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ISBN 978-3-11-044129-1
e-ISBN (PDF) 978-3-11-043468-2
e-ISBN (ePub) 978-3-11-043312-8
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Vorwort
Metaphysik ist eine spröde Geliebte. Jedenfalls bekundet das der junge Kant in
seiner überaus elegant geschriebenen Schrift Träume eines Geistersehers von 1766.
Hier spricht er ohne Umschweife von der Metaphysik, „in welche ich das Schicksal
habe verliebt zu sein, ob ich mich gleich von ihr nur selten einiger Gunstbezeu-
gungen rühmen kann …“¹ Metaphysik ist für ihn auch in seiner reifen Zeit, so in
den Prolegomena von 1783, jedenfalls eine „Naturanlage der Vernunft“, ja ihr
„Lieblingskind“.² Allerdings bedarf diese Vernunftgeburt sorgfältiger, d. h. ein-
hegender Erziehung, um nicht über die Stränge zu schlagen. In diesem Sinne ist
eine Kritik der reinen Vernunft (1781) einfach notwendig, um nach der überlieferten
dogmatischen Todgeburt einer „Wiedergeburt“³ der Metaphysik zuzuarbeiten.
Denn dass der Mensch „metaphysische Untersuchungen einmal gänzlich aufge-
ben werde ist eben so wenig zu erwarten, als daß wir (…) das Atemholen einmal
lieber ganz und gar einstellen würden.“⁴
Trotz dieser Unvermeidlichkeitsthese Kants, die allerdings zugleich vom Trotz
der Neuzeit gegenüber der Geschichte zeugt, kam es im zwanzigsten Jahrhundert
zu zwei wirkungsmächtigen Angriffen auf die Metaphysik. Zuerst ihre Destruktion
im Namen eines ,wesentlichen Denkens‘ durch Martin Heidegger seit Sein und Zeit
(1927), dann, diesen einbegreifend, eine Eliminierung der Metaphysik mittels
,logischer Sprachanalyse‘ durch Rudolf Carnap.⁵ Diese Angriffe blieben lange Zeit
wirksam, bis es in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder zu zaghaften Wie-
derbelebungsversuchen der Metaphysik kam, sei es mit dem bescheidenen Ziel
einer ,deskriptiven Metaphysik‘ (Peter Strawson), sei es mit der Aufsummierung
naturwissenschaftlicher Ergebnisse zu einer ,induktiven Metaphysik‘. Dieses
Programm stammt allerdings schon aus dem 19. Jahrhundert (Gustav Theodor
Fechner, 1801– 1887) und wurde im 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart sporadisch
immer wieder aufgenommen, allerdings weitgehend ohne philosophisches Ei-
gengewicht. Im Prinzip realisieren Zeitschriften wie Scientific American oder
Markus Gabriel
Wolfram Hogrebe
Andreas Speer
Zur berechtigten Kritik an den Projekten einer induktiven Metaphysik cf. Kondylis, Panajotis
(1990): Die neuzeitliche Metaphysikkritik. Stuttgart, 433.
Inhalt
Vorwort V
Literaturverzeichnis 277
Index 287
I Die Geschichtlichkeit der Metaphysik
Michael N. Forster (Bonn)
Ein Anfang der Metaphysik
Parmenides über den Widerspruch und
das Paradoxon des Nichtseins
I
Das Thema dieser Konferenz ist das neue Bedürfnis nach Metaphysik. Zuerst ein
paar Erklärungen zum Verhältnis zwischen diesem Thema und dem vorliegenden
Artikel. Zum einen werde ich hier das Wort ,neu‘ nicht im Sinne von ‚etwas noch
nie Dagewesenes‘, sondern vielmehr im Sinne von ‚neuzeitlich, modern‘ verstehen
(es wird sich hier um eine Art Metaphysik handeln, die sowohl sehr alt als auch
immer noch aktuell ist). Zum anderen ist auch der Ausdruck ‚Metaphysik‘
mehrdeutig. Bereits Aristoteles benutzt in seiner Schrift Metaphysik zwei Begriffe
einer ,ersten Philosophie‘ (wie Aristoteles selber die Metaphysik nennt), die we-
nigstens auf den ersten Blick ganz unterschiedlich zu sein scheinen: Der eine
findet sich in Buch Gamma und besagt, Metaphysik sei die Wissenschaft vom Sein
als Sein, der zweite in Buch Lambda und lautet auf die Wissenschaft von solchen
Wesenheiten, die nur Form, aber keine Materie hätten. Spätestens bis zum
18. Jahrhundert hatte sich diese Zweideutigkeit zu einer geläufigen Unterschei-
dung zwischen zwei Zweigen der Metaphysik verfestigt, die in Deutschland die
philosophischen Schulen beherrschte: die ‚allgemeine Metaphysik‘ oder ‚allge-
meine Ontologie‘ einerseits, die einen Überblick über unsere allgemeinsten Be-
griffe und Grundsätze gibt, auf der anderen Seite die ‚spezielle Metaphysik‘, die
sich mit bestimmten übersinnlichen Wesenheiten beschäftigt, namentlich Welt,
Seele, Gott. Kant hat alsdann ein interessantes Neuverständnis der gesamten
Disziplin angestrengt: Er verwirft die Vorstellung, die spezielle Metaphysik könne
echtes Wissen liefern (obwohl er sehr wohl anerkannte, dass der menschliche
Geist eine natürliche Disposition dazu besitzt). Und mehr noch, er entwickelt eine
neue, eine sogenannte ‚Metaphysik der Natur‘, die, wie er behauptet, Wissen zu
liefern imstande ist und die, obgleich sie der traditionellen allgemeinen Meta-
physik oder Ontologie am meisten ähnelt, auch etwas vom Charakter der tradi-
tionellen speziellen Metaphysik übernimmt: Wie die allgemeine Metaphysik soll
sie sich mit unseren allgemeinsten Begriffen und Grundsätzen beschäftigen
(Begriffe wie Ursache und Substanz, Grundsätze wie das Kausalprinzip und das
Prinzip der Beharrlichkeit der Substanz), aber wie die spezielle Metaphysik soll sie
4 Michael N. Forster
sich, wenn schon nicht mit übersinnlichen Entitäten, so doch mit apriorischen
Begriffen und Grundsätzen auseinandersetzen. Im vorliegenden Artikel werde ich
nicht der speziellen Metaphysik nachgehen, sondern etwas, das mehr von der Art
der allgemeinen Metaphysik oder Ontologie bzw. Kants Metaphysik der Natur ist.
Denn obwohl man zweifellos sagen kann, dass von Parmenides ein gewichtiger
Einfluss auf die Entwicklung der speziellen Metaphysik ausging, indem Parmenides
die Sinne und das Reich der Erscheinungen, auf welches sie uns verweisen, abgelehnt
und sich stattdessen auf die Vernunft und das ewige, unveränderliche, undifferen-
zierte Sein berufen hat (was eine große Wirkung auf spätere Metaphysiker des
Übersinnlichen wie etwa Platon ausüben sollte), ist das nicht die Seite von Parme-
nides’ Philosophie, die mich hier interessiert.Vielmehr möchte ich einige Beiträge von
Parmenides zur Herausbildung wichtiger Begriffe und Grundsätze untersuchen, die
man am besten im Sinne der allgemeinen Metaphysik oder Ontologie bzw. der
kantischen Metaphysik der Natur als ‚metaphysisch‘ ansprechen kann. Die Wahl
dieses Themas ist dem Umstand geschuldet, dass ich glaube, dass die besagten
Begriffe und Grundsätze anders als Parmenides positive Metaphysik des Seins von
andauerndem Wert waren und sind, ja dass sie eine Art Metaphysik begründen, derer
wir auch heute noch nicht gut entbehren können.
Wofür ich in diesem Artikel im Besonderen argumentieren möchte, ist, dass
Parmenides zwei äußerst wichtige Beiträge zu einer nach wie vor vertretbaren
Metaphysik beigesteuert hat: erstens das Gesetz vom (zu vermeidenden) Wider-
spruch, das selber bereits ein Stück Metaphysik darstellt, und zweitens das Pa-
radoxon des Nichtseins, das einige Denker nach Parmenides zu einer gewissen
Lösung motiviert hat, die man wiederum als ein Stück Metaphysik ansehen kann.
Ich möchte aber auch unterstreichen, dass es, um den Charakter und die wirkliche
Größe von Parmenides Leistungen in diesen beiden Bereichen voll erfassen zu
können, erforderlich ist, mit einigen weithin verbreiteten und tief eingewurzelten
Missverständnissen aufzuräumen – Missverständnisse vor allem, die fälschlich
unterstellen, dass die besagten metaphysischen Leistungen bereits vor Parmeni-
des verfügbar waren.
II
Parmenides darf als derjenige Philosoph der (westlichen) philosophischen Tra-
dition gelten, der das Gesetz vom (zu vermeidenden) Widerspruch als Erster
ausdrücklich formuliert hat. In seinem berühmten Lehrgedicht schreibt er:
„Nun denn, ich werde also vortragen, […] welche Wege der Untersuchung einzig zu erkennen
sind: der erste, dass es ist und dass es nicht sein kann, dass es nicht ist, […] der zweite, dass es
Ein Anfang der Metaphysik 5
nicht ist und dass es nötig ist, dass es nicht ist [εἰ δ’ ἄγ’ ἐγὼν ἐρέω … αἵπερ ὁδοὶ μοῦναι
διζήσιός εἰσι νοῆσαι· ἡ μὲν ὅπως ἔστιν τε καὶ ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι … ἡ δ’ ὡς οὐκ ἔστιν τε καὶ ὡς
χρεών ἐστι μὴ εἶναι.]“ (Fr. Β 2). „Nie und nimmer kann nämlich dieses erzwungen werden,
dass das Seiende nicht sei [οὐ γὰρ μήποτε τοῦτο δαμῆι εἶναι μὴ ἐόντα.]“ (Fr. B 7). „[D]ie
Entscheidung darüber liegt doch in Folgendem: Es ist oder es ist nicht [ἡ δὲ κρίσις περὶ
τούτων ἐν τῶιδ’ ἔστιν· ἔστιν ἢ οὐκ ἔστιν.]“ (Fr. Β 8).¹
Darüber hinaus scheint Parmenides sogar die Notwendigkeit des Gesetzes be-
haupten zu wollen. Seine Bemerkung in der zweiten der zitierten Passagen deutet
dies an, wenn sie sagt, dass eine Verletzung des Widerspruchsgesetzes „nie und
nimmer […] erzwungen werden [kann]“. Und es liegt nahe, gleichfalls die an-
sonsten rätselhaft bleibenden Hinzufügungen im ersten Zitat auf eine solche
Weise zu deuten: „dass es ist und dass es nicht sein kann, dass es nicht ist, […] dass
es nicht ist und dass es nötig ist, dass es nicht ist“.²
Zudem ist ein weiterer Aspekt bemerkenswert: Das Gesetz vom Widerspruch
spielt eine fundamentale Rolle im weiteren Verfolg von Parmenides Lehrgedicht,
und zwar in der Entwicklung des Paradoxons vom Nichtsein. Wenn die Deutung
des Paradoxons richtig ist, die ich unten darlegen werde und dem zufolge das
Paradoxon nicht allein Negationen von Existenz betrifft, sondern gleichfalls
solche von Prädikaten und ganzen Sätzen, dann ist den obigen Formulierungen
des Widerspruchsgesetzes bereits eine gewisse Allgemeinheit mit auf den Weg
gegeben, die ihnen ansonsten abgehen könnte: Sie sollen nicht nur Aussagen
ausschließen wie ‚Zeus existiert, und Zeus existiert nicht‘, sondern ebenso Sätze
der Art ‚Zeus ist stark, und Zeus ist nicht stark‘ sowie ‚Es ist der Fall, dass Zeus stark
ist, und es ist nicht der Fall, dass Zeus stark ist‘.
Nach Parmenides ist das Gesetz vom (zu vermeidenden) Widerspruch zu einem
grundlegenden Bestandteil im philosophischen Arsenal seines Nachfolgers Zenon
aufgestiegen. Und es wurde in der Folge von zahlreichen weiteren bedeutenden
Philosophen der antiken Welt übernommen, darunter Platon und Aristoteles.
Dieses Gesetz stellt nun selbst ein Stück Metaphysik dar. Das war schon Ari-
stoteles’ Sicht, der es in der Metaphysik, Buch Gamma zum Paradigma der von ihm so
genannten ‚ersten Philosophie‘ im Sinne der Wissenschaft vom Sein als Sein erhob.
Überdies hat das Widerspruchsgesetz seit Parmenides auch als Grundlage für
die Entwicklung unseres westlichen Denkens insgesamt figuriert, nicht nur un-
serer Metaphysik. So darf man zum Beispiel wohl annehmen, dass nicht die
Hier und im Weiteren sind die Fragmente von Parmenides zitiert aus Diels, Hermann/Kranz,
Walther (Hrsg.) (1951– 1952): Die Fragmente der Vorsokratiker. 3 Bde. 6. Ausgabe. Berlin. Die
Übersetzungen sind manchmal dieser Ausgabe entnommen, normalerweise aber meine eigenen.
Das schlägt vor Kirk, Geoffrey S./Raven, John E./Schofield, Malcom (1983): The Presocratic
Philosophers. A Critical History with a Selection of Texts. 2. Ausgabe. Cambridge, 246, Anm. 1.
6 Michael N. Forster
Siehe z. B. Tarán, Leonardo (1965): Parmenides. A Text with Translation, Commentary, and
Critical Essays. Princeton, 201.
Für diese Methoden siehe nicht nur Parmenides Lehrgedicht, sondern auch und vor allem
Zenons Fragmente, etwa Fragment 3, zusammen mit der Darstellung von Zenons Methode in
Platons Parmenides.
Die etwas komplexere Methode 2) findet sich oft später bei Euklid. Es ist nicht ganz klar, wann
sie in die griechische Mathematik eingedrungen ist. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass sich dies
kurz nach Parmenides’ und Zenons Arbeit ereignet hat. Die Frage hängt zum großen Teil davon ab,
wann genau Pythagoras oder die Pythagoreer den Beweis der Irrationalität der Quadratwurzel von
2 mittels einer reductio ad absurdum entwickelt haben. T. L. Heath, dessen Datierung eine der
früheren in der Sekundärliteratur ist, favorisiert die Pythagoreer vor Pythagoras selbst und einen
Zeitpunkt, der vor den Arbeiten von Demokrit liegt, der um 460 bis 470 v.Chr. geboren wurde, was
die Erfindung des Beweises in der Mitte des 5. Jahrhunderts v.Chr. oder ein wenig früher ansetzt.
Siehe Heath, Thomas L. (1921): A History of Greek Mathematics. Bd. 1. Oxford, 154– 7, 168. Dieses
Datum könnte entweder kurz vor oder kurz nach Parmenides’ und Zenons Arbeit liegen. Meine
Vermutung ist, dass letzteres wahrscheinlicher ist.
Ein Anfang der Metaphysik 7
Siehe Forster, Michael N. (2004): Wittgenstein on the Arbitrariness of Grammar. Princeton, Kap. 5
und Forster, Michael N. (2008): Kant and Skepticism. Princeton, Kap. 12.
Aristoteles: Metaphysik (Metaph), 1005b–1007a.
Ein Anfang der Metaphysik 9
muss). Übrigens, auch ohne 2) wäre 1) ein ziemlich starkes Argument für die
Behauptung, dass das Widerspruchsgesetz in gewissem Sinne allem Denken
eingeschrieben ist. Wir sollen sonach unsere Aufmerksamkeit auf Aristoteles Ar-
gument für 1) konzentrieren.
Aristoteles macht hauptsächlich zwei Gründe für 1) geltend. Beide sind al-
lerdings höchst problematisch. Aristoteles behauptet zum ersten, dass Überzeu-
gungen von widersprüchlichen Sätzen selber konträre Eigenschaften der betref-
fenden Person sind und dass sie daher nicht zur gleichen Zeit der betreffenden
Person zufallen können.¹¹ Dieses Argument setzt jedoch das zu Beweisende bereits
als feststehend voraus, dass nämlich derartige Überzeugungen konträre Eigen-
schaften einer Person sind.
Zum zweiten meint Aristoteles in etwa, dass eine Person, um mit ihren Worten
etwas meinen und damit überhaupt denken zu können – oder wie er sich hübsch
ausdrückt, um nicht „wie ein Gemüse“ zu sein –, ein Subjekt, d. h. eine (Art von)
Substanz, und deshalb eine einzige Sache, d. h. das Wesen einer (Art von) Sub-
stanz bezeichnen muss. So zum Beispiel im Falle des Subjekts ‚Mensch‘: ‚ein
zweibeiniges Tier‘. Hingegen scheiterte eine solche Bezeichnung in dem Maße, als
man gleichfalls das Gegenteil bezeichnete, zum Beispiel ‚nicht ein zweibeiniges
Tier‘.¹² Dieses Argument ist jedoch ebenfalls höchst problematisch. Ein nahelie-
gender Kritikpunkt ist natürlich, dass Aristoteles dabei eine sehr fragwürdige
Auffassung von Sprache und Metaphysik unterstellt, inklusive Behauptungen,
wonach sich eine jede Wortbedeutung und alles Denken letztlich auf Subjekte
oder Substanzen bezieht, alle Substanzen ein Wesen haben, man, um sich auf
Subjekte oder Substanzen beziehen zu können, ihr Wesen bezeichnen muss usw.
Man könnte dieser Kritik allerdings durch eine leichte Modifikation des Arguments
begegnen. Diese Modifikation vereinfacht das Argument und macht es stichhal-
tiger, indem sie behauptet, dass jedes Verstehenkönnen von Worten gewisse
eindeutige analytische Überzeugungen voraussetzt (z. B. um den Ausdruck
‚Junggeselle‘ verstehen zu können, muss man die eindeutige analytische Über-
zeugung haben, dass alle Junggesellen unverheiratet sind). Folglich würde jemand
in dem Maße, in dem er seinen eigenen Anspruch untergräbt, solche eindeutigen
analytischen Überzeugungen zu haben, indem er ebenso das Gegenteilige für
wahr zu halten neigt (hier: dass nicht alle Junggesellen unverheiratet sind), ipso
facto auch seinen Anspruch untergraben, überhaupt die betreffenden Worte
verstehen zu können. Eine ungleich tiefer liegende Schwierigkeit für Aristoteles
Argument (entweder in seiner ursprünglichen Version oder in dieser Neufassung)
ist jedoch die folgende: Selbst wenn das Argument so erfolgreich wie nur möglich
wäre, zeigte es lediglich, dass eine Person, um irgendetwas meinen oder denken
zu können, einige Überzeugungen haben muss, die sich nicht widersprechen. Das
aber reicht bei weitem nicht hin, um 1) zu rechtfertigen, dass also eine Person gar
nichts Widersprüchliches für wahr zu halten imstande ist (und es begründet in der
Konsequenz auch nicht 2)).
Wie steht es mit Kant? Auch Kant bietet eine Version der aristotelischen Vor-
stellung an. In der Kritik der reinen Vernunft bemerkt er etwa, dass die formale Logik
ganz allgemein „die schlechthin notwendigen Regeln des Denkens [enthält], ohne
welche gar kein Gebrauch des Verstandes stattfindet“¹³. Kant übernimmt aber die
aristotelische Vorstellung unkritisch und leichtfertig, ohne Aristoteles Argumente
anzuführen oder eigene (um so weniger bessere) an deren Stelle zu setzen.
Die neuere Geschichte der Philosophie bietet zwar außerdem einige weitere
Versuche, die eine oder andere Variante der aristotelischen Vorstellung zu eta-
blieren. Aber ohne viel Erfolg. Wittgenstein beispielsweise und im Anschluss an
ihn Quine haben ein bemerkenswertes Argument entwickelt, dem zufolge die
Beachtung des Widerspruchsgesetzes und anderer Gesetze der klassischen Logik
der Bedeutung logischer Konstanten wie ‚nicht‘ und ‚und‘ inhärent sei und dass
man ohne diese überhaupt nicht denken könne. Aber diese Überlegung ist letzten
Endes nicht viel aussichtsreicher als Aristoteles eigene. Die These, wonach das
Gesetz vom Widerspruch und die anderen Gesetze der klassischen Logik den
Bedeutungen logischer Konstanten inhärent sind, ist zwar keineswegs unplau-
sibel, solange sie sorgfältig formuliert wird. Aber wenn man sie sorgfältig for-
muliert, beweist sie nur, dass die besagten Gesetze den Konstanten in ihrer klas-
sischen Bedeutung inhärent sind, wohingegen diese Konstanten allem Anschein
nach eine abgewandelte Bedeutung annehmen könnten, der jene Gesetze nicht
inhärent sind. Darüber hinaus gibt es kaum Anlass anzunehmen, dass nur die
Konstanten in ihrer klassischen Bedeutung Denken ermöglichen können.¹⁴
Im Ergebnis gibt es daher eigentlich keinen Grund, weshalb wir Aristoteles
Vorstellung beipflichten sollten, und insofern keinen Grund, weshalb wir davon
ausgehen müssten, dass die Menschen bereits vor Parmenides implizit dem Gesetz
vom (zu vermeidenden) Widerspruch verpflichtet waren. Parmenides Formulierung
des Gesetzes war durchaus eine Entdeckung im wahrsten Sinne des Wortes und nicht
bloß das Explizitmachen von etwas, wovon jeder ohnehin implizit überzeugt war.
Die Überlegungen, die ich hier gegen die aristotelische Vorstellung skizziert
habe, erhärten übrigens auch die Vermutung, dass es sich beim Widerspruchs-
gesetz um ein Stück Metaphysik handelt. Für Aristoteles hatte das Gesetz einen
doppelten Charakter: Es war sowohl ein ontologisches Prinzip, gar das funda-
mentalste Grundgesetz des Seins als Sein, wie auch ein für alles Denken überhaupt
konstitutives Prinzip. Kant hat später nur die zweite Hälfte dieser Auffassung
übernommen: Er hat dem Gesetz vom Widerspruch lediglich die Stellung einer
essenziellen Form unseres Denkens zuerkannt. Frege dagegen hat sich nur bei der
ersten Hälfte von Aristoteles Auffassung bedient: Er hat (nicht nur den empiri-
schen Psychologismus, den schon Kant selber abgelehnt hatte, sondern auch)
diesen kantischen Psychologismus logischer Gesetze zurückgewiesen (die Idee,
dass es sich um „Gesetze des Denkens“ handelt, wie Frege sich ausdrückt) und
stattdessen behauptet, dass sie die obersten Gesetze der Wirklichkeit selbst sind
(„Gesetze der Wahrheit“, wie Frege sagt). Das Scheitern der psychologistischen
Seite von Aristoteles Auffassung und ihrer Rezeption durch Kant lässt vermuten,
dass die ontologische Seite und deren Rezeption durch Frege den vielverspre-
chenderen Weg weisen, das Widerspruchsgesetz zu verstehen.Trifft das aber zu, so
verleiht das dem Gesetz einen eindeutig metaphysischen Charakter: Als bloße
Form des Denkens erschiene das Widerspruchsgesetz vielmehr als ein Gesetz sui
generis, dagegen steht es als Prinzip des Seins bzw. der Wirklichkeit einwandfrei in
der Tradition der allgemeinen Metaphysik oder allgemeinen Ontologie.
III
So viel zunächst zu Parmenides erstem wichtigem Beitrag zur Metaphysik.Wenden
wir uns damit dem zweiten zu: dem Paradoxon des Nichtseins. Dieses Paradoxon
setzt das Gesetz vom (zu vermeidenden) Widerspruch voraus, da es eine
Schwierigkeit hinsichtlich des Begriffs vom Nichtsein aufwirft, die gerade deshalb
als Schwierigkeit wahrgenommen wird, weil eine Verletzung des Widerspruchs-
gesetzes im Spiel ist.¹⁵ Freilich gehört aber zum besagten Paradoxon auch weitaus
mehr als nur das Gesetz vom Widerspruch.
Der Kern von Parmenides Argument für die Inkonsistenz des Begriffs vom
Nichtsein wird in den überlieferten Fragmenten seines Lehrgedichts nicht weniger
als fünf Mal angesprochen:
Man beachte in diesem Zusammenhang, wie Parmenides die irregeleiteten Sterblichen cha-
rakterisiert, die nicht nur vom Sein, sondern desgleichen vom Nichtsein sprechen: „gleicher-
maßen blind wie taub, verblüfft, Völkerschaften, die nicht zu urteilen verstehen, denen das Sein
und Nichtsein als dasselbe und auch wieder nicht als dasselbe gilt“ (Fr. B 6).
12 Michael N. Forster
1) „Denn du könntest weder erkennen das Nichtseiende (es ist nämlich nicht möglich) noch
davon sprechen [οὔτε γὰρ ἂν γνοίης τό γε μὴ ἐὸν (οὐ γὰρ ἀνυστόν) οὔτε φράσαις]“ (Fr. B 2). 2)
„Denn Gedachtwerden [wörtlich: Denken] und Sein sind dasselbe [τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε
καὶ εἶναι.]“ (Fr. B 3). 3) „Was gesagt und gedacht wird [wörtlich: Sagen und Denken], muß
sein; denn es ist, um zu sein, nichts aber ist nicht [Χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ΄ ἐὸν ἔμμεναι· ἔστι
γὰρ εἶναι, μηδὲν δ΄ οὐκ ἔστιν]“ (Fr. B 6).¹⁶ 4) „Denn dass es nicht ist, kann weder gesagt noch
gedacht werden [οὐ γὰρ φατὸν οὐδὲ νοητόν ἔστιν ὅπως οὐκ ἔστι.]“ (Fr. B 8). 5) „Denn das
Denken und das, weswegen man denkt, sind dasselbe; denn nicht ohne das Seiende […] wirst
du das Denken finden [ταὐτὸν δ’ ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκεν ἔστι νόημα. οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος
… εὑρήσεις τὸ νοεῖν.]“ (Fr. B 8).
Das Paradoxon des Nichtseins – wenn auch vielleicht nicht gerade selber ein Stück
Metaphysik – war doch ein starker Katalysator für die weitere Geschichte der Meta-
physik, nicht nur für eine ganze Reihe eher extravaganter antiker metaphysischer
Lehren, sondern auch für eine demgegenüber eher bescheiden auftretende Meta-
physik,welche die Zeiten überdauert hat und auch heute noch sachlich richtig zu sein
scheint. Um dies jedoch klar einzusehen, ist es abermals zunächst erforderlich, einige
Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Ich werde mit ein paar beginnen, die
zwar weit verbreitet sind, die man aber nicht allenthalben antrifft, um dann zu einem
Missverständnis weiterzugehen, das praktisch allgegenwärtig ist.
Eine Frage, die in Bezug auf das Paradoxon immer wieder aufgekommen ist,
betrifft die Art des Seins, das hier thematisch ist, und folglich die Art von Nicht-
sein, der Parmenides Widerstand gilt. Ist das fragliche Sein als Existenz zu ver-
stehen, als Prädikation oder als Wahrheitsgehalt von Propositionen? Und welches
Nichtsein trifft daher Parmenides Missbilligung: 1) existenzielle Verneinungen
(z. B. ‚Zeus ist nicht, Zeus existiert nicht‘), 2) prädikative Verneinungen (z. B. ‚Zeus
ist nicht groß‘)¹⁷ oder 3) propositionale Verneinungen (z. B. ‚Es ist nicht der Fall,
dass Zeus groß ist‘)? Viele Interpreten plädieren dafür, es gehe allein um Existenz,
so dass sich Parmenides Kritik dementsprechend nur auf 1) erstrecke.¹⁸ Einige
wenige Interpreten nehmen an, dass es lediglich um Prädikation gehe und dass
In 2) und 3) stehen νοεῖν und τὸ λεγείν τε νοεῖν vermutlich für das in poetisch-metrischer
Rücksicht unbequeme νοεῖσθαι bzw. τὸ λεγόμενόν τε νοούμενον.
Man könnte 2) weiter unterteilen, indem man beispielsweise zwischen (anderen) prädikativen
Verneinungen und (prädikativen) Verneinungen von Identität oder zwischen wesentlichen und
unwesentlichen prädikativen Verneinungen unterscheidet. In diesem Zusammenhang jedoch
scheint mir solche Akribie nicht besonders hilfreich zu sein.
Vertreter dieser Auffassung sind unter anderem G. E. L. Owen, M. Stokes, L. Tarán, J. Barnes
und D. Gallop.
Ein Anfang der Metaphysik 13
das Verbot des Nichtseins folglich nur 2) berühre.¹⁹ Und einige Interpreten treten
schließlich dafür ein, dass Sein mindestens im Sinne der Existenz und Prädikation
gemeint sei und dass daher Parmenides Kritik wenigstens gegen 1) und 2) angehe
oder sogar gegen 1), 2) und 3) allesamt.²⁰
Wo diese Frage aufkommt, läuft man zwar Gefahr, in eine gewisse Naivität
abzugleiten, indem man annimmt, dass der Unterschied zwischen den genannten
Bedeutungen oder Verwendungen des Verbs ‚sein/nicht sein‘ Parmenides selber
klar vor Augen stand. Genaue Unterscheidungen zwischen verschiedenen Bedeu-
tungen desselben Wortes und selbst so grundlegende grammatikalische Unter-
scheidungen wie die Differenz zwischen Subjekt und Verb eines Satzes sind jedoch
erst von den Generationen nach Parmenides geleistet worden (hauptsächlich von
den Sophisten und dem späten Platon). Und ein deutliches Bewusstsein der Dif-
ferenz zwischen der existenziellen und der prädikativen Verwendung des Verbs
‚sein‘ (εἶναι) leuchtet insbesondere zum ersten Mal in Platons Sophistes auf. Auf der
anderen Seite können wir natürlich zwischen den verschiedenen Verbverwendun-
gen bei den Griechen unterscheiden, wie sie sich bereits in den Parmenides vor-
ausliegenden Zeiten finden lassen. Wenn wir die obige Frage nach Parmenides
Absicht stellen, soll sie demnach darauf zielen, welche Verwendung oder Ver-
wendungen Parmenides selber am meisten vor Augen stand bzw. standen, und darf
nicht leichthin unterstellen, dass er bereits ein klares Bewusstsein dieser uns heute
überschaubaren sprachlichen Unterschiede hatte.
Stellen wir die Frage sonach auf gerade diese Weise. Wie ist sie alsdann zu
beantworten? Ziemlich klar ist, um damit zu beginnen, dass die existenzielle
Verwendung von εἶναι wenigstens mit zu dem gehört, worum es in dem Paradoxon
geht. Dafür spricht die absolute Verwendung des Verbs in Parmenides Eröff-
nungsformulierung seiner Frage in Fragment 2, ob „es ist [ἔστιν]“ oder „nicht ist
[οὐκ ἔστιν]“.²¹ Ähnlich verhält es sich, wenn Parmenides in Fragment Β 8 sein
Argument für die Inkonsistenz von „es ist nicht“ anbringt, um die Möglichkeit des
Entstehens und Vergehens auszuschließen. Es ist unmittelbar einleuchtend, Sein
hier als wenigstens in erster Linie Existenz zu interpretieren.
Es ist allerdings auch ziemlich klar, dass Parmenides zudem ein bedeutend
breiteres Verbot von Negationen im Sinn hat, das prädikative und propositionale
Dazu zählen A. P. D. Mourelatos und A. Nehamas. Beide meinen, dass nur ein bestimmter
Unterfall von 2) angegriffen wird, nämlich solche prädikativen Verneinungen, die darauf abzielen,
wesentliche Eigenschaften zu negieren.
Vertreter dieser Deutung sind unter anderem G. Calogero, M. Furth und C. H. Kahn.
Es bleibt dann allerdings immer noch eine gewisse Undurchsichtigkeit des ,es‘. Doch die
Annahme, dass das Verb hier elliptisch für „ist x“ und „ist nicht x“ steht, steigert diese Un-
durchsichtigkeit weit über die Grenzen des Wahrscheinlichen hinaus.
14 Michael N. Forster
Negationen mit einschließt. Dass dem so ist, dafür spricht zweierlei: 1) Einige der
anderen Anwendungen, die das Argument für die Inkonsistenz von „es ist nicht“
im Verfolg des Lehrgedichts findet, zeigen dies an. Die Ächtung von existenziellen
Verneinungen allein reicht vielleicht aus, um zu dem Ergebnis zu führen, dass es
kein Entstehen und Vergehen gibt (Fr. Β 8). Um aber zu begründen, dass das Sein
keine Differenz welcher Art auch immer kennt – „Auch nicht unterscheidbar ist es,
da es durchaus gleich ist [οὐδὲ διαιρετόν ἐστιν, ἐπεὶ πᾶν ἐστιν ὁμοῖον.]“ (Fr. Β 8) –,
dass es jedwede Bewegung oder Veränderung aus sich ausschließt – es ist „un-
beweglich/unveränderlich [ἀκίνητον]“, „gleichbleibend [ταὐτόν … μένον]“ (Fr.
B 8) – und dass es keinerlei Unvollkommenheit zeigt – „es gehört sich, dass es
nicht unvollendet ist“ (Fr. B 8) –, dafür scheint zusätzlich mindestens ein Verbot
prädikativer Negationen nötig zu sein.
2) Parmenides Zeitgenossen und direkte Nachfolger – die uns gegenüber den
großen Vorteil eines ungeschmälerten Zugangs zu dem Lehrgedicht, eines bes-
seren Gespürs für die damalige Sprache und womöglich auch informeller Erläu-
terungen von Parmenides und seinen Anhängern besaßen – haben das Argument
dergestalt verstanden, dass es nicht nur existenzielle Negationen untersagt,
sondern ebenso Negationen von Prädikaten und ganzen Sätzen. Gorgias zum
Beispiel zieht in seiner Abhandlung Über das Nichtseiende oder Über die Natur als
Gegenbeispiel gegen Parmenides Argument nicht nur unsere Fähigkeit heran,
nichtexistierende Gegenstände, wie z. B. Skylla und Chimaira zu denken, sondern
auch unsere Fähigkeit, unwirkliche Zustände wie einen fliegenden Menschen oder
einen über das Meer rollenden Streitwagen uns vorzustellen. Ähnlich zeigt eine
zumeist vernachlässigte Passage in Platons Euthydemos, dass Protagoras Par-
menides Argument gegen die Möglichkeit, „Dinge, die nicht sind“, zu sagen oder
zu denken, in der Weise ausgelegt (und akzeptiert) hat, dass es falsche Aussagen
und falsches Denken überhaupt ausschließt.²² Dieselbe Passage im Euthydemos,
der Theaitetos ²³ und der Sophistes ²⁴ zeigen überdies, dass Platon selbst Parme-
nides Argument in diesem weiten Sinne verstanden hat.
Der Umstand, dass Parmenides stark dazu neigt, sein Argument in existenziell
klingenden Worten auszudrücken (in Fragment Β 2 etwa), begründet keinen
Vorbehalt gegen diese weite Auslegung. Denn zum einen sind Existenzvernei-
nungen für Parmenides zweifelsohne paradigmatische Fälle dessen, was er zu-
rückweisen will. Zum zweiten ist es sogar uns geläufig (jedenfalls verstehen wir
es), Aussagen wie ‚Zeus ist nicht groß‘ oder ‚Es ist nicht der Fall, dass Zeus groß ist‘
als Behauptungen zu deuten, dass der Sachverhalt von Zeus’ Großsein nicht
existiert. Und ein solches Verständnis war Parmenides und seinen Zeitgenossen
noch geläufiger aufgrund einer allgemeinen Tendenz der alten Griechen, alles,
worüber gesprochen oder gedacht wird, als Objekt zu begreifen. (Man vergleiche in
diesem Zusammenhang das gewöhnliche griechische Idiom, das eine Wahrheit
bejaht, von welcher Art sie auch immer sein mag: ἔστι ταῦτα.)
Leonardo Tarán und David Galopp haben dieser breiteren Auslegung des Pa-
radoxons entgegengehalten, sie könne dem Umstand nicht Rechnung tragen, dass
Parmenides selbst in seinem Lehrgedicht zahlreiche negative Aussagen trifft (einige
sind oben bereits von mir zitiert worden).²⁵ Allerdings ist das kein starker Einwand.
Denn zum einen ist es keineswegs dieser Auslegung allein eigentümlich, dem
Lehrgedicht offene Widersprüche vorzurechnen; das ist vielmehr unabdinglicher
Bestandteil einer jeden Interpretation. Man beachte beispielsweise die Eröff-
nungsszene des Lehrgedichts, Parmenides ereignisreiche Reise zur Göttin, im
Vergleich zu den Dingen, die er später in dem Lehrgedicht über die Unwirklichkeit
von Bewegung und Veränderung sagt.²⁶ Und zum anderen gibt es mindestens zwei
plausible Möglichkeiten, um das Nebeneinanderstehen solcher scheinbaren Wi-
dersprüche im Lehrgedicht zu erklären: Wir können entweder schlussfolgern, dass
Parmenides, wie viele andere ansonsten erkenntnistheoretisch strenge Philosophen
auch, einfach übersehen hat, dass seine erkenntnistheoretischen Restriktionen
seiner eigenen Position zuwiderlaufen und sie untergraben (etwas Ähnliches wi-
derfährt später zum Beispiel Kants transzendentaler Psychologie mit ihren syn-
thetischen Urteilen a priori und den Verifikationisten in Bezug auf das Verifikati-
onsprinzip). Oder wir können schlussfolgern, wie Montgomery Furth plädiert hat,
dass in Parmenides Lehrgedicht eine absichtlich autoeliminative dialektische
Strategie am Werk ist, die zuletzt allein die simple Aussage ,Es ist‘ [ἐστι] übriglassen
soll.²⁷ Die letztere Option scheint mir sowohl exegetisch überzeugender als auch
philosophisch interessanter. Für unsere Zwecke aber sind die entscheidenden
Punkte, die es zu beachten gilt, bloß die, dass praktisch jede Interpretation des
Lehrgedichts eingestehen muss, dass dieses prima-facie-Inkonsistenzen aufweist,
weshalb die Tatsache, dass eine breitere Auslegung des Paradoxons (wie die, für
welche ich argumentiere) gleichfalls dazu genötigt ist, das Vorkommen solcher
Tarán 1965, 40; Gallop, David (1979): „‘Is’ or ‘Is Not’?“. In: Monist 62, 62.
Selbst wenn man die Eröffnungsszene als fiktional (und symbolisch-allegorisch) liest, wie z. B.
H. Fränkel, M. Bowra und L. Tarán das tun, scheint sie immer noch zu implizieren, dass derartige
Vorgänge tatsächlich stattfinden (das Reisen auf von Pferden angetriebenen Wagen, die Ankunft
an Toren, die sich öffnen etc.).
Furth, Montgomery (1974): „Elements of Eleatic Ontology“. In: Alexander P. D. Mourelatos
(Hrsg.): The Pre-Socratics. A Collection of Critical Essays. Garden City.
16 Michael N. Forster
Inkonsistenzen anzuerkennen, nicht gegen sie spricht, und dass das Vorkommen
dieser (prima-facie‐)Inkonsistenzen sich auf überzeugende Weise erklären lässt.
Eine andere Frage, die häufig Missverständnisse hervorgerufen hat, ist die
nach dem philosophischen Gehalt des Paradoxons. Was ist sein Gehalt? Die Se-
kundärliteratur bietet dafür eine Vielzahl konkurrierender Deutungen. Manche
davon erscheinen mir ziemlich abwegig.²⁸ Eine aussichtsreichere Deutung haben
hingegen Bertrand Russell und G. E. L. Owen entwickelt. Danach ist das, womit
sich Parmenides auseinandersetzt, die anscheinende Inkonsistenz existenzieller
Negationen.²⁹ Um sich als eine angemessene Deutung zu qualifizieren, muss diese
Feststellung jedoch meines Erachtens in zweierlei Hinsicht modifiziert werden:
Erstens muss ihre Reichweite über Existenzverneinungen hinaus erweitert wer-
den, so dass sie Negationen anderer Art mit einschließt (siehe die Punkte, die ich
dazu bereits angeführt habe), und zweitens muss sie Auskunft über die Funk-
tionen von Verben wie ‚sagen‘ und ‚denken‘ geben, die in Parmenides Augen
Verneinungen von Existenz und andere Arten der Verneinung als inkonsistent
erscheinen lassen.
Wenn man diese beiden Modifikationen macht, tritt m. E. der Inhalt, die Pointe
des Paradoxons ziemlich klar heraus, und zwar in etwa wie folgt: Was durch
‚sagen‘ und ‚denken‘ bezeichnet wird, sind – wie zum Beispiel bei ‚sehen‘ oder
Zu dieser Kategorie gehört nach meinem Dafürhalten die Deutung von A. P. D. Mourelatos,
wonach Parmenides sich gegen negative Aussagen deshalb ausspricht, weil diese zwangsläufig
vage bleiben (was Mourelatos übrigens für sachlich falsch hält) (Mourelatos, Alexander P. D.
(2008): The Route of Parmenides. Las Vegas); diese Deutung erscheint mir mehr oder weniger rein
aus der Luft gegriffen. Zu dieser Kategorie gehört auch J. Palmers freilich geistreichere ,modale‘
Deutung, der zufolge Parmenides sich nur gegen das wendet, was ,notwendigerweise‘ nicht
existiert, und zwar deshalb, weil dieses etwas Undenkbares ist (Palmer, John (2008): „Parmeni-
des“. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, insb. 24); eine Passage scheint zwar für diese
Deutung zu sprechen (Fr. B 2), viele andere aber dagegen. Zu dieser Kategorie gehört auch C. H.
Kahns Deutung, wonach νοεῖν Wissen ist und die Pointe des Paradoxons bloß darin besteht, dass
wir nichts Falsches ,wissen‘ können (Kahn, Charles H. (2009): Essays on Being. Oxford); diese
Deutung ist philologisch fragwürdig und trivialisiert das Paradoxon. Zu dieser Kategorie gehört
letzten Endes auch W. K. C. Guthries ähnliche aber philologisch etwas plausiblere Deutung,
wonach Parmenides Paradoxon auf der homerischen Bedeutung von νοεῖν als Wahrnehmung fußt
(wie sie K. von Fritz identifizierte), die Wahrheit impliziert (Guthrie,William K. C. (1965): A History
of Greek Philosophy. Bd. 2. Cambridge, 17– 20); diese Deutung ist wohl nicht ganz falsch, verfällt
aber u. a. dem Problem, dass schon bei Homer νοεῖν auch andere Bedeutungen gehabt hatte (etwa
beabsichtigen) und dass seitdem noch weitere hinzugekommen waren, sowie insbesondere dem
Problem, dass Parmenides Paradoxon nicht nur νοεῖν, sondern gleichermaßen auch ,sagen‘
(λέγειν, φάσθαι, φράζειν) betrifft.
Russell, Bertrand (1945): The History of Western Philosophy. New York, 49; Owen, Gwilym E. L.
(1960): „Eleatic Questions“. In: The Classical Quarterly 10, 84– 102.
Ein Anfang der Metaphysik 17
Der pragmatische Selbstwiderspruch besteht hier zwischen meiner Aussage oder meinem Ge-
danken, dass der-und-der ein Gegenstand bzw. Sachverhalt nicht existiert, und meiner Überzeu-
gung, dass ich das sage oder denke. Der Selbstwiderspruch ist lediglich ein pragmatischer, weil der
Gehalt meiner letztgenannten Überzeugung, obwohl sie eine notwendige Bedingung für meine
erstgenannte Aussage oder meinen Gedanken ist – denn ganz allgemein gilt, dass ich nur sagen oder
denken kann, dass p, wenn ich auch glaube, dass ich sage oder denke, dass p –, nicht im strengen
Sinn in dem enthalten ist, was ich sage oder denke: ‚Gegenstand/Sachverhalt p existiert nicht‘
beinhaltet nicht, impliziert nicht ‚ich sage/denke, dass Gegenstand/Sachverhalt p nicht existiert‘.
18 Michael N. Forster
SO: Ob nicht etwa schlechthin, wer sich von irgendeiner Sache das,was nicht ist,vorstellt, auf
jeden Fall Falsches vorstellt, wie es auch übrigens in seiner Seele stehen mag? TH: Das hat
wieder einen guten Anschein, Sokrates. SO: Wie aber? Was werden wir sagen, Theaitetos,
wenn uns jemand fragt: Ist das auch irgendeinem möglich, was ihr sagt, und kann sich wohl
einer das, was nicht ist, vorstellen, sei es nun an und von etwas oder an und für sich selbst?
Darauf werden wir, wie es scheint, sagen müssen: ja, wenn er nicht das Wahre glaubt, indem
er etwas glaubt. Oder was wollen wir sagen? TH: Eben dies. SO: Findet denn aber auch
anderwärts dieses Nämliche statt? TH: Was denn? SO: Ob wohl jemand sieht, und doch nichts
sieht? TH: Wie könnte er? SO: Wenn er nun aber etwas sieht, so sieht er auch ein Seiendes.
Oder glaubst du, dass etwas je zu dem Nichtseienden gehören könne? TH: Ich keineswegs.
SO: Wer also etwas sieht, der sieht auch ein Seiendes. TH: So scheint es. SO: Und ebenso, wer
hört, hört etwas und ein Seiendes? TH: Ja. SO: Und wer betastet, der betastet etwas, und wenn
etwas, auch Seiendes. TH: Auch das. SO: Und wer sich vorstellt, der sollte sich nicht etwas
vorstellen? TH: Notwendig. SO: Und wer sich etwas vorstellt, nicht ein Seiendes? TH: Ich gebe
es zu. SO: Wer sich also vorstellt, was nicht ist, der stellt sich nichts vor? TH: So scheint es.³¹
So viel zu diesen beiden Fragen, die häufig Anlass für Missverständnisse des
Paradoxons gewesen sind. Das wohl gravierendste Missverständnis allerdings, das
sich in der Sekundärliteratur findet, betrifft die Überzeugungskraft des Parado-
xons. Ich möchte deshalb auf dieses Thema ein bisschen ausführlicher eingehen.
