums
sind, so war es dennoch beiden beschieden, keine
tote Saat auszustreuen, wenn auch die Frucht nicht
die war, die der Säemann erwartet hatte. Aber während
Hertzkas praktische Errungenschaft nur mitte bar durch
seine Inspiration Herzls kam, steht dieser Pariser
Korrespondent und Wiener Dramatiker, dem Juden
und Judentum fremd sind, dessen Judenstaat mehr
Hcrtzka als Hebraika ist, heute inmitten derer, die „die
Weltgeschichte machen". Weil er das, was Hertzka für
die Menschheit wollte, auf Judah einengte, konnte er
es nicht vermeiden auf das Reale zu stoßen. Während
Hertzka sich in kosmopolitischen Visionen verlor, geriet
Herzl auf die Solidarität der jüdischen Rasse und die
alte Leidenschaft für Palästina. Diese unauslöschbaren
Instinkte seines Volkes nahmen ihn gefangen und
machten ihn zu ihrem Werkzeuge. Nur indem er ein-
willigte ihnen zu folgen, konnte er führen, und seine
vorzeitige Unsterblichkeit entfernt die letzte Schranke,
die dnselben hindernd im Wege stand. Herzls Be-
wegung hat eine vollständige Metamorphose durch-
gemacht. Nicht mehr gibt es unter Zionisten eine Frage
der Massenauswanderung nach Palästina oder
sonstwohin. Aber wenn der jüdische Wille zum Leben
• jetzt Aussicht hat die gefährlichste Krisis in der ganzen,
langen jüdischen Geschichte zu überwinden, so liegt

dies überwiegend an dem Leben und an dem Tode


Theodor Herzls.
HERZLS
Gedanken im „Judenstaat",
31

Es ist ein heimlicher Jammer der Assimilierten,


der sich in „wohltätigen" Unternehmungen Luft macht.
Sie gründen Auswanderungsvereine für zureisende Juden.
Diese Erscheinung enthält einen Gegensinn, den man
komisch finden könnte, wenn es sich nicht um leidende
Menschen handelte. Einzelne dieser Unterstützungs-
vereine sind nicht für, sondern gegen die verfolgten
Juden da. Die Ärmsten sollen nur recht schnell, recht
weit weggeschaft werden. Und so entdeckt man
bei aufmerksamer Betrachtung, daß man-
cher scheinbare Judenfreund nur ein als
Wohltäter verkleideter Antisemit jüdi-
schen Ursprungs ist.

Die staatsbildende Bewegung, die ich vorschlage,


würde den israelitischen Franzosen ebensowenig
schaden, wie den „Assimilierten" anderer Länder.
Nützen würde sie ihnen im Gegenteile, nützen! Denn
sie wären in ihrer „chromatischen Funktion", um Dar-
wins Wort zu gebrauchen, nicht mehr gestört. Sie
könnten sich ruhig assimilieren, weil der jetzige Anti-
semitismus für immer zum Stillstand gebracht wäre.
Man würde es ihnen auch glauben, daß sie bis ins
Innerste ihrer Seele assimiliert sind, wenn der neue
Judenstaat mit seinen besseren Einrichtungen zur
Wahrheit geworden ist und sie dennoch bleiben, wo
sie jetzt wohnen.
32

Es ziehen immer nur diejenigen, die sicher sind,


ihre Lage dadurch zu verbessern. Erst die Verzweifelten,
dann die Armen, dann die Wohlhabenden, dann die
Reichen. Die Vorangegangenen erheben sich in die
höhere Schichte, bis diese letztere ihre Angehörigen
nachschickt. Die Wanderung ist zugleich eine auf-
steigende Klassenbewegung.
Und hinter den abziehenden Juden entstehen
keine wirtschaftlichen Störungen, keine Krisen und
Verfolgungen, sondern es beginnt eine F^eriode der
Wohlfahrt für die verlassenen Länder. Es tritt eine
innere Wanderung der christlichen Staatsbürger in die
aufgegebenen Positionen der Juden ein. Der Abfluß ist
ein allmählicher, ohne jede Erschütterung, und schon
sein Beginn ist das Ende des Antisemitismus. Die
Juden scheiden als geachtete Freunde und wenn ein-
zelne dann zurückkommen, wird man sie in den zivi-
lisierten Ländern genau so wohlwollend aufnehmen
und behandeln wie andere fremde Staatsangehörige.
Diese Wanderung ist auch keine Flucht, sondern ein
geordneter Zug unter der Kontrolle der öffentlichen
Meinung. Die Bewegung ist nicht nur mit vollkommen
gesetzlichen Mitteln einzuleiten, sie kann überhaupt
nur durchgeführt werden unter freundlicherMitwirkung
der beteiligten Regierungen, die davon wesentliche
Vorteile haben.
* *
*