Moderne Interpreten sind tendenziell stark versucht, Parmenides Argumen-
tation einen groben Fehler zu unterstellen. Um nur zwei der eher tiefsinnigeren
Interpreten zu zitieren, so notiert G. E. L. Owen: „What is mistaken is his claim that
we cannot talk of the non-existent. We can, of course: mermaids, for instance“³²;
und David Furley schreibt in demselben Geist: „Parmenides’ premise (and his
fundamental fallacy) was …that ‘what is not’ is absolutely unthinkable and un-
knowable“.³³
Ich glaube, dass die Versuchung, Parmenides einen solchen Fehler zu un-
terstellen, deshalb aufkommt, weil uns Modernen die Lösung für das angebliche
‚Paradoxon‘ allzu offensichtlich scheint: Gedanken (oder Begriffe oder Proposi-
tionen oder dergleichen) machen jeweils die fehlenden Relata aus.
Ohne jeden Zweifel ist an dieser Lösung etwas Richtiges. Indessen, wäre die
ganze Angelegenheit wirklich derart simpel, so bliebe außerordentlich rätselhaft,
Zitiert nach Platon (1994): Sämtliche Werke. Bd. 3. Ursula Wolf (Hrsg.). Hamburg. Übersetzung
modifiziert.
Owen 1960, 94, Anm. 1. Vgl. Kahn 2009, 172. Kahn teilt grundsätzlich Owens Einstellung ge-
genüber einem solchen Argument, leugnet dann aber auf dieser Grundlage, dass es das war, was
Parmenides wirklich im Sinn hatte, und bietet eine – etwas exzentrische – gegenteilige Deutung
an.
Furley, David J. (1967): „Parmenides“. In: Paul Edwards (Hrsg.): Encyclopedia of Philosophy.
Bd. 6. New York, London, 50.
Ein Anfang der Metaphysik 19
wie es Parmenides Paradoxon geschafft hat, die besten philosophischen Köpfe des
damaligen Griechenland über etliche Generationen hinweg zu beeindrucken, zu
beschäftigen und meist zu verwirren. Um nur einige herausragende Beispiele zu
bemühen: Parmenides war natürlich selber so sehr von dem Paradoxon gefesselt,
dass er zur radikal kontraintuitiven metaphysischen Antwort getrieben wurde, der
zufolge alles Entstehen und Vergehen, alle Bewegung/Veränderung und alle
Differenz nichts als Einbildung ist und der zufolge alles, was ist, ein ewiges,
unveränderliches, differenzloses Sein ist. Gorgias Abhandlung Über das Nicht-
seiende oder Über die Natur ist eindeutig als Widerlegung von Parmenides Ar-
gument gedacht; lautet ihre diametral entgegengesetzte metaphysische These
doch, dass nichts ist. Wie Platons Euthydemos 283e–286c darlegt, hat Protagoras
Parmenides’ Behauptung akzeptiert, dass es unmöglich ist, zu sagen bzw. zu
denken, was nicht ist (dass alles, was man sagt oder denkt, wahr sein muss),
daraus geschlossen, dass die Menschen niemals wirklich unterschiedlicher Mei-
nung sein können (denn wenn sie das könnten, müssten ihre sich widerspre-
chenden Meinungen alle beide wahr sein), und auf dieser Grundlage seinen
neuartigen Relativismus vertreten (die These, dass eine Person in keinem Fall sagt
oder denkt, was simpliciter der Fall ist, sondern nur, was je für sie der Fall ist, und
dass dies immer wahr ist). Ferner sind auch die Atomisten Leukipp und Demokrit
maßgeblich dadurch zu ihrer berühmten Hypothese von Atomen gelangt, dass sie
Parmenides Paradoxon und die Schlussfolgerung, zu der es diesen geführt hat –
ein ewiges, unveränderliches, vollkommen sphärisches Sein –, zwar akzeptierten,
dass sie dann aber diese Ordnung gleichsam multipliziert haben, um eine Auf-
fassung von der Welt zurückzugewinnen, die mehr im Einklang mit dem gesunden
Menschenverstand steht. Des Weiteren hat Platon selbst im Euthydemos, Thea-
itetos und Sophistes viel Zeit darauf verwendet, sich mit Parmenides Paradoxon
auseinanderzusetzen. Und im letztgenannten Dialog hat er eine neue metaphy-
sische Theorie eingeführt, die das wechselseitige Durchdrungensein der Ideen,
insbesondere das Durchdrungensein aller Ideen von der der Differenz lehrt, um
auf diese Weise die Möglichkeit prädikativer Negationen gegen das Paradoxon zu
retten, indem er diese als implizit positive Aussagen auslegt, denen zufolge etwas
in Bezug auf ein anderes an der Idee der Differenz teilhat, dabei aber existenzielle
Negationen verworfen (256d–260a). Und auch Aristoteles hat das meiste von
Physik I.3 der Widerlegung von Parmenides Paradoxon und der Schlussfolgerung,
die Parmenides daraus gezogen hatte, gewidmet. Insbesondere hält Aristoteles
ihm vor, nicht zwischen verschiedenen Bedeutungen von ‚Sein‘ unterschieden zu
haben (was Aristoteles selbst aufwendig tut) und zu Unrecht angenommen zu
haben, dass, wenn sein Argument den Schluss auf das Sein rechtfertige, dieses
Sein als ein singuläres bewiesen sei (hierin pflichtet Aristoteles implizit Protagoras
und den Atomisten bei). Trotz des eher abweisenden Tons, mit dem sich Aristoteles
20 Michael N. Forster
mit Parmenides beschäftigt, ist es klar, dass manche von Aristoteles wichtigeren
positiven Innovationen zum großen Teil von dem Bemühen beseelt sind, Par-
menides Paradoxon zu lösen. Aristoteles differenzierte Darstellung der verschie-
denen Bedeutungen (oder Typen) von ‚Sein‘ ist dafür ein Beispiel. Ein anderes ist
seine Unterscheidung zwischen Materie und Form, wie er sie in seiner Physik I.8 – 9
vorträgt – die zu einem großen Teil von der Absicht inspiriert wurde, trotz des
Paradoxons Platz zu schaffen für das Entstehen und Vergehen von Dingen (und
damit das Nichtsein von Dingen), indem nämlich derlei Phänomene in der bloßen
Neuformung einer ewigen zugrunde liegenden Materie bestehen. Ähnlich ist
Aristoteles Darstellung des Nichtseins ganzer Arten von Phänomenen in seiner
Physik und anderswo – zum Beispiel von ‚Ziegenhirschen‘ oder der ‚Leere‘ – of-
fensichtlich eine Erwiderung auf Parmenides Paradoxon, wobei Aristoteles
grundlegende Strategie in diesen Fällen darin besteht, solche Nichtexistierenden
in Komponenten zu analysieren, die doch existieren (z. B. Ziegen und Hirsche).
Schließlich wurden, wie wir noch detaillierter sehen werden, etliche grundlegende
Aspekte der stoischen Metaphysik großenteils darum eingeführt, um Parmenides
Paradoxon zu bewältigen – einschließlich des stoischen Postulats der ,Sagbaren
[λεκτά]‘ und der stoischen Anerkennung von ,etwas‘ als der höchsten Gattung.Wir
müssen uns daher nach alledem die einfache Frage vorsetzen: Kann man ernsthaft
annehmen, dass die größten philosophischen Köpfe des antiken Griechenland
derart tiefgreifend von Parmenides’ Paradoxon umgetrieben worden wären, wenn
sich dieses lediglich einem Fehlschluss von jener groben Art verdankte, wie Owen
und Furley behaupten? Sicherlich nicht.
Die wesentliche Schwäche von Owens und Furleys Deutung des Paradoxons
liegt m. E. darin, dass sie entscheidende Merkmale des konzeptuellen Rahmens, in
dem das Paradoxon ursprünglich entstanden ist, außer Acht lassen. Konzen-
trieren wir uns auf den Fall des Denkens (Entsprechendes träfe auf das Sagen zu):
a) Zu jener Zeit hatte man noch keinen Begriff von Gedanken (oder Begriffen oder
Propositionen oder dergleichen), der diese als von den Denkvollzügen unter-
schieden bestimmte. b) Wenn daher jemand einen Ausdruck wie ‚denken‘ ver-
wendete und dabei das Vorhandensein eines Relatums implizierte, hat er impli-
ziert, dass da ,mehr‘ ist als ein bloßer Gedanke, etwas, das im Gegensatz zu einem
bloßen Gedanken das Relatum des Denkvollzuges sein könnte. c) Folglich war das
Denken (und waren Gedanken) auf gewisse Weise mit begrifflicher Notwendigkeit
an das Vorhandensein korrespondierender Gegenstände bzw. Sachverhalte ge-
bunden, deren Vorhandensein durch die schiere Anwendung des Ausdrucks
‚denken‘ (oder ‚Gedanken‘) unterstellt wurde.
Hätte man daher die Lösung, die Owen und Furley implizit voraussetzen –
dass ,Gedanken‘ (oder Begriffe oder Propositionen oder dergleichen) die angeblich
fehlenden Relata sind –, Parmenides und seinen Zeitgenossen anbieten wollen, so
Ein Anfang der Metaphysik 21
hätten sie dies als ein bloße Wortklügelei zurückweisen müssen. Man kann sich
vorstellen, dass sie in etwa folgendermaßen reagiert hätten: „Gewiss, man kann
genauso gut ‚einen Gedanken denken [νόημα νοεῖν]‘ sagen, wie man beispiels-
weise ‚einen Kampf kämpfen‘ sagen kann – wie etwa in eurer prächtigen neu-
zeitlichen englischen Hymne ‚Fight the good fight with all thy might‘. Man kann
dies sogar in unserem alten Griechischen, wo solche Konstruktionen sehr häufig
vorkommen, mit erheblich mehr Selbstverständlichkeit tun als in euren modernen
Sprachen, wo sie seltener sind. Aber der ‚Gedanke‘ ist hier wie der ‚Kampf‘ le-
diglich ein kognater Akkusativ, kein echtes Relatum.³⁴ Wenn eine skeptische
Ariadne die Frage gestellt hätte, ob es für Theseus in dem Labyrinth wirklich etwas
zu bekämpfen gegeben hat und ob dieser daher wirklich gekämpft hat, hätte seine
etwaige Antwort, er sei trotz der Abwesenheit irgendeines lebendigen Gegners in
der Lage gewesen einen Kampf zu kämpfen, sie nicht beeindruckt. Warum sollten
also wir von dem Vorschlag mehr beeindruckt sein, dass Denker, denen es an
Relata anderer Art gebricht, nichtsdestotrotz Gedanken dächten?“³⁵
Da Parmenides selbst das Wort νόημα in mehreren Passagen seiner uns er-
haltenen Fragmente gebraucht, können wir im Lichte dessen, wie er dies tut, diese
exegetische Hypothese bis zu einem gewissen Grade anhand seines Textes be-
stätigen. Die meisten Vorkommnisse des Wortes νόημα sind in dieser Hinsicht
indifferent. Eines scheint auf den ersten Block gegen unsere Hypothese zu spre-
chen, da dort ein νόημα so behandelt wird, als ob es ein Gegenstand oder eine
Kreatur wäre: „du sollst von diesem Weg der Untersuchung deinen Gedanken
abhalten [τῆσδ’ ἀφ’ ὁδοῦ διζήσιος εἶργε νόημα]“ (Fr. Β 7). Da diese Textstelle je-
doch eindeutig metaphorisch gemeint ist und den Gedanken vom Denken nicht
unterscheidet, ist sie für unsere Frage letztendlich nochmals indifferent. Die
einzige Passage, die wirklich bedeutsam ist, unterstützt dagegen die obige Deu-
tung: „Denn das Denken und das, weswegen man denkt, sind dasselbe [ταὐτὸν
δ’ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκεν ἔστι νόημα]“ (Fr. 8). Denn diese Stelle scheint νόημα mit
νοεῖν schlichtweg gleichzusetzen.³⁶
Für kognate Akkusative im Griechischen, wo sie weitaus häufiger auftreten als im Deutschen
oder im Englischen, siehe etwa Smyth, Herbert W. (1984): Greek Grammar. Cambridge, Massa-
chusetts, 355 – 357.
Worum es mir hier geht, träfe natürlich ebenso auf andere einschlägige Redewendungen zu
wie z. B. λόγον λέγειν. Da in einer Konstruktion mit kognatem Akkusativ das Substantiv nicht
einmal morphologisch mit dem Verb verwandt sein muss, sondern lediglich semantisch verwandt
sein mag, wäre sogar eine ziemlich große Zahl etwaiger Lösungen des Paradoxons für Parmenides
und seine Zeitgenossen in der hier beschriebenen allgemeinen Weise unannehmbar gewesen.
Man könnte immer noch gegen die Hypothese einwenden, dass sich bereits bei Homer Pas-
sagen finden, in denen Gedanken als Gegenstände behandelt werden, nicht nur als eine Art
sprachlicher Umschreibung der Denkvollzüge selbst. Zum Beispiel wird in der Odyssee VII.36 ein
22 Michael N. Forster
Kurzum, ich will sagen, dass zu jener Zeit, da Parmenides sein Paradoxon
aufbrachte, Menschen, wenn sie den Begriff des Nichtseins verwendeten, sich in
der Tat jener Art impliziten Selbstwiderspruchs schuldig machten, auf den Par-
menides ihre Aufmerksamkeit lenken wollte.
So viel dazu, einige weitverbreitete Missverständnisse des Paradoxons bei-
seite zu räumen. Wie aber hat, so steht nun zu fragen, Parmenides Paradoxon zur
Entwicklung der Metaphysik beigetragen, wie ich zu Anfang behauptet habe?
Teilweise kennen wir die Antwort bereits. Sie ist in der oben aufgeführten Liste von
antiken metaphysischen Theorien zu finden, die durch das Paradoxon motiviert
oder provoziert wurden: Parmenides eigene Theorie des Seins, Gorgias Theorie,
wonach nichts existiert, Protagoras’ Relativismus, Leukipps und Demokrits Ato-
mismus, Platons Theorie wechselweise sich durchdringender Ideen, Aristoteles
Theorie von Form und Materie usw. Man könnte aber diesem Teil der Antwort nicht
ohne Grund entgegnen, dass solche metaphysischen Theorien, obgleich gewiss
faszinierend und historisch einflussreich, letztendlich extravagant, fragwürdig
und veraltet sind. Allein, es gibt auch eine bescheidenere Art von Metaphysik, die
gleichfalls als Reaktion auf das Paradoxon entstanden ist, die eine sachlich zu-
friedenstellende Lösung des Paradoxons auf den Weg gebracht hat, wodurch die
genannten extravaganten metaphysischen Reaktionen eher überflüssig wurden,
und die uns heute noch als integrierender Bestandteil unseres modernen Denkens
begleitet. Ich möchte mich daher hier auf das Aufkommen dieser bescheideneren
metaphysischen Reaktion auf das Paradoxon konzentrieren.
νόημα beschrieben als so schnell wie ein Flügel (vgl. den häufigen homerischen Ausdruck „ge-
flügelte Worte [ἔπεα πτερόεντα]“); und in VII.292 wird jemand dahingehend charakterisiert, dass
er ein gutes νόημα nicht verfehlt, wobei das entsprechende Verb eines ist, das man typischerweise
verwendete, wo ein Ziel verfehlt wird. Meine Erwiderung auf derartige scheinbare Gegenbeweise
ist in etwa die folgende: Homer hat ein auffallend physikalistisches Verständnis des Geistes im
Allgemeinen, einschließlich des Vermögens des νόος (d. h. νοῦς) im Besonderen, den er (be-
sonders häufig in der Odyssee) in der Brust verortet. Bis zum frühen 5. Jahrhundert wird dieses
physikalistische Verständnis des Geistes jedoch von eher dualistischen Vorstellungen zurückge-
drängt (man denke etwa an Xenophanes’ Begriff von Gottes νόος/νόημα (Frr. Β 23, 25 f.) oder an
Pythagoras Begriff von der menschlichen Seele). Unter solchen Umständen hätte die Auffassung
von Gedanken als Gegenständen zunehmend gezwungen gewirkt. Stattdessen wurde die Anzie-
hungskraft einer Auffassung unwiderstehlich, die in Gedanken lediglich den kognaten Akkusativ
der Verben des Denkens sieht. Die ansteigende Popularität der Konstruktion kognater Akkusative
zu dieser Zeit (wie aus der Literatur ersichtlich) wird ebenfalls eine solche Entwicklung begünstigt
haben. Dass Parmenides selbst eine physikalistische Darstellung von νόος und νόημα in Fr. Β 16
zum besten gibt, widerspricht übrigens dieser Erklärung nicht, denn es handelt sich da offen-
sichtlich um eine der falschen Vorstellungen der Menschen, die den Inhalt der zweiten Hälfte des
Lehrgedichts ausmachen.
Ein Anfang der Metaphysik 23
Um uns diesem Teil der Geschichte zu nähern, ist es hilfreich, zunächst eine
grobe Unterscheidung zu machen zwischen zwei sehr unterschiedlichen allge-
meinen Haltungen zu Paradoxa wie dem parmenideischen und ihrer Rolle in der
Geistesgeschichte. Einer weit verbreiteten Ansicht zufolge (exemplarisch zu finden
bei Owen und Furley) decken sie bloß scheinbare Selbstwidersprüche im Denken
auf, die sich anschließend aufgrund der Anerkennung einschlägiger begrifflicher
Unterscheidungen als trügerisch herausstellen. Man könnte jedoch eine alterna-
tive Ansicht dagegensetzen (die man grosso modo als hegelianisch bezeichnen
kann). Danach decken solche Paradoxa zumindest in einigen Fällen genuine
Selbstwidersprüche im Denken auf, die anschließend dank der Erfindung be-
grifflicher Unterscheidungen vermieden werden. Die Art und Weise, in der ich
bislang Parmenides Paradoxon nachgezeichnet habe, lässt bereits erkennen, dass
dieses Paradoxon wenigstens in einer wichtigen Hinsicht eher dem letzteren
Modell als dem ersteren entspricht: die Selbstwidersprüche, die es namhaft
macht, sind echte und nicht bloß scheinbare. Ich möchte aber zudem vorschlagen,
dass Parmenides’ Paradoxon insgesamt dem letzteren Modell entspricht.
Denn schließlich hat man einen Weg zur Vermeidung der Selbstwidersprüche
gefunden, die Parmenides mit seinem Paradoxon namhaft gemacht hat, indem
man eine neue Begrifflichkeit erfunden hat. Wie war dies möglich? Nach meinem
Dafürhalten durch eine Abwandlung der drei Merkmale des vorherrschenden
konzeptuellen Rahmens, den ich oben skizziert habe, a) bis c). Diese drei Merk-
male wurden abgewandelt, indem aʼ) ein ontologisch stärkerer Begriff von Ge-
danken entwickelt wurde, der diese als von Denkvollzügen unterschieden be-
stimmte; so dass bʼ), wenn man einen Ausdruck wie ‚denken‘ verwendete, der das
Vorhandensein eines Relatums implizierte, nur mehr impliziert wurde, dass es
Gedanken als Relata gibt; mit dem Ergebnis cʼ), dass, während das Denken (und
Gedanken) zuvor auf gewisse Weise mit begrifflicher Notwendigkeit an das Vor-
handensein korrespondierender Gegenstände bzw. Sachverhalte gebunden war,
indem deren Vorhandensein als Relata durch die schiere Anwendung des Aus-
drucks ‚denken‘ (oder ‚Gedanken‘) impliziert wurde, das Denken (und Gedanken)
jetzt im Prinzip ganz unabhängig verstanden wurde vom Vorhandensein solcher
Gegenstände bzw. Sachverhalte (mit anderen Worten entwickelte sich in den
Köpfen der Menschen zum ersten Mal eine scharfe theoretische Unterscheidung
zwischen Denken (oder Gedanken) einerseits und Wirklichkeit andererseits).
Meiner Meinung nach sind diese revolutionären Schritte einer Abwandlung
des konzeptuellen Rahmens, in dem das Paradoxon vormals entstanden ist, nicht
in erster Linie von den ‚üblichen Verdächtigen‘ der antiken Philosophie, Platon
und Aristoteles, unternommen worden, sondern von Denkern, die gemeinhin
24 Michael N. Forster
weniger hochgehalten werden.³⁷ Und zwar findet sich diese Lösung des Parado-
xons zuerst, obgleich in noch recht roher und diffuser Form, bei dem Sophisten
Gorgias, insbesondere im zweiten und dritten Teil seiner Abhandlung Über das
Nichtseiende oder Über die Natur. Wie bereits erwähnt, setzt sich der erste Teil
dieser Abhandlung für die äußerst antiparmenideische These ein, dass nichts
existiert – und das vornehmlich mittels einer Reihe eher plumper Argumente, die
zwar nicht hinsichtlich ihrer Qualität, aber doch ihrem allgemeinen Stil nach
denen von Parmenides ähneln. Allerdings ist es erst im zweiten und dritten Teil –
wo Gorgias konstatiert, dass, selbst wenn etwas existierte, wir es nicht wissen
könnten, und dass, selbst wenn wir es doch wissen könnten, wir nicht in der Lage
wären, es anderen mitzuteilen –, wo sich jene fruchtbare Auseinandersetzung mit
dem Paradoxon findet, für die ich mich hier interessiere. Gorgias nimmt nämlich
dort gerade die beiden soeben beschriebenen konzeptuellen Abwandlungen vor,
aʼ) und bʼ), und begrüßt demgemäß gleichfalls ihre Implikation cʼ).³⁸
Die relevanten Stellen in Gorgias Text, wie Sextus Empiricus ihn zusam-
menfasst, lauten wie folgt. (Die entscheidenden Behauptungen habe ich jeweils
durch Hinzusetzungen in Klammern identifiziert.)
Denn wenn das Gedachte, sagt Gorgias, nicht seiend ist [das heißt, wenn Parmenides falsch
liegt und Menschen das Nichtseiende doch denken können und tatsächlich denken], wird das
Seiende nicht gedacht [Das heißt wenigsten b’), das Denken hat das Seiende nicht als sein
wesentliches Relatum, so dass cʼ), das Denken ist prinzipiell unabhängig vom Seienden. (Ich
Ich will keineswegs ausschließen, dass Platon und Aristoteles unbeabsichtigt zu dieser Lösung
beigetragen haben. Insbesondere könnte Platons Theorie separater Ideen als eine (eher extra-
vagante) Version eines wichtigen Teils der Lösung angesehen werden: Begriffe als vom
menschlichen Denkvollzug unabhängige Gegenstände zu postulieren, welche dieser gebraucht.
Überdies hat sie mit ziemlicher Sicherheit zur Entwicklung einer der absichtlichen Lösungen des
Paradoxons beigetragen, die wir unten noch näher diskutieren werden, nämlich der stoischen
Lehre von den λεκτά (wie schon zuvor die platonischen Ideen werden die stoischen λεκτά als
abstrakte Gegenstände verstanden, die Teilen der Sprache entsprechen und deren Funktion er-
möglichen und die unkörperlich sind). Jedoch hat Platon, soweit ich sehen kann, nicht separate
Ideen postuliert, um Parmenides Paradoxon zu lösen. Dafür spricht zum einen sein Schweigen in
dieser Hinsicht, wo er seine Ideentheorie entfaltet. Dafür spricht zum anderen die Tatsache, dass
während die Theorie separater Ideen im Prinzip eine plausible Lösung für das Paradoxon in seiner
paradigmatischen Fassung, als Paradoxon der Nichtexistenz hätte bieten können (vor allem,wenn
es als Paradoxon der Nichtxistenz ganzer Arten, aber selbst wenn es als Paradoxon der Nicht-
existenz von Individuen verstanden wird, sofern die Ideentheorie als Mittel der Analyse singulärer
Terme entwickelt worden wäre), Platon in seinem Sophistes vielmehr aus lauter Verzweiflung über
diese Fassung des Paradoxons einfach die Hände über dem Kopf zusammenschlägt (258e).
Für Gorgias selbst ist die Schlussfolgerung cʼ) kein bloßes Nebenprodukt einer Lösung für das
Paradoxon, besteht doch das letzte Ziel seiner Abhandlung gerade darin, diese Schlussfolgerung
für skeptische Zwecke nutzbar zu machen. (Die Pyrrhoniker werden dies später ebenfalls tun.)
Ein Anfang der Metaphysik 25
sage ,wenigstens‘, weil Gorgias sehr wohl mehr als nur dies meint, nämlich eine angebliche
skeptische Konsequenz aus cʼ), dass das Denken niemals das erfasst, was ist.)] […] Doch ist
das Gedachte […] nicht seiend, wie wir aufzeigen werden. Also wird das Seiende nicht ge-
dacht. […] Denn es ist auch nicht der Fall, dass sogleich, wenn immer jemand denkt, ein
Mensch fliege oder Wagen führen übers Meer, ein Mensch fliegt oder Wagen übers Meer
fahren. Daher ist das Gedachte nicht seiend. […] Denn Skylla, Chimaira und viele Nichtsei-
ende werden gedacht. Also wird das Seiende nicht gedacht.³⁹ Und wie, was gesehen wird,
deswegen Gesehenes heißt, weil es gesehen wird, und das Gehörte deswegen Gehörtes, weil
es gehört wird, und wir das Gesehene nicht fallen lassen, weil es nicht gehört wird, und das
Gehörte nicht von uns weisen, weil es nicht gesehen wird […], so existiert auch das Gedachte,
selbst wenn es mit dem Gesichtssinn nicht gesehen und mit dem Gehör nicht gehört würde,
weil es vom eigenen Kriterium erfasst wird. [Dieser letzte Satz zeigt aʼ), einen Begriff von
Gedanken, der diese als den Vollzügen des Denkens gegenüber Unterschiedenes bestimmt,
als genuine Relata solcher Vollzüge. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass hier die
Beziehung eines Denkvollzuges zu seinem Gedanken nach dem Modell der Beziehung eines
Akts der Sinneswahrnehmung zu dessen Objekt gedacht wird.]⁴⁰
Eine weitaus subtilere Version der im Grunde selben theoretischen Schritte findet
sich später im Stoizismus. Die Stoiker haben ein Reich unkörperlicher, bloß
subsistierender ‚Sagbarer [λεκτά]‘ (das heißt in etwa das, was wir heute Propo-
sitionen oder Prädikate nennten)⁴¹ – und (zumindest in einigen Fällen) auch
fiktionaler Entitäten – angenommen, die sich von körperlichen, existierenden
Dingen unterscheiden und die unserer körperlichen Seele als die primären und
Gewiss, hier scheint ein grober Fehlschluss vorzuliegen – quasi eine Verwechslung von ‚Daher
ist das Gedachte nicht seiend‘ einmal im Sinne von ,Einiges Gedachtes existiert nicht‘ und an-
dererseits im Sinne von ,Alles Gedachte existiert nicht‘. Eine wohlwollende Lesart sähe aber wohl
im Hintergrund (zusätzlich) eine weniger grobe Argumentation am Werk: Um der Tatsache
Rechnung zu tragen, dass einige gedachte Dinge nicht existieren, muss man einen scharfen
Unterschied zwischen dem Denken und seinen Objekte anerkennen; doch wenn man dies tut,
scheint es, dass nichts, was wirklich existiert, gedacht werden könnte.
Sextus Empiricus: Gegen die Dogmatiker I.77– 82. Im Zusammenhang mit diesem letzten Punkt
vgl. Gorgias’ Bemerkung: „Auch wenn der λόγος zugrunde liegt, unterscheidet er sich aber vom
übrigen zugrunde liegenden und es besteht sogar ein sehr großer Unterschied zwischen den
sichtbaren Körpern und dem λόγος. Denn das Sichtbare ist durch ein Organ fassbar, der λόγος
durch ein anderes.“ (I.86)
Die Stoiker haben, was wir heute Propositionen nennen (z. B. ‚Sokrates läuft‘), als vollständige
λεκτά klassifiziert, und, was wir als Prädikate bezeichnen (z. B. ‚läuft‘), als unvollständige λεκτά.
Die Übereinstimmung mit unseren heutigen Auffassungen ist indes nicht eindeutig. Während wir
zum Beispiel sagen, dass dieselbe Proposition mit verschiedenen illokutionären Kräften auftreten
kann, dass sie manchmal behauptet wird, manchmal erfragt, manchmal geboten, haben die
Stoiker normalerweise die illokutionäre Kraft einem vollständigen λέκτον zugeschlagen und als
Teil von dessen Identität betrachtet.
26 Michael N. Forster
eigentlichen Relata für Vollzüge des Denkens und Sprechens dienen.⁴² Die Stoiker
haben diese Theorie offensichtlich zum großen Teil als Lösung für Parmenides
Paradoxon des Nichtseins entwickelt. Das kann man zum Beispiel an Senecas
Erklärung ablesen, warum für die Stoiker ‚etwas‘ die höchste Gattung sei, unter die
nicht nur das existierende Körperliche, sondern gleichfalls das bloß subsistie-
rende Unkörperliche falle:
Einige Stoiker erachten ‚etwas‘ als die erste Gattung, und ich werde den Grund ergänzen,
warum sie dies tun. In der Natur, so sagen sie, existieren einige Dinge, einige existieren nicht.
Aber die Natur schließt selbst diejenigen, die nicht existieren, mit ein – Dinge, die uns in den
Sinn kommen wie Zentauren, Riesen und was sonst, durch unser Denken fälschlicherweise
gebildet, trotz fehlender Substanz sein Bild annimmt.⁴³
Diese Theorie setzt wiederum auf eine Lösung des Paradoxons dank aʼ) bis cʼ) (und
zwar sogar noch deutlicher als bei Gorgias): aʼ) Sie führt einen ontologisch stärkeren
Begriff von Gedanken ein, der diese als von Denkvollzügen unterschieden bestimmt
(nämlich die unkörperlichen λεκτά (sowie fiktionale Entitäten) als unterschieden von
der körperlichen Seele und ihren Tätigkeiten beim Denken und Sprechen). bʼ) Sie setzt
daher Ausdrücke wie ‚denken‘ auf eine solche Weise ein, dass lediglich Gedanken als
Relata des Denkvollzuges impliziert werden (das heißt λεκτά (sowie fiktionale Enti-
täten), die als die einzig wesentlichen Relata von Denkvollzügen betrachtet werden).
Und in der Folge betrachtet sie c’) das Denken als prinzipiell unabhängig vom Vor-
handensein von den Gegenständen bzw. Sachverhalten, auf welche es normalerweise
geht (das spiegelt sich in der scharfen Unterscheidung, welche die Stoiker zwischen
dem unkörperlichen, bloß subsistierenden Charakter der einzig wesentlichen Relata
des Denkens, der λεκτά (sowie fiktionaler Entitäten), und dem körperlichen, exis-
tierenden Charakter der Gegenstände bzw. Sachverhalte machen, auf die sich das
Denken normalerweise bezieht).
Wie ich vorschlagen möchte, ist es letztlich nur diesen begrifflich-ontologischen
Innovationen zu verdanken, die ursprünglich auf die Sophisten und die Stoiker zu-
Vgl. Long, Anthony A./Sedley, David (1987): The Hellenistic Philosophers. Bd. 1. Cambridge,
insb. 162– 165, 195 – 202. Die kurze Skizze der stoischen Position, die ich hier gegeben habe, weicht
in einem kleinem Punkt von Lang und Sedley ab, nämlich bei der Interpretation fiktionaler En-
titäten als (wie λεκτά) Unkörperliches. Meine Gründe für diese Interpretation sind, kurz gesagt,
die: 1) Ein Hinweis aus einer sorgfältigen Quelle verlangt diese Interpretation, nämlich die Be-
obachtung von Alexander von Aphrodisias, dass die höchste Gattung der Stoiker „,etwas‘ nur von
Körperlichem und Unkörperlichem ausgesagt wird“ (Long/Sedley 1987, 179 – 180). (Wenn das die
einzigen beiden Möglichkeiten sind, dann müssen fiktionale Entitäten, da sie eindeutig nicht
körperlich sind, wohl unkörperlich sein.) 2) Kein Textbeleg spricht gegen diese Interpretation.
3) Dies scheint für die Stoiker die sachlich am nächsten liegende Auffassung zu sein.
Long/Sedley 1987, 162.
Ein Anfang der Metaphysik 27
rückgehen, dass wir heute nicht mehr in den Fesseln von Parmenides Paradoxon
gefangen sind, sondern eine Lösung desselben wie die oben erwähnte so offen-
sichtlich und zufriedenstellend finden – nämlich die Lösung, die Owen und Furley
implizit voraussetzen und die besagt: die angeblich fehlenden Relata des Denk-
vollzuges sind Gedanken (oder Begriffe oder Propositionen oder dergleichen).
Wie genau diese Relata des Denkens/Sprechens aufzufassen sind, war freilich
schon in der Antike, dann im Mittelalter noch und ist noch bis heute umstritten. In der
Antike stand Gorgias’ Meinung, sie seien eine besondere Art von Dingen, etwas im
Gegensatz zu der der Stoiker, die sie eher als abstrakte λεκτά betrachteten.⁴⁴ Daneben
haben der Platonismus und der Aristotelismus weitere Varianten hervorgebracht. Im
Mittelalter brach der berühmte Disput zwischen Realisten, Konzeptualisten und
Nominalisten aufgrund ihrer unterschiedlichen Auffassung von Begriffen auf. In der
Neuzeit schließlich finden sich mindestens zwei Großgruppen von Theorien über die
Natur der wesentlichen Relata des Denkens/Sprechens, die miteinander in Konkur-
renz stehen: eine Gruppe, vertreten durch Brentano, Meinong, Mally und Parsons, die
dazu neigt (mehr wie Gorgias denn wie die Stoiker), sie als intentionale Gegenstände
zu begreifen; die andere Gruppe, vertreten durch Frege und Russell, die stattdessen
dazu tendiert (mehr wie die Stoiker denn wie Gorgias), sie als Begriffe und Propo-
sitionen zu verstehen.⁴⁵ Solche theoretischen Lösungen für Parmenides Paradoxon
importieren in der Regel zusätzliche Motive, die jenseits des bloßen Wunsches liegen,
das Paradoxon selbst zu vermeiden. Zum Beispiel appellieren Theoretiker des in-
tentionalen Objekts zumeist an phänomenologische Evidenzen, die angeblich durch
Introspektion erschlossen werden, wohingegen Theoretiker, die Begriffe und Propo-
sitionen bevorzugen, sich eher auf solche Tatsachen berufen wie etwa die, dass
verschiedene Wörter und Sätze (sowohl innerhalb einer Sprache als auch in ver-
schiedenen Sprachen) oftmals denselben Inhalt zum Ausdruck bringen und dass
verschiedene Typen von Sprechakten (zum Beispiel Behaupten, Fragen und Befehlen)
sowie auch verschiedene Typen psychologischer Einstellungen (etwa Glauben,
Wünschen und Hassen) alle denselben Inhalt teilen können. Außerdem, während
einige dieser Theorien in ihrer Auffassung der fraglichen Relata eher ontologisch
extravagant oder nichtreduktiv sind (beispielsweise der mittelalterliche Realismus
oder Freges Platonismus), sind andere eher ontologisch sparsam oder reduktiv (etwa
Wenn man jedoch einerseits berücksichtigt, was Gorgias in Gegen die Dogmatiker I.86 über den
λόγος sagt (siehe Anm. 40), und andererseits die Einbeziehung von fiktionalen Entitäten durch die
Stoiker, scheint die Differenz zwischen ihren Positionen nicht mehr so groß: eine Differenz mehr
der Betonung denn in der Substanz.
Russell hat u. a. in Bezug auf Eigennamen eine Lösung für Parmenides Paradoxon entwickelt,
indem er Eigennamen als definite Beschreibungen analysiert und dann definite Beschreibungen
wiederum als Propositionen eines bestimmten Typs begriffen hat.
28 Michael N. Forster
der mittelalterliche Nominalismus oder Quines Theorie, dass Propositionen Arten von
Sätzen in der Umgangssprache sind).⁴⁶ Inmitten all dieser Auseinandersetzungen und
Entwicklungen soll man jedoch nicht den Wald vor lauter Bäumen übersehen: Diese
Theorien sind alle Mitglieder einer großen Familie von Positionen, die ursprünglich
von Parmenides Paradoxon angeregt worden sind, indem sie dafür eine Lösung
anbieten wollten. Solche Theorien, welche genaue Form sie auch immer annehmen,
machen ein Stück Metaphysik oder allgemeiner Ontologie aus, wenn auch vielleicht
ein eher bescheidenes. Und wir können uns kaum vorstellen, wie wir ohne dieses
Stück Metaphysik zurechtkommen könnten – es sei denn, dass wir bereit wären, den
Preis in Kauf zu nehmen, uns wieder in jene Widersprüche zu verfangen, auf die uns
Parmenides vor langer Zeit so brillant aufmerksam gemacht hat.
Es soll bemerkt werden, dass der Reduktionismus nicht mit einer Lösung von Parmenides
Paradoxon unverträglich sein muss, die ein genuines Relatum für Vollzüge des Denkens/Spre-
chens identifiziert, solange die Reduktion das Relatum nicht einfach in solchen Vollzügen selbst
aufgehen lässt.
Thomas Dewender (Bonn)
A Short Comment on
Michael Forster’s Paper
In the following I shall confine myself to making two remarks on Prof. Forster’s
extremely rich and stimulating paper by giving a short commentary on each one
of his paper’s main theses.
Prof. Forster’s first thesis is that Parmenides actually was the first thinker to
have articulated an explicit version of the law of contradiction – and not Aristo-
tle, who usually gets the credit for this. This claim is based on a reading of some
fragments from Parmenides’ poem where Parmenides speaks about being and
not-being, such as the following remark in fr. 8: “And the decision about
these things lies in this: it is or it is not,”¹ which are interpreted by Prof. Forster
as being concerned not only with negations of existence, but also with negations
of predicates and whole propositions. In fact, these passages from Parmenides’
poem are notoriously obscure and have given rise to a great number of diverging
interpretations. One may certainly argue that in these passages Parmenides
makes an ‘implicit’ use of the law of contradiction, an assertion which presup-
poses that someone reading these difficult texts already has this law in mind.
However, one may hesitate, as I would do, to find any ‘explicit’ formulation of
this law in Parmenides’ texts.
In fact, if we look at Aristotle’s texts, we do not only find an explicit state-
ment of the law of contradiction, but also the first precise distinction between
the various ways in which concepts and propositions may be put in opposition
to each other, namely a clear distinction between contrary and contradictory
terms and propositions, which certainly is a prerequisite for formulating the
law of contradiction.² Furthermore – and this is quite an important point in
my view – Aristotle, in his discussion of the law of contradiction in Metaphysics,
book Γ,³ does not only state this law in three different versions, viz. in an onto-
logical, a logical and a psychological one, but he also advances a series of argu-
ments which purport to demonstrate why we have to accept the law of contradic-
Parmenides, B8; to be found in Kirk, Geoffrey S./Raven, John E./Schofeld, Malcolm (1984): The
Presocratic Philosophers. Cambridge.
Aristotle’s doctrine of contrariety may be found in his Categories, chapters 10 and 11. For a
good overview of Aristotle’s subtle treatment of this topic, see Anton, John P. (1957): Aristotle’s
Theory of Contrariety. London.
I am using Kirwan’s translation of the Metaphysics: Kirwan, Christopher (trans.) (21993): Aris-
totle’s Metaphysics (Metaph), Books Γ, Δ and Ε. Oxford.
30 Thomas Dewender
tion. Thus, to cite the different formulations Aristotle uses to express the law of
contradiction, it is impossible “for the same thing to hold good and not to hold
good simultaneously of the same thing and in the same respect,”⁴ which brings
out the ontological point of view; on the level of propositions, it is impossible
“simultaneously to affirm and deny truly,”⁵ which is equivalent to saying that
“opposite assertions are not simultaneously true,”⁶ and finally, from the psycho-
logical point of view, “it is impossible for anyone to believe that the same thing
is and is not.”⁷
Having a closer look at the arguments Aristotle uses to show why we have to
accept the law of contradiction in its different forms, one may, following David
Ross’s well-known commentary on the Metaphysics, distinguish up to seven dif-
ferent lines of argument in the text of book Γ.⁸ Prof. Forster basically considers
only the first of these – and dismisses another one⁹ as begging the question –,
namely Aristotle’s claim that if we make any utterance, we must mean some-
thing, and attributing a definite meaning to words and propositions is impossi-
ble without assuming the law of contradiction.¹⁰ Though it is obvious that a par-
ticular theory of meaning, namely Aristotle’s own semantic theory, is involved
here and that this theory of meaning can easily be criticized from a, say, Wittgen-
steinian point of view, I nevertheless think that Aristotle’s formulation could be
recast in more general terms taking into account alternative theories of meaning
as well – and if I understand him correctly, Prof. Forster would agree to this.
Then, we have Aristotle’s other arguments in favor of accepting the Law of
Contradiction that would deserve a closer consideration. One of these arguments
points to the fact that those people who deny this law display in their behavior
and in their actions that they actually do have some strong convictions and thus
at least implicitly accept the law of contradiction.¹¹ This line of argument shows
that Aristotle himself was quite well aware of the fact that, even though the law
of contradiction per se is the most secure and most known of all principles, this
does not mean that it is best known ‘to us,’ as the case of a person with strong
convictions which nevertheless display some contradictions that remain unno-
Metaph, 1005b19 f.
Metaph, 1011b20 f.
Metaph, 1011b13 f.
Metaph, 1005b23 f.
See Ross, William D. (ed.) (1924): Aristotle’s Metaphysics. A Revised Text with Introduction and
Commentary. Vol. I. Oxford, 265 ff.
Cf. Metaph, 1005b26 – 32.
Cf. Metaph, 1006a11– 1007a35.
Cf. Metaph, 1008b2– 31.
A Short Comment on Michael Forster’s Paper 31
ticed to that person shows. This argument, furthermore, forges interesting links
between the realms of theoretical and practical philosophy, an aspect that would
deserve further comments which cannot be given here, but which again testifies
to the extreme richness and subtlety of Aristotle’s discussion of the law of con-
tradiction in Metaphysics Γ.
To summarize the first point: even though I fully agree with Prof. Forster’s
claim that metaphysics in the Western tradition does in fact begin with Parme-
nides, I think we are still justified to ascribe the real ‘discovery’ of the Law of
Contradiction as the most basic principle underlying all human speech and all
reasoning to Aristotle, who in the wake of Parmenides and of Plato’s Sophistes
was the first to formulate this law explicitly and to advance various subtle argu-
ments why we cannot avoid accepting it.
My second point just contains some affirmative and additional remarks on
Prof. Forster’s other main thesis, viz. on Parmenides’ paradox of not-being
which states the incoherence of the conception of not-being and its role as ‘a
powerful generator of metaphysics,’ as it motivated the development of some in-
teresting metaphysical doctrines. I fully share the view that this paradox must
not be regarded as a mere sophism, but that it reveals a real incoherence in at
least some notions of not-being. Thus, Parmenides’ paradox became the source
of several fruitful and important attempts to overcome this incoherence. Among
these, Plato’s reply in the Sophistes to Parmenides’ denial of the existence of not-
being is well known to interpret not-being just as a being-other-than, or, in other
words, to distinguish between the existential and the predicative uses of the verb
‘to be.’ Another important, but much less known response to Parmenides’ para-
dox to which Prof. Forster has drawn our attention, is a reaction to the idea
which may be found already behind Parmenides’ own statement of his paradox,
namely that thinking and being are closely related and that there is nothing in
between them. Credit has to go to the Stoics, and probably to the Sophist Gorgias
as their predecessor, for having discovered another realm of being that lies in be-
tween thinking and material reality, namely the realm of those beings that exist
only as objects of thought – the famous lekta. The Stoics also used the term epi-
noia to describe both human thinking and its results, which is a kind of being or
a reality whose existence consists only in ,being thought‘ of, a mode of being
which will be called ‘objective being’ (esse obiectivum) in later Medieval philos-
ophy. Thus, the Stoics actually were the first to take into consideration an ontol-
ogy of concepts and propositions apart from an ontology of the natural, the ma-
terial (and immaterial) world. This kind of ontology had been rejected by
32 Thomas Dewender
Aristotle in the sixth book of his Metaphysics,¹² where he explicitly excludes the
“being as true” together with accidental being from the realm of metaphysics.
However, this kind of being gained some prominence in late Antiquity and
then again from the later Middle Ages onwards, where we find numerous discus-
sions on beings of reason and chimerae (that is, impossible objects which can
nevertheless become the object of thought) and their ontological status. All
those debates – which can claim a high, though somewhat undeservedly neglect-
ed relevance for the history of metaphysics and ontology – are truly a late fruit of
Parmenides’ formulation of the paradox of not-being.¹³
I
Die weit verbreitete und gern gepflegte Metaphysikkritik richtet sich – wenn sie
nicht bloß Ausdruck eines eher unartikulierten Unbehagens ist – zumeist gegen
einen bestimmten Typ von Metaphysik, oder genauer gegen eine bestimmte For-
mation der Disziplin Metaphysik. Es ist bei Lichte besehen also eine Kritik an einer
bestimmten disziplinären Ausformung von Metaphysik. Das aber hat es – blickt
man auf die Geschichte der Metaphysik – metaphysikintern schon immer gegeben.
Warum dieser Streit aber innerhalb der Metaphysik heftiger ist und bis hin zu einer
vehementen Ablehnung des metaphysischen Projekts überhaupt führt, hängt
wohl mit ihrem Charakter und Anspruch einer ersten Wissenschaft zusammen.
Einen Grund nennt Immanuel Kant in seiner Vorrede zur ersten Auflage der Kritik
der reinen Vernunft, wenn er davon spricht, dass die Vernunft in dem Versuch,
immer höher, zu entfernteren Bedingungen aufzusteigen, letztlich zu Grundsätzen
Zuflucht nimmt, „die allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten“, und
sich dadurch „in Dunkelheit und Widersprüche“ stürzt.¹ Der „Kampfplatz“ der
daraus erwachsenden „endlosen Streitigkeiten“ heiße Metaphysik.²
Hinter dieser Problemstellung, die nicht zuletzt auch das Ergebnis einer Insti-
tutionalisierung des Metaphysikdiskurses in einer zweieinhalbtausendjährigen Dis-
ziplingeschichte ist, schimmert der eigentliche Ausgangspunkt und die Eigenart
metaphysischen Fragens durch. Der Freilegung dieses Ausgangspunktes dient das
folgende archäologische Unternehmen, das sich des historischen wie systematischen
Ausgangspunktes des metaphysischen Fragens zu versichern sucht.
Ich sage bewusst nicht: der Metaphysik. Denn es geht mir nicht um die Dis-
ziplingeschichte der Metaphysik und damit um die Frage, ob und wie diese ihre
vormals angestammte Stellung als ,erste Wissenschaft‘ aktuell und künftig be-
haupten kann. Denn die Felder des Wissens erscheinen disparater denn je, und
zumeist sind es andere Wissenschaften, die heute mit dem Anspruch einer Leit-
disziplin oder gar einer ,ersten Wissenschaft‘ auftreten. Doch das ist für den, der
sich auf die Suche nach einem Wissen von den ersten Ursachen macht, keine
II
Den Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen aber bildet einer der ikoni-
schen Sätze der Philosophiegeschichte – nicht nur für das Philosophieverständnis
des Aristoteles selbst, sondern für das Philosophieren überhaupt: „Πάντες
ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει.“ – „Alle Menschen streben von Natur aus
nach Erkenntnis und Wissen.“⁵ Dass Aristoteles diese Aussage an den Anfang
seiner später Metaphysik genannten Schrift setzt, ist programmatisch für sein
Verständnis jenes Diskurses, den er als Suche nach einer ersten Wissenschaft
beschreibt, die als Referenzpunkt zugleich die Konvergenzbedingungen für das
epistemische Projekt bereithält.
Aristoteles selbst gebraucht einen anderen Namen: „πρώτη φιλοσοφία“ –
„erste Philosophie“⁶ oder „πρώτη ἐπιστήμη“ – „erste Wissenschaft“⁷. Dies ge-
schieht im doppelten Sinn des Wortes, setzt er doch diejenigen, welche sich auf die
Suche und auf den Weg nach jenem ausgezeichneten Wissen machten,⁸ das er als
Wissen der ersten Ursachen und Prinzipien bestimmt (τὰ πρῶτα αἴτια καὶ τὰς
ἀρχὰς),⁹ mit den ersten Philosophen gleich, die nach den Ursachen von allem
gesucht hätten, woraus alles Seiende ist, woraus als dem Ersten es entsteht und
worin als dem Letzten es wieder untergeht.¹⁰
Diesem Rekurs auf die konkrete historische Ausgangssituation, dem wir zu
großen Teilen auch unsere Kenntnis der sogenannten Vorsokratiker verdanken,
entspricht hinsichtlich der wissensgenetischen Rekonstruktion die Berufung auf die
Evidenz der Alltagserfahrung, etwa auf diejenige des Handwerkers oder des Arztes.
Auf diese Weise stellt der Gedankengang am Beginn der aristotelischen Metaphysica
eine eigentümliche Mischung aus erfahrungs- und begründungstheoretischer Argu-
mentation dar. Für Alexander von Aphrodisias, einem der ältesten in einer langen
Reihe von Kommentatoren, ist dieser Ausgang von der allgemeinen Alltagspraxis
bezeichnend für die Art und Weise,wie Aristoteles seine Untersuchungen gewöhnlich
beginnt, um schließlich zu allgemeinen Vorstellungen bzw. Allgemeinbegriffen
(κοιναὶ ἔννοιαι) zu gelangen.¹¹ Im Ausgang von der flüchtigen, auf den singulären
Eindruck beschränkten Wahrnehmung (αἴσθησις) bietet das Gedächtnis (μνήμη) die
Möglichkeit, derartige Eindrücke zu speichern und somit die Grundlage für die Er-
fahrung (ἐμπειρία) bereitzustellen, die stets auf einer Mehrzahl gleicher und gleich-
artiger Eindrücke beruht. Diese erlauben uns eine bessere Orientierung in ver-
gleichbaren Situationen, ohne dass daraus bereits eine feste Regel gewonnen werden
könnte. Das Regelhafte zu erkennen ist hingegen eine Kunst (τέχνη), die schließlich
zum Wissen (ἐπιστήμη) im eigentlichen Sinne führt, das eben darin über die
Kunstfertigkeit hinausgeht, dass es stets auch das Prinzip der jeweils erkannten
Gesetzmäßigkeit in den Blick nimmt.
Hier zeigt sich das Strukturprinzip dieser kurz gefassten Rekonstruktion der
Wissensgenese von der Wahrnehmung über die Erinnerung, die Erfahrung und die
Kunstfertigkeit zum Wissen gemäß der aristotelischen Vorgabe aus Metaph. A 1: Es
geht um die Verknüpfung von einfachen Informationseinheiten und Daten und
um das Meistern von Komplexität. Dies geschieht durch die Zuordnung einzelner
Elemente zu einer Folge und schließlich durch das Einführen eines Kriteriums.
Dieses Kriterium fungiert als Bedingung, der gemäß die Glieder der jeweiligen
Folge innerhalb der durch dieses Kriterium gesetzten Grenzen ,eingefangen‘
werden können und das somit als Voraussetzung für die betreffende Erkennt-
nisoperation gelten kann. Bei diesem Verfahren geht es nicht so sehr um Ho-
mogenität, sondern – so habe ich an anderer Stelle ausführlich argumentiert – um
Konvergenz, und es geht um die Voraussetzungen dieser Konvergenz.¹²
Dieser Sinngehalt von Konvergenz scheint mir recht genau die Grundintention
des aristotelischen Gedankengangs am Beginn seiner Metaphysikvorlesung zu
treffen: Die aristotelische Wissensgenese nämlich setzt bezogen auf das jeweilige
epistemische Feld eine Grenzwertannahme voraus, welche der Erkenntnisopera-
III
Die Konvergenzkriterien der gesuchten ersten Wissenschaft sind Allgemeinheit,
Genauigkeit und das Wissen um die ersten Prinzipien und Ursachen.¹⁵ Ein solches
Wissen ist jedoch – so lauten die von Aristoteles aufgestellten Kriterien – am
schwersten zu gewinnen, da es am weitesten von den Wahrnehmungen entfernt
ist; es ist andererseits genauer, da es mit weniger Bestimmungen auskommt; es
befähigt zudem am meisten zum Lehren, sofern es uns in die Lage versetzt, von
jedem Ding die Ursachen anzugeben, und bildet gerade darin mehr als alles übrige
Wissen die Voraussetzung dafür zu erkennen, worum willen ein jegliches zu tun
ist; dabei ist es selbst zweckfreies Wissens und Verstehen um seiner selbst willen –
nicht als l’art pour l’art, sondern als Reflexion auf jene Bedingungen und Prin-
zipien, „durch die und aus denen die übrigen Dinge erkannt werden“¹⁶.
Darin zeigt sich ein konstitutives epistemisches Strukturmoment metaphysi-
schen Denkens, das im Ausgang von der Wahrnehmung (αἴσθησις) auf die Be-
dingungen des Verstehens abhebt. Hierbei nimmt das Denken nicht nur die Ver-
stehensbedingungen der jeweils konkreten Kunstfertigkeit (τέχνη) oder
Wissensform (ἐπιστήμη) in den Blick. Dieser Blick richtet sich vielmehr auf die
Bedingungen des Verstehens schlechthin. Je weiter aber die Analyse voran-
schreitet, desto deutlicher wird erkennbar, dass der Auffindungszusammenhang
schon einen gewissen Begründungszusammenhang als dessen Voraussetzung
(presupposition) voraussetzt. Beide sind invers miteinander verschränkt: Die Su-
che nach den Bedingungen, unter denen wir etwas wissen können, lässt nämlich
erkennen, dass das, was sich uns als Erstes zeigt, nicht das Erste in der Begrün-
dungsordnung ist, sondern sich schon immer und nur unter den Grenzwertbe-
dingungen des jeweiligen Prinzips als der jeweiligen Voraussetzung erschließt,
ohne dass dieses Prinzip jedoch in der Weise erkannt werden kann, dass diese
beiden Ordnungen ,für uns‘ (πρὸς ἡμᾶς) und ,an sich selbst‘ (καθ’ αὑτὰ) zusam-
menfielen.¹⁷ Damit entfällt die Möglichkeit, die Untersuchungsrichtung umzu-
kehren und diese Wissenschaft deduktiv zu entwickeln.
Doch gerade diese methodische Selbstbeschränkung des metaphysischen
Denkens ist in der Folgezeit nicht unwidersprochen geblieben, etwa in der For-
derung nach einem höheren Maß an apodeiktischer Verbindlichkeit. Der mos
geometricus als Modell einer strengen Wissensaxiomatik hat seine Faszination
bekanntlich bis heute nicht verloren.¹⁸ Für Aristoteles jedoch – darauf hat vor
allem Pierre Aubenque hingewiesen – bleibt die erste Wissenschaft in der Kon-
sequenz eine ,gesuchte Wissenschaft‘ (ἐπιστήμη ζητουμένη) – so lautet ja auch
der keineswegs rhetorisch gemeinte Name, unter dem uns Aristoteles diese Wis-
senschaft zunächst vorstellt. Dieser Gestus des Suchens (ζήτησις) bestimmt das
Ziel (σκοπός), die Methode (μέθοδος) und die Eigenart (φύσις) eines Philoso-
phierens nach Art des metaphysischen Denkens.¹⁹
IV
Mit dieser Unzugänglichkeit muss wohl erklärt werden, warum sich Aristoteles bei
der Antwort auf die Frage, was denn die Natur der gesuchten Wissenschaft sei,
zunächst auf diejenigen bezieht, „die vor uns zu einer Untersuchung der Natur der
Dinge schritten und über die Wahrheit philosophierten“²⁰. Denn auch diese hätten
von gewissen Prinzipien und Ursachen gesprochen, die für die eigene Erörterung
von Nutzen seien, sei es dass eine andere Art von Ursachen gefunden oder die
bereits genannten bestätigt würden. Somit gewinnt Aristoteles seine Antwort
zunächst im Rekurs auf die Theorien vornehmlich der Ionischen Naturphiloso-
phen, die er vorfindet und die er zum Teil ausführlich darstellt und diskutiert, um
zu zeigen, wie ein jeder seiner Vorgänger, „wie gesagt, von der Wahrheit selbst
genötigt war, das nächstfolgende Prinzip zu suchen“, wenn die bisherige Antwort
sich als unzureichend erwies.²¹ In diesem Sinne sind – wie Robin George Col-
lingwood zu zeigen versucht hat – auch absolute Annahmen (absolute presup-
positions), wie sie die Metaphysik zum Gegenstand hat, in geschichtliche Ent-
wicklungsprozesse einbezogen.²² Denn jene Grundüberzeugungen, die der
Metaphysiker zu erfassen und einzuordnen versuche, seien eben nicht einfach
Antworten auf Fragen, vielmehr Voraussetzungen für Fragen. Sie können selbst
nicht ohne die historisch aufzuklärenden Fragen verstanden werden, auf die sie
eine Antwort formulieren. Als Archäologe sei ihm, so schreibt Collingwood in
seiner philosophischen Autobiographie, die Bedeutung der „fragenden Aktivität“
für die Erkenntnis klar geworden.²³ Mit Recht müsse man daher, so formuliert
dann auch Aristoteles seine hermeneutische Leitvorstellung, „nicht bloß gegen-
über denjenigen dankbar sein, deren Ansichten man zustimmt, sondern auch
gegenüber denen, die ihre Lehren mehr an der Oberfläche gehalten haben. Denn
auch sie trugen dadurch etwas <zur Wahrheit> bei, dass sie unsere Fähigkeiten
übten und vorbildeten“²⁴.
Diese Feststellung, die auf das historische Strukturmoment metaphysischen
Denkens verweist, nimmt Aristoteles ernst, wie seine ausführliche Auseinander-
setzung mit den Vorgängern zeigt. Das historische Strukturmoment ist somit
keinesfalls äußerlicher Natur, sondern gehört zum Kern der Suche nach der ersten
Wissenschaft.²⁵ „Metaphysics has always been an historical science“ – so for-
muliert dies Collingwood – „but metaphysicians have not always been fully aware
of the fact“.²⁶
Kehren wir zur Wissenssuche zurück. Diese Suche verläuft – nehmen wir das
dritte Buch der aristotelischen Metaphysik zum Maßstab – zunächst aporetisch.
Doch auch das scheint mir für das metaphysische Denken charakteristisch, das –
wie wir gesehen haben – einerseits Ausdruck der offenkundigen Notwendigkeit
eines Endpunktes der Wissensgenese ist, der als Grenzwert die Wissensfolge
überhaupt konstituiert und ohne den – wie Averroes in seinem Metaphysik-
Kommentar nachdrücklich unterstreicht – alles Wissen zerstört würde.²⁷ Doch
zugleich sieht sich das metaphysische Denken im Verfolg dieser Suche mit der
Tatsache konfrontiert, dass ein den zu Beginn von Metaphysik A explizierten
Kriterien entsprechender weisheitlicher Wissenshabitus dem Menschen
schlechterdings nicht möglich ist.²⁸ Von einem „schaffenden Scheitern“ des ari-
stotelischen Metaphysikprojekts hat daher Pierre Aubenque gesprochen und die
eigentümliche Produktivität der Metaphysik gerade darin gesehen, dass das
progammatische Vorhaben einer ersten Philosophie, welche kraft des Primats
ihres Prinzips und der Allgemeinheit ihres gegenüber den übrigen Wissenschaften
Collingwood, Robin G. (1939): An Autobiography. London, 35 (dt. (1955): Denken. Eine Auto-
biographie. Übers. v. H.-J. Finkeldei. Stuttgart, 65 – 68).
Metaph, α 1, 993b11– 14.
Hierzu Frede, Michael (2004): „Aristotle’s Account on the Origins of Philosophy“. In: Rhizai.
Journal for Ancient Philosophy and Science 1, 9 – 44.
Collingwood 1998, 58.
Averroes (1562– 1574): In II Metaph, comm. 8 – 11, ed.Ven., repr. Frankfurt am Main 1962, 32vM–
33vM; Ausgangspunkt ist die Feststellung des Aristoteles in Metaph, α 2, 994a1 f., dass es ein
Prinzip geben müsse und die Ursachen des Seienden weder in fortlaufender Reihe noch der Art
nach ins Unendliche fortschreiten können.
Vgl. Metaph, A 2, 982a6 – 982b4. Vgl. hierzu Thomas de Aquino, In Metaph. I, lect. 2 (ed. Ca-
thala-Spiazzi), n. 36.
40 Andreas Speer
V
Diese Eigentümlichkeit des metaphysischen Denkens besitzt zugleich Folgen für
die Möglichkeitsbedingungen der Konstitution epistemischer Felder überhaupt.
Hierbei erscheinen die Grenzwertbestimmungen unter den Erkenntnisbedingun-
gen der menschlichen Vernunft als jene Wahrheit, die wir nie ganz erfassen, von
der wir aber immer etwas erfassen müssen. Die epistemische Konvergenz ist daher
im Kern fragil. Damit steht aber auch die Einheit des epistemischen Feldes der
Metaphysik in Frage – eine Frage, für die Aristoteles offensichtlich nicht ohne
Absicht mehrere Alternativen für zulässig hält, obgleich er doch in seiner Zweiten
Analytik das Einheitskriterium für jede Wissenschaft ausdrücklich unterstreicht.³⁰
Wenn wir daher in den Worten des Thomas von Aquin das epistemische Feld
der ersten Philosophie gemäß der Kriterien aus Metaphysik A 2: nämlich Allge-
meinheit, Genauigkeit, Erstheit hinsichtlich der Prinzipien, Autarkie und Ord-
nungsprimat,³¹ als „universalis veritas entium“, als umfassende Wahrheit des
Seienden bestimmen, dann kann dies doch zugleich allein unter der Perspektive
geschehen, wie sich der Mensch zu der zu erkennenden Wahrheit verhält.³² Aus
der Beschränkung auf Seiten unserer Vernunft³³ leitet Thomas von Aquin in sei-
nem Metaphysikkommentar die Notwendigkeit ab, dass sich die Menschen ein-
ander bei der Erkenntnis der Wahrheit unterstützen, denn niemand sei hierzu
allein in der Lage. Daher gebe es eine historische Sukzession derer, die sich auf
diese Suche begeben haben.³⁴
Diese Notwendigkeit einer historischen Konvergenzbedingung ist nicht zu-
letzt dem Umstand geschuldet, sich in einer gegebenen Situation für einen be-
stimmten Zugang entscheiden zu müssen, ohne dass wir sicher sein könnten, von
diesem Zugang aus die aufgeworfene Frage vollständig beantworten zu können.
Dies gilt in einem eminenten Sinne auch für das metaphysische Denken selbst.
Metaphysische Analyse nennt Collingwood daher eine Methode, „by which the
metaphysician discovers what absolute presuppositions have been made in a
certain piece of scientific work by using the records of that work as evidence“³⁵.
Jene absoluten Grundannahmen (absolute presuppositions), die der Metaphysiker
zu erfassen und einzuordnen, deren Geschichte er zu studieren hat, sind, so
Collingwood, Voraussetzungen für Fragen, wie sie von Wissenschaftlern gestellt
werden, aber keineswegs Antworten auf diese Fragen. Genau und nur in diesem
Sinne ist die Metaphysik „a science of absolute presupposition“³⁶.
Wenn wir uns daher erkennend auf die Wirklichkeit beziehen, dann haben wir
offenkundig schon immer etwas von der Wahrheit erkannt, auch wenn unser
Intellekt hierbei weit eher einem Nachtvogel gleicht als einem Adler, und sich zu
den Dingen, die ihrer Natur nach die offenbarsten von allen sind – das sind die
Prinzipien –, gleich einer Nachteule, wenn nicht gar einer Fledermaus (beide
Bedeutungen von ,νυκτερίς‘ finden sich in den lateinischen Übersetzungen) zum
Tageslicht verhält.³⁷ Doch andererseits wird keiner hinsichtlich der Betrachtung
der Wahrheit die Tür verfehlen, wie schwierig es auch ist, angemessen die
Wahrheit zu treffen. Denn dies erfordert die Kenntnis der Ursachen.³⁸
Diese eindringlichen Bilder und Sprichwörter aus dem Anfang des zweiten
Buches der Metaphysik, die selbst Ausgangspunkt vielfältiger Auslegungen ge-
In Metaph. II, lect. 1 (ed. Cathala-Spiazzi), n. 282: Unde manifestum est, quod difficultas accidit
in cognitione veritatis, maxime propter defectum intellectus nostri.
In Metaph. II, lect. 1 (ed. Cathala-Spiazzi), n. 287: Ostendit quomodo se homines adinvicem
iuvant ad considerandum veritatem. Adiuvatur enim unus ab altero ad considerationem veritatis
dupliciter.
Collingwood 1998, 59.
Collingwood 1998, 34– 38.
Metaph, α 1, 993b9 – 11. Zu diesem Motiv siehe die Studie von Steel, Carlos (2001): Der Adler und
die Nachteule. Thomas und Albert über die Möglichkeit der Metaphysik (Lectio Albertina 4).
Münster.
Metaph, α 1, 993a30–b5.
42 Andreas Speer
worden sind, stehen für jene Alltagsevidenz, auf die uns Aristoteles mit guten
Gründen immer wieder verweist. Thomas von Aquin greift in seinem Metaphysik-
Kommentar das Sprichwort von der Tür auf und lässt uns durch diese in das Innere
des Hauses blicken, das jedoch schwer zu erkunden sei und hinsichtlich dessen
man sich leicht täuschen könne. Anders hingegen sei es mit dem Eingang in das
Haus selbst, der allen offenstehe und sogleich vor Augen tritt; niemand täuscht
sich darin. Ebenso ist dasjenige, wodurch man zur Erkenntnis alles übrigen ge-
langt, allen bekannt und niemand vermag sich darin zu täuschen. Dies aber sind
die ersten von Natur aus bekannten Prinzipien: dass nichts zugleich bejaht oder
verneint werden könne, und dass das Ganze größer als sein Teil sei, etc. Diese also
bilden für Thomas gleichsam die Tür zu jeder anderen Erkenntnis.³⁹ In dieser
einfachen Wahrheitsannahme, von der wir immer etwas erfassen müssen, gründet
alle Vernunfttätigkeit. Doch dies ist kein starkes Prinzip, vielmehr die notwendige
Minimalbedingung, die erklärt, warum wir uns über unterschiedliche Vorausset-
zungen und Überzeugungen überhaupt verständigen können.
VI
Folgt man der bisherigen Analyse, so erweist sich das metaphysische Denken als
weitaus fragiler, als dies aus der Sicht späterer Debatten erscheinen mag, die oftmals
bereits in den verfestigten Strukturen eines disziplinalen Diskurses verlaufen. Nicht
absolutes Wissen kann jedoch das Ziel der ersten Philosophie sein, denn dieses ist
dem menschlichen Erkennen versagt. Eine Philosophie, die von derartigen Prämissen
ausgeht, nimmt die erforderliche Selbstbeschränkung in theoretischer und prakti-
scher Hinsicht selbst vor,wie uns in der longue durée metaphysischen Denkens gerade
die exzeptionellen Metaphysikentwürfe vor Augen führen. Sie ist sich dessen selbst
bewusst, nicht Weisheit im vollkommenen Sinn zu sein, sondern lediglich, wie alles
menschliche Wissen, endliche Weisheit.⁴⁰
Diese Option für eine metafisica povera, für eine Metaphysik in den Grenzen
der endlichen diskursiven Vernunft, schließt gleichwohl nicht aus, dass wir
Thomas de Aquino: In Metaph. II, lect. 1 (ed. Cathala-Spiazzi), n. 277: Interiora enim domus
difficile est scire, et circa ea facile est hominem decipi: sed sicut circa ipsum introitum domus qui
omnibus patet et primo occurrit, nullus decipitur, ita enim est in consideratione veritatis: nam ea, per
quae intratur in cognitionem aliorum, nota sunt omnibus, et nullus circa ea decipitur: huiusmodi
autem sunt prima principia naturaliter nota, ut non esse simul affirmare et negare, et quod omne
totum est maius pars et similia.
Hierzu Speer, Andreas (2002): „Endliche Weisheit. Eine Annäherung an die Philosophie“. In:
Recherches de Théologie et Philosophie médiévales LXIX, 1, 3 – 32.
Das Streben nach Erkenntnis und die longue durée metaphysischen Denkens 43
weiterfragen können. Auch dies zeigt die Geschichte der Metaphysik. Kein ge-
ringerer als Immanuel Kant selbst spricht in diesem Zusammenhang geradezu
programmatisch gleich im Einleitungssatz der ersten Vorrede zur Kritik der reinen
Vernunft – von dem besonderen Schicksal der menschlichen Vernunft: „daß sie
durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch
die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten
kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“⁴¹
Anders als viele heutige Metaphysikkritiker hindert dies Kant nicht daran, sich
selbst um die Grundlegung „einer jeden künftigen Metaphysik“ zu bemühen, „die
als Wissenschaft wird auftreten können“ – so heißt es programmatisch im Titel der
Prolegomena. Denn er ist von der Notwendigkeit einer solchen kritischen
Grundlegung der Vernunfterkenntnis überzeugt. Wie Aristoteles stellt Kant diesen
Bemühungen eine Geschichte voran. Anders als jener ist er allerdings mit seinen
Vorgängern wenig gnädig, wenn er die Geschichte der Metaphysik als einen
Kampfplatz endloser Streitigkeiten beschreibt: Zwischen der Despotie des Dog-
matismus und der Anarchie von Skeptizismus und Indifferentismus sieht er die
Metaphysik gegenüber der Logik, der Mathematik und den Naturwissenschaften,
die alle erfolgreich den sicheren Weg der Wissenschaften gegangen seien, soweit
ins Hintertreffen geraten, dass ihr Verfahren nur mehr einem bloßen Herumtappen
unter bloßen Begriffen gleiche – und das sei bekanntlich das Schlimmste.⁴² Was
emphatisch gern als gänzlicher Neuanfang der Metaphysik dargestellt und vor
dem Hintergrund der damaligen philosophischen Debatten mit dem Nimbus des
Besonderen versehen wird, führt jedoch bei genauerer Betrachtung auf den An-
fang unserer Suche nach dem Ursprung des metaphysischen Denkens zurück.
Denn gewiss hat Kant die aristotelische Aitiologie im Blick, wenn er wie dieser
ganz im Rahmen der theoretischen Philosophie die Ausgangsbedingungen der
Vernunft, und zwar der menschlichen Vernunft, zu den Ausgangs- und Grenz-
wertbedingungen des metaphysischen Denkens macht.
Als Methode zur Aufdeckung absoluter Voraussetzungen (absolute presup-
positions) in einem Wissenszusammenhang hatte Robin George Collingwood die
metaphysische Analyse bestimmt, und sich dabei vorzüglich auf Aristoteles als
Gewährsmann bezogen. Charakteristisch für diese Analyse ist – wie wir bereits
gesehen haben – ferner die Bestimmung des metaphysischen Denkens als einer im
Grundsatz fragenden Aktivität. Die Metaphysik löst – ebenso wie die Philosophie –
keine Probleme, sondern hinterfragt kritisch die Ausgangsintuitionen unseres
Denkens. Hierzu zählen auch die historischen Kontexte. Denn auch diese besitzen
KrV, A VII.
KrV, B XV.
44 Andreas Speer
eine epistemische Geltung. Der Antrieb nämlich, sich auf die Suche und auf den
Wege nach der Natur (φύσις) und dem Ziel (σκοπός) dieser gesuchten ersten
Wissenschaft zu machen, entspringe – so nochmals Aristoteles – den Schwie-
rigkeiten, in die der Mensch immer wieder gerate,wenn er sich wundere und zu der
Meinung gelange, dass er im Grunde nichts wisse.⁴³ Nach dieser Art der Einsicht
suche aber nur, wer so ziemlich alles Notwendige und zur Erleichterung des Le-
bens und zur Gestaltung der Freizeit Dienende besitze. Ein solches Wissen, das der
Mensch nicht um eines Nutzen willen sucht, ist demnach frei und die entspre-
chende Wissenschaft die einzige freie – gleich wie wir den Menschen frei nennen,
der um seiner selbst willen und nicht um eines anderen („ὁ αὑτοῦ ἕνεκα καὶ μὴ
ἄλλου“) willen tätig ist.⁴⁴
Doch ungeachtet allen Pathos richtet sich das metaphysische Denken als
fragende Aktivität nicht auf ,ewige‘ Fragen im Sinne einer philosophia perennis,
sondern bezieht sich auf die Fragen ihrer Zeit, auf die es eine Antwort zu finden
gilt. Diese Frage- und Antwortstruktur erweist sich als ein durchgängiges Struk-
turmoment metaphysischen Denkens, das nicht nur beiläufig, sondern konstitutiv
in die epistemischen Bedingungen dieses Denkens eingeht.
Damit stellt sich auch die Frage nach möglichen Brüchen in der Tradition
metaphysischen Denkens auf eine neue Weise. Historische Perspektivenwechsel
erscheinen vor dem Hintergrund unserer Analyse weniger als Brüche denn als
Antworten auf Herausforderungen und Fragen, die unter verschiedenen Bedin-
gungen und in verschiedenen Kontexten auf unterschiedliche Weise und in un-
terschiedlicher Intensität hervortreten. Für diese longue durée metaphysischen
Denkens und für dessen faktische wie theoretische Bedeutung, die der mensch-
lichen Erkenntnisdynamik entspringt, wollte ich in diesem Beitrag argumentieren.
Nietzsche, Friedrich (1980): Jenseits von Gut und Böse (1886), 6; Kritische Studienausgabe 5, 19.
46 Anthony K. Jensen
is, as the title of this volume names it, a ‘Bedürfnis’. The questions asked along
the way to metaphysical thinking are not, for Nietzsche, the result of an era’s ra-
tional presuppositions, but the expression of its psycho-physiognomic precondi-
tions: strivings, desires, drives – and that notoriously Nietzschean word, “Wills”
– that operate at a level of the ‘layer-cake’ of subjectivity somewhere underneath
rational thought.
Metaphysical thinking will remain at the forefront of the human endeavor, as
Professor Speer suggests, but for Nietzsche it will not be the analyst or logician
who deciphers the presuppositions of increasingly fundamental convergences of
thinking. Instead of a ‘Problemgeschichte’, Nietzsche thinks metaphysics must
be an investigation of first principles of philosophy, principles which, however,
sink more fundamentally into the psychological factors of human agency. They
change and shift over the course of history, but do so most fundamentally as
‘psychological’ responses to altered historical circumstances. Adapting, as
does Speer, Aristotle’s phrasing to describe metaphysics, Nietzsche promises,
“dass die Psychologie wieder als Herrin der Wissenschaften anerkannt werde,
zu deren Dienste und Vorbereitung die übrigen Wissenschaften da sind. Denn
Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen.”²
The eternal human striving to know the most fundamental things is for Aristotle
a postulate about human nature as unquestionable and as fundamental as the non-
intersection of parallel lines is for Euclid. Accordingly, Aristotle, and by extension
Heidegger, and by further extension Professor Dr. Speer, would consider the deca-
des-long suppression of metaphysics in the name of scientific certainty an endeavor
bound to fail at best and a suppression of what it means to be human at worst.
Nietzsche, the psychologist of culture, finds nothing fundamental in reason. The
human is not the rational animal, much less an animal whose rationality aims at
pure knowledge of what is. Speculative reason is derivative, and indeed a particu-
larly strange derivation, evolutionarily speaking, from more fundamental instincts
to manage, control, and dominate one’s environment. There is no pure will for
truth for Nietzsche, and thus no essential desire for metaphysics. The task Nietzsche
sets for philosophy is to unmask that Aristotelian postulate as the expression of
more fundamental psychological dynamics.
With respect to the metaphysical thinking Professor Dr. Speer articulates, a
Nietzschean mode of questioning might focus analysis on his “Konvergenzkriter-
ien,” for example “Allgemeinheit” and “Genauigkeit.” As epistemic norms, much
support can be and, in Speer’s paper, is marshaled. They stand farthest from percep-
tion, they are more exact insofar as they rely upon few conditional claims, and they
I
Metaphysik ist, etwas keck formuliert, eine ‚black box‘, die alles Mögliche ent-
halten kann. Das ist nicht abschätzig gemeint, sondern zielt einfach darauf, dass
Metaphysik kein eineindeutig definierter Ausdruck ist. Bekanntlich ist er aus einer
bibliothekarischen Kennzeichnung hervorgegangen. Die Vielfältigkeit möglicher
Deutungen dessen, was Metaphysik ist oder sein kann, betrifft auch nicht nur die
Gegenstände oder Sach- und Problembereiche metaphysischer Fragestellungen,
sondern ebenso die damit jeweils verbundenen epistemischen Ansprüche. Längs
durch die Philosophiegeschichte – einschließlich der Geschichte der die Meta-
physik wie ein Schatten begleitenden Metaphysikkritik – findet man zu alledem
bekanntlich die unterschiedlichsten Positionen: was beispielsweise auch ein in-
teressantes Phänomen wie dieses zur Folge haben kann, dass etwa Hegel in der
Vorrede zu seiner Wissenschaft der Logik den endgültigen „Untergang der Meta-
physik“¹ für ausgemacht hält und gleichzeitig mit eben dieser Logik eine Kon-
zeption erarbeitet hat, die seither nicht wenigen als Paradefall einer extrem me-
taphysischen Steillage gilt.
Dieses Problem der notorischen Vieldeutigkeit von Metaphysik lasse ich im
Folgenden auf sich beruhen, um meine Überlegungen an einer anderen Akzentuie-
rung des Titels dieses Bandes zu orientieren. Die Rede ist hier ja von einem Bedürfnis
nach Metaphysik. Ob es ein neues Bedürfnis nach Metaphysik gibt, ob ein solches
Bedürfnis überhaupt neu sein kann – diese Frage stelle ich im Augenblick ganz zu-
rück. Wichtig ist mir zunächst das Stichwort des Bedürfnisses, von dem ausgehend
sich ein, wie mir scheint, ganz basaler metaphysischer Verständigungsrahmen er-
schließen und dann in einigen zentralen Hinsichten diskutieren lässt.
Was ich meine, ist relativ schnell zu zeigen: Ein Bedürfnis kann offenbar nur
der verspüren, der etwas entbehrt. Und nur derjenige kann etwas entbehren, der
von Hause aus nicht immer schon mit allem versorgt ist – nur derjenige also, der
Hegel, Georg W. F. (1984): „Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (1832)“. In: Hegel,
Gesammelte Werke. Bd. 21. Friedrich Hogemann u. Walter Jaeschke (Hrsg.). Hamburg, VII.
50 Birgit Sandkaulen
nicht vollkommen, sondern mit anderen Worten endlich ist. Im Kontrast zu diesem
Befund des Endlichen steht die Vorstellung vom Unendlichen, Absoluten oder
Unbedingten – womit man ausgehend vom Bedürfnis unversehens in das ‚klas-
sische‘ metaphysische Vokabular und auch in eine bestimmte Ausdeutung der
Metaphysik hineingeraten ist. Aber nicht nur das: Sollten wir als endliche bedingte
Wesen ein Bedürfnis nach Metaphysik haben, dann ist das Endliche offenbar nicht
nur im Kontrast zu etwas Unendlichem oder Absolutem zu bestimmen. Vielmehr
ist dann eine Bezugnahme virulent – das Bedürfnis des Endlichen, auf etwas
Absolutes auszugreifen und in eben diesem Ausgriff ein angemessenes Ver-
ständnis seiner selbst zu gewinnen.
Im Sinne eines solchen Bedürfnisses nach Metaphysik setzt diese Überle-
gungssequenz natürlich voraus, dass unsere Bedürfnisse als endliche Wesen nicht
ausschließlich physischer Natur sind. Dies dürfte allerdings selbst unter härtesten
naturalistischen Annahmen schwer zu bestreiten sein. Gleichwohl könnte der
Einwand naheliegen, dass sich – ganz abgesehen davon, dass die vorgestellte
Überlegung viel zu schnell und viel zu abstrakt vorgegangen ist – der metaphy-
sische Ausgriff auf Unendliches in genau dem Maße als eine schlechte Fiktion
erweist, wie es ein Endliches sein soll, das ihn unternimmt. Metaphysikkritisch
geprüft hätten wir uns demnach mit der wie immer zu beschreibenden Kondition
des Endlichen zu bescheiden.
Auf diesen Einwand komme ich später zurück. An dieser Stelle ist es mir im
nächsten Schritt um etwas anderes zu tun, nämlich darum, dass und wie sich die
vorgestellte Überlegung mit Blick auf Kant substantiieren lässt. Der Rekurs auf Kant
drängt sich aus zwei Gründen auf. Erstens spricht Kant selbst ausdrücklich und
wörtlich von einem „Bedürfnis der Vernunft“² – in diesem Bedürfnis eröffnet sich
nach Kant der Horizont der Metaphysik. Und zweitens kommt mir nicht weniger
entgegen, dass Kant dieses metaphysische Bedürfnis der menschlichen Vernunft zwar
für ganz unabweisbar gehalten, die Möglichkeit einer darauf aufbauenden meta-
physischen Wissenschaft jedoch bestritten hat.³ Da es mir im vorliegenden Zusam-
menhang tatsächlich nur um ganz basale Überlegungen geht, entlastet mich diese
Option Kants von weitergehenden epistemischen Diskussionen. Das bedeutet nicht,
dass ich Kants Position in allen Teilen folge. Auf eine kritische Auseinandersetzung
mit Kant komme ich ebenfalls zu gegebener Zeit zurück.
II
Ohne nun auch nur im Entferntesten in eine detaillierte Rekonstruktion von Kants
Kritik der reinen Vernunft einzutreten, lasse ich es bewusst bei einer Skizze der
wesentlichen Punkte bewenden. Zuerst ist noch einmal das Bedürfnis zu unter-
streichen, das Kant der menschlichen Vernunft zuschreibt und das er näherhin mit
dem „Grundsatz“ bezeichnet, „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das
Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird“.⁴ Kant selbst
bedient sich damit des vorhin erwähnten metaphysischen Vokabulars, und zwar
mit der präzisierenden Bestimmung, dass es die Aussicht auf Einheit oder Totalität
ist, die mit dem Ausgriff auf das Unbedingte verbunden ist. Im Namen des Un-
bedingten geht die Vernunft ausgehend vom Bedingten aufs Ganze – das ist das
spezifische Kennzeichen ihrer metaphysischen Anstrengung.
Entscheidend ist aber eben nicht nur dieser Grundsatz der Vernunft als sol-
cher. Denn würde es sich hier ausschließlich um die Verhandlung eines Satzes
handeln, hätte die ganze Passage einen völlig anderen Charakter. Dann hätte man
es von vornherein nur mit einer bestimmten Theoriestellung zu tun, von der an-
zunehmen wäre, dass sie zum metaphysischen Geschäft als Prämisse dazugehört.
So argumentiert Kant aber nicht und eben das macht seinen Anlauf bemerkens-
wert. Dass es diverse metaphysische Theorien gibt, die auf dem genannten
Grundsatz fußen und ihn – sei es psychologisch, kosmologisch oder theologisch –
ausdifferenzieren, steht danach unter der Voraussetzung, dass es allem voran ein
genuines metaphysisches Bedürfnis gibt: das grundlegende Bedürfnis der
menschlichen Vernunft, das Bedingte im einheitsstiftenden Horizont des Unbe-
dingten zu verstehen.
Weil es sich um ein fundamentales Bedürfnis und nicht um eine akademische
Verabredung handelt, greift Kant denn auch bis zu Platon zurück, der „sehr wohl
[bemerkte]“, so Kant,
daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach
synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und daß unsere
Vernunft natürlicher Weise sich zu Erkenntnissen aufschwinge, die viel weiter gehen, als daß
irgend ein Gegenstand, den Erfahrung geben kann, jemals mit ihnen kongruieren könne, die
aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keinesweges bloße Hirngespinste sind.⁵
Ob Platon am Beginn der Philosophie die Disziplin der Metaphysik erfunden hat
oder nicht und ob dieser Typ von Metaphysik der kritischen Prüfung standhält
oder nicht, ist hier nicht die Frage. Für Kant kommt es an dieser Stelle darauf an,
dass Platon in exemplarischer Weise aufmerksam war, dass er im Rahmen seiner
Philosophie also einem drängenden vorphilosophischen Bedürfnis Rechnung ge-
tragen hat, das unsere Vernunft von Natur aus über die sinnlich erfahrbare Welt
hinaustreibt.
Und insofern Kant zutiefst von dieser natürlichen Verfassung unserer Ver-
nunft überzeugt ist – und ihm deshalb auch gar nicht erst in den Sinn kommt, dass
die Rede von einer natürlichen Disposition der Vernunft, von einem ihr gleichsam
eingeborenen metaphysischen Streben, womöglich im Widerspruch zu einer
strengen Auslegung der Transzendentalphilosophie stehen könnte – insofern also
Kant davon überzeugt ist, betont er auch den folgenden Umstand ausdrücklich.
Den Umstand nämlich, dass die von ihm veranstaltete Kritik der Vernunft zwar
aufdecken kann, in welche Widersprüche sich die menschliche Vernunft im
Verfolg ihres metaphysischen Bedürfnisses de facto verstrickt, aber keineswegs
das Bedürfnis selbst wegtherapieren kann, ja noch nicht einmal verhindern kann,
dass die Widersprüche und Illusionen, die der natürliche Ausgriff auf das Un-
bedingte erzeugt, aller Aufklärung über sie zum Trotz immer von neuem wie-
derkehren:
Es gibt also eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft, nicht eine, in
die sich etwa ein Stümper, durch Mangel an Kenntnissen, selbst verwickelt, oder die irgend
ein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat, sondern die der
menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt, und selbst, nachdem wir ihr Blendwerk
aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhören wird, ihr vorzugaukeln, und sie unablässig in
augenblickliche Verwirrungen zu stoßen, die jederzeit gehoben zu werden bedürfen.⁶
gilt.⁷ Genau gesehen nennt Kant das praktische Interesse sogar zuerst, was mir
einleuchtend scheint – unterstreicht dies doch umso mehr die geradezu exis-
tentielle Dimension, die dem metaphysischen Bedürfnis Kant zufolge einge-
schrieben ist. Schließlich handelt es sich um
Fragen, um deren Auflösung der Mathematiker gerne seine ganze Wissenschaft dahin gäbe;
denn diese kann ihm doch in Ansehung der höchsten und angelegensten Zwecke der
Menschheit keine Befriedigung verschaffen.⁸
Den dritten Punkt habe ich vorhin schon kurz gestreift, aber ich greife ihn noch
einmal ausdrücklich heraus. Dass die menschliche Vernunft darauf aus ist, zum
Bedingten das Unbedingte zu finden, wird von Kant bekanntlich in dreierlei
Hinsicht konkretisiert: psychologisch, kosmologisch und theologisch. Es ist klar,
dass er damit auf die aus dem Wolffschen Rationalismus überkommenen Diszi-
plinen der sogenannten metaphysica specialis rekurriert, was dann im Zuge kri-
tischer Prüfung zum Ruin dieser metaphysischen Tradition führt. Weder über die
Seele, noch über die Welt im Ganzen und die darin eingeschlossene Frage
menschlicher Freiheit, noch schließlich über Gott kann jetzt mehr gesprochen
werden, so als handele sich um Entitäten rationaler Erkenntnis. Und nicht zuletzt
mit diesem Ergebnis vor Augen hält Hegel im Anschluss an Kant, wie eingangs
erwähnt, den „Untergang der Metaphysik“ für besiegelt.⁹
Indessen blende ich diesen Strang der Debatte ganz aus, um das Moment her-
auszustellen, das mir im vorliegenden Zusammenhang wichtig ist. Dass dem meta-
physischen Bedürfnis nicht an der abstrakten Signatur eines Unbedingten liegt,
sondern dass sich das Interesse auf die konkreten Fragen nach der Seele, der Welt im
Ganzen und der Existenz Gottes richtet, ist plausibel, womit aber zugleich auch schon
vermerkt ist, dass Kant diese metaphysischen Sachfelder nicht einfach nur aus einer
Theorietradition rekrutiert. Aber nicht weniger entscheidend ist, dass er diese
Sachbereiche auch nicht einfach aus lebensweltlichen Überlieferungen heraus für
gegeben nimmt. Dass es sich vielmehr um jeweilige Konkretisierungen der der Ver-
nunft eingewurzelten Suche nach dem Unbedingten handelt, bedeutet mit anderen
Worten, dass man Kant zufolge mit dem Bedürfnis der Vernunft eine gewissermaßen
ursprüngliche metaphysische Disposition annehmen muss. Nur deshalb, weil diese
Disposition wirksam ist, können die spezifischen Fragen nach Seele,Welt und Gott in
den Blick geraten und das Interesse auf sich ziehen.
Weil es mir hier nicht auf Kants kritisch-regulative Behandlung der Metaphysik
ankommt, sondern einzig und allein auf seinen metaphysischen Eröffnungszug, kann
ich es bei dieser Skizze bewenden lassen. Ausgehend vom Bedürfnis der Vernunft
ergibt sich so abschließend das Bild einer Suchbewegung, die vom Bedingten zum
Unbedingten führt, den metaphysischen Horizont also theoretisch und praktisch im
Sinne letzter Fragen erschließt. Um diese basale Suchbewegung zu thematisieren,
bedarf es offenkundig keiner wie immer ausgearbeiteten metaphysischen Disziplin,
die ja ihrerseits, Kant zufolge, in einem genuinen vorphilosophischen Bedürfnis
gründet. Eine Bedingung allerdings ist für diesen Gedankengang unverzichtbar, und
mit ihr habe ich stillschweigend auch die ganze Zeit bereits operiert. Diese Bedingung
besteht darin, zwischen Verstand und Vernunft zu unterscheiden. Wären wir lediglich
rationale Wesen im Sinne der Verfügung über verständige Kompetenzen, dann
würden wir mit der Formulierung Kants gesagt „bloß Erscheinungen nach synthe-
tischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können“ – aber das
metaphysische Bedürfnis auf der Suche nach dem Unbedingten hätte nach Kants
Argumentation keinen Ort.
III
Meinen nächsten und abschließenden Schritt leite ich mit einer Frage ein: Was
kann man gegen Kants Eröffnungsgang einwenden, nachdem ich versucht habe,
ihn so unscholastisch wie möglich und unter Vermeidung überall drohender
transzendentalphilosophischer Klippen darzustellen? Einwände, die aus der
Perspektive einer wie immer ausgearbeiteten Metaphysik entspringen könnten,
sollten hier keine Rolle spielen, da es lediglich um die basale Überlegung einer
metaphysischen Horizonteröffnung ging. Anders verhält es sich mit demjenigen
Einwand, demzufolge man die genannte Bedingung der Unterscheidung zwischen
Verstand und Vernunft als unplausibel bestreiten könnte. Dieser Einwand träfe die
gesamte Kantische Anlage eines Bedürfnisses nach Metaphysik im Kern. Darin
ähnelt er allerdings dem anfangs formulierten metaphysikkritischen Argument,
dass die Bezugnahme auf etwas Unbedingtes aus endlicher Perspektive ohnehin
nur eine illusionäre Unternehmung sein kann. Und ob dies eine überzeugende
Behauptung ist oder nicht, stelle ich noch einmal zurück.
Letzte oder erste Fragen? 55
Warum ich so verfahre, wird deutlich werden, wenn ich jetzt den Einwand vor-
stelle, den Jacobi gegen Kants Überlegung geltend gemacht und damit im Übrigen die
gesamte nachkantische Philosophie zutiefst beeinflusst hat. Auch bei Jacobi be-
schränke ich mich im Folgenden auf eine Skizze, lasse also das ganze komplizierte
Geflecht im Hintergrund seiner Argumentation beiseite. Erwähnen möchte ich le-
diglich, dass es sich bei dem hier einschlägigen Text um die Beilage VII der zweiten
Auflage der Spinozabriefe von 1789 handelt, in der Jacobi seine Auseinandersetzung
mit Spinozas Metaphysik in höchstmöglicher Verdichtung mit der Auseinanderset-
zung mit Kants Kritik der reinen Vernunft verschränkt hat.¹⁰
Der im vorliegenden Zusammenhang zentrale Passus dieser Beilage lautet:
Ich nehme den ganzen Menschen, ohne ihn zu teilen, und finde, daß sein Bewußtsein aus
zwei ursprünglichen Vorstellungen, der Vorstellung des Bedingten und des Unbedingten
zusammen gesetzt ist. Beide sind unzertrennlich miteinander verknüpft, doch so, daß die
Vorstellung des Bedingten die Vorstellung des Unbedingten voraussetzt, und in dieser nur
gegeben werden kann. Wir brauchen also das Unbedingte nicht erst zu suchen, sondern
haben von seinem Dasein dieselbige, ja eine noch größere Gewißheit, als wir von unserem
eigenen bedingten Dasein haben.¹¹
Dass Jacobi auf Kant Bezug nimmt, zeigt bereits die Terminologie des Bedingten und
Unbedingten an. Und dass er – aller Kritik an Kant im Voraus – eine fundamentale
Intention mit Kant teilt, zeigt sich ebenfalls sofort. Im Mittelpunkt der Überlegung
steht auch hier keine Vorgabe wie immer gearteter metaphysischer Theorie, sondern
der ganze Mensch. Um dessen existentielle Überzeugungen geht es, und zwar so, dass
Jacobi es wie Kant für eine Tatsache hält, dass diesen lebensweltlichen, vorphilo-
sophischen Überzeugungen eine metaphysische Dimension eingeschrieben ist. Umso
nachdrücklicher artikuliert Jacobi dann aber seinen Einwand: „Wir brauchen das
Unbedingte nicht erst zu suchen“. Dass das metaphysische Bedürfnis sich als eine
Suchbewegung vom Bedingten zum Unbedingten darstellt, der metaphysische Ho-
rizont also theoretisch und praktisch im Sinne letzter Fragen eröffnet wird, wird von
Jacobi mit einem doppelten Argument bestritten.