In der jüdischen Finanzmacht schlummern noch


sehr viele ungenützte politische Kräfte. Von den Feinden
des Judentums wird diese Finanzmacht als zu wirk-
sam dargestellt, wie sie sein könnte, aber tatsächlich
nicht ist. Die armen Juden spüren nur den Haß, den
diese Finanzmacht erregt; den Nutzen, die Linderung
ihrer Leiden, welche bewirkt werden könnte, haben die
armen Juden nicht. Die Kreditpolitik der großen Finanz-
juden müßte sich in den Dienst der Volksidee stellen.
Finden aber diese mit ihrer Lage ganz zufriedenen
33

Herren sich nicht bewogen, etwas für ihre Stammes-


brüder zu tun, die man mit Unrecht für die großen
Vermögen Einzelner verantwortlich macht, so wird die
Verwirklichung dieses Planes Gelegenheit geben, eine
reinliche Scheidung zwischen ihnen und dem übrigen
Teile des Judentums durchzuführen.
Die Sache wird dennoch vielleicht nicht den kost-
baren Beifall der jüdischen Geldmagnaten finden. Diese
werden sogar vielleicht durch ihre geheimen Knechte
und Agenten den Kampf gegen unsere Judenbewegung
einzuleiten versuchen. .Einen solchen Kampf werden wir
wie jeden anderen, der uns aufgezwungen wird, mit
schonungsloser Härte führen.

Nicht nur die armen kleinen Juden, sondern auch


die Christen, welche die Juden loshaben wollen, werden
sich an dieser in ganz kleine Teile zerlegten Geldbe-
schaffung beteiligen. Eswäre eine eigentümliche und
neue Form des Plebiszites, wobei jeder, der sich für
diese Lösungsform der Judenfrage aussprechen will,
seine Meinung durch eine bedingte Subskription äußern
könnte. In der Bedingung liegt die gute Sicherheit.

Wir wollen den Juden eine Heimat geben. Nicl


indem wir sie mit ihrem ganzen Wurzelwerk vorsichtig
ausheben und in einen besseren Boden übersetzen
So wie wir im Wirtschaftlichen und Politischen neue
Verhähnisse schaffen wollen, so gedenken wir im Ge-
mütlichen alles Alte heilig zu halten.

Wenn die Bewegung entsteht, werden wir die


Einen nachziehen, die Anderen uns nachfließen lassen,
die Dritten werden mitgerissen und die Vierten wird
man uns nachdrängen. Diese, die zögernden späten
Nachzügler werden hüben und drüben am schlechtesten
daran sein.
34

Aber die ersten, die gläubig, begeistert und tapfer


hinübergehen, werden die besten Plätze haben.

Wer nicht mit will, mag dableiben. Der Wider-


spruch einzelner Individuen ist gleichgültig.
Wer mit will, stelle sich hinter unsere Fahne und
kämpfe für sie in Wort, Schrift und Tat.

Palästina ist unsere unvergeßliche historische


Heimat. Dieser Name allein wäre ein gewaltig ergrei-
fender Sammelruf für unser Volk. Für Europa würden
wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden,
wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die
Barbarei besorgen. Wir würden als neutraler Staat im
Zusammenhange bleiben mit ganz Europa, das unsere
Existenz garantieren müßte. Für die heiligen Stätten
der Christenheit ließe sich eine völkerrechtliche Form
der Exterritorialisierung finden. Wir würden die Ehren-
wache um die heiligen Stätten bilden und mit unserer
Existenz für die Erfüllung dieser Pflicht haften. Diese
Ehrenwacht wäre das große Symbol für die Lösung
der Judenfrage nach achtzehn für uns qualvollen Jahr-
hunderten.

• Indem ich zur Vernunft spreche, weiß ich dennoch


wohl, daß die Vernunft allein nicht genügt. Alte Ge-
fangene gehen nicht gerne aus dem Kerker. Wir werden
sehen, ob uns schon die Jugend, die wir brauchen,
nachgewachsen ist; die Jugend, welche die Alten mit-
reißt, auf starken Armen hinausträgt und die Vernunft-

gründe umsetzt in Begeisterung.