Erstens ist die Vorstellung des Unbedingten eine ursprüngliche Vorstellung des
menschlichen Bewusstseins. Wir haben nicht zuerst ein Bewusstsein unserer
endlichen Bedingungen, um dann nach einem Unbedingten auszugreifen. Damit
aber nicht genug. Denn das entscheidende Argument liegt zweitens in der von
Vgl. hierzu und zur Philosophie Jacobis im Ganzen: Sandkaulen, Birgit (2000): Grund und
Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München.
Jacobi, Friedrich H. (1998 ff.): „Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses
Mendelssohn“. In: Werke Gesamtausgabe. Bd. 1,1. Klaus Hammacher/Walter Jaeschke (Hrsg.).
Hamburg, 260.
56 Birgit Sandkaulen
Jacobi reklamierten Umkehrung der Perspektive: Danach ist die Vorstellung des
Unbedingten nicht nur nicht als eine aus dem Bedingten entspringende und das
Bedingte voraussetzende Vorstellung zu verstehen. Umgekehrt gilt, dass sie die
fundamentale Voraussetzung ist. Die Vorstellung des Unbedingten ist immer
schon im Spiel, wenn wir das Bedingte als Bedingtes wahrnehmen. Nur unter
dieser Voraussetzung haben wir überhaupt ein Bewusstsein unseres endlichen
Daseins. Anstatt auf letzte Fragen gerichtet zu sein, ist die metaphysische Dis-
position des menschlichen Bewusstsein, auf die Jacobi abhebt, auf ein immer
schon virulentes Erstes fokussiert, unter dessen Voraussetzung die Konditionen
unserer Endlichkeit aber nicht etwa übersprungen sind, sondern im Gegenteil
allererst sichtbar werden.¹²
Inwiefern Jacobi die Vorstellung vom Unbedingten – wiederum analog zu
Kant – seinerseits konkretisiert, nämlich in der Verschränkung unseres perso-
nalen Freiheitsbewusstseins mit der symbolischen Adresse an einen personalen
Gott, lasse ich hier ebenso auf sich beruhen wie alle Hinweise darauf, wie sich die
nachkantische Philosophie diese Umkehrbewegung zu eigen gemacht und in je
ganz verschiedenen Entwürfen des Absoluten zur Darstellung gebracht hat. Ich
möchte hier lediglich die skizzierte Perspektivenumkehr als solche herausstellen,
die ich für einen gewichtigen Einwand gegen Kant und für eine überzeugende
Alternative einer basalen metaphysischen Horizonteröffnung halte. Einen struk-
turell ähnlichen Gedanken hat im Übrigen auch Adorno im Zusammenhang seiner
Meditationen zur Metaphysik formuliert: „Bewußtsein könnte gar nicht über das
Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren
versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt.“¹³
Das Pathos der Verzweiflung ist nicht nötig, um zu sehen, worauf es hier
ankommt: Aus der Extrapolation des Grau entsteht keine Farbe. Um das Grau als
Grau identifizieren zu können, muss umgekehrt ein Bewusstsein farbiger Differenz
je schon wirksam sein. Dass Kant es tatsächlich versäumt hat, auf diese Voraus-
setzung zu reflektieren, lässt sich auch nicht dadurch entkräften, dass er die
Suchbewegung vom Bedingten zum Unbedingten an die Unterscheidung zwi-
In diesem Gedanken kann man eine gewisse Verwandtschaft zu der Überlegung erkennen, die
Descartes im Gottesbeweis der Dritten Meditation angestellt hat. Gravierender sind aber die Dif-
ferenzen, insofern sich bei Jacobi konsequenterweise erstens das Programm der Gottesbeweise
erübrigt und zweitens ebenso der Versuch, dem Ich einen Prinzipienstatus zuzuerkennen. Ge-
nerell ist hier zu betonen, dass die Umstellung der Metaphysik von letzten auf erste Fragen, die ich
in dieser Skizze anhand Jacobis als plausibel verteidige, streng unterschieden werden muss davon,
den Anfang eines philosophischen Begründungszusammenhangs – in welcher Form auch immer
– gewinnen zu wollen.
Adorno, Theodor W. (1967): Negative Dialektik. Frankfurt am Main, 370.
Letzte oder erste Fragen? 57
schen Verstand und Vernunft gekoppelt hat. Denn anders als bei Jacobi¹⁴ ist die
Vernunft bei Kant trotz allem keine genuine – ursprüngliche – Quelle der Er-
kenntnis, sondern ein Vermögen, das stets nur rückbezüglich auf den Verstand
operiert. Dementsprechend sind die metaphysischen Ideen stets nur ins Unbe-
dingte erweiterte Kategorien der Relation.¹⁵ Spätestens an dieser Stelle sind dann
doch schwerwiegende Konsequenzen transzendentalphilosophischer Vorent-
scheidungen zu notieren, die dem bemerkenswerten Eröffnungszug des meta-
physischen Bedürfnisses in die Quere kommen.
Im Zuge der skizzierten Perspektivenumkehr wird die Figur des metaphysi-
schen Bedürfnisses aber nicht etwa obsolet. Im Gegenteil wird sie so erst vollends
plausibel, insofern ja damit einhergeht, dass unter der Voraussetzung der Vor-
stellung des Unbedingten – oder des Bewusstseins farbiger Differenz – die Be-
dürftigkeit des Endlichen allererst empfindlich wird.Und wenn dies gilt, kann man
jetzt auch dem metaphysikkritischen Einwand, der den Ausgriff des Endlichen
über sich hinaus für eine Fiktion hält, mit der Gegenthese begegnen, dass das
Bewusstsein des Endlichen gar keine suisuffiziente Größe ist und sein kann.
Mit einer letzten These komme ich zum Schluss: Ein neues Bedürfnis nach
Metaphysik lässt sich strenggenommen nach den vorgestellten Überlegungen
nicht denken. Wohl aber kann man sagen, dass es immer wieder Schübe gibt, in
denen eigens – wie etwas Neues – zum Vorschein kommt, dass wir offenbar ein
solches Bedürfnis von Hause aus hegen.
Nicht zufällig wirft Jacobi im vorliegenden Kontext die Frage auf: „hat der Mensch Vernunft;
oder hat Vernunft den Menschen?“, um damit zwischen Verstand und Vernunft eine Unterschei-
dung zu treffen, die der Vernunft im „substantiven“ Sinne einen genuinen Status sichert: „Versteht
man unter Vernunft die Seele des Menschen, nur insofern sie deutliche Begriffe hat, mit denselben
urteilet, schließt, und wieder andre Begriffe oder Ideen bildet: so ist die Vernunft eine Beschaf-
fenheit des Menschen, die er nach und nach erlangt, ein Werkzeug, dessen er sich bedient, sie
gehört ihm zu. – Versteht man aber unter Vernunft das Prinzip der Erkenntnis überhaupt; so ist sie
der Geist, woraus die ganze lebendige Natur des Menschen gemacht ist: durch sie besteht der
Mensch: er ist eine Form, die sie angenommen hat“ (Jacobi 1998 ff, 259 f.). Es ist die Vernunft in
dem letzteren Sinn, die Jacobi dann in seinem Brief an Fichte als „vernehmende Vernunft“ cha-
rakterisiert (Jacobi, Friedrich H. (1998 ff.): „Brief an Fichte“. In: Werke Gesamtausgabe. Bd. 2,1.
Klaus Hammacher/Walter Jaeschke (Hrsg.). Hamburg, 208 f.).
KrV, A 323, B 379.
Laura Anna Macor (Oxford)
Woher oder wohin? Der bidirektionale Weg
des Menschen zum Unbedingten
Respondenz zum Beitrag von Birgit Sandkaulen
Der Aufsatz von Birgit Sandkaulen behandelt ein nur auf den ersten Blick bloß
akademisches Problem, nämlich die Frage, wie man zum Unbedingten voran-
schreitet. Genauer geht es um den Weg, den der Mensch einzuschlagen hat, um
sich dem Unbedingten anzunähern, und zwar darum, ob dieser Weg rück- oder
vorwärts gerichtet ist. Wenn diese Frage, die offenbar eine existentielle ist, zum
Gegenstand wissenschaftlicher Ausführungen wird, dann ist eine metaphysische
Untersuchung im Gang.
In Sandkaulens Essay wird man mit zwei Philosophen konfrontiert, die un-
terschiedliche, gar gegensätzliche Richtungen hin zu diesem Ziel einschlagen und
deswegen zwei Modi darstellen, wie man die Frage nach dem ‚Woher oder Wohin‘
beantworten kann. Kant gilt als der Repräsentant einer sozusagen theoretischen
Vorwärtsbewegung, bei der der Bezug aufs Unbedingte das Bedingte voraussetzt
und von ihm ausgeht; Jacobi wird dagegen zum Vertreter der gegensätzlichen
Suchbewegung, einer gleichsam rückläufigen Bewegung, bei der das Endliche im
Unendlichen gründet und nicht erst zu ihm finden, sondern gleichwie zurück-
kehren muss. Demnach steht Kant dafür, Metaphysik gebe eine wie auch immer
beschaffene Antwort auf letzte Fragen, während Jacobi dafür eintritt, sie adressiere
erste, zur Problemstellung selbst notwendige Fragen.¹
Es handelt sich um eine Art epistemologisch-metaphysischer Übertragung der
existentiellen Fragestellung par excellence, und zwar vor allem in der Aufklärung:
Das ‚Woher‘ und das ‚Wohin‘ des Menschenlebens standen nämlich seit der
Veröffentlichung der ersten Auflage (1748) von Johann Joachim Spaldings (Be-
trachtung über) Die Bestimmung des Menschen im Zentrum der damaligen theo-
logischen, moral- und geschichtsphilosophischen Reflexion, welche eben um die
zweifache Richtung des menschlichen Daseins kreiste.² Diese rein menschliche
Zur Metaphysik als Ausgriff auf das Unbedingte siehe: Sandkaulen, Birgit (1990): Ausgang vom
Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings. Göttingen; Sandkaulen, Birgit
(2000): Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München; Sandkaulen, Birgit (2005): „Das
Unbedingte, philosophisch“. In: Hans Dieter Betz u. a. (Hrsg.): Religion in Geschichte und Ge-
genwart. 4. Tübingen, 719 f.
Dazu erlaube ich mir auf mein neuestes Buch zu verweisen: Macor, Laura Anna (2013): Die
Bestimmung des Menschen (1748 – 1800). Eine Begriffsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt.
60 Laura Anna Macor
Angelegenheit erfährt etwas wie eine spezialistische Übertragung, indem sie zur
Folie für die jeweilige Metaphysikauffassung wird.
Auf diese Weise wird es möglich, in der Gegenüberstellung zwischen Kant und
Jacobi eine Art ideellen Musters jeder Reflexion zum Thema auszumachen und –
nicht minder wichtig – die Aktualität der Klassischen Deutschen Philosophie an
den Tag zu legen.
Gleich im ersten Satz der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft
(1781) behauptet Kant, die „menschliche Vernunft“ habe ein ganz „besondere[s]
Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse“: Sie werde „durch Fragen belästigt“,
die sie weder „abweisen“ noch „beantworten“ könne, denn sie seien ihr zum Einen
„durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben“, überstiegen jedoch zum Anderen
„alles Vermögen der menschlichen Vernunft“.³ Die genaue Natur dieses Verwiesen-
seins auf etwas Höheres wird von Kant selbst weiter im Text auf eindrucksvolle Weise
zum Ausdruck gebracht: „das Land des reinen Verstandes“ sei eine Insel […], um-
geben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des
Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue
Länder lüg[e], und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer
unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täusch[e], ihn in Abentheuer verflecht[e], von
denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen [könne]. Es
scheine dennoch unvermeidlich, sich „auf dieses Meer [zu] wagen, um es nach allen
Breiten zu durchsuchen und gewiß zu werden, ob etwas in ihnen zu hoffen sei“.⁴
Das Bedürfnis nach Metaphysik als menschliche Naturanlage kommt in
diesem Passus unverkennbar zu Wort.⁵ Dass der Mensch sich irgendwohin be-
geben muss, um dieses Bedürfnis irgendwie zu stillen, erhellt auf gleichfalls
unverkennbare Weise. Bei Kant scheint dieser Weg vorwärts zu führen.
Ganz anders steht es bei Jacobi, der zwar das existentielle Interesse mit Kant
teilt, im Unterschied zu ihm jedoch das Unbedingte als Voraussetzung jedes Be-
dingten begreift. Jacobi will auf „den ganzen Menschen“ eingehen, „ohne ihn zu
teilen“, und behauptet, „sein Bewußtsein“ sei „aus zwei ursprünglichen Vor-
stellungen, der Vorstellung des Bedingten und des Unbedingten zusammen ge-
Jacobi, Friedrich H. (2000), Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Men-
delssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe v. Klaus Hammacher u. Irmgard-Maria Piske bearbeitet v.
Marion Lauschke. Hamburg, 287.
Jacobi 2000, 287.
Schelling, Friedrich W. J. (1869): Aus Schellings Leben. In Briefen. Gustav Leopold Plitt (Hrsg.).
Bd. I. Leipzig, 73.
Zur Rezeption Jacobis bei den jungen Hegel, Hölderlin und Schelling gibt es derzeit unzählige
Studien; an dieser Stelle beschränke ich mich nur darauf, einige zu nennen: Kurz, Gerhard (1975):
62 Laura Anna Macor
sonsten ließe sich kaum verstehen, wie der an Kant geschulte Schelling am
4. Februar 1795 gegenüber dem jungen Hegel die These vertreten kann, „die
Philosophie“ müsse „[v]om Unbedingten […] ausgehen“.¹⁰
Dass dabei sowohl Kants rein kritizistischer Ansatz als auch Jacobis radikale
Vernunftkritik Gefahr liefen, auf den Kopf gestellt zu werden, und letztendlich dieser
Gefahr auch erlagen, dürfte keine besondere Erwähnung brauchen. Immerhin scheint
mir das Verdienst von Sandkaulens Gegenüberstellung dieser zwei Philosophen nicht
in der Forderung nach einer treuen Auslegung ihres Werks – deren Wichtigkeit hier
natürlich nicht im Mindesten bestritten werden soll – zu bestehen, sondern eher in
der Auffindung eines ganz neuen philosophiegeschichtlichen Musters, das der
überkommenen Filiation Kant-Fichte-Hegel-Schelling Konkurrenz machen soll. Aus
dieser Perspektive gewinnt man – um Dieter Henrichs erfolgreichen Ausdruck auf-
zugreifen – eine neue ‚Konstellation‘,¹¹ etwas wie ein höchst fruchtbares ‚Zweigestirn‘,
das die eigentliche Keimzelle jedes späteren Nachdenkens über Metaphysik, deren
Sinn und Methode ausmacht.
Von dieser neuen Warte aus, und zwar der Hinterfragung der Metaphysik als
vorwärts oder rückwärts strebenden Ausgriffs aufs Unbedingte, gewinnt man
außerdem ein etwas anreizenderes Image vom Deutschen Idealismus als expe-
rimenteller Werkstatt für die Behandlung genuin existentieller Fragen. Von spe-
zialistischen Details abgesehen, eines steht also fest: Das Bedürfnis nach Meta-
physik ist keineswegs neu, doch zweifellos jedes Mal neu empfunden.
Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei Hölderlin.
Stuttgart; Sandkaulen 1990; Folkers, Horst (1994): „Das immanente Ensoph. Der kabbalistische
Kern des Spinozismus bei Jacobi, Herder und Schelling“. In: Eveline Goodman-Thau/Gert Mat-
tenklott/Christoph Schulze (Hrsg.): Kabbala und Romantik. Tübingen, 71– 96; Franz, Michael
(1996): Schellings Tübinger Platon-Studien. Göttingen; Henrich, Dieter (2004): Grundlegung aus
dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen – Jena (1790 – 1794). 2 Bde.
Frankfurt am Main; Buée, Jean-Michel (2011): Savoir immédiat et savoir absolu: la lecture de Jacobi
par Hegel. Paris.
Schelling 1869, 76.
Zu Henrichs Methode der ‚Konstellationsforschung‘ siehe: Henrich, Dieter (1991): Konstella-
tionen: Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie. 1789 – 1795. Stuttgart;
Henrich, Dieter (2005): „Konstellationsforschung zur klassischen deutschen Philosophie: Motiv,
Ergebnis, Probleme, Perspektiven, Begriffsbildung“. In: Martin Mulsow/Marcelo Stamm (Hrsg):
Konstellationsforschung. Frankfurt am Main, 15 – 30.
Jens Halfwassen (Heidelberg)
Gott im Denken
Warum die Philosophie auf die Frage nach Gott
nicht verzichten kann
„Was wäre denn sonst der Mühe wert zu begreifen, wenn Gott unbegreiflich ist?“¹ Mit
diesen lapidaren Worten formuliert Hegel die Unverzichtbarkeit des Versuchs, Gott zu
denken und denkend zu begreifen, für die Philosophie. In der Tat ist die Frage nach
Gott für die Philosophie durch ihre gesamte Geschichte hindurch so wesentlich und so
zentral, dass die Philosophie geradezu sich selbst aufgäbe, wenn sie sich von dieser
Frage verabschieden würde. Das will dieser Vortrag in drei Schritten entfalten. In
einem ersten Schritt soll mit Blick auf den geschichtlichen Anfang der Philosophie
begründet werden, warum die Philosophie ihr Wesen aufgeben würde, wenn sie die
Frage nach Gott nicht mehr stellte. In einem zweiten Schritt soll sodann der Versuch
einer Typisierung der Formen unternommen werden, in denen die Philosophie im
Verlauf ihrer Geschichte Gott thematisiert hat,wobei drei Grundformen unterschieden
werden sollen. Der dritte Schritt wird dann ein Plädoyer für eine dieser Grundformen
sein, bzw. für eine Verbindung von zwei von ihnen.
I
Philosophie ist seit ihrem griechischen Anfang der Versuch, das ‚Ganze‘ des
Wirklichen oder Seienden zu denken. Der Ausgriff auf das Ganze kennzeichnet
philosophisches Denken von den frühesten Vorsokratikern an bis hin zur Fun-
damentalphilosophie Dieter Henrichs. Er ist es darum, der philosophisches
Denken von anderen Formen des Denkens unterscheidet und als ‚philosophisch
auszeichnet‘. Ebenfalls von den frühesten Vorsokratikern bis zum deutschen
Idealismus und zur Gegenwart greift philosophisches Denken in der Weise auf das
Ganze aus, dass es das Ganze von einem letzten ‚Grund‘ und ‚Ursprung‘ her
thematisiert und in den Blick nimmt. Als das Denken des Ganzen hat Philosophie
die Gestalt einer Prinzipientheorie und ist insofern ‚Metaphysik‘ – denn Meta-
physik bestimmt schon Aristoteles als die Suche nach den letzten Prinzipien der
Wirklichkeit im Ganzen.² Den Ursprung des Ganzen aber, von dem her sich das
Hegel, Georg W. F. (1986): „Vorlesungen über die Philosophie der Religion I“. In: Theorie-
Werkausgabe. Eva Moldenhauer, Karl M. Michel (Hrsg.). Bd. 16. Frankfurt am Main, 44.
Aristoteles: Metaphysik (Metaph), 981b27– 29.
64 Jens Halfwassen
Ganze allein thematisieren lässt, denkt die Philosophie ebenfalls von den frü-
hesten Vorsokratikern an als das eigentlich ‚Göttliche‘.
Aristoteles berichtet uns, dass Anaximander, neben Thales der früheste der
vorsokratischen Ursprungsdenker, als erster den Ursprung mit einem von ihm
neugebildeten Neutrum to theion – „das Göttliche“ – genannt hat.³ Anaximander
ist zugleich der erste, der in seinem Ursprungsgedanken den Ursprung von der aus
ihm entsprungenen Weltwirklichkeit kategorial unterschieden hat, denn er dachte
den Ursprung als das Apeiron, also als das Unbegrenzte, Unendliche und Unbe-
stimmte und damit als ‚Verneinung‘ der aus ihm entspringenden Weltstruktur.⁴
Mit diesem Gedanken eines vorweltlichen Ursprungs hat Anaximander zum ersten
Mal in der Geistesgeschichte einen Begriff des Göttlichen formuliert, der gänzlich
unmythologisch ist, weil er sich von aller bildlichen Vorstellbarkeit befreit und ins
reine Denken erhoben hat. Weil der Ursprung des Ganzen nur ein ‚einziger‘ sein
kann, war es von Anaximander aus auch nur noch ein Schritt zu einem expliziten
philosophischen ‚Monotheismus‘. Xenophanes hat diesen Schritt noch im
6. Jahrhundert vor Christus getan:⁵ Er konzipierte den Einen Gott in ontologischen
Bestimmungen als die Verneinung der Seinsweise der veränderlichen Welt und
setzte ihn der Göttervielheit des mythologischen Polytheismus als den ‚einzigen‘
wahren Gott entgegen, während die vielen welthaften Götter des Mythos für
Xenophanes nur Projektionen ihrer Verehrer waren, menschengestaltige Produkte
der mythologischen Einbildungskraft. Seitdem ist die europäische Philosophie auf
einen philosophischen Monotheismus verpflichtet, der unabhängig von jeder
religiösen Offenbarung allein dem Denken entspringt, und dessen Gottesgedanke
sich in rein ontologischen Bestimmungen gegen alle mythologischen Vorstel-
lungen von Göttern profiliert.⁶ Dieser genuin philosophische Monotheismus ent-
springt dem Ursprungsgedanken selber, der die Philosophie als denkenden
Ausgriff auf das Ganze erst ermöglicht und der darum historisch wie sachlich ihr
erster und fundamentalster Gedanke ist, der sie durch ihre gesamte Geschichte
hindurch trägt und prägt. Sofern und solange Philosophie Ausgriff auf das Ganze
des Seienden ist und nach dem letzten Grund und Ursprung des Ganzen fragt, ist
sie auf den Gedanken des Einen Gottes verpflichtet, der ganz anders ist als die
anthropomorphen Götter des Polytheismus und auch ganz anders als die Struktur
der Welt, deren Grund er ist. Dieser Monotheismus ist unablösbar vom Ur-
sprungsgedanken selber; darum bleibt die Philosophie ihm auch und gerade dann
verpflichtet, wenn sie nach einem möglichen Wahrheitsgehalt des Mythos und des
mythologischen Polytheismus fragt, wie das im Neuplatonismus oder in den
Religionsphilosophien von Hegel und zumal von Schelling geschieht.⁷
Aus diesem Grund verliert die Philosophie ihr Wesen,wenn sie aufhört, nach Gott
zu fragen und ihn zu denken. Denn sie kann damit nur aufhören, indem sie zugleich
aufhört, auf das Ganze des Seienden auszugreifen und nach dessen Ursprung zu
suchen. Ich weiß wohl, dass große Teile der nachidealistischen Philosophie des 19.
und 20. Jahrhunderts genau das propagiert haben. Aber wie immer man ihr denke-
risches Unternehmen auch beurteilen mag, historisch gesehen ist es nicht mehr
Philosophie ‚in dem Sinne‘, den dieser Begriff von Platon bis zu Hegel und Schelling
hatte und bei Denkern wie Dieter Henrich oder Michael Theunissen auch heute noch
hat.⁸ Die Absage von großen Teilen der Gegenwartsphilosophie an Gott ist erkauft um
den Preis einer Abwendung von der gesamten Tradition der Philosophie. Das ist der
höchste Preis, den man im Denken zahlen kann: er ist zu hoch, wenn Philosophie
ihrer eignen Geschichte verpflichtet bleiben soll.
II
Gott ist somit ein genuiner Gegenstand des philosophischen Denkens, ja mehr noch,
er ist dessen ursprünglichster und vorzüglichster Inhalt. Er ist das bereits vor der
Begegnung der Philosophie mit monotheistischen Offenbarungsreligionen wie Ju-
dentum, Christentum und Islam. Philosophie ist als Denken des Ganzen und seines
göttlichen Ursprungs aus sich selbst heraus Theologie, und sie ist darin selbstständig
und unabhängig von jeder religiösen Offenbarung und jeder positiven Religion. Sie ist
Theologie, weil sie Prinzipiendenken ist – das von Platon erfundene und von Ari-
stoteles geprägte Wort Theologie meint nämlich eben dies: Denken des göttlichen
Ursprungs. Die Geschichte der Philosophie ist erfüllt von den Versuchen, Gott zu
denken.⁹ Diese machen nicht nur ihren allergrößten Teil aus, sie haben auch die
größten und anspruchsvollsten Gedanken hervorgebracht, zu denen die Philosophie
Vgl. zu Schelling: Gabriel, Markus (2006): Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Onto-
theologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings „Philosophie der Mytholo-
gie“. Berlin, New York.
Vgl. dazu Halfwassen, Jens (2010): „Die Unverwüstlichkeit der Metaphysik“. In: Philosophische
Rundschau 57, 97– 124.
Einen instruktiven, wenn auch unvermeidlich unvollständigen Überblick gibt Weischedel,
Wilhelm (1971): Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter
des Nihilismus. 2 Bde. Darmstadt, München.
66 Jens Halfwassen
Vgl. dazu Hindrichs, Gunnar (2008): Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum
Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik. Frankfurt am Main, spez. 76 – 102.
Gott im Denken 67
raklit; er liegt auch dem Monismus der Eleaten zugrunde. Die zweite Grund-
möglichkeit, die Beziehung des Ursprungs zum Ganzen zu konzipieren, realisiert
sich also im Gedanken der All-Einheit. Ihm liegt die Einsicht zugrunde, dass das
Ganze immer ursprünglicher ist als jedes einzelne seiner Elemente. Diese Einsicht
lässt sich bestimmungstheoretisch formulieren: Jedes bestimmte Etwas, also jedes
Besondere und Einzelne, ist das, was es jeweils ist, immer nur dadurch, dass es
sich von anderem, was es nicht ist, abhebt und unterscheidet. Einzelnes und
Bestimmtes gibt es nur durch die Dialektik von Identität und Differenz, wie spä-
testens Platons Dialog Sophistes deutlich gemacht hat. Die abhebende Unter-
scheidung von anderem, der sich jedes bestimmte Einzelne verdankt, ist aber
selber nur möglich vor dem Horizont eines Ganzen, vor dem sich das Einzelne
abhebt, der aber es selbst ‚und‘ das andere, von dem es sich unterscheidet,
gleichermaßen umfasst. Und so wird das Ganze von jedem Einzelnen immer schon
vorausgesetzt und geht ihm als Horizont seiner Bestimmtheit voraus. Das so
verstandene Ganze ist also nicht die Summe alles Besonderen, sondern dessen
ermöglichender ‚Horizont‘.¹¹ Anspruchsvolle Ausformungen des All-Einheits-Ge-
dankens sind sich darum dessen bewusst, dass das Ganze selber nicht mehr in den
gleichen Gedankenformen und Begriffen thematisiert werden kann, in denen wir
Einzelnes und Bestimmtes denken; der holistische Einheitsgedanke gebiert schon
bei Heraklit die Denkform der Paradoxie. Das betrifft auch und gerade die Einheit
des Ganzen: Dieses artikuliert sich in seine Momente, in denen es sich aber zu-
gleich als Einheit durchhält; die Einheit von Selbstunterscheidung und Rückkehr
zu sich, die damit zu denken verlangt ist, erfüllt sich im Gedanken der Trinität, wie
spätestens im Neuplatonismus deutlich wird.¹²
Die Metaphysik des All-Einen treibt zu einer Form des Denkens, die von dem
kategorialen, bestimmenden Denken, in dem wir gegenständlich Seiendes, das immer
ein besonderes Einzelnes ist, denken, abweicht – dieses abweichende Denken ver-
sucht zu denken, was zu denken das gegenstandsbezogene Denken sich sträubt: die
allumfassende Einheit als Einheit der Gegensätze, auch der Widersprüche, die co-
incidentia oppositorum.¹³ Diese besondere Form des Denkens – Hegel nannte sie
‚spekulativ‘ – realisiert auch, dass das derart in ungegenständlichen, oftmals para-
Vgl. vor allem Henrich, Dieter (2007): Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität.
Frankfurt am Main; ferner Langthaler, Rudolf, Hofer, Michael (Hrsg.) (2008): Selbstbewußtsein und
Gottesgedanke. Ein Wiener Symposion mit Dieter Henrich über Philosophische Theologie (Wiener
Jahrbuch für Philosophie 40). Wien.
Platon: Politeia, 509 B; Testimonium Platonicum 50 Gaiser (Speusipp). Vgl. dazu Halfwassen,
Jens (2006): Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. 2. Aufl. München,
Leipzig.
Gott im Denken 69
einheitliche Bestimmungen sind, dann kann das Eine, das sie beide erst ermöglicht,
nicht auf die eine Seite festgelegt werden; vielmehr übersteigt es sie beide gleicher-
maßen als der beide ermöglichende, ‚übergegensätzliche‘ Einheitsgrund: Es ist
notwendig ‚jenseits‘ von Sein und Nichtsein. Darüber hinaus wird das Eine, sobald
wir ihm Sein zusprechen, schon zu einer Zweiheit, nämlich zur geeinten Zweiheit von
Einheit und Sein, bleibt also nicht das Eine selbst in seiner Absolutheit.¹⁶ Rein in sich
selbst betrachtet, in seiner Absolutheit, weist das Eine jede Bestimmung, die wir
denken können, jedes Prädikat, das wir ihm zusprechen könnten, strikt von sich ab.¹⁷
Die Negation erweist sich damit als die einzige Form, in der wir überhaupt über das
absolut Eine sprechen können. Dies zwingt zur Ausbildung einer ,negativen Theo-
logie‘ oder Henologie, die affirmative Aussagen über das Eine selbst prinzipiell
ausschließt, weil die duale Struktur der Prädikation, die immer etwas über etwas
aussagt, das Absolute als reine Einheit verfehlt. Die absolute begriffliche Leere, die
den Gedanken des Einen auszeichnet, aber meint keinen Mangel, sondern die ab-
solute ,Überfülle‘, die durch keinen Gedanken begriffen und durch keine positive
Aussage gesagt werden kann. Absolute begriffliche Leere und absoluter semantischer
Überschuss bedingen sich im Transzendenzgedanken gegenseitig.
Der Gedanke des Absoluten als absolute Transzendenz, die dritte Grundform
des Ursprungsgedankens, übersteigt den traditionellen Theismus in der radi-
kalsten Weise, denn sie führt über den Gottesgedanken selbst hinaus: Das Eine
selbst ist „mehr als Gott“, es ist als Grund und „Quelle aller Gottheit“ selbst
übergöttlich oder die „Über-Gottheit“ selbst.¹⁸ Hier kann nicht mehr von Gott, hier
kann nur noch vom Absoluten gesprochen werden – aber erst hier gewinnt der
Begriff des Absoluten seine volle Bedeutung und sein ganzes Gewicht, meint er
doch das von Allem Abgelöste: die reine Transzendenz.¹⁹ Seine vollkommenste
geschichtliche Ausprägung findet dieser Gedanke im Neuplatonismus, vor allem
bei Plotin. Unter den Philosophen der Gegenwart hat am entschiedensten Karl
Jaspers an ihn angeknüpft.
III
Wenn es richtig ist, dass die Beziehung des Ursprungs zum Ganzen grundsätzlich
nur in einer der drei Grundformen gedacht werden kann, wenn also der Ursprung
entweder als das erste Element des Ganzen oder als das Ganze selber oder als die
Transzendenz über das Ganze gedacht werden kann, dann ergeben sich daraus
drei Typen philosophischer Theologie: die ‚affirmative‘ Theologie des vollkom-
mensten Seienden, die ‚spekulative‘ Theologie der All-Einheit und die ‚negative‘
Theologie des überseienden Absoluten. Damit stellt sich die Frage: Gibt es gute
philosophische Gründe, eine von ihnen vorzuziehen? Gründlich überlegter und in
einer langen Geschichte bewährter Argumentation verdanken sich alle drei
Grundformen. Je nach konkreter Ausformung, sind sie untereinander auch nicht
durchweg inkompatibel, wie die Geschichte der Philosophie zeigt.²⁰ Wir müssen
darum prüfen, ob es Argumente für einen Vorrang einer dieser Formen vor den
anderen gibt. Dies kann hier der Kürze halber nur in extrem thetischer Weise
unternommen werden.
Die schon erwähnte bestimmungstheoretische Überlegung, der zufolge das
Ganze immer ursprünglicher ist als jedes Einzelne, weil es der ‚Horizont‘ ist, der
Einzelnes in seiner besonderen Bestimmtheit erst hervortreten lässt, scheint mir
die Überlegenheit des All-Einheitsgedankens über eine Theologie des höchsten
Seienden zu erweisen. Ein als vollkommenstes Einzelwesen gedachter Gott ist
immer noch weniger ursprünglich als das als All-Einheit begriffene Ganze. Da-
gegen lässt sich das bestimmungstheoretische Argument nicht gegen den nega-
tiven Gedanken des Einen als Transzendenz in Ansatz bringen; denn wäre das Eine
ein Einzelnes, dann wäre es nicht jenseits des Seins, sondern selber ein Seiendes,
es ist aber als die Bedingung alles Bestimmten und damit alles Seienden selber
nicht seiend und nicht bestimmt, sondern überseiend. Umgekehrt zeigt sich
vielmehr, dass auch das Ganze selber unvermeidlich als Einheit gedacht werden
muss, wenn es überhaupt denkbar sein soll – wenn auch als eine Einheit be-
sonderer Art: als trinitarisch in sich zurückkehrende All-Einheit, die als absolute
Totalität aller Bestimmungen nichts mehr außer sich hat. Eben als Bestim-
mungstotalität aber ist die All-Einheit selber noch eine ‚bestimmte‘ Einheit, die
das über alle Bestimmungen hinausliegende Eine selbst als letzten Grund ihrer
eigenen Einheit voraussetzt.Wenn das Ganze als All-Einheit nichts außer sich hat,
dann ist das Nichts, das die All-Einheit außer sich hat, das überseiende Nichts der
Transzendenz, das dem Ganzen erst die Macht verleiht, Einheit zu sein. Die
konsequenteste Ausformung des metaphysischen Ursprungsgedankens ist darum
die negative Theologie des überseienden Einen.²¹
In diesem Zusammenhang zeigt sich aber noch ein Zweites. Transzendenz im
Sinne von absoluter Transzendenz wird nur dort gedacht, wo sie als Transzendenz
über das Ganze im Sinne der absoluten Totalität aller Bestimmungen gedacht
wird. Damit aber erweist sich der Gedanke der All-Einheit selber als unentbehrlich
für den Gedanken des Absoluten als Transzendenz. Beide Gedanken fordern sich
in gewisser Weise gegenseitig. Transzendenz fordert den Gedanken der All-Ein-
heit, weil sie nur dann absolute Transzendenz ist, wenn sie die All-Einheit des
Ganzen transzendiert. Und All-Einheit fordert die Transzendenz des absolut Einen,
weil sie nur im Transzendenzbezug zu einem sie übersteigenden, undenkbaren
Einheitsgrund selber noch als Einheit gedacht werden kann – der späte Fichte hat
das gegen Hegel geltend gemacht und dabei der Sache nach an Einsichten Plotins
angeknüpft. Der negative Einheitsgedanke der Transzendenz und der positive
Einheitsgedanke der All-Einheit sind darum nicht von einander ablösbar. Die erste
Philosophie, die das nicht nur verstanden, sondern mit unüberbietbarer Konse-
quenz zu Ende gedacht hat, ist der Neuplatonismus Plotins.²²
Ich komme damit zum Schluss und kann nun meine Ausgangsthese diffe-
renzieren, dass die Philosophie auf den Gottesgedanken nicht verzichten kann.
Welcher Gottesgedanke ist für die Philosophie unentbehrlich? Offenbar nicht der
Gedanke von Gott als summum ens. Denn die Philosophie greift auch dann noch
auf das Ganze aus und sucht auch dann noch nach dessen Ursprung,wenn sie kein
summum ens annimmt.²³ Dagegen kann die Philosophie auf den Gedanken des
Absoluten als Transzendenz nicht verzichten, weil er die ultimative Erfüllung des
Ursprungsgedankens selber ist. Ebenso wenig kann sie auf den Gedanken der All-
Einheit verzichten, weil sich in ihm der Ausgriff auf das Ganze erfüllt und weil nur
in ihm wirklich begriffen wird, was Geist ist.Wenn wir Gott und uns selbst als Geist
begreifen wollen, brauchen wir den Gedanken der All-Einheit, der Geist-zu-Geist-
Verhältnisse anders zu denken erlaubt denn als Beziehungen bloß Verschiedener.
Vgl. dazu Halfwassen, Jens (2002): „Metaphysik und Transzendenz“. In: Jahrbuch für Religi-
onsphilosophie 1, 13 – 27.
Vgl. Halfwassen, Jens (2005): Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur
Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung. 2. Aufl.
Hamburg.
In monistischen Metaphysiken bestimmter Art ist das der Fall, z. B. im Eleatismus, bei Spinoza
oder in buddhistischen Metaphysiken wie dem Madhiamika oder dem Yogacarin.
72 Jens Halfwassen
Eine Philosophie, die sich von ihren höchsten und anspruchsvollsten Ge-
danken nicht verabschieden will, muss darum Transzendenz und All-Einheit in
einem systematischen Zusammenhang denken. Das geschichtliche Paradigma
dafür ist der Neuplatonismus;²⁴ die von ihm ausgebildete Systemform hält sich
historisch über Eriugena und Cusanus durch bis zu den Spätphilosophien von
Fichte und Schelling. Sie mutet uns theologisch zu, zwischen Gott als Geist und
trinitarischer All-Einheit und dem Absoluten als übergöttlichem Grund der Gott-
heit zu unterscheiden. Sie schließt aber vielleicht den Versuch nicht aus, die
Gedanken der All-Einheit und der Transzendenz so miteinander zu vereinigen,
dass die All-Einheit und Selbstbezüglichkeit des Geistes nicht im Vorhof des
Absoluten verbleibt wie bei Plotin, dass aber umgekehrt die Transzendenz des
Einen auch nicht eingezogen wird in die Immanenz der All-Einheit wie bei Hegel.
Den Versuch, All-Einheit und Transzendenz in dieser Weise zu vereinigen, haben
Eriugena und Cusanus unternommen.²⁵
Vgl. Beierwaltes,Werner (1985): Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und
ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt am Main.
Vgl. dazu Beierwaltes, Werner (1994): Eriugena – Grundzüge seines Denkens. Frankfurt am
Main; Beierwaltes, Werner (2001): Platonismus im Christentum. 2. Aufl. Frankfurt am Main.
Riccardo Pozzo (Rom)
Philosophieren um den Gottesbegriffs
Anmerkungen zum Beitrag von Jens Halfwassen
I Religionsphilosophie
Die Philosophie der Religion gilt nicht wenigen als das schönste Fach. Nur die
Geschichte der Antiken Philosophie vermag sie zu übertreffen. Das lässt sich
vielleicht dadurch erklären, dass Philosophen Geschichten lieben, wozu auch die
biblische Erzählung zu zählen ist.
Nun gilt für die Religionsphilosophie dasselbe wie für die Rechtsphilosophie.
Denn so wie das Naturrecht die Bedingung der Möglichkeit aller Rechtsordnungen
darstellt, so stellt der Gottesbegriff der spekulativen Theologie die Bedingung der
Möglichkeit aller heiligen Schriften dar. Das ist im Falle des abrahamitischen
Monotheismus offensichtlich, wobei der Begriff des einen Gottes die Grundlage für
die Offenbarungsschriften von Juden, Christen und Moslems bildet.
Der Punkt ist jedoch: Philosophen sind weder Juristen noch Theologen. Sie
denken die Frage nach Gott, so wie Jens Halfwassen sie begreift: Weil sich die Phi-
losophie ansonsten selbst aufgibt, wenn sie von dieser Frage ablässt. Dächten Phi-
losophen wie Juristen, dann würden sie die Religion als Recht einer multireligiösen
und multikulturellen Minderheit verstehen, wofür sich die gesetzgebende Gewalt ab
einem bestimmten Datum eingesetzt hätte. Dächten sie wie Theologen, so würden sie
auf die Übereinstimmung mit den jeweils kanonischen Büchern achten.
Darum geht es aber nicht. Wenn die Philosophie die Frage nach Gott stellt, so
geschieht dies zwar metatheoretisch, aber vor allem und gerade deswegen mit
Blick auf das interreligiöse Gespräch. Dafür trägt die Philosophie Verantwortung.
Sie darf nicht darauf verzichten, insofern die Bedingung aber für das Gespräch
stellt: das Faktum der Vernunft. Darin ist die Philosophie nicht neutral. Es steht
somit den Philosophen zu, die religionsphilosophischen Texte in einem interre-
ligiösen und interkulturellen Sinne zu hinterfragen.
II Metaphysik
Obwohl Jens Halfwassen unter Metaphysik primär die aus platonischen und aristo-
telischen Elementen entstandene Metaphysik des Hellenismus und des Mittealters
versteht, und zwar völlig mit Recht, so darf man dennoch darauf hinweisen, dass es
74 Riccardo Pozzo
andere Formen der Metaphysik gegeben hat, in denen die systematische Auffassung
des Absoluten zugunsten der phänomenologischen Erfahrung des Bewusstseins
weitgehend preisgegeben wurde. Man denke beispielsweise an Georg Friedrich Meiers
Einleitung in die Metaphysik (1755). Dessen Absicht geht dahin, über die von Christian
Wolff in seiner Schrift Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des
Menschen, auch allen Dingen überhaupt (1719) kanonisierte Unterscheidung von
metaphysica generalis und metaphysica specialis zu reflektieren. Zum einen hält Meier
die menschliche Erkenntnis einer völligen Gewissheit fähig, sodass es solche
Grundsätze oder Grundwahrheiten geben muss, welche die ersten Anfänge aller
menschlichen Erkenntnis sind; zum zweiten glaubt er, dass auch ein Skeptiker (der
meinte, dass es dem Menschen unmöglich sei, zu irgendeiner Gewissheit zu gelangen)
zugeben musste, dass es sehr viele Begriffe und Urteile gibt, die in dem menschlichen
Geschlechte als Gründe angenommen werden, worauf man eine völlige Überzeugung
gründet. Im Anschluss daran nimmt Meier in seiner Apologie der ‚wahren‘ bzw.
‚echten‘ Metaphysik Stellung gegenüber ihren entarteten Formen. Er verteidigt zwar
im Großen und Ganzen den Metaphysikbegriff Christian Wolffs, nennt aber die Be-
dingungen für eine zukünftige echte Metaphysik, d. h. für eine Wissenschaft (eine
deutliche Erkenntnis aus gewissen und unumstößlichen Gründen), die diesen Namen
in der Tat verdient. Diese muss alles aufs Deutlichste erklären und aufs Gründlichste
beweisen, soweit es die Schranken des menschlichen Verstandes zulassen. Im Ge-
gensatz zu dieser wird die entartete Form der Metaphysik in der Regel durch eine
Fehlhaltung verursacht. Heute wissen wir es besser. In seiner Introduction to New
Realism (2014) hat Maurizio Ferraris klargemacht, die Metaphysik sei heute in vielen
Formen da, und dies wollen wir akzeptieren.
In Meiers Betrachtungen ueber die Schrancken der menschlichen Erkenntnis
(1755) wird das Thema der Schranken als Ansporn zur Selbstzufriedenheit für
diejenigen vorgeschlagen, die keine Philosophen der Profession nach sind. Mit
Bezug auf die Natur der ‚allgemeinen‘ und ‚abstrakten‘ menschlichen Erkenntnis
ist die Verurteilung der Philosophie drastisch. Die von Meier vorgeschlagene
Lösung des Problems der Schranken der menschlichen Erkenntnis ist aber rein
quantitativer Natur. Denn er vergleicht zum einen den Umfang der menschlichen
Erkenntnis mit der Erkenntnis der Tiere, zum anderen mit der Erkenntnis von
anderen denkenden Wesen und Geister, sodass man zu dem Schluss kommt, dass
der Mensch aufgrund der ihm eigenen Schranken ein Mikrokosmos ist. Schließlich
reagiert Meier in der Abhandlung Von dem Ursprunge der menschlichen Erkenntniß
(1770) auf die im Jahre 1765 von Ludovicus Dutens herausgegebenen Nouveaux
essais sur l’entendement humain von Leibniz, die eine lebhafte Diskussion über
Metaphysik und Erkenntnistheorie neu entfachten. Meier hält dem Innatismus der
Leibnizschen Erkenntnistheorie die Treue. Er gibt Leibniz Recht, wenn er davon
ausgeht, dass der erste Anfang der menschlichen Erkenntnis in dunklen Emp-
Philosophieren um den Gottesbegriffs 75
findungen bestehe, die Gott in der Seele erschaffen hätte. Dabei ist hervorzuhe-
ben, dass Meier eine Mitwirkung des oberen Erkenntnisvermögens (des Verstan-
des und der Vernunft) auf dieser Stufe noch ausschließt. Dies steht im Gegensatz
zu Kant, der in seiner kurz nach dieser Schrift Meiers erschienenen Dissertatio de
mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770) die Sinnlichkeit und
den Verstand mitwirken lässt.
machen.Was aber unter Fächern möglich ist, sollte auch unter Zivilisationen möglich
sein. Westliche, islamische, chinesische und afrikanische Kulturen basieren sich auf
verschiedenen Gesichtspunkten, verschiedenen Ideen, verschiedenen Lebensformen.