PROF. DR OTTO WARBURG:
(Vorsitzender des Aktions-Comitees
der zionistischen Weltorganisation.)

Theodor Herzls ,, Judenstaat".


37

Der „Judenstaat" sollte jedem jungen Zionisten


in Hand gedrückt werden, nicht nur um ihm
die zu
zeigen, was der Zionismus ist, sondern um ihn zu
belehren, wie der Zionismus dazu gelangte, sich eine
feste Organisation zu schaffen.
ts ist durchaus irrig, wie dies häufig — nicht
immer in gutem Glauben — von den Gegnern des
Zionismus geschieht, daß der „Juden-
zu behaupten,
staat'' die Quintessenz des Zionismus darstellt, oder
doch wenigstens die Grundlage, auf der sich der
Zionismus aufbaut. Der Zionismus ist vielmehr, wie
jeder, der sich mit dieser Frage befaßt hat, weiß, weit
älteren Datums als der Judenstaat, und auch theoretisch
war er schon einigermaßen durchgebildet, als Herzl

begann, sich für jüdische Dinge zu interessieren.


Wenngleich Herzl mit den betreffenden Schriften und
Ideengängen zu jener Zeit nicht vertraut war, so war
doch der Begriff des Zionismus schon zu ihm ge-
drungen, denn er schreibt in dem „Plan zum Juden-
staat" „Es ist töricht auf alte Kulturstufen zurück-
:

zukehren, wie es manche Zionisten möchten" und im


Jahre 1896, als sein „Judenstaat" soeben erschienen
war, unterscheidet Herzl in seiner Rede im Londoner
Makkabäerklub schon deutlich zwischen wohltätigem
und politischem Zionismus.
Andererseits kann es nicht zweifelhaft sein, daß
ohne Herzls im „Judenstaat" zusammengefaßtes Pro-
gramm sich die Anhänger des politischen Zionismus
nicht sobald zu einer geschlossenen Gruppe vereinigt
38

haben würden und nicht imstande gewesen wären,


sich in den Zionistenkongressen eine wirkHch sichtbare
wenn es Herzl persönhch
Phittforni zu schaffen, selbst
nicht an Bemühungen hätte fehlen lassen. Aber auch
das letztere ist kaum anzunehmen, denn schwerlich
wäre Herzl dazu gelangt, eine volle Lebensarbeit dem
großen Gedanken des Zionismus zu widmen, und
sicher hätte er nicht die Kraft gefunden, alle die ihm
als feingebildeten, aufs innigste mit journalistischen
Assimilantenkreisen verknüpften Westjuden angelegten
Fesseln zu zersprengen, um
zum Führer sich ganz
reinen unverfälschten Judentums aufzuschwingen, wenn
er nicht in sicli bei den Vorarbeiten zum „Judenstaat"
die Kräfte hierzu gesammelt hätte, und wenn ihm nicht
während diiser Arbeit hieran das große Erlebnis der
inneren Umwandlung zuteil geworden wäre. Während
der Schöpfung der Grundlagen seines „Judenstaates"
durchschauerte ihn die Idee seiner Mission zur Rettung
des Judentums, damals, im Juni 1895, erhielt er die
Weihe der Führerschaft und reifte zum Vorkämpfer
der jüdischen Volksidee heran.
In seiner Selbstbiographie sagt er, anknüpfend
an Heine, der die Schwingen eines Adlers über seinem
Haupte rauschen liörte, als er gewisse Verse nieder-
schrieb: Jch glaubte auch an so etwas wie ein
Rauschen über meinem Haupte, als ich dieses Buch
schrieb. Icherinnere mich nicht je etwas in so er-
habener Gemütsstimmung wie dieses Buch geschrieben
zu haben. Ich arbeitete an ihm täglich, bis ich ganz
erschöpft war.'* Und in seinem Tagebuch, das er
gleichfalls im Jahre 1895 zu führen begann, bezeichnet
er diese für die Geschichte des Judentums so be-
deutungsvolle Zeit als „Wochen einer beispiellosen
Produktion, in denen ich die Einfälle nicht mehr ruhig
ins Reine schreiben konnte. Ich schrieb gehend, stehend,
liegend, auf der Gasse, bei Tisch, bei Nacht, wenn
es mich aus dem Schlaf aufjagte".
39