Dennoch teilen sie immer noch dieselben Probleme – vor allem Probleme, die mit den
Begriffen von Gott, der Welt und der Menschheit verbunden sind. Von daher bean-
sprucht die Begriffsgeschichte im Vergleich zu anderen philosophischen Narrationen
einen allgemeineren Standpunkt. Die Geschichte eines Problems geht weit über die
Grenzen der eigenen Kultur hinaus, wie Walter Benjamin in seinem Aufsatz Die
Aufgabe des Übersetzers (1923) klarmachte. So sind z. B. die beiden Wörter répré-
sentation und imitation gleichermaßen vertretbare französische Übersetzungen des-
selben griechischen Wortes mimesis. Es ist aber klar, dass die Bedeutung der Wörter in
Abhängigkeit vom Kontext variiert – sei es im Einklang mit Platos Ideentheorie, mit
der aristotelischen Tragödiendefinition oder mit Dantes Interpretationstheorie.
II Kant und die Metaphysik
Karl Ameriks (Notre Dame)
Kantian Metaphysics
A Personal History of its Recent Return
The topic I will review very briefly is the surprising growth of interest in the met-
aphysical side of German philosophy in recent decades, especially in relation to
Kant, although similar points could be made about figures such as Fichte and
Hegel. I will address this issue largely autobiographically, on the presumption
that my experiences are indicative of some significant broader patterns that
may be unfamiliar to younger scholars. There is no guarantee that these patterns
will happen to continue – but even in that case it can be worthwhile to take some
notice of them now, before this episode in our recent German-American philo-
sophical relationship fades into forgotten history.
My formal experience with respect to Kant began as an undergraduate at
Yale, 1965 – 69, where, after an early stress on mathematics, I could conveniently
pursue my primary interest in European culture and philosophy with a special
emphasis on German thought, including theology, literature, psychology, and
aesthetics, with a special interest in writers such as Hölderlin, Novalis, and
Rilke. I did not specialize in Kant but was deeply influenced by a visit by Dieter
Henrich, who read his now famous essay on Kant’s transcendental deduction.
(Hans Wagner, Gerold Prauss, and others from Bonn held visiting appointments
at Yale, but Henrich’s visiting appointments in the U.S. were elsewhere.) At that
time existentialism was much in vogue there and had become my own main con-
cern; SPEP, the American Society for the Study of Phenomenology and Existen-
tial Philosophy, had just been founded, in part through the work of my first phi-
losophy teacher, the Husserl expert David Carr, with whom I first studied
Descartes and Sartre. The Yale department was almost unique among major de-
partments in the U.S. because of the heavy emphasis that it placed on European
philosophy, even in the analytic work of excellent teachers such as Robert Foge-
lin, who was my main guide to Hume and Wittgenstein. The department’s new
hires in the 1960s included Karsten Harries, John Findlay, and quite a number
of young people with very similar interests, including some who also stressed
French philosophy. From outside the philosophy department, scholars such as
Hans Frei, Cyrus Hamlin, and Wolfgang Leonhard added significantly to Yale’s
coverage of European culture and modern German thought in particular. By
my senior year, 1968 – 9, social unrest had swept the world and U.S. campuses,
but at Yale student-faculty relations were extraordinarily harmonious, and radi-
calism surfaced primarily in a huge influx of majors in philosophy and psychol-
80 Karl Ameriks
ogy, and a series of visiting lecturers, such as Herbert Marcuse and Hannah
Arendt, who simply talked, to huge crowds, about the philosophy of revolution.
It was no accident that Marcuse and Arendt were students of Heidegger, for
the impact of his thought was still everywhere. Heidegger’s work especially inter-
ested me because of its radical contention that the whole western tradition was
sunk in error and alienation, and that metaphysics in particular was a main
source as well as a symptom of this phenomenon. This suspicion against meta-
physics was strongly reinforced at the time by the significant influence practical-
ly everywhere else of the otherwise quite non-Heideggerian movements of posi-
tivism and analytic philosophy of language and the dominance of figures such as
Wittgenstein, Gilbert Ryle, and J. L. Austin – as well as, of course, by the prevail-
ing Marxist and pragmatist criticisms of mere theory. In my senior thesis I ex-
pressed a deeply ambivalent reaction to Heidegger by arguing that the main,
and still unappreciated, development in Heidegger’s thought came in the
1930s when – after his ‘troublesome’ political activities, to put it very mildly –
he suddenly shifted away from his earlier effort, like that of Husserl, to provide
metaphysics with a new and genuinely ‘scientific’ founding, and toward his later
phase, which attacked the very idea of attempting to relate philosophy positively
to any kind of quasi-scientific approach, even for the sake of a foundational,
transcendental, or activist metaphysics, such as his Rektoratsrede’s advocacy
of a combination of Wissensdienst and Wehrdienst.
Oddly enough, the main consequences of this shift – but never, I suspect,
their full historical character – were best captured around that time by Richard
Rorty, who had earned his Ph.D at Yale about a dozen years earlier and, one day
in my senior year, came back to Yale, from Princeton, to speak on Wittgenstein’s
private language argument. By the late 1960s, Rorty had worked his way through
an early interest in Whitehead and existentialism, and then a preoccupation with
tracing ‘the linguistic turn,’ and he had begun to settle upon the odd trinity of
John Dewey, the later Wittgenstein, and the later Heidegger as his heroes because
of their common stress on the severe limits of ‘pure philosophy.’ Rorty expressed
this ‘anti-pure’ attitude in what seemed to me at that time to be a very boring
‘professional’ talk – one that almost seemed intended as an ironic reductio of
analytic procedures then. In dinner conversation later that day, the depth of Ror-
ty’s philosophical negativism became vividly apparent, and by the end of the
evening he had almost persuaded me not only that it was not worthwhile to
think of going on to graduate study in philosophy at Princeton (which then
had suddenly become the top department and included other rising junior fac-
ulty such as Thomas Nagel and Gilbert Harman) but also that there wasn’t
much point in going on with philosophy at all, and perhaps not even with life
Kantian Metaphysics 81
itself – and it was only much later that I learned that Rorty’s family had a history
of struggling with depression in general.
After that experience I went away (wondering if I would be drafted for Viet-
nam), first to a Heidegger conference at Penn State and then, in 1969 – 70, for a
Fulbright year in Tübingen, arriving the night of Brandt’s election as Kanzler.
This turned out to be a ‘Thermidor’ year in which practically everyone there
had gotten over the European unrest of ‘68 and had returned to the books of
classical German philosophy, to celebrate the bicentennial of the famous Tübin-
gen trio. Outstanding contemporary Tübingen philosophers such as Walter
Schulz, Dieter Jähnig and others taught me a lot then about Fichte, Schelling,
Hegel, Nietzsche, and much else, but strangely nothing about Kant or any signif-
icant current German philosophy that was not deeply tinged by Heidegger. I did
get to meet Heidegger in Switzerland, and to see him lead a seminar in Heidel-
berg, but by the end of the year the most interesting question had suddenly be-
come, as in Tübingen almost 200 years earlier, how to react to nearby radical
French developments – in this case, structuralism and neo-Marxism, and the im-
pact of Foucault, Derrida, Beckett, et al.
When I returned to Yale as a graduate student in 1970, the new wave of in-
terest in structuralist and then deconstructionist French thought was especially
strong, but I suddenly realized that what was really needed was to catch up on
the latest analytic philosophy. An important factor in this context was the work
of Wilfrid Sellars, part of whose spirit was still in New Haven because he had
been a major figure at Yale before leaving for Pittsburgh. Although Sellars,
like most philosophers then, was very fond of naturalism and Wittgenstein, he
was unique because he was also a very systematic metaphysician and good his-
torian of modern philosophy, as well as a very influential teacher, with students
such as Rorty. I did not work on Sellars directly but followed the interests of
some his students, who were still in New Haven and were my teachers then,
and I utilized my background in modern European thought to quickly compose
a dissertation on Descartes’ relation to contemporary philosophy of mind and ac-
tion theory. (My haste was motivated by a very sudden and huge drop in academ-
ic job opportunities, even for students from the top schools.) I argued that Witt-
gensteinians as well as Heideggerians had seriously misrepresented Descartes,
who was taken to be the centerpiece of their independent but scathing attacks
on modern philosophy in general. From my perspective, Wittgenstein and Hei-
degger had ‘thrown out the baby with the bath water’ when they and their fol-
lowers – such as Rorty – had contended that Cartesianism and essentialist met-
aphysics in general had to be rejected, largely because of some difficulties with
handling extreme skeptical problems, problems that seemed to me intractable no
matter what approach one takes. An incidental inspiration at this time was Stan-
82 Karl Ameriks
ley Cavell’s work – which was something like a voice in the wilderness and re-
minded me and others that one could take Cartesian themes very seriously, as in
Beckett’s work, and still not give up all connection with contemporary philoso-
phy, even in some of its most ‘analytic’ manifestations.
My main new goad, however, was Richard Rorty, who came to my attention
again when, on rereading, I realized that his work on Wittgenstein was actually
quite exciting and important, despite his ironic way of trying to make it look very
boring in person. I wrote to Rorty and he helpfully sent me sheaves of unpublish-
ed material that later turned into much of the basis of his astonishingly influen-
tial first book (Philosophy and the Mirror of Nature). Rorty was a special catalyst
because I found that, while I now enjoyed everything he was writing and very
much appreciated his broad interests and personal generosity, I disagreed with
most of the details in his work, both historical and systematic. I found him to
be, just like Heidegger and the earlier Wittgensteinians, much too impatient
with the metaphysical tradition, and not alive – as, for example, Henrich was
– to what was still significant in the Cartesian and Kantian enterprise and had
been obscured by obsessions with attacking ‘sense data’ positions that have little
to do with mainline Continental idealism (a point that is still lost on many ahis-
torical practitioners of analytic philosophy). The work of Harry Frankfurt on Des-
cartes, which appeared out of the blue at the time and began to re-establish in
analytic circles the enduring importance of rationalism, enormously reinforced
my confidence in the idea that the mainline rationalist tradition needed to be
taken much more seriously. When I left Yale for Notre Dame in 1973, I casually
suggested that they should hire Frankfurt, and by some coincidence they actual-
ly did, and in the long run his kind of stress on the value of classical rationalism
helped to return Yale philosophy eventually to much of its former glory, with the
hiring, first, of Bob Adams and Allen Wood, and then other experts on European
thought such as Michael Della Rocca, John Hare, Stephen Darwall, Thomas
Pogge, and Paul Franks.
Tempting as it was to consider returning to the eastern U.S., the fact is that
appreciation for metaphysics, cosmopolitanism, and history seemed at least as
present at Notre Dame as anywhere else, ever since I arrived in 1973. It was
not outdated scholasticism but rather keen attention to contemporary apprecia-
tors of rationalism such as Nick Wolterstorff, Al Plantinga, Saul Kripke, Roderick
Chisholm, John Rawls, and especially Sellars that dominated discussions in the
Notre Dame department then, and this was no coincidence because many mem-
bers of the department had spent time at Yale in Sellars’ heyday. The one thing
that Notre Dame did not have then was someone concerned specifically with
Kant, and so it became obvious that I had a special opportunity simultaneously
to learn from my exceptionally metaphysical colleagues, and the new metaphys-
Kantian Metaphysics 83
Thomas Kuhn, John Rawls, Michael Friedman, and Philip Kitcher have been
equally influential, for they have encouraged American philosophers to regain
interest in the possibility of combining the study of the history of philosophy
with something like Cassirer’s systematic search for structural and broadly a pri-
ori components that can still support various modest – that is, historically and
topically indexed – versions of essentialism, even in the domain of natural sci-
ence.
In the Anglophone world of Kant scholarship, the combined historical-met-
aphysical turn of the late twentieth century has been manifested in an ambiva-
lent way. Philosophers such as Robert Pippin and myself, who were deeply influ-
enced by Henrich and Prauss as well as the earlier German tradition during our
Humboldt year together in the Bonn region in 1977– 78, have been naturally con-
cerned with broadly metaphysical topics such as apperception, freedom, and ra-
tionality. A similar concern with a priori features has dominated the work of
leading Kant scholars such as Henry Allison, Allen Wood, and Paul Guyer – al-
though, given the fact that Guyer, unlike the others, came from Harvard rather
than Yale, it is perhaps not surprising that his early work placed more stress
on empiricist and psychological themes.
A much less transitory non-metaphysical orientation has continued to color the
work of many Anglophone philosophers discussing Kant’s ethics. Even more than
his theoretical philosophy, Kant’s practical philosophy has played a central role
in Anglophone circles, and it has continued to have significant influence in the
U.S. after Rawls’ own work was supplemented by, among others, the contributions
of his many excellent students (e.g., Onora O’Neill, Barbara Herman, Christine Kors-
gaard, and Andrews Reath). The guiding hope of most of these scholars has been to
find a way to express Kant’s notion of the “primacy of the practical” in a form that
would be independent of the controversial entanglements of metaphysics in general
and transcendental idealism in particular. My own position is that worries about
both of these kinds of entanglements can be overcome much more easily than is
often realized once one has a relatively modest understanding, as I believe Kant
himself did (despite various overoptimistic programmatic claims), of what theoreti-
cal philosophy in general can accomplish. Metaphysics does not require a founda-
tion of absolute certainty or a demonstration of uniquely inescapable truths; it can
take the form of a rigorous rational defense of relevant and still undefeated possi-
bilities of a broadly essentialist kind (e.g., that human beings have absolute freedom
of choice; see e.g., the work of Peter van Inwagen), a defense that cannot be carried
out by any other field of expertise.
Fortunately, many explorations along the lines of this new highly metaphys-
ical orientation in both history of philosophy and contemporary analytic work
are being carried out in detail now by a new generation of Kant scholars. In
Kantian Metaphysics 85
this group there are not only several philosophers that I had the good fortune to
work with when they were students, such as Steven Naragon, Eric Watkins, Ali-
son Laywine, Patrick Kain, Rachel Zuckert, and Patrick Frierson, but also some
of their students (i. e., Eric Watkins’ when he visited Yale one term), such as An-
drew Chignell and Desmond Hogan, as well as scholars of rationalism in gener-
al, such as Tad Schmaltz and Michael Murray, who have been significant figures
in the rich renaissance of general interest in the metaphysics of Cartesianism and
Leibniz. In addition, a critical reaction to earlier non-metaphysical readings of
Kant’s notion of autonomy has been gathering momentum very recently in the
United Kingdom in important work by Terence Irwin, Jens Timmerman, Robert
Stern, Michael Rosen, Katrin Flikschuh, and Katerina Deligiorgi.
At the same time, the resurgence of Kantian metaphysics has benefited from
the astounding parallel growth of interest in Hegelian metaphysics, generated by
philosophers such as Pippin, Terry Pinkard, Michael Forster, and the Sellarsian
duo of Robert Brandom and John McDowell. These writers and all their students,
despite their special interest in the social and naturalistic slant of Hegel’s work,
realize that the contours of Kant’s Critical turn, and its emphasis on combining
spontaneity with structure, provide at the very least the most relevant rational
skeleton for anyone believing in something like the Hegelian advance of dialec-
tical reason. Sellars was fond of saying, roughly, that wherever Kant is, Hegel is
likely to be ‘not far behind;’ but my own suspicion is that philosophy’s natural
drive for uncovering preconditions as well as implications means that wherever
Hegel is, or, for that matter, wherever a fashion for neo-Hegelianism arises, an
interest in Kant should also be ‘not far behind.’
So much for my own Yale and Notre Dame-colored narrative of the rise of a
metaphysical orientation to Kant in the last forty years or so. I will conclude with
some very brief systematic remarks about why I believe this orientation has the
chance of continuing to be a fruitful movement. The main reason is simply the
peculiarity of philosophy as a distinctive discipline in the context of the long-
term consequences of the Scientific Revolution. Ever since at least the 18th cen-
tury, naturalists have generated the specter of some particular science – physics,
psychology, economics, biology, linguistics, or logic – developing to the point
where a kind of triumphant scientific realism – to use a term much favored by
Sellarsians – would eventually replace any significant ontological recourse to
philosophy as a separate discipline. Every decade in the U.S. or U.K., and per-
haps many other countries as well, versions of imperialistic naturalism are put
forward by highly popular writers such as Dennett or Dawkins, although only
in sketchy terms that never begin to work seriously on the ‘hard problems’
that have occupied most professional philosophers deeply ever since the wildly
optimistic wave of positivism crested in the 1950s. More specifically, most philos-
86 Karl Ameriks
ophers in recent years have come to appreciate more and more the difficulty –
which is of course not yet to say the impossibility – of ever naturalistically reduc-
ing widely acknowledged truths concerning mathematics, modality, mind, and
morality (as well as value in general, in a sense that may involve considerations
of teleology and aesthetics).
Kant is clearly one of the first major philosophers who was able to endorse
the Scientific Revolution in a systematic way and to use it in systematically criti-
cizing earlier dogmatic traditions, while also continuing to accept and even to
emphasize the irreducibility of all these acknowledged truths. This fact makes
the metaphysical reconsideration of Kant’s work highly relevant for our own
time, and in a way that should no longer be dismissed by historically naive pre-
sumptions – still all too prevalent even in some circles – that Kant was a bizarre
subjective idealist who meant to make external reality and objective value mere
products of human thinking and willing. It can be argued that the post-Kantians,
and even the first German Idealists, were in part responsible for this widespread
misunderstanding, and for perpetuating the myth of having discovered some
kind of more ‘objective’ idealism; they are in any case, I believe, guilty of
being highly ambiguous in their systematic positions, and of not having worked
out a clear view on the most fundamental concepts of mathematics and morality.
But even if it is granted that there is such an ambiguity, especially in their com-
bined flirtations with versions of both foundationalism and naturalism, this only
generates the central metaphysical question of how they do ultimately stand vis-
a-vis both Kant and contemporary systematic positions in regard to basic ques-
tions such as incompatibilism, or the possibility of some kind of literal affirma-
tion of the existence of evil.
I can imagine no responsible way of beginning to address such questions that
does not explore the relevant philosophies from a systematically historical and met-
aphysical perspective, and hence does not start from a detailed understanding of all
that Kant’s Dialectic, that is, his Paralogisms, Antinomies, and Critique of Specula-
tive Theology truly entail – an understanding that is only beginning to be worked
out in full analytic and historical depth, now that a wide array of extra materials
concerning Kant’s metaphysical lectures on all these topics has recently come
into our possession. In sum, the metaphysical turn in Kant studies, as in philosophy
generally, has already been going on for a while, and there are many good reasons
to believe that it will continue for some time.
Thomas Khurana (Frankfurt a. M.)
Which Metaphysics?
Notes on the Modest and Reflexive Character
of Karl Ameriks’ Metaphysics
In his rich and complex narrative of the different routes of Anglo-American philos-
ophy in the past decades, Karl Ameriks diagnoses a recent and growing “interest
in the metaphysical side of German philosophy.”¹ What is more, he embraces this
“metaphysical turn,”² arguing that there is “no responsible way”³ to approach the
merits of the classical German tradition without engaging such metaphysical ques-
tions. Since both the content of his diagnosis and his plea for a renewed engage-
ment with ‘metaphysics’ depend on his specific use of this term, I will make two
comments meant to clarify Ameriks’ understanding of this concept. I will suggest
that, if we abide by his specific conception, much of the ‘new desire for metaphy-
sics’ that the editors of this volume see at work in contemporary philosophy will
remain unsatisfied. The first indication of this lies in the fact that, (I) it seems far
from obvious that ‘metaphysical’ philosophy as Ameriks understands it is actually
opposed to a number of self-proclaimed ‘post-metaphysical’ projects in contempo-
rary philosophy. The second, more substantive point I want to highlight (II) is the
specifically modest, defensive, and reflexive understanding of metaphysics that
underlies Ameriks’ account.
I
,Metaphysics‘ – the term we have come to use as a name for a philosophical “sci-
ence without a name”⁴ – is a notoriously complex term with a long history and a
great variety of meanings. Against this background, it seems in no way objection-
able to take this term in a broad sense. Such a general meaning is present at var-
ious points in Karl Ameriks’ account where the term ‘metaphysics’ seems to
mean something like: philosophy proper, genuine philosophy, or, to put it a little
Ameriks, Karl (2015): “Kantian Metaphysics: A Personal History of its Recent Return”. In:
Markus Gabriel/Wolfram Hogrebe/Andreas Speer (eds.): Das neue Bedürfnis nach Metaphysik.
The New Desire for Metaphysics. Berlin, 215, 79.
Ameriks 2015, 86.
Ameriks 2015, 86.
See Aubenque, Pierre (2008): “The Science without a Name”. In: Graduate Faculty Philosophy
Journal 29, 5 – 50.
88 Thomas Khurana
bit stronger, pure philosophy. When, for example, Ameriks characterizes the no-
tions of rationality, freedom, and apperceptive self-consciousness as “broadly
metaphysical,”⁵ one might express the same thought by saying that these are
‘genuine philosophical’ topics, which is to say: topics that other disciplines
such as cognitive science, sociology or psychology cannot exhaust. Speaking
of metaphysics in order to demarcate such questions as irreducibly philosophical
seems instructive in the contemporary Anglo-American context, but I wonder if it
works equally well with regard to the discursive situation in contemporary Ger-
man philosophy. The metaphysics that Ameriks champions, and that he correctly
perceives to be on the rise, is defined chiefly in contrast to naturalist or empiri-
cist understandings of philosophy. In the contemporary German discursive situa-
tion, however, it seems necessary to add a third option to the constellation:
namely, forms of non-naturalist and non-empiricist philosophy that claim to
be forms of properly ‘post-metaphysical thinking’ (“Nachmetaphysisches Denk-
en”), to use Habermas’ turn of phrase.⁶ If, following Ameriks, rationality, free-
dom, and self-consciousness are ‘broadly metaphysical’ topics, Habermas
would then have to be understood as a metaphysician, though he himself con-
tinues to characterize his project as ‘post’-metaphysical (to Henrich’s dismay,
as is well-known).⁷
The point I want to make here is, of course, not specifically about Habermas,
but rather a general one: in the present discursive situation in German philoso-
phy one has to account for various types of philosophy that take themselves to
be both opposing naturalistic and empiricist programs of philosophy, and engag-
ing questions that they take to be unique to philosophy, without thereby espous-
ing a form of metaphysics. However, this implies that, at least from a German
point of view, it is not quite decided yet whether what Ameriks refers to as ‘met-
aphysics’ ought to be so called, or whether it could also be regarded as a form of
post-metaphysical thinking.
II
If we set this question aside and grant that we can understand the renewed in-
terest in proper, genuine, or pure philosophy as broadly speaking a “metaphys-
ical turn,” the second issue I would like to raise concerns the specific ‘character’
of the metaphysics for which Ameriks argues. It is marked, as Ameriks points
out, by “a relatively modest understanding […] of what theoretical philosophy
in general can accomplish.”⁸ Ameriks continues:
In other writings, Ameriks has articulated this modest and defensive type of met-
aphysics in terms of a Kantian ‘metaphysics of experience’: its starting point is
not a first principle, sovereignly posited by a philosophical system; its starting
point is rather our common experience. By means of a transcendental derivation,
philosophy can articulate the pure forms or principles operative in this experi-
ence. This derivation is then followed by a metaphysical account revealing expe-
rience and its transcendental structure as making sense only on the basis of
some overall metaphysical conception (in the case of Kant: transcendental ideal-
ism). And on a fourth level, the previous three steps – an account of our common
experience, its transcendental, and its metaphysical substructure – are revealed
as prerequisites for “vindicating the ultimate goal of human autonomy” – that is
to say: these steps are employed for defending a certain undefeated possibility.¹⁰
I refer to Ameriks’ regressive picture of the Kantian endeavor because it articu-
lates the metaphysical project that he embraces here and ties it to a peculiar un-
derstanding of metaphysics – one we could call modest and defensive, and that I
would like to further characterize as reflexive. This metaphysics is ‘modest’ in
that it does not claim to establish an absolute and presuppositionless founda-
tion, specifiable independently of our common experience; instead, this modest
metaphysics unpacks and elucidates regressively what is implicit in that experi-
ence. On Ameriks’ account, such modesty even opens this type of philosophical
project to a historical understanding of the structures of knowledge and action,
and does not require ahistorical accounts of the most fundamental principles of
[…] occupies itself with the sources, the extent, and the boundaries of pure reason, without
busying itself with objects. For that reason it is wrong to call it ontology <ontologiam>.
There we consider things already according to their general properties. Transcendental
logic abstracts from all that; it is a kind of self-cognition [Selbst Erkenntnis].¹³
This passage points to a contrast that seems pertinent to our current discussion: the
metaphysics for which Ameriks argues cannot be worked out in terms of an objec-
tivist ontology; it rather develops as a kind of self-cognition. Metaphysics, under-
stood on those terms, does not result from an account of entities considered in ab-
straction from us, but rather results from an investigation of our experience and our
knowledge; this investigation then leads to the pure forms of our thought and ac-
tion, and on to a metaphysical account connected to, or presupposed, by it.¹⁴
In so far as this metaphysics starts out from our common experience that seems to be
marked by a certain historical form, this type of metaphysics is open to “historically and topi-
cally indexed […] versions of essentialism” (Ameriks 2015, 84). For a detailed account of how
a historical turn in philosophy emerged after Kant that is to be distinguished both from classical
ahistorical versions of philosophy as well as from historicism, see Ameriks, Karl (2006): Kant
and the Historical Turn: Philosophy as Critical Interpretation. Oxford.
Ameriks, Karl (2003): “The Critique of Metaphysics: Kant and Traditional Ontology”. In:
Ameriks 2003, 122 ff.
Kant, Immanuel: Metaphysik Mrongovius, AA 29:756; to be found in: Karl Ameriks/Steve Nar-
agon (trans., eds.): Lectures on Metaphysics. Cambridge; emphasis added. Ameriks puts the gist
of this passage by saying that for Kant “metaphysics is not about objects but rather about rea-
son” (Ameriks 2003, 122).
One way of further pursuing what metaphysics as self-cognition could mean, would be to
turn to Hegel who understands the decisive move as turning metaphysics into logics. Hegel ac-
cords Kant’s critical philosophy the privilege of introducing this turn, even if it has executed it
only incompletely, see Hegel, Georg W. F. (2010): Science of Logic. Translated and edited by
George di Giovanni. Cambridge, 30; Theorie-Werkausgabe, 5:45. Hegel follows Kant’s lead and
deepens the contrast between an objectivist metaphysics and a metaphysics of self-cognition
when he suggests that the place of the former metaphysics should be taken by his own objective
logic that ceases to articulate the subjects of the former metaphysica specials – the soul, God, the
Which Metaphysics? 91
world – in reified terms and rather develops their logical form “free of those substrata, which are
the subjects of figurative representation” (Hegel 2010, 42; Theorie-Werkausgabe, 5:61).
In the specific Kantian case, this reflexive form of metaphysics takes the shape of a ‘practi-
cal’ metaphysics: a ‘metaphysics of freedom.’ If there is indeed a positive metaphysics in Kant –
the famous “all-destroyer” of the former dogmatic metaphysics – it is a metaphysics that finds
its foundation not in our theoretical knowledge, but in our practical knowledge that makes us
aware of the practical reality of freedom. Kant writes that it is “quite remarkable” that there is
“one idea of reason […] among the facts, and that is the idea of freedom, the reality of which, as
a particular kind of causality (the concept of which would be excessive from a theoretical point
of view) can be established through practical laws of pure reason, and, in accordance with
these, in real actions, and thus in experience” (Kant, Immanuel: Critique of the Power of Judg-
ment (KU), AA 05: 469; translated by Paul Guyer/Eric Matthews). Among the three pure ideas
of reason that were crucial to the former metaphysica specialis – God, freedom, and immortality
– freedom “is the only concept of the supersensible that proves its objective reality (by means of
the causality that is thought in it) in nature, through its effect which is possible in the latter”
(KU, AA 05: 474). With the idea of freedom, we have “in ourselves a principle that is capable
of determining the idea of the supersensible in us and by that means also the idea of the super-
sensible outside us into one cognition, although one that is possible only in a practical respect”
(KU, AA 05: 474). Any possible positive Kantian metaphysics hence depends on the idea of free-
dom and the way it is practically real through us and “demonstrates the fact of its reality in ac-
tions” (KU, AA 05: 474).
92 Thomas Khurana
I
Der Anspruch der Kantischen Metaphysik scheint bescheiden zu sein. Kant vertritt
eine äußerst kritische Haltung gegenüber der traditionellen Metaphysik, die er als
einen Kampfplatz endloser Streitigkeiten verwirft.¹ Den Anspruch der traditio-
nellen Metaphysik, die Welt, wie sie an sich ist, zu erkennen, hält Kant für ge-
scheitert, weil der menschlichen Vernunft unüberwindbare Grenzen gesetzt sind,
die sie aber in ihrer metaphysischen Anstrengung immer wieder überschritten hat.
Die menschliche Vernunft muss sich stattdessen mit dem bescheidenen Anspruch
zufrieden geben, nur die Erscheinungswelt erkennen zu können. In der Kritik der
reinen Vernunft hat sich Kant zur Aufgabe gemacht, die Bedingungen der Er-
kenntnis zu untersuchen und deren Objektivität zu begründen. Kant glaubt die
notwendige Struktur der Erkenntnis und der Wirklichkeit bewiesen zu haben, aber
er nimmt dabei die für die Metaphysik unerfreuliche Konsequenz in Kauf, dass
Dinge an sich grundsätzlich jenseits des Erkennbaren bleiben. Denn die apriori-
schen Formen der Erkenntnis können nur deshalb für die Wirklichkeit gelten, weil
mögliche Gegenstände nichts anderes sind als Erscheinungen, die selbst in ge-
wissem Sinne durch die subjektiven Formen unseres Erkenntnisvermögens kon-
stituiert sind. Die raumzeitliche Struktur der Sinnlichkeit und die Kategorien des
Verstandes machen nämlich die formale Bedingung für die Gegenständlichkeit
aller möglichen Gegenstände aus. Insofern kann es prinzipiell gar keine Gegen-
stände der Erkenntnis geben, die nicht den raumzeitlichen und kategorialen
Formen des menschlichen Erkenntnisvermögens unterlägen.
Aber selbst wenn man mit Kant auf den Anspruch verzichtet, Dinge an sich
erkennen zu wollen, stellt sich noch die Frage, inwiefern die menschliche Er-
kenntnis der Erscheinungen objektive Gültigkeit hat, oder ob die Formen des
‚menschlichen‘ Erkenntnisvermögens notwendigerweise für ‚alle erkenntnisfähi-
gen Wesen‘ gelten. Sollten die raumzeitliche und kategoriale Struktur nicht die
einzig möglichen Formen der Sinnlichkeit bzw. des Verstands darstellen, so
könnte es theoretisch noch andere erkenntnisfähige Wesen geben, denen durch
KrV, B 165.
Die Frage, ob die Kategorien auch für die unendliche Vernunft Gottes gelten würden, stellt sich
eigentlich gar nicht, weil die unendliche Vernunft streng genommen überhaupt nicht ‚denkt‘,
sondern ihre Gegenstände nur ‚anschaut‘: „denn dergleichen [Anschauung] muß alles sein
[Gottes] Erkenntniß sein und nicht Denken, welches jederzeit Schranken beweiset“ (KrV, B 71).
Kant zufolge würde die unendliche Vernunft Gottes über eine intellektuelle und daher nicht-
raumzeitliche Anschauung verfügen. Bei der göttlichen Vernunft sind die Sinnlichkeit und der
Verstand gar nicht getrennt, sondern in einem Vermögen vereinigt, das als „intuitus originarius“
(KrV, B 72), „intellectus archetypus“ (KrV, A 695, B 723; AA, 5: 408) oder „intuitiver Verstand“ (AA, 5:
406) bezeichnet werden kann. Allerdings handelt es sich dabei um ein bloß hypothetisches Er-
kenntnisvermögen, dessen reale Möglichkeit in der Kritik nicht vorausgesetzt wird. Ähnlich wie die
Unterscheidung des Noumenon in positiver und negativer Bedeutung (KrV, B 308 ff.) hat die
göttliche Vernunft in Kants Erkenntnistheorie lediglich eine negative Bedeutung bzw. eine
funktionale Rolle, um als Grenzbegriff die Endlichkeit der menschlichen Vernunft abzugrenzen
Die Ambition der Kantischen Metaphysik 95
Raum und Zeit als apriorische Formen der Anschauung mit gewissem Vorbehalt.
Kant glaubt zwar, dass die Anschauung aller Menschen ausnahmslos den Formen
des Raums und der Zeit unterliegt, scheint aber die Möglichkeit nicht auszu-
schließen, dass andere erkenntnisfähige Wesen über nichtraumzeitliche An-
schauungsformen verfügen könnten:
Wir kennen nichts als unsere Art, sie [Gegenstände] wahrzunehmen, die uns eigenthümlich
ist, die auch nicht nothwendig jedem Wesen, ob zwar jedem Menschen, zukommen muß. Mit
dieser haben wir es lediglich zu thun. Raum und Zeit sind die reinen Formen derselben,
Empfindung überhaupt die Materie.⁵
Wenn Raum und Zeit als Formen der Anschauung nicht notwendig jedem er-
kenntnisfähigen Wesen zukommen müssen, so könnte die Welt dem Marsmen-
schen, sollte er mit einer nichtraumzeitlichen Anschauung ausgerüstet sein, in
ganz anderer Weise erscheinen, die mit der menschlichen Erfahrung überhaupt
inkompatibel wäre.
Kant hat sich zum Ziel gesetzt, die menschliche Erkenntnis hinsichtlich ihrer
Bedingungen und Geltung zu untersuchen und zu begründen. Wenn die subjek-
tiven Formen der menschlichen Erkenntnis nicht notwendig jedem erkenntnis-
fähigen Wesen zukämen, so könnte Kant nur einen sehr eingeschränkten An-
spruch auf Objektivität erheben, der selbst für die ihrer Fehlbarkeit bewusste
Naturwissenschaft viel zu bescheiden wäre. Kants Erkenntnistheorie hat es be-
kanntlich im Sinn, der Naturwissenschaft eine philosophisch sichere Basis zu
verschaffen, auch wenn die Newtonsche Physik, die für Kant als das Paradigma
wissenschaftlicher Erkenntnis gilt, schon lange überholt ist. Aber wenn die
raumzeitliche Anschauungsform nicht gleichermaßen für alle erkenntnisfähigen
Wesen gälte, so hätten die besten Theorien der heutigen Naturwissenschaft, selbst
wenn sie sich als wahr erweisen, nur eine sehr eingeschränkte Gültigkeit. Denn die
Standardtheorien wie die Quantenmechanik und Relativitätstheorie setzen Raum
und Zeit voraus, in deren Rahmen physikalische Phänomene und Vorgänge zu
bestimmen sind. Freilich sind sich Naturwissenschaftler dessen bewusst, dass alle
naturwissenschaftlichen Erkenntnisse grundsätzlich fehlbar und revisionsbe-
dürftig sind, aber nur die wenigstens wären bereit, die Wahrheit naturwissen-
schaftlicher Theorien auf Erscheinungen zu beschränken, die von menschen-
spezifischen Anschauungsformen abhängen. Denn damit würden aus der Sicht
der Marswissenschaftler die Formeln der Quantenmechanik und Relativitäts-
und hervorzuheben. Auf jeden Fall wird die Möglichkeit der unendlichen Vernunft Gottes in der
folgenden Diskussion beiseitegelassen.
KrV, A 42, B 59 f.
96 Chong-Fuk Lau
theorie gar nicht stimmen oder überhaupt keinen Sinn machen. Auch wenn Kant
auf viele ambitionierte Ansprüche der traditionellen Metaphysik zu verzichten
bereit ist, so wäre die Beschränkung der Erkenntnis auf menschenspezifische
Erscheinungen eine zu drastische Einschränkung seiner Philosophie. Für zeit-
genössische Metaphysiker, die dem naturwissenschaftlichen Weltbild sehr nahe
stehen, wäre ein solcher Erkenntnisanspruch auch kaum hinnehmbar. Denn die
zeitgenössische Metaphysik, die den antimetaphysischen Geist des logischen
Positivismus überwunden und Vertrauen an das metaphysische Denken wieder-
gewonnen hat, hat sich mit der Möglichkeit erneut angefreundet, notwendig
wahre Erkenntnisse erlangen zu können, die nicht lediglich formallogische oder
analytische Sachverhalte, sondern substantielles Wissen über die Welt ausdrü-
cken. Viele Metaphysiker nehmen z. B. an, dass mentale Eigenschaften und Vor-
gänge ‚notwendigerweise‘ auf physischen Eigenschaften und Vorgängen super-
venieren. Noch mehr sehen mit Saul Kripke als erwiesen an, dass es
Identitätsaussagen wie „Wasser ist H2O“ gibt, die zwar a posteriori, aber not-
wendig wahr sind. Wenn man mögliche Welten wie David Lewis durch raum-
zeitliche Zusammenhänge individualisiert, so sind Raum und Zeit sogar auto-
matisch notwendige Eigenschaften ‚aller‘ möglichen Welten und nicht
menschenabhängige Eigenschaften.⁶
Die vorläufige Überlegung hat bereits gezeigt, dass es bei der Auslegung der
Kantischen Philosophie Gefahr läuft, ihr einen zu bescheidenen Anspruch zu-
zusprechen. Gerade im Hinblick auf das neue Bedürfnis nach Metaphysik muss
Kants Philosophie einer neuen Betrachtung unterzogen werden, um ihre eigent-
liche Ambition ans Licht zu bringen.
II
Um Kants Anspruch auf Objektivität gerecht werden zu können, gibt es in der Kant-
Interpretation eine lange Tradition, die Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik
von seiner Theorie des menschlichen Erkenntnisvermögens bzw. seiner Psycho-
logie konsequent zu trennen versucht. Die Marburger Neukantianer um Hermann
Cohen haben sich insbesondere bemüht, Kants transzendentale Philosophie ge-
gen den Vorwurf des Psychologismus zu verteidigen. Die antipsychologistische
Kant-Interpretation hat im zwanzigsten Jahrhundert ihren wichtigsten Verfechter
in Peter Strawson gefunden, der die Kant-Forschung vornehmlich in der analy-
tischen Tradition nachhaltig geprägt hat. Strawson verwirft „das imaginäre Fach
Strawson, Peter F. (1968): The Bounds of Sense: An Essay of Kant’s Critique of Pure Reason.
London, 32; deutsche Ausgabe: Strawson, Peter F. (1981): Die Grenzen des Sinns. Ein Kommentar zu
Kants Kritik der reinen Vernunft. Übersetzt von E. M. Lange. Königstein im Tunus, 26. Allerdings hat
Strawson in einem späteren Aufsatz seine Kritik an der Kantischen Psychologie etwas relativiert
(vgl. Strawson, Peter F. (1989): „Sensibility, Understanding, and the Doctrine of Synthesis:
Comments on Henrich and Guyer“. In: Eckart Förster (Hrsg.): Kant’s Transcendental Deductions:
The Three Critiques and the Opus Postumum. Stanford, 77).
AA, 4: 293.
Vgl. Brook, Andrew (1994): Kant and the Mind. Cambridge; vgl. Kitcher, Patricia (1990): Kant’s
Transcendental Psychology. Oxford.
Auf die Möglichkeit einer funktionalistischen Interpretation Kants hat zunächst Wilfred Sel-
lars hingedeutet (vgl. Sellars, Wilfrid (1974): „… this I or he or it (the thing) which thinks…“. In:
Essays in Philosophy and Its History, 62–90).
98 Chong-Fuk Lau
aber das Problem liegt dann darin, wie oder ob Kants funktionalistische Ansätze
mit seinem transzendentalen Idealismus, insbesondere mit der Unterscheidung
von Noumena und Phänomena, überhaupt in Einklang gebracht werden können.
Es wird sich aber im Folgenden zeigen, dass dieses Problem nicht nur zu lösen ist,
sondern die Lösung eben die theoretische Grundlage dafür bieten wird, die ei-
gentliche Ambition der Kantischen Metaphysik richtig einzuschätzen. Gegen die
Neukantianisch-Strawonsche einerseits und die funktionalistische Interpretation
andererseits sind Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik von seiner Psychologie
in Wahrheit nicht zu trennen.
Wenn sich Kants transzendentaler Idealismus mit der funktionalistischen
Interpretation des Erkenntnisvermögens in einer einheitlichen Theorie zusam-
menschließen kann, so lässt sich die Theorie am besten als ‚transzendentaler
Funktionalismus‘ bezeichnen.¹⁵ Funktionalismus ist eine dominante Theorie in
der Philosophie des Geistes, die mentale Eigenschaften und Zustände hinsichtlich
ihrer funktionalen oder kausalen Rolle definiert und erklärt. Der transzendentale
Funktionalismus hingegen ist eine spezifische Variante des Funktionalismus, die
nur diejenigen kognitiven Strukturen und Funktionen zu bestimmen versuchen,
die das erkenntnisfähige Wesen als solches ausmachen. Der transzendentale
Funktionalismus beschränkt sich also ausschließlich auf den Teilbereich der
mentalen Eigenschaften und Strukturen, die zu den Bedingungen der Möglichkeit
der Erfahrung gehören. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine Theorie, die
den kognitiven Apparat des Menschen direkt beschreibt, weil es um allgemeine
Funktionen geht, die sich nicht auf irgendeine biologische Spezies beschränken.
Der transzendentale Funktionalismus ist keine psychologische Theorie im enge-
ren Sinne, sondern eine Theorie des erkenntnisfähigen Wesens überhaupt bzw.
eine ‚transzendentale Kognitionspsychologie‘, die zugleich die notwendige
Struktur der Erkenntnis und der Wirklichkeit bestimmt. Die Theorie des tran-
szendentalen Funktionalismus trifft natürlich auch auf den kognitiven Apparat
des Menschen zu, aber nur insofern, als sich der Mensch in seiner Evolutions-
geschichte tatsächlich so entwickelt hat, dass die notwendigen kognitiven
Funktionen in ihm hinreichend verwirklicht worden sind. Insofern ist der tran-
szendentale Funktionalismus im abgeleiteten Sinne auch eine Theorie über den
kognitiven Apparat des Menschen.
Vgl. den Verf. (2014): „Kant’s Transcendental Functionalism“. In: The Review of Metaphysics 68
(Dezember), 371–394, in dem einige zentrale Argumente im vorliegenden Aufsatz ausführlicher
dargestellt wurden.
100 Chong-Fuk Lau
III
Um Kants transzendentale Psychologie mit seiner Metaphysik in einer einheitli-
chen Theorie zu vereinigen, stellt sich die Frage, wie das Erkenntnisvermögen in
Kants Unterscheidung zwischen Phänomena und Noumena passt. Erkenntnis-
vermögen wie Sinnlichkeit und Verstand sind kognitive Funktionen des erken-
nenden Subjekts, aber sollen sie dem Subjekt als Ding an sich oder doch als Er-
scheinung zugeschrieben werden? Es scheint einerseits nur diese zwei
Möglichkeiten zu geben, aber andererseits weder die eine noch die andere sein zu
können. Beide Alternativen führen zu unüberwindlichen Schwierigkeiten.
Kants Analyse der Bedingungen der Erkenntnis in der Kritik hinterlässt oft den
Eindruck, als handele es sich um verborgene mentale Strukturen und Vorgänge,
durch die raumzeitlich konstruierte Erscheinungen hergestellt würden. Das
Mannigfaltige als formlose Data würde demnach der Sinnlichkeit durch die Af-
fektion von Dingen an sich gegeben und durch die Verarbeitung der verborgenen
kognitiven Mechanismen zur Erscheinung gemacht. In diesem Zusammenhang
sollen die kognitiven Funktionen und Operationen dem ,Ich an sich‘ bzw. dem
noumenalen Subjekt gehören. Aber die Schwierigkeiten dieser ‚noumenalen In-
terpretation‘ sind deutlich. Diese ist offenkundig mit Kants Prinzip der Uner-
kennbarkeit der Dinge an sich unverträglich. Kants Erkenntnistheorie schließt
bekanntlich die Möglichkeit kategorisch aus, Dinge an sich zu erkennen, und die
Unerkennbarkeit gilt nicht nur für Dinge außer uns, sondern ebenso für das
denkende Subjekt selbst. Obwohl Kant das reine ‚Ich denke‘ in der Deduktion der
Kategorien als Prinzip voraussetzt, bedeutet dieses transzendentale Selbstbe-
wusstsein noch lange keine rationale Erkenntnis des denkenden Subjekts, son-
dern nur eine abstrakte, logische Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis. Aus
dem reinen ‚Ich denke‘ rationale Selbsterkenntnis schließen zu wollen, ist eben
der Fehler der traditionellen rationalen Psychologie, die Kant im Paralogismus
ausführlich analysiert und widerlegt hat. Anders als die rationalistische Tradition
seit Descartes lässt Kant keinen unmittelbaren Zugang zum denkenden Selbst zu.
Das denkende Subjekt kann sich selbst ebenfalls nur durch innere Anschauungen,
die der Form der Zeit unterliegen, als ein empirisches Objekt erkennen.