In der am 3. Juli 1914, zu Hcrzls 10. Todestage


erschienenen Herzl-Nummer der Welt hat Prof. Leon
Kellner einige dieser in den Originalzetteln erhaltenen
und von Herzls Vater sorgfällig im Tagebuch ab-
geschriebenen „Einfälle" veröffentlicht. Nur einige
v^enige, da, wie Kellner bemerkt, die Zeit für einen
vollständigen Abdruck seiner „Einfälle" noch nicht ge-
kommen sei; noch sei die Gestalt Herzls im Gedächtnis
vieler Zeitgenossen zu sehr mit irdischen Unvoll-
kommenheiten behaftet und sein Wollen noch nicht
ganz den Tagesinteressen entrückt. Das war vor dem
Weltkrieg. Sollte nicht auch in dieser Bezehung der
Krieg als Reinigungsbad gewirkt haben? Sollte nicht,
wenn erst wieder ruhige Verhältnisse eingetreten sein
werden, das Biid Herzls, geläutert und von allen
Schlacken befreit, so hoch über jedem Irdischen
schweben, daß auch die Veröffentlichung der ge-
samten „Einfälle zum Judenstaat" nicht weiter heraus-
geschoben werden braucht? Sie werden wie Kellner
schreibt, „den besten Kommentar zum Judenstaat"
bilden. In jenen Tagen, im Juni des Jahres 1895, den
Kellner wohl mit Recht als den „Wonnemond im '

Leben Herzls bezeichnete, kam das Stärkste, Tiefste,


Innerste dieser seltenen Menschenpflanze ans Licht:
,,Was an Erbgut aus dem Schöße der jüdischen Ver-
gangenheit in seiner Seele schlummerte, was er von
dem geschäftskundigen zugreifenden Vater an Taten-
drang, von der sinnigen Mutter an hoheilsvollem
Wesen übernomme:i, was er selbst an Erkenntnis er-
worben —
das alles trieb damals Blüte und
hatte
Blatt Die Gedanken zum „Judenstaat" wurden geboren.
Der „Judenstaat" war als Konzeption in seinem Kopf
fertig; Einzelheiten blitzten mehrere Wochen hindurch
in mächtigen gewittcrartigen Entladungen in ihm auf,

und er war Tag und Nacht mit dem schriftlichen


Festhalten der „Einfälle" beschäftigt. Er schrieb auf
losen Oktavzetteln in der Kan.mer, in der Oper, auf
AO

dem Telegraphenamt, im Bois de Boulogiic, im Garten


des Palais Royal, im \Vaü;en, beim Grand Prix. Großes
und Kleines, Reifstes und Embryonales, Sachliches und
Alierperaönlithstes, man findet die unglaublichsten
Gegensätze in diesen Notizen hart nebeneinander.''
Nur selten wird man den Werdegang einer großen
Arbeit so genau verfolgen können wie das bei Herzls
„Judenstaal" der Fall ist durch Vergleich mit den
„Einfällen", zumal wir ja auch aus seiner Unterhaltung
mit Baron Hirsch vom Pfingstsonntag (2. Juni 1895)
und seinen Brief an ihn vom Pfingstmontag (3. Juni)
eini.;ermaßen erkennen können, wieweit seine Ideen
schon konkrete Gestalt angenommen halten, bevor er
an seine eigentliche Gedankenarbeit herantrat. Ver-
gleichen wir aber dann die „Einfälle" mit dem vollendeten
„Judenstaat", so erkennen wir wiederum, wie viele

seiner Gedankenkeime er fallen gelassen oder auf


andere Gelegenheiten (wie z. B. Altneuland, seine
Feuilletons etc.) verschoben hat, um seinen „Judenstaat'*
nicht mit Dingen zu belasten, die nicht in strengem
Sinne hineingehören. In den ,, Einfällen" hat HerzI ab-
sichtlich auf jede Selbstkritik verzichtet, er lief5, wie
er selbst schreibt „Übertreibungen und Träume zwischen
seinen praktischen, und gesetzgeberischen
politischen
Einfällen wachsen, wie grünes Gras zwischen Pflaster-
steinen „Icii durfte mich nicht aufs Nüchterne herunter-
schrauben. Dieser leichte Rausch war notwendig. Ja,
Künstler werden das ganz verstehen. Aber es gibt so
wenig Künstler."
Von diesem Rausch merkt der unbefangene Leser
im Judenstaat kaum etwas, äußerlich ist es eine ge-
wissenhaft' kritische Durcharbeitung der Hauptgedanken;
aus dem Gewimmel seiner ,
.Einfälle" kristallisierten