Kant zufolge sind Dinge an sich nicht nur unerkennbar, sondern es würde von
Vornherein keinen Sinn machen, Kategorien wie Substanz und Kausalität auf sie
anzuwenden, weil die sinnliche Bedingung fehlt, die den Kategorien objektive Be-
deutung verleihen könnte. Es kann nicht sinnvoll behauptet werden, dass Dinge an
sich die Sinnlichkeit ‚affektieren‘, wenn dabei die Affektion als eine Kausalbeziehung
verstanden wird, da Kausalität nach Kant nur auf Erscheinungen in der Zeit an-
wendbar ist. Es würde ebenfalls keinen Sinn machen, von mentalen Vorgängen und
Die Ambition der Kantischen Metaphysik 101
sich durchaus auch andere Sinne entwickeln können. Wenn Sinnlichkeit und
Verstand zwei unentbehrliche Stämme der Erkenntnis sein sollen, so dürfen sie
nicht, wie die fünf Sinne, lediglich auf einer biologischen Tatsache berufen,
sondern müssen in gewissem Sinne ‚notwendig‘ sein. Die raumzeitlichen und
kategorialen Formen müssen eine allgemeine Gültigkeit haben, die über jede
empirische Tatsache hinausgeht. Selbst wenn jeder einzelne Mensch ausnahmslos
über einen kognitiven Apparat verfügt, der Informationen immer nach dem
Kausalitätsschema verarbeitet, so kann man daraus doch weder die objektive
Struktur empirischer Gegenstände herleiten noch die Notwendigkeit des Kausal-
gesetzes in der Natur begründen, sondern höchstens nur, wie Kant es erläutert,
eine subjektive Notwendigkeit der kausalen Denkweise behaupten:
Wollte jemand […] einen Mittelweg vorschlagen, nämlich daß sie [die Kategorien] [..] sub-
jective, uns mit unserer Existenz zugleich eingepflanzte Anlagen zum Denken wären, die von
unserm Urheber so eingerichtet worden, daß ihr Gebrauch mit den Gesetzen der Natur, an
welchen die Erfahrung fortläuft, genau stimmte (eine Art von Präformationssystem der
reinen Vernunft), so würde […] das wider gedachten Mittelweg entscheidend sein: daß in
solchem Falle den Kategorien die Nothwendigkeit mangeln würde, die ihrem Begriffe we-
sentlich angehört. Denn z. B. der Begriff der Ursache, welcher die Nothwendigkeit eines
Erfolgs unter einer vorausgesetzten Bedingung aussagt, würde falsch sein, wenn er nur auf
einer beliebigen uns eingepflanzten subjectiven Nothwendigkeit, gewisse empirische Vor-
stellungen nach einer solchen Regel des Verhältnisses zu verbinden, beruhte.¹⁹
Wenn die raumzeitlichen Formen der Sinnlichkeit und die Kategorien des Ver-
stands zu den Bedingungen gehören sollen, die die objektive Struktur der Er-
scheinungswelt erklären, so können sie nicht lediglich faktische Eigenschaften
des menschlichen Erkenntnisvermögens sein.
Bei der ‚phänomenalen Interpretation‘ wird nicht nur Kants philosophische
Untersuchung mit einer empirischen kognitionswissenschaftlichen Untersuchung
verwechselt, sondern noch gravierender die Bedingungen der Erscheinung mit der
Erscheinung selbst. Wenn Kants Untersuchung die objektive Struktur der Er-
scheinungswelt, insbesondere die Zeit als „die formale Bedingung a priori aller
Erscheinungen überhaupt“²⁰, begründen soll, so kann die Begründung logi-
scherweise nicht wiederrum auf mentalen Vorgängen und Operationen beruhen,
die selber in der Zeit stattfinden, weil damit etwas vorausgesetzt würde, das eben
verbunden. Daher sind sie auch keine Vorstellungen a priori, sondern auf Empfindung, der
Wohlgeschmack aber sogar auf Gefühl (der Lust und Unlust) als einer Wirkung der Empfindung
gegründet“ (KrV, A 28 f.)
KrV, B 167 f.
KrV, A 34, B 50.
Die Ambition der Kantischen Metaphysik 103
erst begründet werden soll. Kant ist sich der logischen Voraussetzung völlig be-
wusst, dass „das Subject, in welchem die Vorstellung der Zeit ursprünglich ihren
Grund hat, sein eigen Dasein in der Zeit dadurch nicht bestimmen“²¹ kann. Sollten
sich die kognitiven Funktionen, die in der Kritik analysiert werden, auf das phä-
nomenale Subjekt beziehen, so könnten sie letztlich nur aus mentalen Mecha-
nismen bestehen, die als kausale Vorgänge in der Zeit stattfinden. Die phäno-
menale Interpretation würde also das logische Prinzip verletzen, dass die
Bedingungen der Zeit selbst keine zeitlichen Phänomene sein können.
Aber da die funktionalistischen Interpreten Kants Noumena von vornherein
zweifelhaft finden, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als Kants Erkenntnisver-
mögen dem phänomenalen Subjekt oder dem empirischen Ich zuzuordnen. Dabei
sind sie sich auch den Konflikten mit Kants transzendentalem Idealismus
durchaus bewusst. Kitcher weist ausdrücklich darauf hin, dass ihre phänomenale
Interpretation mit der Idealität der Zeit unvereinbar ist; nur ist sie bereit, diese
Konsequenz in Kauf zu nehmen.²² Aber Kants gesamtes Projekt hängt mit der
Idealität der Zeit derart eng zusammen, dass die Objektivität der Schemata und der
Prinzipien der Erfahrung allesamt damit stehen und fallen würden. Es wäre nicht
nur ein zu hoher Preis, die Idealität der Zeit fallenzulassen, vielmehr ist dies sogar
durchaus vermeidbar. In Wahrheit lässt sich die Metaphysik des transzendentalen
Idealismus, einschließlich der Idealität der Zeit, mit einer funktionalistischen
Interpretation vereinigen, wenn Kants Begriff des Erkenntnisvermögens richtig
ausgelegt wird. Sobald man einsieht, dass sich das Erkenntnisvermögen weder auf
das noumenale noch auf das phänomenale Subjekt bezieht, sondern vielmehr als
ein abstraktes theoretisches Gebilde konstruiert, so steht einer kohärenten In-
terpretation nichts mehr im Wege.
IV
Kant macht eine Zweiteilung aller Gegenstände in Phänomena und Noumena, die
der Sinnen- bzw. Verstandeswelt entsprechen. Das Erkenntnisvermögen fällt we-
der in die eine noch in die andere Welt, weil es selbst zu den Bedingungen gehört,
unter denen die Zweiteilung der Gegenstände erst Sinn macht. Beim Erkennt-
nisvermögen handelt es gar nicht um einen Gegenstand, dem Kategorien wie
Substanz, Kausalität und Existenz zugesprochen werden könnten, sondern le-
diglich ein abstraktes ‚Gedankending‘, das aus einer Reihen von kognitiven
KrV, B 422.
Vgl. Kitcher 1990, 140 f.
104 Chong-Fuk Lau
Es sind drei subjective Erkenntnißquellen, worauf die Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt
und Erkenntniß der Gegenstände derselben beruht: Sinn, Einbildungskraft und Apperception;
jede derselben kann als empirisch, nämlich in der Anwendung auf gegebene Erscheinungen,
betrachtet werden, alle aber sind auch Elemente oder Grundlagen a priori, welche selbst
diesen empirischen Gebrauch möglich machen. Der Sinn stellt die Erscheinungen empirisch
in der Wahrnehmung vor, die Einbildungskraft in der Association (und Reproduction), die
Apperception in dem empirischen Bewußtsein der Identität dieser reproductiven Vorstellun-
gen mit den Erscheinungen, dadurch sie gegeben waren, mithin in der Recognition. ²⁵
Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben
afficirt werden, ist Empfindung. Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand
durch Empfindung bezieht, heißt empirisch. ³¹
Die empirische Anschauung ist die konkrete Realisierung der reinen Anschauung,
indem eine logische Funktion durch einen zeitlich-kausalen Mechanismus erfüllt wird.
Die obige Analyse gilt auch für den Verstand, dessen Funktion nichts anderes ist
als Begriffe im Urteil zu gebrauchen. Die Aufgabe der Analytik ist es, die Bedingungen
für den Gebrauch der Begriffe zu erläutern und die universelle Gültigkeit der Kate-
gorien zu rechtfertigen. Kant zufolge besteht die fundamentale Bedingung in der
reinen transzendentalen Apperzeption. Diese stellt die letzte logische Einheit eines
transzendentalen Subjekts dar, weil sie alle möglichen Vorstellungen eines Subjekts
muss begleiten können und selbst von keiner weiter begleitet werden kann.³² Die
transzendentale Apperzeption ist aber nichts, was ein empirischer Denker innerlich
wahrnehmen kann, weil sie weder in innerer Anschauung noch überhaupt in der Zeit
vorkommt. Sie ist nur eine logische Bedingung. Die einheitsstiftende Funktion der
Apperzeption muss in einem empirischen Denker durch konkrete mentale Mecha-
nismen realisiert werden, die verschiedene Vorstellungen im Laufe der Zeit nach
bestimmten Regeln verbinden, damit dem empirischen Denker trotz ständig wech-
selnder Vorstellungen eine numerische Identität zugesprochen werden kann. In
diesem Sinne realisiert sich die logische Einheit der transzendentalen Apperzeption in
einem empirischen Selbstbewusstsein, das die Identität des empirischen Denkers im
Laufe der Zeit bewahrt.
V
Eine Schwierigkeit, Kants Kritik zu verstehen, ist darauf zurückzuführen, dass
Kant nicht immer konsequent zwischen dem transzendentalen und dem empiri-
schen Aspekt der kognitiven Funktionen unterscheidet. Da Kants Ziel ist, die
notwendige Struktur der Erkenntnis und der Wirklichkeit zu begründen, soll es
eigentlich nur um das transzendentale Erkenntnisvermögen gehen, aber in der
Kritik diskutiert Kant gelegentlich auch die empirischen Realisierungen der ko-
gnitiven Funktionen durch psychologische Vorgänge. Dieser Umstand führt dazu,
dass Kants Theorie des Erkenntnisvermögens öfter als psychologistisch verworfen
wird. Ohne das transzendentale vom empirischen Erkenntnisvermögen unter-
scheiden zu können, haben sich funktionalistische Interpreten wie Brook und
Kitcher verwirrt, indem sie die abstrakten Funktionen von Sinnlichkeit, Einbil-
dungskraft und Verstand fälschlicherweise für mentale Mechanismen hielten, die
als kausale Prozesse im menschlichen Gehirn stattfinden. Auf dieser Basis wäre
Kants Thesis der Idealität der Zeit natürlich nicht aufrecht zu erhalten.
Am meisten diskutiert Kant empirische kognitive Funktionen und Vorgänge in
der sogenannten subjektiven Deduktion. In der ersten Auflage der Kritik hat Kant
in der Vorrede eine Unterscheidung zwischen der subjektiven und der objektiven
Deduktion gemacht und darauf hingewiesen: „obgleich diese Erörterung [die
KrV, A XVII.
Vgl. KrV, A 95 – 114.
Vgl. KrV, A 115 – 130.
So charakterisiert Norman Kemp Smith die subjektive Deduktion: „In the subjective deduction
experience is chiefly viewed as a temporal process in which the given falls apart into successive
events, which, in and by themselves, are incapable of constituting a unified consciousness. The
fundamental characteristic of human experience, from this point of view, is that it is serial in
character. Though it is an apprehension of time, it is itself also a process in time. In the objective
deduction, on the other hand, the time element is much less prominent. Awareness of objects is the
subject-matter to which analysis is chiefly devoted“ (Kemp Smith, Norman (2003): A Commentary
to Kant’s „Critique of Pure Reason“. Hampshire, 239 f.).
Die Ambition der Kantischen Metaphysik 109
Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik sind daher gegen die Meinung der
gängigen funktionalistischen Interpreten einerseits und die der Neukantianisch-
Strawsonschen Tradition andererseits von seiner Psychologie nicht zu trennen.
Allerdings ist zu betonen, dass hier von der transzendentalen Kognitionspsy-
chologie die Rede ist. Es geht gar nicht um das ‚menschliche‘ Gemüt oder ir-
gendetwas ‚Anthropologisches‘, sondern um die abstrakte Konstruktion eines
jeden erkenntnisfähigen Wesens.³⁹
In diesem Sinne sind Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik wohl von
seiner Anthropologie zu trennen, obwohl Kant behauptet hat, dass das ganze Feld
der Philosophie letztlich auf die anthropologische Frage „Was ist der Mensch?“
zurückgeführt werden und Metaphysik, Moral und Religion alle letztlich zur
Anthropologie gerechnet werden könnten.⁴⁰ Es ist freilich der Mensch, der phi-
losophische Fragen stellt, aber es ist doch irreführend zu sagen, dass sich alle von
ihm gestellten Fragen auf eine anthropologische Frage beziehen oder gar zu-
rückführen lassen. Es gibt zwar philosophische Probleme bei denen es haupt-
sächlich um das Wesen des Menschen geht, aber es gibt auch Bereiche der Phi-
losophie wie Logik und Metaphysik, deren Fragestellungen weitgehend von allem
Menschenspezifischen abstrahieren, es sei denn, dass das Menschsein schlicht als
endliches vernünftiges Wesen aufgefasst wird.
In seinem umfangreichen Werk hat sich Kant in der Anthropologie in prag-
matischer Hinsicht einer umfassenden Studie des Menschseins gewidmet, in der
auch ein zentrales Thema der Kritik, nämlich das Erkenntnisvermögen, ausführ-
lich behandelt wird. Allerdings wäre es weit verfehlt, das Erkenntnisvermögen in
der Kritik anthropologisch zu betrachten, auch wenn Kant in der Tat immer wieder
von der ‚menschlichen‘ Vernunft spricht. Die Analyse des Erkenntnisvermögens in
der Kritik und in der Anthropologie behandelt das gleiche Thema unter zwei un-
terschiedlichen Perspektiven. Während die Anthropologie das Erkenntnisvermö-
gen als eines der drei Grundvermögen des menschlichen Gemüts empirisch be-
trachtet, wird das Erkenntnisvermögen in der Kritik transzendental als eine
Bedingung der Erkenntnis und der Wirklichkeit analysiert.
Ich stimme Robert Hanna zu, wenn er schreibt: „In principle, according to Kant, our special
cognitive constitution could have been realized—and perhaps already is or has been, on other
planets—in creatures whose material nature is very different from that of the species Homo sapiens
(CPR B72). In this sense, on Kant’s view the property of being human is multiply realizable or
compositionally plastic. The mind dependence of the empirical world is thus only a dependence
on the existence of the special finite sensory, discursive, and rational cognitive architecture that
defines us as minded creatures“ (Hanna 2001, 104).
Vgl. AA, 9: 25.
Die Ambition der Kantischen Metaphysik 111
Die obige Diskussion hat deutlich gemacht, dass die subjektiven Formen der
Sinnlichkeit und des Verstandes, die zu den Bedingungen der Möglichkeit der
Erkenntnis gehören, nicht etwas Menschenspezifisches darstellen können. Kants
Theorie muss den Anspruch erheben, dass nicht nur die Kategorein des Ver-
standes sondern auch die raumzeitlichen Formen der Anschauung notwendi-
gerweise für alle erkenntnisfähigen Wesen gelten, sei es der Mensch, der Mars-
mensch oder gar die künstliche Intelligenz. Wenn es ein Wesen gibt, das
erkenntnisfähig ist, muss es in der Lage sein, sich über die Formen von Raum und
Zeit auf Gegenstände Bezug zu nehmen. Raum und Zeit müssen allgemein für alle
endlichen Anschauungsformen gültig sein, wie Kant es auch angedeutet hat:
Es ist auch nicht nöthig, daß wir die Anschauungsart in Raum und Zeit auf die Sinnlichkeit
des Menschen einschränken; es mag sein, daß alles endliche denkende Wesen hierin mit dem
Menschen nothwendig übereinkommen müsse (wiewohl wir dieses nicht entscheiden kön-
nen).⁴¹
Freilich sind Kants Aussagen über die notwendige Gültigkeit der raumzeitlichen
Formen etwas ambivalent, aber wenn die Interpretation des transzendentalen
Funktionalismus im Großen und Ganzen stimmt, so zeichnet sich Kants Philosophie
eben nicht durch einen bescheidenen Anspruch aus, sondern vielmehr durch ihren
ambitionierten Versuch, die traditionellen Probleme der Metaphysik mit einer revo-
lutionären Denkweise anzugehen. Durch die Analyse des Erkenntnisvermögens in der
transzendentalen Kognitionspsychologie wird nicht nur die Grundkonstruktion aller
erkenntnisfähigen Wesen bestimmt, sondern auch die notwendige Struktur der Er-
kenntnis und der Wirklichkeit, die eine empirische Realisierung der kognitiven
Funktionen im Menschen erst möglich macht. In dieser revolutionären Strategie zur
Metaphysik zeigt sich Kants eigentliche Ambition.⁴²
KrV, B 72.
Diese Arbeit wurde vom Research Grants Council in Hongkong unterstützt (Projektnummer:
CUHK 446912/12H).
Óscar Cubo (Saarbrücken)
Respondenz zum Beitrag von
Chong-Fuk Lau
Das Manuskript von Prof. Lau verfolgt das Ziel, Kants Erkenntnistheorie, wie er sie
in seinen Schriften, vornehmlich in der Kritik der reinen Vernunft, mit Blick auf das
menschliche Erkenntnisvermögen entwickelt hat, unter dem Standpunkt eines
transzendentalen Funktionalismus zu interpretieren. Der transzendentale Funk-
tionalismus wird von Lau von der Neukantianischen und Strawsonschen Inter-
pretation der Kantschen Erkenntnistheorie einerseits und der psychologisch-
funktionalistischen Interpretation andererseits abgegrenzt. Die Marburger Neu-
kantianer insbesondere Hermann Cohen und im zwanzigsten Jahrhundert Peter
Strawson haben Kants transzendentale Philosophie gegen den Vorwurf des Psy-
chologismus verteidigt und sich auf die Analyse der transzendentalen Aspekte
seiner Erkenntnistheorie fokussiert. Die psychologisch-funktionalistischen In-
terpreten Kants, insbesondere Andrew Brook und Patricia Kitcher haben dagegen
versucht, die psychologischen Bestandteile der Kantischen Erkenntnistheorie
wiederzubeleben und seine möglichen Beiträge zur modernen Philosophie des
Geistes und Kognitionswissenschaft zu entdecken.¹
Im Gegensatz zu diesen sich scheinbar ausschließenden Interpretationen der
Kantischen Erkenntnistheorie, die sich einerseits mit den transzendentalen
Strukturen des Erkennens beschäftigen, und mit den kognitiven Funktionen des
menschlichen Bewusstseins anderseits, unternimmt Prof. Lau eine Interpretation,
die transzendentale und psychologische Elemente eng miteinander verbindet.
Dieser Vermittlungsversuch wird anhand einer transzendental-funktionalisti-
schen Interpretation durchgeführt, bei welcher Kants Erkenntnistheorie einen
entscheidenden Anlass bietet, die kognitiven Strukturen aller möglichen erken-
nenden Wesen, sowie die partikulare Beschaffenheit der menschlichen Erkennt-
nisvermögen zu erläutern.
Bei der transzendental-funktionalistischen Auffassung der Kantischen Erkennt-
nistheorie steht die von Kant verwendete doppelte Behandlungsart des menschlichen
Erkenntnisvermögens im Mittelpunkt, nämlich einerseits als empirisches und an-
dererseits als transzendentales Erkenntnisvermögen. Diese doppelte Behandlungsart
trifft auf das menschliche Anschauungsvermögen sowie den menschlichen Verstand
Vgl. Lau, Chong-Fuk (2015): „Die Ambition der Kantischen Metaphysik: Entwurf einer tran-
szendental-funktionalistischen Interpretation“. In: Markus Gabriel/Wolfram Hogrebe/Andreas
Speer (Hrsg.): Das neue Bedürfnis nach Metaphysik. The New Desire for Metaphysics. Berlin, 97.
114 Óscar Cubo
dass wir die Anschauungsart in Raum und Zeit auf die Sinnlichkeit des Menschen ein-
schränken; es mag sein, dass alles endliche denkende Wesen hierin mit dem Menschen
notwendig übereinkommen müsse (wiewohl wir dieses nicht entscheiden können).¹¹
Vgl. Keienburg, Johannes (2011): Immanuel Kant und die Öffentlichkeit der Vernunft. Berlin, New
York, 91 ff.
Keienburg 2011, 95.
KrV, B 60, A 43.
KrV, B 72.
Respondenz zum Beitrag von Chong-Fuk Lau 117
schemes and perceptive apparatuses that are profoundly different from our own, a
circumstance that cannot be explained but through the sharing of a world ‘out
there’ that is immune to our perceptive apparatuses and conceptual schemes –
that is, through the sharing of a great number of things in and of themselves.
I Anti-Representationalism
Faith in the primacy of thought was once expressed with emphasis. One need
only think of the incipit of The World as Will and Representation and, even
more so, that of The Theory of Mind as Pure Act. ¹ Today, we are generally not
as visionary, but beneath a more moderate appearance still lies the same sub-
stance. Let us consider this passage by Richard Rorty: “But none of us antirepre-
sentationalists have ever doubted that most things in the universe are causally
independent of us. What we question is whether they are representationally in-
dependent of us”² – as if to say that we are not the creators of the universe, but
that we are its constructors, starting from an amorphous hyle. This is the main-
stream of modern philosophy: not nihilism or solipsism (which butts against
common sense too forcefully), but rather constructivism, i. e., the idea that real-
ity exists but is itself amorphous, like cookie dough – an undifferentiated chora
that is modeled by subjects, who become constructors of phenomena. In other
words, the world and the things in themselves populating it are admitted to
exist, but not to be independent. Nevertheless, in regards to phenomena and
not to things themselves, a radically anti-realistic double gesture takes place.
We admit the separate existence of a world that nonetheless, as such, has no
structural or morphological autonomy that we know of: there is no world with-
out a spectator (correlationism³), and the spectator, in reality, is thus the con-
structor of that world (constructivism).
If we attempt to give a concrete form to Rorty’s adverb ‘representationally,’
we realize that this erudite term hides a conceptual confusion. If we treat an ob-
“Berkeley in the beginning of the Eighteenth century expressed very clearly the following concept.
Reality is conceivable only in so far as the reality conceived is in relation to the activity which
conceives it, and in that relation it is not only a possible object of knowledge, it is a present and
actual one. To conceive reality is to conceive, at the same time and as one with it, the mind in which
that reality is represented; and therefore the concept of a material reality is absurd” (Gentile,
Giovanni (1922): The Theory of Mind as Pure Act. Translated by H. Wildon Carr. London, 1).
Rorty as quoted by Boghossian, Paul (2007): Fear of Knowledge: Against Relativism and Con-
structivism. Oxford, 43.
Cf. Meillassoux, Quentin (2010): After Finitude: An Essay on the Necessity of Contingency. London.
Ding an sich 121
ject – let’s say the Atlantic Ocean as a physical entity – as if it were a linguistic
and geographic notion, it can be concluded that, since there would be no term
‘Atlantic Ocean’ without man, the Atlantic Ocean depends ‘representationally’ on
man. This is either a truism (if by ‘representationally’ we mean something like
‘linguistically’) or a solid absurdity (if by ‘representionally’ we mean something
– even slightly – more). Ontology (what there is) is systematically resolved in
epistemology (what we know about what there is), just as the Atlantic Ocean
is systematically confused with the term ‘Atlantic Ocean.’ It is this very crucial
confusion that I wish to focus on first, by examining transcendentalism and
its constituent fallacy, which I have proposed to call ‘transcendental fallacy.’
II Transcendental Fallacy
We must not underestimate the importance of the Cartesian Revolution in the
production of this situation, especially not the invitation, with which the Meta-
physical Meditations opens, namely to distrust our senses as they are often un-
reliable. In accordance with his ‘caveat,’ Descartes maintains that certainty is
not to be sought outside, in a world that is a forest of perceivable deceits, but
rather inside: in the cogito, the seat of clear and distinct ideas. In this choice,
the abandonment of natural behavior appears to be very clear. We normally
trust our senses, and if we happen to doubt them it is only under special circum-
stances: for example, when we require 100 % certainty – that is, when we subject
nature to an experimentum crucis, and we need it to give us an unequivocal yes
or no, since according to Descartes we must only deal (scientifically, that is) with
objects about which we have definite and indubitable knowledge.
When transferred to experience, this hyperbolic request to know finds a sol-
ution in its opposite. We lose natural certainty, and we are unable to substitute it
with reliable scientific certainty, precisely because, by nature, science is progres-
sive (and, therefore, never definitive). In fact, being equally exigent in ordinary
experience is not necessarily the right move, since in place of certainty we obtain
a doubt beyond remedy: if we ask of experience the same standard of certainty
that we ask of science, we will never be certain of anything. The counter-evi-
dence is given by Hume who, just like Descartes, grows skeptical considering
that inductive reasoning, based on experience, can never be 100 % certain.
Given that, for Hume, all knowledge comes from experience, and the real
abyss is not between the 100 % and the 1 % of probability, but rather between
the 100 % and the 99 %, then all of our knowledge rests upon a friable terrain
that offers no guarantees.
122 Maurizio Ferraris
At this point, Kant intervenes and makes a move that is destined to shape all
subsequent philosophy: if all knowledge derives from experience, but the latter is
structurally uncertain, it is necessary to establish experience through science, by
finding a priori structures that stabilize its aleatory character. In order to obtain
this result, it is necessary to change perspectives: we must start from subjects in-
stead of objects, and ask ourselves – with what is the matrix of all subsequent con-
structionisms – not what things themselves are like, but how they must be made in
order to be known by us, following the model of physicists who interrogate nature
not as scholars, but as judges, making use of schemes and theorems. Kant adopts
an a priori epistemology, mathematics, in order to establish ontology: the possibility
of a priori synthetic judgments allows us to determine an otherwise fluid reality
through certain knowledge. In this way, transcendental philosophy transfers con-
structionism from the field of mathematics into that of ontology. The laws of physics
are mathematics applied to reality and – according to Kant’s hypothesis – they do
not represent the excogitation of a group of scientists: they are the way in which our
own minds and senses work. At this point, our knowledge is no longer threatened
by the unreliability of the senses and by the uncertainty of induction. However, the
price paid is that there is no longer any difference between the fact that an object X
‘exists’ and the fact that we ‘know’ the object X. And since knowledge is intrinsically
construction, there is no difference, in principle, between the fact that we know ob-
ject X and the fact that we ‘construct’ it – just as it occurs in mathematics, where to
know that 7 + 5 = 12 is equivalent to constructing the addition 7 + 5 = 12. Indeed,
Kant invites us to consider that behind the phenomenal object X there is a noume-
nal object Y, something that is per se inaccessible for us, but this does not change
the fact that the sphere of being largely coincides with that of what is knowable, and
that what is knowable essentially amounts to what is constructible.
At the origin of the being-knowing fallacy is an intertwining of arguments: 1.
our senses deceive us (they are not 100 % certain); 2. induction is uncertain (it is
not 100 % certain); 3. science is more certain than experience, because it makes
use of mathematical principles that are independent of sensory deceits and of
the uncertainties of induction; 4. therefore, experience must be resolved in sci-
ence (it must be founded by science or, if all else fails, it must be unmasked
by it, as a deceptive ‘manifest image’); 5. since science is the construction of
paradigms, at this point, experience is also construction; that is to say, it models
the world starting from conceptual schemes.
Ding an sich 123
Ferraris, Maurizio (2004): Goodbye Kant! Cosa resta oggi della Critica della ragion pura. Milano.
Kant, Immanuel: Critique of Pure Reason (KrV), A 22, B 37; translated by Norman Kemp Smith.
KrV, A 30, B 46.
KrV, A 182, B 224.
KrV, A 189, B 232.
KrV, B 131.
KrV, A 51, B 75.
124 Maurizio Ferraris
Idealism); he was also most likely the first – at least among philosophers – to
claim that only what is in space and time exists (Empirical Realism). The crucial
point of the theory of conceptual schemes is that our eyes are not enough to see:
we need glasses, which transform out-of-focus and disorderly perceptions into
clear and coherent experiences. These glasses are the concepts, articulated in
judgments from which categories derive.
We have reached the seventh and final theory, that of Appearance, in which
the meaning of the Copernican revolution is summarized: “The undetermined
object of an empirical intuition is entitled appearance.”¹¹
At this point, the thing in itself has disappeared, and nothing leads us to be-
lieve that it will ever return.
permanently red, our imagination would never be able to associate other proper-
ties of the mineral, such as its weight and shape, with the color red.
We might call the second problem the ‘nesting of appearances.’ It develops
an argument originally brought forward by Strawson,¹⁵ who noted how spatial
appearances, being contained within temporal appearances, are appearances
of the second power. Nonetheless, we can observe that, since temporal appear-
ances are in turn contained within the ‘I think,’ which in turn is an appearance,
spatial appearances become appearances of the third power. And there is noth-
ing to prevent an infinite progress or regress, in which case we would have ap-
pearances of appearances of appearances.
A third problem is that which we might call authenticity. If we consider that
Kant includes the ‘I think’ (that is, ourselves as well as, obviously, all other
human beings) among appearances, then at least two problems arise. First,
when I feel pain, I would have to think of it as a pure phenomenon, an appear-
ance, and not a thing in itself (which, through a classic confusion of ontology
and epistemology, would be the excitement of my C fibers). Second, I could be
completely different from what I believe to be, in which case punishment or re-
ward, just like the entire moral world, would no longer have any value – some-
thing Kant suggest when he asserts that, in the world of appearances, we have no
proof of the fact that there has ever been, in the history of the world, a single free
action. Third, we would find ourselves considering ourselves, along with our
friends and relatives, as appearances (while we consider them as being things
in themselves), leading to odd propositions such as ‘my daughter is an appear-
ance and not a thing in itself.’ Normal elements of the grammar of relations, as
well as the meaning of our ipseity and the alterity of our neighbor, would fail,
and in particular we would be unable to explain the reason for which feeling ex-
traneous to oneself (which should be the physiology of an ‘I think’ recognized as
an appearance) is normally perceived as a pathology.
If we consider these difficulties, beyond the circumstance (which I have ex-
tensively dwelt on elsewhere) that the Kantian system describes a theory of sci-
ence, and not a theory of experience, then perhaps we are entitled to a Coperni-
can revolution, which puts the subject on the margin and not at the centre of
experience. And we might realize that things in themselves are all but rare; in
fact, they are a rather lush jungle, the fabric of our world, material, social and
ideal. Let us verify this.
Strawson, Peter F. (1966): The Bounds of Sense: An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason.
London.
126 Maurizio Ferraris
V Natural Objects
Let us consider natural objects. For Kant, they are appearances par excellence:
they are situated in space and time, yet they are not found in nature. They are
in our heads, along with the categories we use to structure the world, to the
point that, without human beings, space and time might disappear as well. We
would have to conclude that, before man, there were no objects, at least not
as we know them, but clearly this is not the case. Fossils remind us of beings
that existed before any human being, before Kant, before Berkeley, before Des-
cartes and before any ‘I think’ in general.¹⁶ So, where does that leave us?
Obviously, it can be objected that as soon as we look at them, they become
appearances. But, let us hypothesize that the fossil was unwittingly found by a
dog. The dog has conceptual schemes and perceptive apparatuses that are rad-
ically different from our own, and yet he is able to interact with fossils (and with
a number of other, more recent, objects such as non-prehistoric bones) just as we
do. Is there any good reason to believe that there are two different objects – the
fossil seen by the dog and that seen by me? And if the object is one, then why
should it not be a thing in itself? This interaction cannot be explained if not by
the fact that we tackle things in themselves; otherwise, there would be miracu-
lous harmony among different appearances (for example, a steak seen by a cat,
by a wasp and by a man who wishes to eat it in holy peace). Therefore, the argu-
ment of the fossil (that is, of its ‘pre-existence’) is interwoven with that of ‘inter-
action,’ which I have called ‘the argument of the slipper.’¹⁷
1. Man. Let us consider an example of a man who looks at a rug with a slip-
per on it; he asks another to pass him the slipper, and the other usually does so
without experiencing any particular difficulty. Though this is a simple appear-
As Quentin Meillassoux noted, many theoretical implications derive from fossils: “- that
being is not co-extensive with manifestation, since events have occurred in the past which
were not manifest to anyone; – that what is preceded in time the manifestation of what is; –
that manifestation itself emerged in time and space, and that consequently manifestation is
not the givenness of a world, but rather an intra-worldly occurrence; – that this event can, more-
over, be dated; – that thought is in a position to think manifestation’s emergence in being, as well
as a being or a time anterior to manifestation; – that the fossil-matter is the givenness in the
present of a being that is anterior to givenness; that is to say that an archefossil manifests an
entity’s anteriority vis à vis manifestation.” It thus follows that “to think ancestrality is to
think a world without thought – a world without the givenness of the world. It is therefore in-
cumbent upon us to break with the ontological requisite of the moderns of the moderns, accord-
ing to which to be is to be a correlate” (Meillassoux 2010, 14, 28).
Cf. Ferraris, Maurizio (2001): Il mondo esterno. Milan.
Ding an sich 127
faced with an obstacle that is bigger in size, though the ivy does so without eyes
or conceptual schemes.
5. Slipper. Finally, let us consider a slipper. It is even more insensitive than ivy.
Yet, if we toss it onto the other slipper, it encounters it, more or less in the same
manner as ivy, worms, dogs, and humans do. Therefore, it is unclear in which
sense even the most reasonable or minimalist theory about the intervention of
the perceiver upon the perceived might advance an ontological claim; not to men-
tion others. In fact, we could easily not take another slipper, but simply imagine that
the first slipper exists, in the absence of any animal-observer, or without vegetation
or another slipper to interact with it. Could it be that there is no slipper on the rug? If
the slipper really exists, then it must exist even if no one sees it, as logically implied
by the phrase ‘There is a slipper’ – otherwise we would say ‘I think there is a slipper’
or, more correctly, ‘I have in me the representation of a slipper,’ or even ‘I have the
impression of having in me the representation of a slipper.’ It should be kept in
mind that making the existence of things depend on the resources of our senses
is, in and of itself, no different from having them depend on our imagination,
and when we claim that a slipper exists ‘only’ because we see it, in reality we
are confessing that we have a hallucination.
VI Artifacts
Let us now take something less archaic: artifacts – tables, chairs and supermar-
ket objects that are the quintessence of objects for us. Of course, they depend on
humans for their manufacturing. Yet, once manufactured, they lend themselves
to beings that have different conceptual schemes and perceptive apparatuses
than ours. The family cat is perfectly capable of eating crackers and cuddling
up on an armchair. So, why suppose that the armchair and the crackers are an-
other thing for us than for him? What stops us from concluding that artifacts
such as an armchair and crackers are also things in themselves?
themselves. Now, there is a universe of things like marriages and divorces, finan-
cial crises, banknotes and academic titles, and it would be quite difficult to
argue that these are simple appearances, or almost masks of a ‘Thing in Itself’
that loves to hide.
Let us consider a fine. What would be its ‘in itself?’ In a fine, essence and ap-
pearance coincide, so it is a thing in itself. Actually, there is an entire family of ob-
jects, social objects – again, things like marriages and divorces, financial crises,
banknotes, fines and academic titles –, which it would be quite difficult to define
as appearances, with the thing in itself being another type of thing. To say that a
fine is an apparent fine is to simply say that it is not a fine; a true fine is a thing
in itself, just like a real 10 euro banknote, a testament or a vehicle registration.
In the case of social objects, we have a perfect coincidence of internal and
external, as is demonstrated by the fact that the giving out of appearance in-
volves the giving out of essence. What kind of wedding is one that everyone for-
gets about (including those directly involved) and whose documents are lost?
Weddings, tribunals and altars are systematically accompanied by memory,
and by the technological prosthesis of memory, namely writing – which, not co-
incidentally, today is at the center of the biggest revolution of our time, with
emails, tablets and mobile phones that write (which comes as a surprise,
given that in the previous century there was talk of writing coming to an end).
Writing cannot die because it is indispensable for the construction of social re-
ality; one need only think of the millions of people who died and whose names
we do not even know because writing had not yet been invented, while at the
same time we know Biblical patriarchs and Egyptian pharaohs one by one.
From this point of view, there is a guaranteed way to stop an economic crisis:
to produce a universal amnesia and destroy all documents. There would no lon-
ger be a crisis. Clearly, I would not recommend this remedy as it would kill the
diseased along with the disease, but this mental experiment prompts another re-
flection: if we attempted to interrupt a hurricane by deleting memory and docu-
ments, the hurricane would easily run its course. This means that memory has a
constitutive role only with regard to social objects, such as marriages, economic
crises, boycotts, parliaments, restaurants, medieval knights and Egyptian sover-
eigns, and much less with regard to natural objects, such as mountains, hurri-
canes, lakes and beavers. It is a wonderful thing to know the Atlantic Ocean’s
name, but even if the entire mankind disappeared or forgot about it, it would re-
main the same ocean, with the same properties.
130 Maurizio Ferraris
IX Feelings
Furthermore, once the contradictions of the Self and the Other as phenomena
examined above have been taken into consideration, who could deny that feel-
ings are things in themselves? If I state that I am happy, could anyone object that
I am so only as a phenomenon, and that perhaps as something in itself I am sad?
As a matter of fact, the distinction between euphoria and happiness or between
depression and sadness exists, proving that feelings such as happiness and sad-
ness are not things in themselves, but are rather tied to other things in them-
selves; that is, the existence of objects outside us that cause happiness or sad-
ness (as opposed to what occurs in euphoria or in depression).¹⁸
Hegel must have started from a reasoning of this kind in his attempt at re-establishing the
thing in itself, while considering it, though, as a concept that is exteriorized in the world. The
paragraphs dedicated to the thing in the Encyclopaedia are very eloquent from this point of
view. Hegel’s idea is that being finds its truth in essence, namely that the truth of ontology is
epistemology. The being is the result of its reason for being, and thus the thing is defined as
“The totality – the development in explicit unity of the categories of the ground and of exis-
tence” (§ 125), which seems like an affected and pompous definition, if we compare it, for in-
stance, to the thing in Austin: “moderate-sized specimens of dry goods” (Austin, John L.
(1964): Sense and Sensibilia. Edited by Geoffrey J. Warnock. Oxford, 8). This does not change
that the outcome of Hegel’s work is that the real is the thing in itself, the full and realized
real: “Actuality is the unity, become immediate, of essence with existence, or of inward with out-
ward. The utterance of the actual is the actual itself: so that in this utterance it remains just as
essential, and only is essential, in so far as it is immediate external existence”(§ 142).
Ding an sich 131
X Events
Now let us turn to events – things like hurricanes or car accidents – which are
often unforeseeable. The irregularity and the surprise, which fails to meet our
facts and expectations, is the clearest demonstration of the fact that conceptual
schemes are not enough to model the world. However, being realists does not
amount to being pessimists. Take, for instance, a surprise, which – if we are
not pessimistic – can be wonderful. It is the grandest thing in itself, because
it has a decisive piece of ‘per se’ that cannot be attributed to the subject, but
to the world. For this very reason, I wish to conclude my discussion with a he-
donistic consideration: the world of phenomena is boring and predictable,
while the world of things in themselves might have a few surprises in store.
Elisabetta Basso (Berlin)
A Response to the Paper of
Maurizio Ferraris
The question raised by Professor Maurizio Ferraris is of great relevance for the
current philosophical debate on ontology, and it involves important consequen-
ces in the various areas and topics in which philosophy traditionally works: not
only gnoseology, but also ethics, politics, history and philosophy of science.
Here, I will focus my attention on two questions, which are, in my opinion, par-
ticularly worth being pinpointed.
The first one concerns the problem of how epistemology should be intended in
the light of Ferraris’ realistic perspective. In Ferraris’ Manifesto of the New Realism,
epistemology seems indeed to coincide with a theory of knowledge according to the
model of the scientific knowledge, which the Italian philosopher identifies with a
constructivist idealism dealing with phenomena and not ‘things.’¹
Now, this position seems not to take into account a broader – but somehow
more modest – meaning of epistemology intended as an attempt to describe and
analyze the different kinds and forms of knowledge in their diverse regions and
manifestations. In fact, according to this view, knowledge cannot coincide with
‘science’ in general, as science actually entails different fields and involves di-
verse ways of knowledge. Thus, this latter perspective presents itself as an alter-
native to the dichotomy between constructivism (either in its theoretical or social
form) and realism. And this for two reasons: it neither engages itself with a ques-
tioning about the reality of things, nor does it pretend to give one definitive an-
swer to the questions of ‘what’ and ‘how we know.’ It rather confines itself to
describing what it terms the “epistemic objects”, namely “objects of intellectual
curiosity in theory and practice.”² In other words, according to this view, episte-
mology does not aim to deal with ‘things in themselves,’ but it rather just de-
scribes the formation and the development of the knowledge of particular histor-
ical concepts or objects.
Cf. Ferraris, Maurizio (2012): Manifesto del nuovo realismo. Roma. See also Ferraris, Maurizio
(2004): Goodbye Kant! Cosa resta oggi della Critica della ragion pura. Milano.
Abel, Günter (2012): “Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology”. In: Günter
Abel/James Conant (eds.): Rethinking Epistemology. vol. 1. Berlin, 28; see also Rheinberger, Hans-
Jörg (2012): “Genesis of Knowledge Spaces and Objects of Knowledge”. In: Abel/Conant 2012,
287– 299.
134 Elisabetta Basso
Now, it is worth emphasizing that this does not mean the disavowing of the
ontological problem. This kind of epistemology simply does not raise the ulti-
mate question about the reality of those objects and the mode of knowing
them once and for all. It further analyzes – as Michel Foucault has put it in
his Archaeology – “the world of objects to be known,”³ that is, the historical –
but not less rational – conditions of their objectuality. At this point, one could
borrow also the words employed by the French philosopher Georges Canguilhem
in order to define the idea of ‘reason’ in the field of the human world intended as
a part of the life-world: “Reason is less the power of apperception of some fun-
damental relations within the reality of things or of the mind, than a power to
create normative relations in the experience of life.”⁴
Therefore, it seems to me that this kind of epistemology on the one hand,
and that presented by the realistic perspective on the other hand, are two differ-
ent ways of questioning knowledge, which involve different methodological tools
and aims. Epistemology intended as a theory of knowledge should be distin-
guished from an epistemological analysis whose aim is to study the formation
and the evolution of the objects of knowledge. This is an epistemology that can-
not be confused with any constructivist or relativist approach, as it does not put
the ultimate ‘essence’ of things into question, but rather inquires into the diverse
ways in which ‘things’ become objects of knowledge.⁵ To use the words of Fou-
cault again, one could say that this kind of epistemology operates at the level of
knowledge intended as “savoir,” not as “connaissance.”
Thus, I wonder if it is possible for the “new realism” to consider and accept
this distinction, that is, to acknowledge a non-constructivist conception of epis-
temology.
The second question concerns the meaning and the role of philosophy in the
light of Maurizio Ferraris’ realistic perspective. In his Manifesto of the New Real-
ism, Ferraris presents the latter as a way of letting philosophy progress, by saving
it from becoming a parasite of science. Now, on the basis of what I have stated in
my first point, it seems that considering philosophy as ‘first’ and autonomous
regarding the various concrete knowledge and kinds of knowledge with which
it is confronted would reduce it instead of letting it progress. In other words,
can philosophy content itself with a pre-theoretical trust in ‘things’ instead of
Foucault, Michel (1973): The Birth of the Clinic. An Archaeology of Medical Perception. London,
X. (Original: Foucault, Michel (1963): Naissance de la clinique. Une archéologie du regard médi-
cal. Paris.)
Canguilhem, Georges (1947): “Note sur la situation faite en France à la philosophie biologi-
que”. In: Revue de Métaphysique et de Morale 52, 332.
Daston, Lorraine/Galison, Peter (2007): Objectivity. New York.
A Response to the Paper of Maurizio Ferraris 135
dealing with the different historical sciences that stimulate it and need it as a
critical exercise? Can philosophy be ‘reduced’ – paradoxically – to metaphysics?
What I appreciated most in Ferraris’ work – in fact even more than the sol-
ution it gives to the ontological question: ‘what are things?’ – is exactly its crit-
ical way of ‘doing philosophy’ by reflecting upon the ways in which this question
has been answered throughout the history of thought, for instance, by analyzing
the consequences of Kant’s Critique of the diverse conceptions of experience and
knowledge. This is indeed a philosophy that progresses through the various
forms of knowledge that provoke it by constantly asking the very fundamental
questions: ‘What is philosophy?,’ ‘What can philosophy do?,’ ‘Why philosophy?.’
From this point of view, the provocative claim asserted by Foucault in his ‘ar-
chaeology’ from 1966 – Les mots et les choses, a work that the Manifesto of the
New Realism presents as the fundamental text of constructivism –, according to
which the philosopher would have “learned more from Cuvier, Bopp, and Ricar-
do than from Kant or Hegel,”⁶ should be understood not as the ironic disavowal
or nullification of philosophy as an investigation into reality, but rather as the
acknowledgment that philosophy is not autonomous, as it cannot operate with-
out the different historical objects of knowledge.
Michel Foucault (1970): The Order of Things. London, 155. (Original: Foucault, Michel (1966):
Les mots et les choses. Paris.)
James F. Conant (Chicago)
Kants Kritik des Schichtenmodells
des menschlichen Geistes
I Einleitung
In diesem Aufsatz möchte ich zeigen, dass Kant sich gegen eine tiefverwurzelte
Vorstellung vom Wesen menschlicher Erkenntnis wendet – eine Vorstellung, die
einen Großteil des modernen Denkens beherrscht hat. Diese Vorstellung betrifft
das Verhältnis der beiden menschlichen Erkenntnisvermögen Sinnlichkeit und
Verstand. Sie besagt, dass diese Vermögen so beschaffen sind, dass wir eines
besitzen könnten, ohne das andere zu besitzen. Oder, vorsichtiger ausgedrückt:
Diese Vorstellung besagt, dass mindestens eines dieser Vermögen eigenständig ist
in dem Sinne, dass die Abwesenheit des anderen seine Funktion in keiner Weise
beeinträchtigen würde. Kant kritisiert zwei Formen dieser Vorstellung – eine
empiristische und eine rationalistische. Ich werde mich hier auf seine Kritik der
empiristischen Fassung dieser Vorstellung konzentrieren. Jedoch hielt Kant das,
was er am Empirismus kritisierte, für ein gemeinsames Merkmal von Empirismus
und Rationalismus.
Die empiristische Fassung der Vorstellung, die Kant kritisiert, ist die folgende:
Dass wir Erkenntnis mittels unserer Sinnlichkeit erwerben, ist ein Aspekt unseres
Wesens, der unabhängig von allen anderen verständlich ist. Gemäß der empiristi-
schen Vorstellung besitzt der Mensch ein ,bloß tierisches‘ Vermögen der Sinnlichkeit –
eines, das er mit dem Tier teilt – und zusätzlich noch ein Vermögen zur Vernunft, das
zu dem ersten nachträglich ,hinzutritt‘. Dem Empirismus zufolge ist das menschliche
Erkennen also aus zwei Schichten aufgebaut: Die untere Schicht bilden unsere bloß
tierischen Fähigkeiten der Interaktion mit der Welt. Und die obere Schicht bilden die
höheren Funktionen des menschlichen Erkennens: die spezifisch menschlichen
(,vernünftigen‘) Fähigkeiten. Entscheidend an dieser Vorstellung ist die folgende Idee:
Dass die untere Schicht durch das Hinzutreten der oberen beim Menschen in ihrer
Grundform unberührt bleibt. Anders gesagt: Nur weil es beim Menschen zusätzlich
zur Schicht des bloß Tierischen eine Schicht kognitiver Funktionen mit ,zusätzlichen‘
Fähigkeiten und Vermögen gibt, muss sich die Form der unteren Schicht nicht ändern.