sich die Hauptidecn zu einem schön gerundeten Kunst-


werk heraus. Aber innerlich ist der Rausch doch
unverkennbar, und mit Recht sagt daher Nordau
„Der Judenstaat ist eine Dichtung, die im Äther
41

schwebt, nicht auf doch festem Boden


prosaischem,
steht." Herzl war das nicht bewußt; er war
selbst
überzeugt davon, daß er eine prophetische Mission
durchzuführen habe und mit aller Macht, vielleicht
aber doch etwas im Widerspruch mit seiner eigenen
inneren Überzeugung, sträubte er sich dagegen, nur
ein Kunstwerk zustande gebracht zu haben. Schon in

der Einleitung wehrt er sich gegen den Verdacht der


Utopie und ist „im Tiefsten davon überzeugt" Recht
zu haben und rechnet auf das Bestimmteste mit einem
„ruhmvollen Ende", wenn auch die ersten Männer,
welche diese Bewegung beginnen, schwerlich ihr
ruhmvolles Ende sehen werden. Aus diesem Satz
erkennt man schon aufs deutlichste, was er will;
eine Bewegung schaffen zur Ausführung nicht seiner
„Phantasie", sondern höchstens seiner „Kombination",
noch besser seines auf materieller Grundlage errichteten
„Versuchs einer Lösung der Judenfrage".
Zuerst wollte er die Schrift nur als Manuskript
drucken lassen, um sie unter seine Freunde und an
Leute zu verteilen, die sich dafür interessieren könnten;
dachte er doch noch immer daran, Baron Hirsch
hierfür zu gewinnen. „Die Veröffentlichung", schreibt
er, „habe ich erst später ins Auge gefaßt, ich hatte
nicht die Absicht, eine persönliche Agitation für die
jüdische Sache zu beginnen. . . Ich behandelte die
ganze Sache nur als eine solche, in der man handeln,
aber nicht disputieren müsse. Öffentliche Agitation
sollte nur mein letztes Auskunftsmittel werden, wenn

man meinen gegebenen Rat nicht anhörte oder


privat
nicht befolgte." in seiner Vorrede der veröffent-
Auch
lichten Schrift heißt es noch: „Ich selbst halte meine
Aufgabe nach der Publikation dieser Schrift für erledigt.
Ich werde das Wort überhaupt nur noch nehmen,
wenn Angriffe beachtenswerter Gegner mich dazu
zwingen, oder wenn es gilt, unvorhergesehene Einwände
zu widerlegen, Irrtümer zu beseitigen."
42

Er fühlte sich also auch damals noch einzig als


Mann und war sich selbst noch nicht be-
der Feder,
wuLU,daß es für ihn ein „Zurück" nicht mehr gab.
Noch nach dem ersten Kongreß schiieb er: „Vom
Schreibtisch unserer Arbeitsstube sind wir aufgestanden,
als draußen der Judenlärm zu arg wurde. Wir mußten
zu unserm Volk herausgehen, weil es in der Not ist

und ohne Führung nicht helfen kann.


sich Wir . .

selber haben nur den einen Wunsch dahin zurück- :

zukehren, woher wir kamen, an den Schreibtisch."


Aber dennoch ist es verkehrt, zu glauben, daß
die Idee bei ihm zuerst der „Einfall" eines Journalisten
gewesen sei; im Gegenteil, von Anfang war ihm bitter
ernst dabei zu Mute, die Idee des ,,
Judenstaates"
entsprang nicht einer zusammen-
mit seinem Beruf
hängenden gewohnheitsmäßiger Zusammenfügung zu-
fälliger Gedanken, sondern sie entquoll seinem Herzen,
seinem verborgenen inneren Wesen, den uralten, ihm
vorher selbst kaum mehr so klar gewesenen Zusammen-
hängen mit seinem Stamme und dessen Geschichte.
Daher konnte er sich auch nicht mehr von seiner Idee
trennen und losreißen er modifizierte und ergänzte
;

sie später zwar bedeutend in der gemeinsamen Arbeit

mit andern hervorragenden Zionisten, aber die Grund-


lage erhielt sich in ihm doch unversehrt. Die staat-
lichen, sozialen und ethischen Gedanken, die Herzl
in seinem ,,
Judenstaat" in so reicher Fülle, einige
sogar seiner Zeit vorauseilend, darbietet, beherrschten
ihn auch später, und wenn das Uganda-Projekt auf
einen so erbitterten Widerstand stieß, so ist dies teil-