Dieser Vorstellung zufolge könnte genau dasselbe, was in uns vorgeht, wenn wir von
unserem sinnlichen Erkenntnisvermögen Gebrauch machen, im Prinzip auch in ei-
nem Tier vorgehen. Diese Auffassung von der Beziehung der beiden Teilvermögen des
menschlichen Erkenntnisvermögens bezeichne ich als das ‚Schichtenmodell des
menschlichen Geistes‘.
138 James F. Conant
Was heißt es nun, sich gegen die empiristische Version des Schichtenmodells
des menschlichen Geistes zu wenden? Es heißt zu behaupten, dass das Vermögen
der sinnlichen Erfahrung beim Menschen ganz anders beschaffen ist als beim Tier
– wegen der Beziehung, in der dieses Vermögen zur Vernunft stehen muss. Dieser
alternativen Auffassung zufolge wird man, wenn man in den Raum der Gründe
eingeführt wird, zu einer ganz anderen ‚Art‘ von Wesen. Diese Auffassung be-
hauptet, dass das, was in einem Menschen vorgeht, wenn er von seinem Vermögen
der Sinnlichkeit Gebrauch macht, von der ganzen Form her verschieden ist von
dem, was in einem nicht-vernünftigen Tier vorgeht, wenn es von seinem Vermögen
Gebrauch macht, mit der Welt zurechtzukommen.
Wie es schon Descartes gesagt hatte: Im Gegensatz zum ,bloßen‘ Tier muss
beim Menschen die Tätigkeit seines Geistes bereits ‚im formalen Begriff‘ der
Sinneswahrnehmung enthalten sein. Diese These ganz durchzudenken, ist ein
Hauptziel von Kants theoretischer Philosophie. Das macht ihn zu einem Vertreter
dessen, was ich als das ‚Transformationsmodell des menschlichen Geistes‘ be-
zeichnen will.
Mein Ziel in diesem Aufsatz ist zu zeigen, dass Kant das Transformations-
modell vertritt. Das ist etwas, was viele Kant-Forscher nicht sehen – sie nehmen
einfach an, dass er ein Vertreter des Schichtenmodells sein ‚muss‘. Dadurch
entgeht ihnen ein Hauptpunkt von Kants Philosophie. In diesem Aufsatz möchte
ich diese übliche Lesart in Frage stellen und eine Alternative vorstellen. Zu diesem
Zweck werde ich – in äußerst knapper Form – eine Lektüre der ersten Kritik
vorstellen, bei der der Schwerpunkt auf der „transzendentalen Deduktion der
Kategorien“ liegt, wie sie in der B-Auflage der Kritik zu finden ist.
2. Zweites Problem: Wie ist das Verhältnis zwischen den Fassungen der
Transzendentalen Deduktion, wie sie in der A-Auflage und in der B-Auflage der
ersten Kritik enthalten sind, zu verstehen?
3. Drittes Problem: Wie ist das Verhältnis zwischen der ersten und der zweiten
Hälfte der Transzendentalen Deduktion in der B-Auflage zu verstehen?
der Versuch gelesen, einen allgemeinen Grund dafür zu liefern, die Frage des
traditionellen Skeptikers mit Ja zu beantworten
Gemäß der Lektüre von Kant, die ich hier vertreten möchte, ist das jedoch ein
Missverständnis. Kants Eingriff in das traditionelle Wechselspiel zwischen phi-
losophischer Skepsis und ihrer Kritik geschieht aus einer ganz anderen Warte
heraus. In der Deduktion formuliert Kant die traditionelle Frage („Wie ist die
Beziehung zwischen Sein und Wissen zu verstehen?“) um als ‚kritische Frage‘:
„Was ist die Beziehung zwischen der allgemeinen Form dessen, was ist, und der
allgemeinen Form des Wissens?“ Im Lichte dieser kritischen Frage soll die bisherige
Metaphysik als ‚dogmatisch‘ enthüllt werden: Denn sie hatte die allgemeine Form
dessen, was ist, auf andere Weise zu bestimmen gesucht als durch eine Reflexion
auf die allgemeine Form von Denken und Erfahrung.
Es hilft, an dieser Stelle zu unterscheiden zwischen dem, was ich als die
‚cartesische skeptische Frage‘ und die ‚kantische skeptische Frage‘ bezeichne.
Der Cartesianer will wissen, welche seiner Gedanken wahr sind, bzw. welche
seiner Erfahrungen wahrheitsgetreu sind. Der kantische Skeptiker beraubt uns
jeglicher Mittel, überhaupt Erfahrungen haben zu können (sei es im Wachzustand
oder im Traum), bzw. überhaupt einen Gedanken fassen zu können (sei er wahr
oder falsch). D. h.: die kantische Fragestellung setzt am Grund unserer Möglichkeit
an, überhaupt Erfahrungen zu machen bzw. einen Gedanken mit Inhalt zu haben.
Der Kantianer fragt: Was gehört dazu, Gedanken zu haben, die offen dafür sind,
wie die Dinge sich verhalten? Die kantische Problemstellung beschäftigt sich nicht
primär mit der Unterscheidung zwischen wahr und falsch, sondern damit, was es
heißt, beim Denken seinen Kopf hinzuhalten. Sie befasst sich mit dem, was Kant
die ‚objektive Gültigkeit‘ des Urteils nennt.
Zu verstehen, wie unsere Erfahrungen bzw. Gedanken über die Welt überhaupt
‚falsch‘ sein können, ist für den kantischen Skeptiker also ein genauso schwer-
wiegendes Problem, wie zu verstehen, wie sie überhaupt wahr sein können. Das
unterscheidet ihn vom cartesischen Skeptiker.
Ein allgemeiner kantischer Skeptizismus wurde erst durch das Aufkommen
einer bestimmten Art von Empirismus möglich. Kant zufolge läuft diese Art von
Empirismus auf folgende Behauptung hinaus: Das, was den Sinnen gegeben ist,
hat als solches weder die ‚Form‘ des Denkens, noch kommt diese dabei auf ir-
gendeine Weise ins Spiel. In Kants Augen heißt dies nichts anderes als zu sagen,
dass die Formen unseres Verstandes als solche nichts mit dem zu tun haben, was
ist. Für erkennende Wesen wie wir es sind ergibt sich ihre Beziehung zu dem, was
ist, erst in einem zweiten Schritt – wenn diese Formen auf Sinneseindrücke an-
gewendet werden.
Was Hume tat, war die Voraussetzungen eines solchen Bildes vom Verhältnis
zwischen Sinnlichkeit und Verstand ganz durchzudenken. Er schloss, dass die
Kants Kritik des Schichtenmodells des menschlichen Geistes 141
Zu zeigen, dass die Form dessen, was ist, keine andere sein kann als die des Bewusstseins
eines denkenden, urteilenden Subjekts.
Oder um diesen Punkt auf eine Kant nähere Art auszudrücken: Das, was uns durch
die Sinne gegeben ist, weist eine Form auf, die keine andere ist als die, welche die
Kategorien vorschreiben.
Was Kant in der B-Deduktion zeigen will, können wir nun in folgenden drei
Schritten zusammenfassen:
142 James F. Conant
3 Was in der zweiten Hälfte der B-Deduktion noch gezeigt werden muss
Was durch die Sinne gegeben ist, weist die Form des Denkens genau dann auf,
wenn die Einheit, die durch die Kategorien vorgeschrieben wird, keine andere ist,
als die, die etwas, das räumlich und zeitlich ist, aufweist.
Ich möchte mich nun mit zwei Weggabelungen befassen, auf die jede Inter-
pretation der ersten Kritik stoßen muss.
[A] tension, if not outright contradiction, has often been noted between the official defini-
tion of ‘intuition’ as a “singular representation” and the account of sensible intuition. The
problem is that, according to Kant’s theory of sensibility, sensible intuition provides the
mind with only the raw data for conceptualization, not with the determinate knowledge
of objects. Such knowledge requires not only that the data be given in intuition, but also
that it be taken under some general description or “recognized in a concept”. Only then
can we speak of “representation of an object”. Kant gives clear expression to this central
tenet of his epistemology in the famous formula, “Intuitions and concepts constitute, there-
144 James F. Conant
fore, the elements of all our knowledge, so that neither concepts without an intuition in
some way corresponding to them, nor intuition without concepts, can yield knowledge”.¹
Was Allison hier beschreibt, ist ein Problem, das sich für jede Zweistufen-Lesart
stellt. Schauen wir uns nun die Lösung an, die Allison selbst vorschlägt:
The key to the resolution of this tension is well expressed by W. H. Walsh, who remarks that
a Kantian sensible intuition is only “proleptically” the awareness of a particular. The point
here is simply that, although intuitions do not in fact represent or refer to objects apart from
being “brought under concepts” in a judgment, they can be brought under concepts, and
when they are they do represent particular objects. In this respect, they differ from purely
subjective or aesthetic “representations”, such as feelings, which can have no representa-
tive function. Thus … it is really necessary to draw a distinction between determinate or
conceptualized and indeterminate or unconceptualized intuitions.²
Die Lösung des Problems besteht darin, zwei Arten von Anschauung zu unter-
scheiden. Die erste Art Anschauung ist die, die in der ersten Schicht des
Schichtenmodells auftritt. Die zweite Art Anschauung ist die, die in der zweiten
Schicht des Schichtenmodells auftritt. Dabei handelt es sich um die Anschauung
der ersten Schicht, die durch die Interaktion mit unseren höheren Erkenntnis-
vermögen eine neue Gestalt erhalten hat. Bei der ersten Art von Anschauungen
handelt es sich um nicht-begriffliche Modi des Erfassens eines Gegenstandes, für
die kein Eingreifen des Verstandes erforderlich ist. Die zweite Art Anschauungen
sind die, die uns erst durch die Einwirkung der Kategorien zugänglich werden.
Auf diese Weise ergibt sich, dass man Feinunterscheidungen einführen muss,
die der Text einem nicht wirklich aufzwingt – Feinunterscheidungen, die von den
hermeneutischen Voraussetzungen diktiert werden. In jedem Absatz von Kant
stellt sich dann die Frage: Geht es hier um Anschauungen im ersten oder im
zweiten Sinne? Irgendwann beginnt es so zu scheinen, als sei das Kant selbst nicht
ganz klar.
Und je mehr man darüber nachdenkt, desto eher wird einem auffallen, dass
der Begriff ,Anschauung‘ nur die Spitze des Eisbergs darstellt. Der Kant-Interpret
wird auch gezwungen sein zu unterscheiden zwischen zwei Sinnen von ,Form der
Anschauung‘ (und damit zwischen zwei Sinnen von ,Raum‘, und zweien von
,Zeit‘), zwei Sinnen von ,Synthesis‘, zwei Sinnen von ,Mannigfaltigkeit‘, und so
weiter. Man kann nun die Frage stellen: Wie kommt es eigentlich zu diesem
Eindruck des ständigen Widerspruchs? Ein Grund besteht darin, dass man Kants
Allison, Henry (1983): Kant’s Transcendental Idealism: An Interpretation and Defense. First
Edition. New Haven, 67.
Allison 1983, 67 f.
Kants Kritik des Schichtenmodells des menschlichen Geistes 145
Für mich folgt aus Zitaten wie diesem, dass wir Kants Buch anders lesen müssen,
als es gewöhnlich gelesen wird. Dazu gehört zu erkennen, dass es von Beginn an
dialektisch aufgebaut ist. Zentrale Begriffe der Untersuchung werden umrissen,
aber ihre anfänglichen Festlegungen werden später als ungenügend erwiesen. So
umreißt Kant den Begriff der Anschauung zunächst als eine unmittelbare einzelne
Vorstellung. Dann aber zeigt er, dass diese keine eigenständig verständliche Form
der Vorstellung ist. Das heißt nun aber nicht, dass die anfängliche Festlegung
dessen, was eine Anschauung ist, zurückgenommen und durch eine neue ersetzt
wird – sondern, dass wir uns darüber klarwerden müssen, was es heißt, mit Recht
von einer solchen Vorstellung zu sprechen. Hume glaubt, etwas Derartiges könne
es im Bewusstsein vor der Anwendung der Kategorien geben. Das aber führt in ein
Dilemma: Entweder diese Art von Vorstellung wäre blind – d. h. sie kann keine
Vorstellung ,von‘ Gegenständen sein, wie Hume es will – oder sie wäre etwas, von
dem wir nur dann mit Recht sprechen könnten, wenn wir Humes Grundannahme
aufgeben würden.
VII Paragraph 21
Paragraph 21 trägt den Titel Anmerkung. Was macht diese Anmerkung an dieser
Stelle des Textes? Es hängt mit unserem zweiten Interpretationsproblem zusam-
men – wo es um die Beziehung der ,Deduktion‘ in der B-Auflage zu der in der A-
Auflage ging. Die B-Deduktion ist so aufgebaut, einen ganz bestimmten Einwand
abwehren zu können. Dieser Einwand ist einer, dem die A-Deduktion ausgesetzt
scheint. Kant schreibt die Deduktion um, um klar zu machen, dass man sie völlig
falsch versteht, wenn man glaubt, dass dieser Einwand sie treffen könne.
Was Kant zeigen will, ist, dass unsere Erfahrung einen objektiven Gehalt hat,
weil sie von den reinen Verstandesbegriffen durchdrungen ist. Der Einwand ist,
dass das bloß sicherstellt, dass die Gegenstände für uns ‚denkbar‘ sind – und dass
eine Bedingung ihrer Denkbarkeit nicht automatisch eine Bedingung dafür ist,
dass sie uns sinnlich gegeben sein können. Aus der Transzendentalen Ästhetik, so
der Einwand weiter, kennen wir schon eine unabhängige Bedingung dafür, dass
Gegenstände uns sinnlich gegeben sein können: nämlich, dass sie räumlich und
zeitlich geordnet sind. Nach allem, was Kant zeigen könne, könnte es auch sein,
dass Gegenstände diese Bedingung erfüllen, ohne den Anforderungen des Ver-
standes zu genügen.
Ein solches Verständnis der Deduktion hängt eng mit dem zusammen, was ich
die ‚Aufdrückungs‘-Lesart nenne. Damit meine ich folgende Idee: Unser ur-
sprünglicher Zugang zu Gegenständen hat nichts mit den Formen des Verstandes
zu tun. Diese werden nachträglich dem, was uns zugänglich ist, aufgedrückt.
Dadurch wird das, was wir erfahren, für die Bedingungen des Denkens emp-
fänglich gemacht. Kant schreibt die Deduktion so um, dass einem genau diese Idee
zunächst nahegelegt wird – um dann zurückgewiesen zu werden.
Die Problemstellung ist also diese: Die Bedingung, dass Anschauungen die
Einheit der Kategorien aufweisen, scheint nichts weiter als eine Vorgabe des
Subjekts zu sein – ganz wie Hume es behauptet hatte. Es scheint, als würde diese
Einheit der Erfahrung von der Struktur unseres Geistes vorgegeben – um ihre
Ergebnisse in etwas zu verwandeln, das wahr oder falsch sein kann. Dann aber
wäre der Anspruch auf objektive Gültigkeit bestenfalls zweifelhaft. Denn es
scheint ja, als sei die Einheit der Erfahrung allein ein Produkt des Geistes – und
habe daher nichts mit dem Wesen der Gegenstände zu tun.
Aus Kants Sicht hätte die Deduktion ihr Ziel verfehlt, wenn dieser Einwand
durchgehen würde. Denn diese ,Transzendentale Deduktion‘ der Kategorien des
Verstandes soll ja gerade zeigen, dass die Verstandesbegriffe ‚objektive Gültigkeit‘
aufweisen. Die gesamte B-Deduktion ist so aufgebaut, dass sie diesen Einwand zu-
nächst vorwegnimmt, um ihn dann zu widerlegen. Der entscheidende Schritt dabei
Kants Kritik des Schichtenmodells des menschlichen Geistes 147
Im obigen Satze ist also der Anfang einer Deduktion der reinen Verstandesbegriffe gemacht,
in welcher ich, da die Kategorien unabhängig von Sinnlichkeit bloß im Verstande entspringen,
noch von der Art, wie das Mannigfaltige zu einer empirischen Anschauung gegeben werde,
abstrahieren muß, um nur auf die Einheit, die in die Anschauung vermittelst der Kategorie
durch den Verstand hinzukommt, zu sehen.⁴
Bis jetzt – d. h. in der ersten Hälfte der B-Deduktion – haben wir die Beziehung des
Verstandes zu einer Mannigfaltigkeit der Anschauung betrachtet. Dabei haben wir
von der besonderen Geformtheit dieser Mannigfaltigkeit abstrahiert. Jetzt aber heben
wir diese Abstraktion auf, und fragen: In welchem Verhältnis steht diese Form der
Einheit – d. h. die unserer Sinnlichkeit – zu der, um die es in der ersten Hälfte der
Deduktion ging – nämlich der, die für objektiv gültige Urteile erforderlich ist?
Das bedeutet, die Form der Einheit, die in der Ästhetik bereits behandelt wurde,
noch einmal neu zu betrachten. Und zwar diesmal mit Bezug auf die Frage ihrer
Übereinstimmung bzw. Nicht-Übereinstimmung mit der Form der Einheit, die von den
Kategorien vorgeschrieben wird. Insbesondere sollen wir nach Aufhebung dieser
Abstraktion die reinen Anschauungen in einem neuen, richtigen Licht sehen. Das
bedeutet zu sehen, dass die Grundannahme aller Zweistufen-Lesarten falsch ist. Die
zweite Hälfte der B-Deduktion soll folgendes zeigen: Dass die – in der Ästhetik be-
handelte – Geformtheit unserer Sinnlichkeit nicht unabhängig von der – in der
Analytik behandelten – Form der apperzeptiven Spontaneität betrachtet werden
kann. Und dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass Kant bei ihrer ursprünglichen
Einführung nichts davon gesagt hatte, dass ihre bloße Möglichkeit dieser zusätzlichen
KrV, B 144.
148 James F. Conant
Bedingung unterworfen ist. Was nun noch gezeigt werden muss, damit eine Deduk-
tion der Kategorien ihr Ziel erreicht hat, beschreibt Kant so:
In der Folge […] wird aus der Art, wie in der Sinnlichkeit die empirische Anschauung gegeben
wird, gezeigt werden, daß die Einheit derselben keine andere sei, als welche die Kategorie […]
dem Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung überhaupt vorschreibt.⁵
Nirgends beschreibt Kant klarer, was die transzendentale Deduktion der Katego-
rien zeigen soll. Damit wir uns über den entscheidenden Punkt hier klar werden,
möchte ich auf die zweite der beiden Weggabelungen zurückkommen, von denen
ich vorhin gesprochen hatte. Das war diejenige, bei der es um die Frage ging, ob wir
in Richtung Zweistufen-Lesart oder in eine andere Richtung abbiegen sollen.
Ich will nun zwei Arten des Abbiegens in diese andere Richtung unterschei-
den. ‚Scharf‘ in diese Richtung abzubiegen hieße, die Hauptaussage der Zwei-
stufen-Lesart einfach umzukehren. D. h. an die Stelle der Behauptung, dass es
zwei Einheiten gibt – nämlich die der Sinnlichkeit und die des Verstandes –
diejenige zu setzen, dass es bloß eine Einheit gibt. Das würde bedeuten, dass es
keinen wirklich Unterschied gibt zwischen diesen beiden Formen der Einheit. In
meinen Augen würde auch das an der Deduktion vorbeigehen.
Die andere Art des Abbiegens an dieser Weggabelung wäre, ‚nicht ganz so
scharf‘ in Richtung einer Anti-Zweistufen-Lesart abzubiegen. Das würde bedeu-
ten, sich gegen die Grundvoraussetzung der Zweistufen-Lesart zu wenden –
nämlich die Voraussetzung, dass die Einheit unserer Sinnlichkeit einen eigen-
ständigen, unabhängigen Charakter hat – jedoch ohne sie einfach auf den Kopf zu
stellen. Kant sagt, dass diese Einheit – die Einheit der Art und Weise, in der uns
Gegenstände gegeben sind – „keine andere sei, als welche die Kategorien vor-
schreiben“. Das klingt, als könnten wir die Moral der Deduktion so zusammen-
fassen: „Es gibt nur eine Einheit!“ Das wäre nicht falsch – aber es würde ein
Missverständnis heraufbeschwören, das uns dazu verleiten könnte, doch scharf
abbiegen zu wollen. Mit dem richtigen Grad der Abstraktion betrachtet – nämlich
dem der ersten Hälfte der B-Deduktion – gibt es schon eine Form der Einheit, die
sowohl von der Sinnlichkeit als auch von dem Verstand geteilt wird. Kants Begriff
für die Einheit auf dieser Ebene ist „die synthetische Einheit des Verstandes“.
Diese kann auf zwei Weisen näher bestimmt werden – auf eine sinnliche und auf
eine verstandesmäßige. Diese Form der Einheit – die Einheit der Kategorien – ist
kennzeichnend sowohl für die Art und Weise, wie uns Gegenstände in der An-
schauung gegeben sind, als auch für die Art und Weise, in der Begriffe in Urteilen
zusammengestellt werden. Eine Synthesis von Begriffen in einem Urteil ist ‚eine‘
KrV, B 144 f.
Kants Kritik des Schichtenmodells des menschlichen Geistes 149
Art, diese höchste Form der Einheit in der Erkenntnis näher zu bestimmen. Eine
Synthesis einer Mannigfaltigkeit zu einer Anschauung ist eine andere Art, diese
höchste Form der Einheit in der Erkenntnis näher zu bestimmen. Beide setzen ein
Eingreifen des Verstandes voraus.
Anders gesagt: Die Vorgaben der Kategorien – die so wirkten, als würden sie
einer unabhängigen sinnlichen Form bloß aufgedrückt – konstituieren in Wahr-
heit ein sinnliches Bewusstsein allererst mit.
VIII Schluss
In der Hauptauseinandersetzung der frühen Moderne streiten sich Empiristen und
Rationalisten um folgendes: Welches von zwei Erkenntnisvermögen – Sinnlichkeit
oder Verstand – hat logischen Vorrang? Kant will zeigen, dass ihre Auseinan-
dersetzung auf einer gemeinsamen Voraussetzung beruht: nämlich, dass min-
destens eines dieser beiden Erkenntnisvermögen eigenständig verständlich ist.
Ich habe mich hier auf Kants Argument gegen den Empiristen konzentriert. Für
eine vollständige Darstellung seiner dialektischen Strategie müsste man jedoch
auch zeigen, wie sich eine ganz ähnliche Moral aus seiner Kritik des Rationalismus
ziehen lässt. Aber das wäre das Thema eines anderen Aufsatzes.
Guido Kreis (Bonn)
Kant und das Problem des Gegebenen
Antwort auf James Conant
Die Kritik der reinen Vernunft ist, wie James Conant zu Recht betont, dialektisch
aufgebaut. Insbesondere Kants Konzeption der Anschauung modifiziert sich im
Laufe des Buches je nach dem erreichten Stand der Untersuchung. In den fol-
genden Bemerkungen möchte ich auf einige Details dieser verschiedenen Stufen
eingehen, um auf ein Problem hinzuweisen, das sich für Kant aus der Kritik des
empiristischen Schichtenmodells ergibt: das Problem des Gegebenen.
(i) Auf der ersten Stufe spricht Kant davon, „daß es zwei Stämme der
menschlichen Erkenntnis gebe, […] nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch
deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht wer-
den.“¹ Das Bild soll einen philosophischen Gedanken anschaulich machen. Kant
unterscheidet zwischen zwei Klassen von Vorstellungen: solchen, die dem
menschlichen Geist gegeben werden, und solchen, die er selbst macht. Der Ge-
danke besagt, dass gegebene Vorstellungen mit gemachten Vorstellungen weder
identisch noch auf sie reduzierbar sind, und umgekehrt. Anschauungen sind nach
Kant gegebene Vorstellungen. Das Bild von den zwei Stämmen birgt allerdings die
Gefahr eines Missverständnisses. Es suggeriert ein real isoliertes Nebeneinander
von Sinnlichkeit und Verstand, sodass jedes der Vermögen seine Funktion in ei-
genständiger Weise, unabhängig vom jeweils anderen, ausüben könnte. Das Bild
könnte also dazu einladen, Kant im Sinne eines Schichtenmodells zu deuten.
(ii) So kann das Bild aber nicht stimmen. Wir sind gezwungen, eine zweite
Stufe von Kants Konzeption der Anschauung anzusetzen. Kant sagt, dass man
einerseits die Sinnlichkeit und andererseits den Verstand erst ,isolieren‘ muss, um
über Anschauungen oder über Begriffe für sich sprechen zu können.² Anschau-
ungen und Begriffe müssen also in allen Fällen von empirischer Erkenntnis immer
schon miteinander verbunden sein. Das sagt Kant explizit in § 10:
Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die
gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit,
welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt.³
Das ist der Vorschlag von McDowell, John (2009): Having the World in View. Cambridge, Mass.,
260 – 262. Damit korrigiert McDowell seine frühere These, Anschauungen hätten nach Kant be-
grifflichen Gehalt; vgl. McDowell, John (1996): Mind and World. With a New Introduction. Cam-
bridge, Mass., 26. Vgl. dazu und zum Problem der Begrifflichkeit oder Nichtbegrifflichkeit des
Gehaltes von Anschauungen bei Kant: Kreis, Guido (2015): „The Varieties of Perception: Kant,
Cassirer, McDowell“. In:Tyler J. Friedman/Sebastian Luft (Hrsg.):The Philosophy of Ernst Cassirer –
A Novel Assessment. Berlin, 313 – 337.
Kant und das Problem des Gegebenen 153
unterhalten werden, sondern potentiell vom Subjekt dieser Vorstellungen auch als
dessen eigene zugeschrieben werden können. Das gilt nach §16 der Kritik für alle
Vorstellungen eines Subjekts. Diese vier Eigenschaften definieren Anschauungen.
Kant sagt, dass eine Anschauung eine bewusste objektive Vorstellung ist, die
einzeln ist und sich unmittelbar auf den Gegenstand bezieht.⁵ Wir wissen jetzt,
dass wir diese Definition nicht im Sinne eines Schichtenmodells lesen sollen,
sondern im Sinne der Angabe einer der Bedingungen, die erfüllt sein müssen,
damit empirische Urteile wahr oder falsch sein können. Die spezifische Leistung
der Anschauung besteht darin, den singulären unmittelbaren Bezug auf einen
Gegenstand im Kontext eines singulären Gedankens oder Urteils herzustellen.
(iv) Es liegt die Hypothese nahe, dass eine Anschauung ein singulärer Sinn
eines singulären Gedankens oder Urteils ist. Kants Unterscheidung von An-
schauung und Begriff wäre dann analog zu Freges Unterscheidung von Argument
und Begriff. Dann wäre auch verständlich, warum Anschauungen und Begriffe
immer nur zusammen auftreten, aber dennoch nicht aufeinander reduziert wer-
den können: Sie sind Momente vollständiger Gedanken, erfüllen aber verschie-
dene, wechselseitig irreduzible Rollen. Das Problem ist aber, dass Anschauungen
nach Kant Vorstellungen sind, ‚geistige‘ Vorkommnisse. Zwar sagt Kant an einer
Stelle, dass Begriffe nicht nur auf andere Begriffe, sondern auch auf Anschau-
ungen angewendet werden können,⁶ und da Begriffe nur „Prädikate möglicher
Urteile“⁷ sind, heißt das, dass Anschauungen in Urteile eingehen. Die offizielle
Logik Kants sagt aber, dass Urteile nur Begriffe enthalten, und singuläre Urteile
sind bei Kant solche, die singulär verwendete Allgemeinbegriffe als Subjekte
enthalten. Anschauungen sind also entweder selbst singuläre Sinne oder aber
diejenigen geistigen Vorkommnisse, die durch singuläre Sinne in singulären Ge-
danken oder Urteilen ausgedrückt werden.
(v) In dem einen wie dem anderen Fall ergibt sich, dass Anschauungen einen
nicht-begrifflichen Gehalt haben müssen. Sie übernehmen die im Vergleich zu
Begriffen komplementäre Funktion in singulären Gedanken oder Urteilen: Erst
ihre Verbindung mit begrifflichen Gehalten ergibt ein vollständiges wahrheits-
wertfähiges Ganzes. Daher kann ihr eigener Gehalt nicht begrifflich sein.
(vi) Dass eine Anschauung einen unmittelbaren Bezug auf einen Gegenstand
herstellt,⁸ ist doppeldeutig. Der Bezug muss zum einen als Kausalrelation ver-
standen werden, denn dass uns ein Gegenstand gegeben wird, ist „nur dadurch
möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere“⁹. Diese Kausalrelation ist
aber nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung dafür, dass sich em-
pirische Urteile auf die Wirklichkeit beziehen. Urteile beziehen sich nach der B-
Deduktion genau dann auf Gegenstände der Wirklichkeit, wenn sie der ‚objektiven
Einheit des Selbstbewusstseins‘ unterstehen,¹⁰ wenn sie also nach den Katego-
rien, den streng allgemeingültigen Synthesisregeln, die „für jedermann“ gelten,
gebildet worden sind. Dann sind sie objektiv gültige Urteile, und das heißt, dass sie
von etwas in der Wirklichkeit wahr oder falsch sind.¹¹ Strenge Allgemeingültigkeit
und objektive Gültigkeit sind Wechselbegriffe.¹² Das gilt auch für singuläre Urteile.
Die Anwendung der Kategorien und die Bildung objektiv gültiger Urteile sind aber
ihrerseits auf Urteile eingeschränkt, die sich direkt oder indirekt auf Anschau-
ungen beziehen, und damit auf Vorstellungen, die in einer Kausalrelation zu ihren
Gegenständen stehen.¹³ Die objektive Gültigkeit des Urteils und die Kausalrelation
zwischen Anschauung und Gegenstand sind also nach Kant jeweils notwendige
und zusammengenommen hinreichende Bedingungen dafür, dass sich ein sin-
guläres Urteil auf einen Gegenstand bezieht.
(vii) Kant hatte mit dem Bild der zwei Stämme der Erkenntnis den Gedanken
ausgedrückt, dass Anschauungen gegeben, nicht aber gemacht sind, und sie
deshalb mit Begriffen weder identisch noch auf Begriffe reduzierbar sind.Wie lässt
sich die Bedingung des Gegebenseins von Anschauungen begründen? Der Kon-
trast von ‚gegeben‘ und ‚gemacht‘ korrespondiert mit dem von ‚Spontaneität‘
(Aktivität) und ‚Rezeptivität‘ (Passivität). Der Sinn dieser Unterscheidungen liegt
in einer Verantwortungszuschreibung, und auch hier erweist sich das vollständige
Urteil als Ausgangspunkt. Wer ein Urteil fällt, vertritt vor sich und allen anderen
Subjekten einen Anspruch auf Wahrheit, und dieser Anspruch kann konsistent
nur durch die Anerkennung der ihm korrespondierenden Pflicht erhoben werden,
ihn gegebenenfalls zu begründen und gegen Einwände zu verteidigen. Wer ein
Urteil fällt, muss dann auch das Zustandekommen der urteilenden Einstellung
zum Gedanken der eigenen Autorität zuschreiben. Deshalb muss der Verstand ein
Vermögen der Spontaneität sein. Wenn aber unsere Urteile ausschließlich Ele-
mente enthielten, die wir aus eigenem Antrieb angewendet haben, dann wären wir
nicht zu dem Anspruch berechtigt, dass einige unserer Urteile empirisches Wissen
ausdrücken, also von etwas in der Wirklichkeit wahr sind. Aus begrifflichen
Wahrheiten allein lassen sich keine empirischen Wahrheiten ableiten. Dafür, dass
einige unserer Urteile empirisches Wissen darstellen, ist es eine notwendige Be-
dingung, dass sie Elemente enthalten, die wir nicht aus eigenem Antrieb gemacht
haben, sondern die uns gegeben worden sind.
(viii) Der klassische Empirist hat keine Schwierigkeit, die Existenz nicht-
spontaner Elemente im Geist zu garantieren; es sind die Sinnesdaten, die Elemente
der in seinem Modell grundlegenden Schicht. Um die rationale Rolle zu erklären,
die sie im Kontext von Urteilen übernehmen können, muss er ihnen zugleich
(inkonsistenterweise) rechtfertigende Kraft zuschreiben. Das ist der ‚Mythos des
Gegebenen‘. Kant hat das empiristische Schichtenmodell abgeschafft. Das Gege-
bene, von dem er spricht, sind Anschauungen, die immer schon im Kontext von
prädikativen Strukturen stehen. Zwar stehen auch Anschauungen in Kausalbe-
ziehungen zu Gegenständen der Wirklichkeit, aber indem sie zugleich in prädi-
kative Strukturen eingebettet sind, können sie rechtfertigende Kraft für unsere
empirischen Urteile haben. Der Mythos des Gegebenen ist so umgangen. Kant will
nicht das Gegebene abschaffen, sondern nur dessen inkonsistente Version.
(ix) Die Frage ist allerdings, ob von Kants Anschauungen nach der Abschaf-
fung des Schichtenmodells noch gesagt werden kann, dass sie gegeben sind.
Unabhängig von ihrer Einbettung (oder ihrem Ausgedrücktwerden) in singulären
Gedanken oder Urteilen haben wir keinen Zugang zu ihnen. Es bleibt nur die
Möglichkeit, das Gegebensein der singulären Gedanken oder Urteile zu untersu-
chen, in die Anschauungen eingebettet sind (oder durch die sie ausgedrückt
werden). Urteile sind aber in jedem Fall aus eigenem Antrieb gemacht, denn sie
enthalten einen expliziten Wahrheitsanspruch, für den jeder, der urteilt, Verant-
wortung übernehmen muss. Es ist also unmöglich, dass ein Urteil nicht-spontan
gebildet wird. Es bleibt die Möglichkeit, dass Anschauungen in singuläre ‚Ge-
danken‘ eingehen, die selbst (noch) keine Fälle von Urteilen sind. Anschauungen
könnten dann in dem Sinne gegeben sein, in dem diese singulären Gedanken
gegeben sind. Ist das möglich? Nur dann, wenn es möglich wäre, dass wir sie
haben können, ohne sie zu gemacht zu haben. Es gäbe dann in Beobachtungs-
situationen singuläre Gedanken, die wir ‚unwillkürlich‘ unterhalten, und dass wir
sie unwillkürlich unterhalten, wäre so zu erklären, dass sie uns von den Gegen-
ständen der Wirklichkeit ‚gegeben‘ worden sind.¹⁴ Wie plausibel ist das? Ange-
nommen, es sei möglich, dass wir unwillkürliche Gedanken haben. Warum sollte
dann die Tatsache, dass ich einen unwillkürlichen Gedanken über einen von mir
beobachteten Gegenstand habe, so erklärt werden müssen, dass er mir von der
Wirklichkeit gegeben worden ist? Das ist nur eine mögliche Erklärung. Es könnte
sein, dass mir meine eigenen Wünsche den Gedanken eingegeben haben, und
dass mir weder diese Wünsche noch ihre motivierende Kraft bekannt sind, weil sie
unbewusst oder unterbewusst sind. Wenn wir zugestehen, dass es unwillkürliche
Gedanken geben kann, dann müssen wir auch zugestehen, dass wir selbst die
Ursache dieser Gedanken sein können. Dann ist die Unwillkürlichkeit kein hin-
reichendes Indiz dafür, dass die Bedingung des Gegebenseins dieses Gedankens
erfüllt ist. Kants leitende Frage war die nach den Bedingungen, die notwendig
erfüllt sein müssen, damit empirische Urteile wahr oder falsch sein können. Dass
es Anschauungen geben muss, die dem menschlichen Geist gegeben werden, wird
von vollständigen Urteilen aus ex post als deren Geltungsbedingung erschlossen.
Es geht nicht darum, das Gegebensein bestimmter Vorstellungen actualiter
nachzuweisen. Es ist es aber legitim, danach zu fragen, ob eine Geltungsbedin-
gung in diesem Modell hinreichend erfüllt sein kann.
(x) Interpreten wie Cohen und Natorp haben versucht, diese Frage mit Blick
auf die Transzendentale Dialektik positiv zu beantworten. Im Lichte dieser In-
terpretation gibt es in der Kritik noch eine dritte Stufe der Konzeption der An-
schauung. Kant sagt dort zum Beispiel: „Uns ist wirklich nichts gegeben, als die
Wahrnehmung und der empirische Fortschritt von dieser zu andern möglichen
Wahrnehmungen.“¹⁵ Das Neue ist der Gedanke eines ‚Fortschritts‘ innerhalb
unserer Anschauungen. Er ergibt sich zum einen, wenn wir von einer Anschauung
und dem zugehörigen singulären Gedanken oder Urteil, und auf deren Grundlage,
zu einer neuen Anschauung und dem zugehörigen Gedanken oder Urteil fort-
schreiten. Ein Fortschritt ergibt sich zum anderen, wenn wir eine empirische
Überzeugung auf der Grundlage konkurrierender Überzeugungen korrigieren; wir
sagen dann, dass die Anschauung, die der ersten Überzeugung korrespondierte,
eine Täuschung war. In beiden Fällen sind nicht nur einzelne Überzeugungen,
Gedanken und Urteile wichtig, sondern auch die externen inferentiellen Bezie-
hungen, die sie zu anderen Überzeugungen, Gedanken und Urteilen im Gesamt-
system unterhalten. Man könnte Kant nun so deuten, dass das hinreichende Indiz
für das Gegebensein von Anschauungen, das an einzelnen Urteilen nicht gefunden
werden konnte, an der Dynamik des Systems unserer Urteile gefunden werden
kann: Die Tatsache der Korrektur unserer empirischen Überzeugungen auf der
Grundlage konkurrierender empirischer Überzeugungen wäre dann ein hinrei-
chendes Indiz dafür, dass sie gegebene Elemente enthalten.¹⁶ Das Problem dabei
ist allerdings, dass das Gegebene auf diese Weise mit einer Eigenschaft unserer
begrifflichen Strukturen identifiziert wird. Das zeigt sich exemplarisch bei Natorp:
„So bleibt ‚Anschauung‘ nicht länger als denkfremder Faktor in der Erkenntnis
dem Denken gegenüber- und entgegenstehend, sondern sie ist Denken.“ Aber
dieses Resultat ist in keiner Weise akzeptabel.¹⁷
(xi) Ob diese Interpretation das Problem des Gegebenen bei Kant lösen kann,
sei dahingestellt. Sie zeigt aber eine charakteristische Tendenz auf, die entsteht,
wenn man das empiristische Schichtenmodell abschaffen und an der Bedingung
des Gegebenen festhalten will. Das Gegebene, das im empiristischen Schichten-
modell mit den Sinnesdaten identisch war, wird nach der Kritik dieses Modells
entweder ungreifbar, oder es wird der Korrekturdynamik des Systems unserer
Gedanken und Urteile und damit einer Eigenschaft unserer begrifflichen Struk-
turen zugeordnet. Diese Schwierigkeiten könnten zu der extremen Reaktion An-
lass geben, das Gegebene als obsoletes empiristisches Relikt zu deuten und es aus
der transzendentalphilosophischen Theorie komplett zu verabschieden. So hat es
Hegel verlangt. Das Theorem des Gegebenen ist nach seiner Auffassung „eine
Ansicht, welche abgelegt zu haben […] Bedingung des Philosophierens ist“.¹⁸
Dieser Auffassung war Kant nicht, und das macht den Unterschied zu Hegel aus.
Am Gegebenen – an Anschauungen, die dem menschlichen Geist gegeben sind
statt von ihm selbst gemacht zu sein – als notwendiger Bedingung empirischer
Urteile hat Kant festgehalten. Indem er zugleich das unplausible und inkonsis-
tente empiristische Schichtenmodell des menschlichen Geistes abgeschafft hat,
entsteht für ihn ein entscheidendes Problem. Anschauungen sind nach der
Theorie des Zusammenspiels von Sinnlichkeit und Verstand immer schon in be-
griffliche Strukturen eingebettet. Das macht es unklar, wie im theoretischen
Rahmen der Kritik überhaupt die Möglichkeit aufgezeigt werden kann, dass und
wie die elementare Bedingung des Gegebenseins unserer Anschauungen erfüllt
ist. Das ist Kants Problem des Gegebenen. Auf es hingewiesen zu haben, war das
Ziel dieser kurzen Bemerkungen. Vorschläge für seine Auflösung zu diskutieren
wäre der Gegenstand eines anderen, ausführlichen Aufsatzes.
Natorp, Paul (1912), „Kant und die Marburger Schule“. In: Kant-Studien 17, 193 – 221, hier: 204.
Hegel, Georg W. F. (1970): Wissenschaft der Logik II. In: Werke in 20 Bänden. Bd. VI . Eva
Moldenhauer/Karl M. Michel (Red.). Frankfurt am Main, 259.
III Die Gegenwart der Metaphysik
Sven Bernecker (Irvine)
On the Metaphysics of Knowledge
There are a number of platitudes concerning the relation between knowledge
and justification, on the one hand, and truth, on the other. One such platitude
is that knowledge is factive, that is, ‘S knows that p’ entails ‘p is true.’ Another
platitude is that knowledge is incompatible with accidentally true belief in gen-
eral and with veritic epistemic luck in particular. If it is a matter of luck that S’s
belief is true, then S doesn’t know that p. This is the point of Gettier cases. Re-
garding the connection between justification and truth it is generally agreed
that it is conceptually possible for one to be justified (rational) in believing
false propositions. This idea is known as fallibilism. S fallibly knows that p if
and only if (i) S knows that p on the basis of some reasons R and yet (ii) S’s belief
that p on the basis of R could have been either false or accidentally true. Despite
widespread acceptance of fallibilism, it is widely agreed that justification is con-
ducive to truth, that is, beliefs are more likely to be true if they are justified than if
they are not justified.
This paper argues for an overlooked dimension in the metaphysical micro-
structure of knowledge. The connection between knowledge and truth is even
deeper than generally acknowledged. Knowledge, I argue, supervenes not only
on a specific (namely modal) relation between the proposition p’s truth and
an agent’s belief that p, but also on specific relations between the proposition’s
truthmaker and the belief’s justification-maker. S knows that p only if the states
of affairs referred to by S’s reasons for believing that p are identical with, causal-
ly related to, or grounded in the states of affairs that make p true.¹
This paper draws on work published in Bernecker, Sven (2011): “Keeping Track of the Gettier
Problem”. In: Pacific Philosophical Quarterly 92, 127– 152.
See Lehrer, Keith (1965): “Knowledge, Truth and Evidence”. In: Analysis 25, 168 – 175.
See Gettier, Edmund (1963): “Is Justified True Belief Knowledge?”. In: Analysis 23, 121– 123.
162 Sven Bernecker
Havit’s Ford. Two agents, Mr. Smith and Mr. Nogot, work in the same office. Nogot has given
Smith evidence that justifies Smith in believing that Nogot owns a Ford. Imagine that Smith
has seen Nogot driving a Ford, Smith has been told by persons who have in the past been
reliable that Nogot owns a Ford, and so on. From this evidence Smith then infers the prop-
osition Someone in the office owns a Ford. The belief that someone in the office owns a Ford
is true. But, unsuspected by Smith, Nogot has lied about owing a Ford and Smith’s belief is
only true because another person in the office, Mr. Havit, owns a Ford. Does Smith know
that someone in the office owns a Ford?
The belief that someone in the office owns a Ford is true. Smith is justified in
believing that someone in the office owns a Ford, at least in senses of ‘justifica-
tion’ that emphasize the internal or subjective: no more can reasonably be ex-
pected of Smith with respect to finding out whether Nogot owns a Ford. More-
over, Smith uses an appropriate method (deduction) for deriving the target
proposition. Notwithstanding that fact, that Smith possesses a justified true be-
lief, we would not want to say that Smith knows that someone in the office owns
a Ford. The reason we would not want to attribute knowledge to Smith is that it
just so happened that someone in the office owns a Ford, but not the person
Smith thinks owns a Ford. It is a matter of sheer luck that Smith arrives at a
true rather than a false belief.⁴
Besides Gettier cases like Havit’s Ford, there are unpossessed-defeater cases.
A paradigm unpossessed-defeater case is Alvin Goldman’s fake barn example:⁵
Fake Barns. Henry is driving in a part of the country where, unbeknownst to him, the in-
habitants have erected a large number of fake barns, i. e., papier-mâché facades looking
like barns from the highway, yet lacking back walls or interiors. From the highway, these
fake barns are indistinguishable from real ones. Looking at what is in fact a real barn,
Henry forms the belief that that is a barn. Does Henry know that that is a barn?
So-called Gettier cases have been known long before Edmund Gettier published his article ‘Is
Justified True Belief Knowledge?’ in 1963. In Indo-Tibetan epistemology, Gettier cases have been
known as early as the 8th century (see Stoltz, Jonathan (2007): “Gettier and Factivity in Indo-Ti-
betan Epistemology”. In: Philosophical Quarterly 57, 394– 415). In Western epistemology, Gettier
cases can already be found in the works of the 15th century logician Peter of Mantua (see Mart-
ens, David B. (2011): “A Late Medieval Dispute about the Conditions for Knowledge”. In: Philo-
sophical Papers 40, 421– 438).
See Goldman, Alvin I. (1976): “Discrimination and Perceptual Knowledge”. In: Journal of Phi-
losophy 73, 771– 791.
On the Metaphysics of Knowledge 163
Although Henry has a justified true belief, it seems to many that he does not
know that it is a barn because he ‘lucks out’ in pointing to a real barn. Since
he randomly chooses a barn to look at, he could have very easily picked another
one that was a fake and end up with a false belief. So what is said to rob Henry of
knowledge is the nearness of the potentially false belief. To know that p there
may not be a close possible world in which one would have the same belief
on the very same basis, but where the belief is false.
Gettier cases and unpossessed-defeater cases have in common that they de-
scribe situations where knowledge is destroyed by epistemic luck. What distin-
guishes these kinds of cases is the specific role played by the lucky occurrence.