weise dadurch zu erklären, daß man bei ihm einen


Rückfall in seine Judenstaatsideen argwöhnte. Denn
in dieser Schrift behandelt er Palästina und Argentinien
als gleichwertige Möglichkeiten ; wenn nicht auch von
andern Gebieten die Rede ist, so ist wohl der Grund
der, daß ihm diese beiden Beispiele genügten. Das
Traditionsmoment, das für Palästina sprach, war ihm
43

in seinerganzen Bedeutung damals noch nicht so zum


Bewußtsein gekommen, wie später das erkennt man ;

besonders in seinem kurzen Abschnitt über die Sprache


im Judenstaat, wo er sagt: Wir können doch nicht
hebräisch miteinander reden. Wer von uns weiß genug
hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillet zu
verlangen ? Das gibt es nicht. —
Aber das ist einer der wenigen Punkte, in denen
er nicht das richtige getroffen hat. Er selbst war ja
in der Lage, vieles von dem, was in dieser kleinen
Schrift angedeutet und als erstrebenswert hingestellt
wurde, später an der Spitze der Zionistischen Or-
ganisation durchzuführen oder wenigstens vorzubereiten,
wie z. B. die Bank, sowie die bodenreformerischen
und genossenschaftlichen Ideen, und wenn auch die
Milliarde Mark, die er verlangte noch nicht beisammen
ist und wenn auch die Geistlichen keineswegs die
ersten gewesen sind, die den Hochflug seiner Ge-
danken verstanden haben und mit ihm gegarigen sind,
so hat er doch, wie in Aussicht gestellt, der Masse
des jüdischen Volkes die Hoffnung geschenkt, und
zwar nicht sowohl durch die Anziehungspunkte des
Erwerbes oder Vergnügens, als vielmehr dadurch, daß
er, wie er so schön sagt, dem tiefen Glaubensbedürfnis

unserer Leute Zielpunkt errichtet hat.


Nur neun Jahre war es Herzl vergönnt, nach
Abfassung seines „Judenstaates" am praktischen Ausbau
seiner Ideen an der Spitze des Zionismus tätig zu sein.
Weitere vierzehn Jahre sind seitdem verflossen. Es
sind jetzt 23 Jahre vergangen, seit Herzl den „Juden-
staat" schrieb. Aus einem kleinen Häuflein von An-
hängern ist jetzt eine von allen Mächten anerkannte Welt-
organisation geworden.
Aus den Ideenkämpfen, die die Anfänge der Be-
wegung umbrausten, ist in einem allmählichen Klärungs-
prozeß die Herzl'sche Lehre vom politischen und
internationalen Charakter der Judenfrage und vom
44

Zionismus als deren Lösung siegreich hervorgegangen.


Von der Gesamtheit der Zionisten als unerschütterliche
Basis ihrer Bestrebungen anerkannt, ist sie durch die
kriegerischen Ereignisse rascher, als man es hätte
träumen können, politisches Allgemeingut geworden.
Mehr oder weniger entschieden, mehr oder weniger
offen, aber widerspruchslos wird die Lösung des
Palästina-Problems im zionistischen Sinne als welt-
politische Notwendigkeit anerkannt. An dieser Tatsache
wird kein äußeres Ereignis mehr etwas zu ändern
vermögen.
Die offizielle Anerkennung der zionistischen Be-
strebungen seitens Großmächte hat die weit
fast aller
verbreitete, dem
Zionismus freundliche, „palästinen-
sische" Stimmung, sowohl bei den Juden wie Nicht-
juden, bis zu jener Intensität gesteigert, bei welcher
aus einem Imponderabile ein sichtbarer politischer
Faktor wird. Aber auch die Schaffung der materiellen
Voraussetzungen für die nationale Heimstätte: Bereit-
stellung von Kapital und Arbeit, kann man als ge-
sichert ansehen.
Somit ist die Erreichung der praktischen Ziele
des Zionismus in greifbare Nähe gerückt. In welchen
äußeren Formen die Verwirklichung sich vollziehen
wird, läßt sich noch nicht in allen Einzelheiten über-
sehen. Aber das kann doch mit aller Bestimmtheit er-
klä-t werden: Die Saat, die HerzI im „Judenstaat" gelegt
hat, ist nicht nur herrlich aufgegangen, sondern schon
nahe daran, heranzureifen. Als Sieger steht HerzI vor
uns da. Politische und historische Tatsache wird, was
er prophetisch verkündet hat: „Wenn ihr wollt, ist
es kein Märchen."
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DS Nordau, Max Simon


149 Theodor Herzl und der
H462 Judenstaat
N6

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