In Gettier cases, the lucky occurrence functions beneficially in the sense that if
the lucky occurrence were absent, then (all else being equal) the subject
would not have a justified true belief. The subject would lack the truth or the be-
lief or the justification. Havit’s Ford is like this. If Havit did not happen to own a
Ford, then (all else being equal) Smith’s belief that someone in the office owns a
Ford would be false. In unpossessed-defeater cases, however, the lucky occur-
rence functions as an unseen threat to the subject’s having a justified true belief.
If the lucky occurrence were absent, then (all else being equal) the subject would
not be in any real danger of not having a justified true belief; instead, we would
have a normal case of knowledge. Fake Barns is like this. If there did not happen
to be fake barns in the vicinity, then (all else being equal) Henry would truly and
justifiably believe that what he is looking at is a barn. So with the absence of the
strange occurrence (viz., the fake barns) and with all things being equal, Henry
would have a belief that is true and justified in the normal way. This is why Ste-
phen Hetherington calls unpossessed-defeater cases ‘dangerous’ Gettier cases
and ordinary Gettier cases ‘helpful’ ones.⁶
The distinction between Gettier cases and unpossessed-defeater cases is not
sharp. Bertrand Russell’s famous stopped clock case,⁷ for instance, belongs to
both categories:
Stopped Clock. Suppose Bert looks at what he takes to be a reliable clock, sees that it reads
eight o’clock, and so on that basis believes that it is eight in the morning. It is true, let’s
suppose, that it is eight a.m. Suppose further that the clock is actually broken, but that
it stopped the night before at exactly eight p.m. Does Bert know that it is eight a.m.?
Hertherington, Stephen (2001): Good Knowledge, Bad Knowledge: On Two Dogmas of Episte-
mology. Oxford, 72– 75.
Russell, Bertrand (1948): Human Knowledge: Its Scope and Limits. London, 170.
164 Sven Bernecker
Even though Bert has a justified, true belief about what time it is, we judge that
the subject lacks knowledge. Why? Because the belief, while justified, is true by
virtue of luck alone. Had Bert looked at the stopped clock a few minutes before
or after eight a.m., which could easily have happened, he would have acquired a
false belief.
The Stopped Clock example is both a Gettier case and an unpossessed-de-
feater case. It is a Gettier case because the lucky occurrence (the fact that the
clock stopped twelve hours ago) functions beneficially in the sense that if the
lucky occurrence were absent, Bert would not have a justified true belief. But
the lucky occurrence (the fact that the clock stopped) also functions as an un-
seen threat to Bert’s having a justified true belief.
There is near universal agreement that subjects in Gettier cases do not know.
In the case of unpossessed-defeater cases, however, the situation is less clear.
There is some controversy as to whether subjects in unpossessed-defeater
cases know.⁸ A number of epistemologists judge that Henry (in Fake Barns)
knows that what he is looking at is a barn. Whether or not it is reasonable to at-
tribute knowledge to Henry depends crucially on the specification of his belief-
forming process. If the belief-forming processed employed by Henry is described
as, say, ‘seeing a barn in fake-barn country,’ then his belief is only accidentally
true. But if the belief-forming process is described as, say, ‘seeing a barn in an
area within fake-barn country where there are no fake barns,’ then Henry’s belief
is not only true by virtue of luck alone and it would be reasonable to grant him
knowledge. Since it seems to be entirely up to us how we describe the belief-
forming process employed by Henry, it also seems to be up to us whether or
not we want to grant Henry knowledge. This is known as the ‘generality prob-
lem.’ In light of the generality problem, it is not surprising that a number of epis-
temologists attribute knowledge in unpossessed-defeater cases. In what follows,
I will concern myself only with genuine (or helpful) Gettier cases.
Among those who think that Gettier cases ‘and’ unpossessed-defeater cases are compatible
with knowledge are Hetherington (see Hetherington 2001) and Sartwell (see Sartwell, Crispin
(1991): “Knowledge is Merely True Belief”. In: American Philosophical Quarterly 28, 157– 165).
Heathcote (see Heathcote, Adrian (2006): “Truthmaking and the Gettier Problem”. In: Stephen
Hetherington (ed.): Aspects of Knowing. Amsterdam, 151– 168, especially 166.) and Lycan (see
Lycan, William G. (2006): “On the Gettier Problem Problem”. In: Stephen Hetherington (ed.):
Epistemology Futures. Oxford, 148 – 168, especially 161– 163) share the Gettier intuition, but
claim that unpossessed-defeater cases are compatible with knowledge.
On the Metaphysics of Knowledge 165
offer a response. Right now, however, my point is that, regardless of how the re-
lation sketched by the identificationist reading of the Gettier problem is spelled
out, it is (or can be) distinct from the relation sketched by the covariationist read-
ing. The latter relation is one of truth-values across a range of possible worlds;
the former is one of identification in the actual world.
I focus on Gettier cases as opposed to unpossessed-defeater cases because
the identificationist reading does not apply to the latter. Henry who drives
through fake-barn country and happens to look at a real barn does not misiden-
tify the state of affairs that renders his belief true. Henry’s reason for believing
that something is a barn (viz., that it looks like a barn) is suitably connected
to its truth-maker (viz., that it is a barn). So the identificationist reading of the
Gettier problem does not apply to unpossessed-defeater cases. Unpossessed-de-
feater cases are examples of covariationist Gettierization without identification-
ist Gettierization. What I intend to show in this paper, among other things, is that
the converse is possible as well. There are cases of identificationist Gettierization
without covariationist Gettierization.
The epistemic defect referred to by the identificationist reading is usually the
reason for the epistemic defect referred to by the covariationist reading. When the
belief in p fails to counterfactually covary with the truth of p, this is usually because
the subject misidentifies p’s truth-maker. Yet, it is possible that the defect referred to
by the identificationist reading is present while the defect referred to by the covaria-
tionist reading is absent. Since the epistemic defects identified by the two readings
of the Gettier problem can come apart, a theory of knowledge may work for Gettier
cases due to covariation-failure but not for Gettier cases due to identification-failure.
Tracking accounts of knowledge are a case in point.
III Truth-Tracking
Given the orthodox covariationist reading of the Gettier problem, the obvious
way of blocking the Gettierization process is to rule out possible situations in
which the agent has the same belief as in the actual situation but in which
the belief either goes wrong or gets defeated. This is precisely the strategy adopt-
ed by truth-tracking accounts of knowledge. Truth-tracking comes in different
flavors: the sensitivity/variation condition, the adherence condition, and the safety
condition. While a number of objections have been raised for each of these con-
ditions, the general idea of truth-tracking is widely accepted. Let’s start with sen-
sitivity.
On the Metaphysics of Knowledge 167
has hands) in virtue of possessing a sensitive belief in these propositions, know that
they entail the denials of skeptical hypotheses (like the brain-in-a-vat hypothesis),
and yet fail to know the denials of skeptical hypotheses, in virtue of lacking a sen-
sitive belief in these propositions. For in the nearest possible worlds, in which a
skeptical hypothesis is true, one continues to believe that one is not the victim of
this hypothesis. Those who want to hold on to the closure principle, while accepting
the basic insight of truth tracking, have replaced the sensitivity condition with its
contrapositive – the safety condition. The safety condition reads: S would believe
that p only if p were true (Bp □→ p).¹³
The safety condition handles Gettier cases in essentially the same way as the
sensitivity condition. Each condition excludes a range of close possible worlds,
in which the agent forms his belief in the same way as he does in the actual
world, but forms a false belief instead of a true one. Thus, given the standard
covariationist diagnosis of Gettier cases, the tracking account eliminates all Get-
tier cases.
one’s belief in p is sensitive but one’s belief in q is not. The problem, however, is applying the
sensitivity condition to the belief in the entailment. The counterfactual conditional ‘if it were not
the case that p entails q, one would not believe that p entails q’ is vacuously true. To avoid hav-
ing to attribute vacuous knowledge whenever someone believes in a necessary truth, the sensi-
tivity condition is applied only to contingent truths. But if beliefs in necessary truths do not meet
the sensitivity condition, the argument for the non-closure of sensitivity crumbles.
Among the proponents of a safety-based account of knowledge are Pritchard (see Pritchard,
Duncan (2005): Epistemic Luck. Oxford, 161– 73), Sosa (see Sosa 1999 and Sosa, Ernest (2000):
“Skepticism and Contextualism”. In: Philosophical Issues 10, 1– 18) and Williamson (see William-
son 2000, 123 – 128).
On the Metaphysics of Knowledge 169
Prime Lie: Nogot has given Peter evidence that justifies Peter in believing that Nogot owns a
Ford. Imagine that Peter has seen Nogot driving a Ford, Peter has been told by persons who
have in the past been reliable that Nogot owns a Ford, and so on. Using disjunction-intro-
duction Peter forms the belief that Nogot owns a Ford or the 100th prime number is 541.
Peter has plenty of evidence for the first disjunct, but only the second disjunct is true
and Peter has no evidence that it is true. He has simply guessed that the 100th prime num-
ber is 541. Does Peter know ‘Nogot owns a Ford or the 100th prime number is 541?’
Peter’s belief that Nogot owns a Ford or the 100th prime number is 541 is true in
all possible worlds. But just because Peter’s belief cannot be false does not mean
that it is automatically knowledge. Since one can believe necessary truth on the
basis of silly reasons, counterfactual dependence is not the appropriate way to
handle Gettier cases for necessary truths. What then ‘is’ the reason for Peter
not knowing that Nogot owns a Ford or the 100th prime number is 541? In my
view, Peter does not know it, because the fact that makes the disjunctive prop-
ositions true – a necessary fact as it happens – is not properly linked to his rea-
sons for holding it true. Peter’s reason for holding the disjunction true is not suit-
ably related to (and in this case is totally independent from) the features that
render it justified. The belief is supported by the wrong kind of reasons.
Although the story of Prime Lie shows that safety-based and sensitivity-
based accounts of knowledge have problems excluding certain kinds of Gettier
cases, it is not prudent to rest the case for identificationism solely on this coun-
terexample. First, safety-based and sensitivity-based accounts of knowledge are
not designed to handle necessarily true and necessarily false propositions. It is
common to restrict the scope of safety and sensitivity to contingent proposi-
tions.¹⁴ Second, tracking theorists can sidestep counterexamples such as Prime
Lie by asserting that safety or sensitivity, respectively, are only necessary for
knowledge, but not sufficient. The reason a belief in a necessary truth may
not qualify as knowledge is that it fails to meet some other necessary knowledge
Necessary truths are not the only truths to cause problems for truth-tracking accounts of
knowledge. Contingent truths whose negations are nomologically impossible are just as prob-
lematic. Truth-tracking needs to be restricted to fully contingent propositions, that is, proposi-
tions that are neither logically, nor nomologically, nor metaphysically necessary.
170 Sven Bernecker
Leaving Barcelona: Nogot has given Paul evidence that justifies Paul in believing that Nogot
owns a Ford. Imagine that Paul has seen Nogot driving a Ford, Paul has been told by per-
sons who have in the past been reliable that Nogot owns a Ford, and so on. Using disjunc-
tion introduction Paul forms the belief that Nogot owns a Ford or Brown is in Barcelona.
Paul has plenty of evidence for the first disjunct, but only the second disjunct is true
and Paul has no evidence that it is true. He has simply guessed the whereabouts of
Brown. But let’s further assume that it is no mere accident that Brown is in Barcelona.
Brown is so constituted (psychologically, financially, and otherwise) that it is extremely un-
likely that he would ever leave Barcelona. Thus, Paul’s belief to the effect that either Nogot
owns a Ford or Brown is in Barcelona is true in nearly all (if not all) close possible worlds.
Does Paul know Nogot owns a Ford or Brown is in Barcelona?
Intuitively Paul fails to have knowledge, despite having a contingently true belief
that meets the safety version of the tracking condition: he would believe that
Nogot owns a Ford or Brown is in Barcelona only if it were true, for Brown is
in Barcelona is true in each and every of the close possible worlds. Identification-
ism, on the other hand, offers a compelling explanation of why Paul does not
know. The reason Paul fails to know that Nogot owns a Ford or Brown is in Bar-
Cf. Sosa.
Cf. Nozick 1981.
This objection crucially depends on particular states of affairs not being able to act as truth-
makers for necessary truths. But why should we not say that, for instance, the necessary truth p
∨ ~p is made true by either some particular state of affairs, making p true, or by some particular
state of affairs making ~p true?
This example is adapted from Hiller, Avram/Neta, Ram (2007): “Safety and Epistemic Luck”.
In: Synthese 158, 303 – 313, here: 307– 8.
On the Metaphysics of Knowledge 171
celona is that his reflectively accessible grounds for believing this proposition
misidentify its truth-maker.
Proponents of the safety condition and the sensitivity condition hold that for
a safe or sensitive belief to qualify as knowledge, it must stem from a reliable
method of belief-formation. There are at least two ways of conceiving of reliable
methods:
(a) Reliable method for believing that p: if the method yields the belief that p in close pos-
sible worlds, p is true.
(b) Reliable method for believing that p: if the method is applied under relevantly similar
conditions in close possible worlds, it yields only true beliefs.
Definition (b) is clearly more demanding than definition (a). Definition (a) re-
quires only that the belief that p may not be false if it is formed on the basis
of the same process or method in a close possible world. Definition (b) requires
that a reliable method yields no false beliefs in close possible worlds. The liberal
definition (a) is endorsed by Nozick and Pritchard; the stringent definition (b) is
endorsed by Goldman, Sainsbury and Sosa.
The advantage of definition (b) is obvious: it allows proponents of the safety
condition to account for our intuition that the protagonists in Prime Lie and
Leaving Barcelona do not know; they do not know because they fail to satisfy
the safety condition. The safety condition is not satisfied because the belief-for-
mation method employed in both cases – guessing – could have easily generated
false beliefs. In Prime Lie, Peter simply guesses that 541 is the 100th prime num-
ber. And in Leaving Barcelona, Paul guesses that Brown is in Barcelona.
Given that (b) allows the proponent of truth-tracking theories to eliminate
so-called ‘intractable’ Gettier cases, what – if anything – prevents him from
adopting this account of reliable belief-forming methods? The problem with
(b) is that it is too stringent. If knowledge requires that one employs belief-form-
ing methods that yield no false beliefs in close possible worlds, then hardly any
of the belief-forming methods used in everyday life are reliable and hence knowl-
edge becomes a very rare commodity indeed.
Double Trouble: Two independently operating snipers aim with the same kind of gun at one
and the same spy. The bullet from sniper A arrives first and kills the spy by piercing his
heart. The bullet from sniper B arrives a split-second thereafter, and would have been suf-
ficient for killing the spy in the same manner, only the spy was already dead. Since the bul-
let of sniper B hits the spy’s body with the same speed, at the same angle, and in the same
place as the bullet of sniper A, the bullet of sniper B does not cause any additional damage
to the spy’s body. Both bullets travel through the spy’s body (creating an exit wound), fall
through the slits of a manhole cover, and disappear. The investigating sheriff is aware of
sniper B, but ignorant of the existence of sniper A. The evidence the sheriff gathers justifies
him in believing that the spy died due to a bullet from sniper B. On the basis of this evi-
dence, the sheriff infers the true proposition The spy died due to a sniper’s bullet. Does
the sheriff know what he justifiably and truly believes?
quired that the epistemic reasons identify the circumstances that underlie the
belief’s truth.
I disagree. If truth-conduciveness were the sole function of epistemic rea-
sons, as suggested by the objection at hand, the original Gettier case would
turn out to be nothing but a pseudo-problem. There would be no sense in
which Smith (in Havit’s Ford) is in the least bit justified in believing that some-
one in the office owns a Ford. The reason is that Smith’s evidence for holding the
belief true is not at all connected to its truth. But if Smith is not justified in be-
lieving what he believes, then the example fails to show that justified true belief
is insufficient for knowledge. Unless there is more to justification than truth-con-
duciveness, Havit’s Ford does not show what it is supposed to show: that the jus-
tified-true-belief analysis of knowledge is insufficient. According to identifica-
tionism, knowledge not only requires the belief that p, the truth of p, and the
evidence E for believing p to covary in close possible worlds; the evidence E
must also identify the features accounting for the truth of p. To qualify as knowl-
edge, a belief must track the facts for the right reasons.
Yet, another way for proponents of the tracking-account of knowledge to re-
spond to the case of Double Trouble is to resort to Nozick’s adherence condition
(p □→ Bp). In fact, adherence can handle all of the so-called ‘intractable’ Gettier
cases. Consider Prime Lie. Peter’s belief that Nogot owns a Ford or 541 is the 100th
prime number is not adherent, for in one of the worlds closest to actuality in
which the disjunction is true, Peter has no misleading evidence that Nogot
owns a Ford, so does not believe that Nogot owns a Ford, and hence does not
infer the disjunction. In Leaving Barcelona, Paul’s belief that Nogot owns a
Ford or Brown is in Barcelona also fails to meet the adherence condition. In a
close possible world, in which Paul does not get the misleading evidence where-
upon Nogot owns a Ford, he does not endorse the disjunctive proposition that
Nogot owns a Ford or Brown is in Barcelona, even though the proposition is
still true. And in Double Trouble the adherence condition is also violated.
There is a close possible world in which the spy dies due to a sniper’s bullet
(namely sniper A’s bullet) without the sheriff believing it (because there is no
evidence of sniper B having fired a shot).
Even though adherence excludes ‘intractable’ Gettier cases, proponents of
the truth-tracking account of knowledge would be ill-advised to make use of ad-
herence. Adherence may be sufficient for knowledge, but it is not necessary. To
see this, consider a doorbell with a short circuit. Whenever the doorbell rings in-
side the house, someone is outside pressing the button. But sometimes pressing
the button does not result in the bell ringing. Given this scenario, whenever the
bell rings, you know that someone is at the door. But when the bell does not ring,
you cannot be sure whether someone is at the door. Now the question is wheth-
174 Sven Bernecker
er, by hearing the bell ring, you can come to know that there is someone at the
door. Since the adherence condition is not fulfilled, Nozick seems to be commit-
ted to answer in the negative. Intuitively, however, you know that someone is at
the door when the bell rings. Thus, knowledge is not adherent. So adding adher-
ence to our knowledge conditions means excluding ‘intractable’ Gettier cases,
but it also means excluding genuine cases of knowledge.
VI False Evidence
Some of the earliest attempts to explain the difference between knowledge and
justified true belief emphasize the role that falsehoods play in yielding cases of
justified true belief that are not knowledge. It was suggested that Gettier cases
can be ruled out by stipulating that one belief can justify another only if it is
true. Thus, in Havit’s Ford, Smith is justified in believing that Nogot owns a
Ford. However, Smith is not justified in believing that someone in the office
owns a Ford. This is because the epistemic justification for the latter belief is
grounded on the former belief which is false.¹⁹
Even though the original no-false-premise approach was soon shown to be
both too strong and too weak, a number of epistemologists continue to think that
knowledge must not rest on any essential false assumptions/presuppositions/
implicit beliefs. On this view, knowledge can be based on evidence and back-
ground assumptions, some of which are false, so long as no essential element
of the reasoning is false. Any false evidence and assumption on which the jus-
tification rests must be dispensable. An assumption E is essential for S to be jus-
tified in believing p on the basis of another belief q if and only if: S is justified in
believing p on the basis of q only if S believes E. ²⁰
VII Identificationism
Knowledge requires an adequate connection between the state of believing that
p on the basis of reasons and the truth-maker for p. But what kind of connection?
The mistake of the truth-tracking account of knowledge, as we saw, is to suppose
that the adequacy of epistemic reasons can be specified purely in terms of truth-
covariation, and that one need not take into consideration the content of p vis-à-
vis the subject’s reasons. How should truth-tracking theories be complemented
so as to rule out Gettier cases due to identification-failure?
Prima facie one might be tempted to demand that the reason-providing be-
lief stands in a semantic relation to the target belief. However, the problem with
this proposal is that in Gettier cases such a semantic relation is indeed in place.
176 Sven Bernecker
In Havit’s Ford, for example, there is a semantic relationship between the reason-
providing belief that Nogot owns a Ford and the target belief that someone in the
office owns a Ford. This semantic relation is known as hyponymy.
Alternatively, one could try to supplement the truth-tracking account of
knowledge by demanding that the reason-providing belief stands in an explan-
atory relation to the target belief. Given this proposal, it must be possible to ex-
plain the likely truth of the target belief on the basis of the assumed truth of the
reason-providing belief. Despite its intuitive appeal, this proposal may turn out
to be circular. At least sometimes, the notion of explanation already presupposes
the notion of knowledge: to explain something is to lay out the conditions in vir-
tue of which the subject knows. Given this kind of explanation, it is circular to
explicate the notion of knowledge in virtue of the notion of explanation. More-
over, since explanations are context-sensitive there is the worry that even in Get-
tier cases there is a context in which the justification-maker and the truthmaker
are explanatorily connected. In other words, the worry is that the explanatory
approach to knowledge is not in a position to discriminate good cases of knowl-
edge from Gettierized ones.
The knowledge-constituting connection between the state of justified believ-
ing and the truthmaker for the proposition believed is neither of a semantic nor
of an explanatory kind but metaphysical in nature. According to identification-
ism, S knows that p on the basis of reasons R only if (i) p is true, (ii) S believes
that p, (iii) S tracks the facts that make p true (by satisfying the sensitivity or
safety condition), and (iv) S’s reasons R for believing p identify p’s truthmaker.
S’s reasons R for believing p identify p’s truthmaker if and only if R refer to states
of affairs that are identical to, causally related to, or grounded in, the states of
affairs that make p true.
The most straightforward cases of knowledge are those in which the episte-
mic reasons for believing p represent p’s truthmaker itself. But there are also
cases of knowledge in which the connection between the epistemic reasons
and the truthmaker is less direct. For example, I am justified in believing, on
the basis of testimony, that there are kangaroos in Australia, because I have pos-
itive evidence in favor of the truthworthiness of the attester. Yet, the states of af-
fairs that speak in favor of the attester being trustworthy are disjoint from the
states of affairs that make the proposition true. This suggests that the satisfaction
of the justification condition need not be identical with the satisfaction of the
truth condition. The connection between reasons and truthmaker may be that
of causation or grounding.
Note that identificationism does not require that the truthmaker be the cause
of the states of affairs referred to by the subject’s epistemic reasons. This would
make it impossible to know future events. Identificationism requires only that
On the Metaphysics of Knowledge 177
For pluralism about truthmaking see Griffith, Aaron M. (2013): Ways of Truthmaking: A Plu-
ralist Theory of Truthmaking. Dissertation. Irvine.
BonJour, Laurence (1985): The Structure of Empirical Knowledge. Cambridge, 42.
Pritchard 2005, 43.
On the Metaphysics of Knowledge 179
ble does not know that the spy died due to a sniper’s bullet is that the sheriff’s
evidence points to sniper B, but it is the presence of sniper A that makes the be-
lief true. Since sniper A and sniper B operate independently from one another,
there is no adequate connection between the justification-maker and the truth-
maker. If the case were changed so that sniper B fires a shot if and only if sniper
A has fired a shot, the epistemic assessment of the situation would be different.
Since now there is a causal relation between the justification-maker and the
truthmaker, the sheriff gets to know that the spy died due to a sniper’s bullet.
VIII Conclusion
If the only goal of an epistemological theory were to come up with a condition
that rules out all kinds of Gettier cases, there would be no need to look beyond
the no-essential-false-assumption approach to knowledge (provided there is a
satisfactory account of what it is for a false assumption to be essential). The
no-essential-false-assumption approach is sufficient to rule out both ordinary
and ‘intractable’ Gettier cases. But given that we are in the business of develop-
ing theories of knowledge, we cannot content ourselves with claiming that what
it means for epistemic reasons to be truth-conducive is that they are true. As was
explained before, the no-essential-false-assumption approach gets things back-
wards: evidence is a guide to (non-accidental) truth rather than truth being a re-
quirement for evidence. Identificationism is as good as the no-essential-false-as-
sumption approach in ruling out Gettier cases but, in addition, it sheds light on
the nature of knowledge: S knows that p on the basis of reasons R only if (i) p is
true, (ii) S believes that p, (iii) the belief in p, the truth of p, and the reasons R for
Bp covary in close possible worlds, and (iv) the states of affairs referred to by S’s
reasons R for believing that p are identical with, causally related to, or grounded
in, p’s truthmaker.²⁷
For helpful comments on an earlier draft of this paper I am grateful to Forrest Fleming and
Joachim Horvath.
Joachim Horvath (Köln)
Taking the Metaphysics of Knowledge
Seriously
A Response to the Paper of Sven Bernecker
See also Bernecker, Sven (2011): “Keeping Track of the Gettier Problem”. In: Pacific Philo-
sophical Quarterly 92, 127– 152.
Cf. Goldman, Alvin (1976): “Discrimination and Perceptual Knowledge”. In: The Journal of Phi-
losophy 73, 771– 791.
Cf. Nozick, Robert (1981): Philosophical Explanations. Cambridge, Mass.; Sosa, Ernest (1999):
“How to Defeat Opposition to Moore”. In: Noûs 33, 141– 153; Pritchard, Duncan (2005): Epistemic
Luck. Oxford.
Cf. Horvath, Joachim (2008): “Testimony, Transmission, and Safety”. In: Abstracta 4, 27– 43.
Cf. Sainsbury, R. M. (1997): “Easy Possibilities”. In: Philosophy and Phenomenological Re-
search 57, 907– 920; Sosa (1999).
182 Joachim Horvath
that p represent some fact(s) that are identical with, or grounded in, or causally re-
lated to the truthmaker of p. For example, if Peter happens to believe the necessary
proposition the 100th prime number is 541 based on the testimony of his guru, then
Peter’s belief trivially tracks the truth that the 100th prime number is 541. But it
seems clear that Peter’s reason for holding this belief – that his guru said so –
does not identify the truthmaker of the proposition the 100th prime number is
541. For neither is the guru’s testimony causally related to the abstract mathematical
fact that the 100th prime number is 541, nor does Peter’s reason – that his guru said
so – represent anything that might plausibly be regarded as a truthmaker, or as
something that is grounded in the truthmaker, of the proposition the 100th prime
number is 541. Thus, identificationism does not count Peter’s guru-inspired true be-
lief as knowledge.⁶ In this way, Bernecker (this volume) tries to accommodate all in-
tractable Gettier cases with his identificationist condition, which therefore seems
prima facie well motivated from an epistemological point of view.
In this paper, I will not directly address the epistemological adequacy of Ber-
necker’s identificationism. Rather, I want to focus on the substantial metaphys-
ical commitments that it incurs, in particular on the problematic idea that our
epistemic reasons identify the truthmaker of our respective belief when we
know something. My conclusion will be that being a truthmaker for p is meta-
physically more demanding than being an epistemic reason for p. A truthmaker
for p must necessitate the truth of p, while an epistemic reason for p must merely
indicate the truth of p. Thus, we should not expect that epistemic reasons identify
the truthmakers of our knowledge-constituting beliefs in the way that Bernecker
suggests.
To make the following discussion more precise, let me first state the com-
plete identificationist account of knowledge:⁷
Even though this verdict is correct in the case at hand, it might be a problem in many good
cases of testimonial belief-acquisition. Suppose that Peter learns that the 100th prime number is
541 on the basis of the testimony of a world-leading expert on prime numbers. Intuitively, this
should count as a case of knowledge, but Bernecker’s identificationist condition seems to
give us the wrong verdict here.
Cf. Bernecker’s article in this volume.
Taking the Metaphysics of Knowledge Seriously 183
Let me begin with a little metaphysical quibble. Subcondition (ii) of (IC) commits
identificationism to the claim that facts or states of affairs can be the relata of causal
relations. But the standard view in the metaphysics of causation is that the relata of
causal relations are events.⁹ Therefore, identificationism is apparently committed to
a non-standard view about the relata of causation. Since the main motivation for
identificationism is epistemological, such a non-standard metaphysical commit-
ment would seem to require an explicit metaphysical defense, which Bernecker
does not provide. But maybe this is only a technical problem, and I suspect that
there must be a way to adjust the identificationist condition accordingly. However,
there is a deeper worry here. It seems that the answer to the following two distinct
metaphysical questions must be compatible from an identificationist point of view:
what are the relata of causation, and what are the relata of the truthmaking relation?
For otherwise, it might easily turn out that subcondition (ii) of the identificationist
condition (IC) is impossible to satisfy.
I now want to turn to a more pressing problem that concerns the metaphy-
sics of truthmaking. The basic idea of truthmaker theory is that truthmakers ne-
cessitate the truth of the propositions that they make true. Thus, a proposition p
cannot fail to be true when there is a truthmaker for it.¹⁰ For example, when it is
a fact that Bonn lies on the Rhine, the proposition Bonn lies on the Rhine cannot
fail to be true.
However, truthmaking is not always that straightforward. For example, con-
sider the proposition there are elephants. It might be tempting to say that this
proposition is made true by the fact that there are elephants, in complete anal-
ogy to the case of Bonn lies on the Rhine. But first, it is not clear whether we
should accept the existence of general facts, such as the fact that there are ele-
phants. And second, there are already enough particular facts that could serve as
a truthmaker for the proposition there are elephants, such as the fact that a par-
ticular elephant, Marlar, lives at the Cologne Zoo. In accordance with the basic
idea of truthmaker theory, the proposition there are elephants cannot fail to be
true when it is a fact that Marlar lives at the Cologne Zoo. And the same holds
for numerous further facts about Marlar and other elephants. It is therefore a
common view in the truthmaker debate that every particular fact about ele-
phants is a truthmaker for the general proposition there are elephants.¹¹
Now suppose that you know that there are elephants based on your percep-
tual awareness of Marlar when you visit the Cologne Zoo. Your perceptual reason
then identifies one of the truthmakers of the proposition there are elephants, for
example the particular fact that Marlar is taking a bath. But your perceptual rea-
son clearly does not identify the truthmaker of that proposition, because there
are many truthmakers for that proposition, namely all the particular facts
about elephants. And these particular facts about elephants, such as the fact
that Marlar is taking a bath, are also not mutually grounded in each other – if
only because grounding is an asymmetrical relation (see below). For these rea-
sons, the identificationist condition d) seems to rule out that you can know
that there are elephants based on your perceptual awareness of Marlar, and
the same holds for many other ordinary cases of existential knowledge.
One might argue that this problem for identificationism is just another tech-
nicality that can easily be avoided by the following slight modification of (IC):
Fair enough. But the present problem still shows that one cannot even formulate
identificationism correctly without paying close attention to the details of the
metaphysics of truthmaking. In a way, that was just a metaphysical warm-up ex-
ercise, for the following problem cannot be dealt with so easily.
Consider the proposition there are no witches. Since Russell’s famous rejection
of negative facts,¹² only very few philosophers were willing to embrace their exis-
tence.¹³ For this reason, it is one of the standard views about the truthmakers of neg-
ative propositions that they are made true by the totality of all positive facts plus a
“that’s all”-fact.¹⁴ So, when the totality of all positive facts does not contain any facts
about witches, and the “that’s all”-fact ensures that these are all the facts there are,
then the proposition there are no witches cannot fail to be true. In the following, I
will simply assume that this view about the truthmakers of negative propositions is
correct.
Let us also assume, plausibly enough, that we know that there are no
witches. How do we know that there are no witches, that is, what are the reasons
that we typically have for believing this proposition? It is probably some fairly
complicated combination of perceptual observation, historical information,
and scientific knowledge. But no matter how complex and comprehensive our
reasons for denying the existence of witches may be, they surely do not (iw) rep-
resent the truthmaker of the proposition there are no witches, for they clearly fall
short of representing the totality of all facts. And they also need not identify
something that is grounded in the totality of all facts, in particular when our rea-
sons represent certain metaphysically fundamental facts that are not grounded
in anything else, e. g. facts about the laws of nature. And our reasons also do
not (iiw) represent any facts that are causally related to the totality of all facts.
But that seems to make knowledge of negative propositions impossible on the
identificationist view, at least for finite beings like us.
Let me briefly argue for (iw) and (iiw), i. e., for the claim that identification-
ism, given our assumptions, rules out that we can have knowledge of negative
propositions like there are no witches.
The first part of subclaim (iw) is more or less obvious, because as finite be-
ings we simply cannot represent the totality of all facts, which would include
facts about the distant past or facts about events that lie outside our light
cone. But what about the second part of subclaim (iw), i. e., the claim that our
reasons for believing that there are no witches represent facts that are grounded
in the totality of facts? We may distinguish between a liberal and a strict concep-
tion of facts here. On a liberal conception, every true positive proposition would
correspond to a fact. Then, all of the facts that our reasons represent would ac-
tually be included in the totality of facts. But since grounding is an asymmetrical
But see e. g. Beall, JC (2000): “On Truthmakers for Negative Truths”. In: Australasian Journal
of Philosophy 78, 264– 268.
Cf. Armstrong, David (1997): A World of States of Affairs. Cambridge.
186 Joachim Horvath
degger, aber auch von Bergson, Deleuze, Cavell und David Lewis inspiriert ist.
Dafür gibt es viele Motive in der jüngsten Philosophiegeschichte. Die erfreulichste
Nachricht ist, dass die Differenz von analytischer und aller anderen Philosophie
damit sachlich endgültig hinfällig geworden ist,was man nicht zuletzt daran sieht,
dass analytische Ontologen, die etwas auf sich halten, Heidegger zitieren, wäh-
rend alle anderen, die man nicht ohne weiteres einfach als ‚analytisch‘ klassifi-
zieren würde, genau das praktizieren, was man für eine analytische Tugend halten
dürfte, nämlich: Argumentieren, um durch rationale Beweisführung neue Wahr-
heiten zu entdecken.
Das neue Bedürfnis nach Metaphysik ist deshalb erfrischend universalistisch
und es drückt sich in dem Optimismus aus, dass wir trotz verschiedener Spielarten
eines Neukantianismus am Ende doch ‚die absoluten Gegenstände erkennen‘
können,wie Hegel ‚Spekulation‘ definiert hat.³ Dies ist meines Erachtens zwar sehr
viel leichter, als Hegel glaubte, doch auch dies sei hier dahingestellt. Für meine
Zwecke reicht dieser ‚Trailer‘ mit ein paar Höhepunkten der neueren Philoso-
phiegeschichte hin, um ein wenig das Territorium zu markieren, auf dem sich
meine folgenden Überlegungen bewegen werden.
Kommen wir also zur Sache selbst, was bedeutet, dass wir zunächst einmal
einige Begriffe klären müssen. Unter ‚Metaphysik‘ kann man vieles verstehen,
wobei ich insbesondere drei Metaphysikbegriffe unterscheide, von denen ich den
ersten für primär halte:
1. Metaphysik ist primär das Projekt, die Welt als Welt zu untersuchen. Die
Metaphysik ist demnach eine Theorie der unrestringierten Totalität. Es geht
ihr um das Ganze und damit irgendwie um Alles, mindestens um alles in
seinen kategorialen Grundzügen.
2. Die Metaphysik entwickelt die Theorie einer großflächigen Unterscheidung
von Sein und Schein.
3. Die Metaphysik behauptet, dass die Physik ontologisch, d. h. jedenfalls nicht
in allen Existenzfragen, das letzte Wort hat bzw. nicht einmal Wortführerin ist.
Gegen 1. und 2. habe ich Einwände, von denen ich einige im Folgenden skizzieren
werde. Metaphysik im Sinn von 3. betreibe ich selber, spreche dann aber nicht von
‚Metaphysik‘, sondern von ‚Ontologie‛, genauer von ‚ontologischem Pluralismus‛.
„Das Nachdenken […] ist das eigentlich philosophische, das spekulative Denken. […] Dieses
Denken der philosophischen Erkenntnisweise bedarf es selbst, sowohl seiner Notwendigkeit nach
gefaßt wie auch seiner Fähigkeit nach, die absoluten Gegenstände zu erkennen, gerechtfertigt zu
werden.“ Hegel, Georg W. F. (1989): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grund-
risse 1830. Bd. 1, Frankfurt am Main ², 52– 3.
Der neue ontologische Realismus 191
Für eine ausführliche Darstellung der hier skizzierten Position vgl. Gabriel, Markus (2015): Sinn
und Existenz. Eine realistische Ontologie. Berlin. Vgl. auch Gabriel, Markus (2014): „Existenz,
realistisch gedacht“. In: Markus Gabriel. (Hrsg.): Der Neue Realismus. Berlin, 171– 199; Gabriel,
Markus (2014): „Neutraler Realismus“. In: Philosophisches Jahrbuch 121. Nr. II, S. 352– 372.
192 Markus Gabriel
schen Realismus‘ klassifiziert, wobei unsere Positionen allerdings nur dies ge-
meinsam haben, dass wir der Meinung sind, dass einige ontologische Begriffe auf
modal robuste Tatsachen referieren, was ein schmaler Konsens ist.⁵ Insbesondere
glaube ich, dass Sider die Distinktion von ontischen und ontologischen Theorien
sträflich vernachlässigt. Eine ‚ontische Theorie‘ spricht über erststufige Gegen-
stände, während eine ‚ontologische Theorie‘ über höherstufige Gegenstände
spricht, d. h. über Gegenstände, die andere Gegenstände umfassen oder unter sich
begreifen. Höherstufige Gegenstände sind etwa Begriffe, aber auch Mengen und
eben Gegenstandsbereiche. Sider verortet Quantoren auf derselben logischen
Ebene wie Elementarteilchen (er rechnet sie zur Welt), was ich für falsch halte.
Letztlich verwechselt er Metaphysik und Ontologie im Sinne der hier vertretenen
Distinktion. Denn Sider hält die Analyse der Bedeutung des Existenzquantors für
die Entdeckung der fundamentalen Struktur der Welt, was er ‚das Buch der Welt
schreiben‘ nennt. Er glaubt also an Wittgensteins ‚Buch der Welt‘, bei dem es sich
um eine singuläre Totalität handelt, und meint, die Ontologie verschaffe uns als
solche Zugang zum Text des Buches der Welt.
Nähern wir uns meinen Thesen durch die Erläuterung weiterer zentraler Be-
griffe. An erster Stelle müssen wir über ,Existenz‘ sprechen. Existenz ist eine Ei-
genschaft. Eigenschaften unterscheiden einiges von anderem. Die Frage ist, was
Existenz unterscheidet. Ich bin der Meinung, dass die mit Kant und Frege asso-
ziierte These, Existenz sei jedenfalls keine Eigenschaft von Gegenständen, es
handele sich bei Existenz um ‚kein reales Prädikat‘, sondern um etwas Höher-
stufiges, sich folgendermaßen motivieren lässt. Nennen wir eine ‚eigentliche Ei-
genschaft‘ vorläufig eine Eigenschaft, die einige Gegenstände in der Welt von
einigen anderen unterscheidet, und verstehen wir unter ‚Welt‘ vorläufig irgendwie
ein großes Ganzes, den Bereich, in dem irgendwie alles vorkommt, von Zahn-
schmerzen über den Erdmond bis hin zu brasilianischen Telenovelas und US-
amerikanischen Bundesstaaten.⁶ Beispiele für eigentliche Eigenschaften sind:
Ein-rotes-Dreieck-Sein, Ein-Bundesstaat-Sein, Ein-Mauerblümchen-Sein usw. Ei-
gentliche Eigenschaften führen dazu, dass einige Gegenstände mit anderen
Vgl. Sider, Theodore (2011): Writing the Book of the World. Oxford; Sider, Theodore (2009):
„Ontological Realism“. In: David Chalmers/David Manley/Ryan Wasserman (Hrsg.): Metameta-
physics. New Essays in the Foundations of Ontology. New York, 384– 423.
Ich spreche hier insofern nicht in eigener Sache, sondern ‚vorläufig‘, als ich lediglich versuche,
die Grundidee Kants und Freges zu motivieren, wofür der Weltbegriff zentral ist. Da ich selbst nicht
glaube, dass der Weltbegriff die Funktion erfüllen kann, als allumfassender Bereich durch ei-
gentliche Eigenschaften binnendifferenziert zu werden, müssen auch die Argumente für die
These, Existenz sei kein reales Prädikat, entsprechend modifiziert werden. Vgl. dazu ausführlich
Gabriel (2015): Sinn und Existenz.
Der neue ontologische Realismus 193
reich‘, der mit dem Begriff eigentlicher Eigenschaften kontrastiert, und ‚Existenz
tout court‘. Der nicht-leere Bereich kann nun nicht in sich selbst existieren, je-
denfalls dann nicht, wenn wir ihn als das Feld möglicher Erfahrung definieren.
Denn dieses Feld ist selbst kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Kants Welt
kommt in Kants Welt nicht vor.
Der ontologische Monismus unterscheidet zwei Ebenen, die Ebene der Ge-
genstände, die existieren, weil sie im singulären Bereich vorkommen, und den
Bereich selbst. Beide müssen existieren, damit überhaupt etwas existieren kann.
Der singuläre Bereich kann nicht in sich selbst existieren, folglich bricht der
Existenzbegriff auseinander in Existenz als höherstufige Eigenschaft des Bereichs,
nicht-leer zu sein, und sein eigenes Existieren, und schon fühlt man sich be-
rechtigt, Dinge zu sagen wie: „Die Welt weltet“¹¹, denn existieren kann sie nicht.
Anstatt also ‚Existenz‘ zu definieren, unterscheidet der ontologische Monis-
mus zwei Existenzbegriffe. Damit handelt es sich aber paradoxerweise bereits um
einen ontologischen Dualismus, sprich um die Behauptung, dass ‚Existenz‘ sich
auf zwei verschiedene Gegenstände bezieht, die wir ‚Existenz-In‘ und ‚Existenz-
Tout-Court‘ nennen können. Dieser Dualismus hat die nachkantischen Idealisten
zu Recht geärgert, und er findet übrigens eine vielleicht überraschende Fortset-
zung bei Carnap und Quine, in der Distinktion von internen und externen Aus-
sagen bzw. in der Distinktion von ontologischen Verpflichtungen und ontologi-
schen Wahrheiten. Der ontologische Monismus wird also wider Willen zu einem
schlecht begründeten ontologischen Dualismus und scheidet damit unter ande-
rem aus diesem Grund als Option aus.
Vgl. Heidegger, Martin (2000): „Das Ding (1950)“. In: Gesamtausgabe (HGA), Bd. 7. Friedrich-
Wilhelm von Herrmann (Hrsg.). Frankfurt am Main, 181: „Welt west, indem sie weltet“, „das Welten
der Welt“; HGA 7, 183: „Welt als Welt weltet“; HGA 9, 164: „Welt ist nie, sondern weltet“; HGA 5, 30 f.:
„Welt ist nicht die bloße Ansammlung der vorhandenen abzählbaren oder unabzählbaren, be-
kannten und unbekannten Dinge. Welt ist aber auch nicht ein nur eingebildeter, zur Summe des
Vorhandenen hinzu vorgestellter Rahmen. Welt weltet und ist seiender als das Greifbare und Ver-
nehmbare, worin wir uns heimisch glauben. Welt ist nie ein Gegenstand, der vor uns steht und
angeschaut werden kann.Welt ist das immer Ungegenständliche, dem wir unterstehen, solange die
Bahnen von Geburt und Tod, Segen und Fluch uns in das Sein entrückt halten.Wo die wesenhaften
Entscheidungen unserer Geschichte fallen, von uns übernommen und verlassen, verkannt und
wieder erfragt werden, da weltet die Welt. Der Stein ist weltlos. Pflanze und Tier haben gleichfalls
keine Welt; aber sie gehören dem verhüllten Andrang einer Umgebung, in die sie hineinhängen.
Dagegen hat die Bäuerin eine Welt, weil sie sich im Offenen des Seienden aufhält. Das Zeug gibt in
seiner Verläßlichkeit dieser Welt eine eigene Notwendigkeit und Nähe. Indem eine Welt sich öffnet,
bekommen alle Dinge ihre Weile und Eile, ihre Feme und Nähe, ihre Weite und Enge. Im Welten ist
jene Geräumigkeit versammelt, aus der sich die bewahrende Huld der Götter verschenkt oder
versagt. Auch das Verhängnis des Ausbleibens des Gottes ist eine Weise, wie Welt weltet.“
Der neue ontologische Realismus 195
Um uns nicht unnötig mit dem von den meisten verschmähten ontologischen
Dualismus aufzuhalten, kommen wir zum ontologischen Pluralismus, der viele,
jedenfalls mehr als zwei oder drei, Gegenstandsbereiche zulässt. Prima facie
spricht dafür bereits, dass es viele Gegenstandsbereiche gibt: Die natürlichen
Zahlen, die Bundesrepublik Deutschland, die Malerei des italienischen Seicento,
die Welt Gustav von Aschenbachs in Tod in Venedig, und den Gegenstandsbereich,
in dem wir uns gerade bewegen, wenn wir die genannten Gegenstandsbereiche in
ihrer Eigenschaft als Gegenstandsbereiche auflisten.
Der ‚ontologische Reduktionismus‘ ist die These, dass einige Gegenstands-
bereiche auf andere zurückgeführt werden können, die Welt Gustav von
Aschenbachs etwa auf den Bereich der menschlichen Einbildungskraft. Prinzipiell
ist gegen einige ontologische Reduktionen auch nichts einzuwenden, wir wissen
aber schon, dass die Reduktion auf genau einen Gegenstandsbereich keine Option
darstellt, woran elaborierte Monismen auch heute noch scheitern, gegenwärtig
etwa der Monismus Jonathan Schaffers.¹² Selbst wenn einige Gegenstandsberei-
che auf einige andere reduziert werden können, folgt daraus nicht, dass alle
anderen auf einen einzigen reduziert werden können. Es gibt einen pluralistischen
Reduktionismus oder genauer: wenn es überhaupt einen ontologischen Reduk-
tionismus gibt, muss er pluralistisch sein.
Alles spricht also für einen ontologischen Pluralismus. Dieser darf dabei nicht
auf einen ontologischen Antirealismus hinauslaufen. Der ‚ontologische Antirea-
lismus‘ nimmt an, dass es nur deswegen eine Pluralität von Bereichen gibt, weil es
eine Pluralität von Existenzbegriffen gibt. Dies wird etwa bis heute von Hilary
Putnam vertreten, wobei die Vorgeschichte natürlich bis in die antike Philosophie
und die mittelalterliche Ausarbeitung der Plurivozitätsthese reicht. Der ontolo-
gische Antirealismus ist meistens eine Form des ontologischen Nominalismus, der
Behauptung, dass es nur deswegen viele Bereiche gibt, weil wir sie unterscheiden,
wobei nun wiederum vieles davon abhängt, was dieses ‚Wir‘ ausmacht – die
Sprache, der Geist, das Denken, die Sprachspiele oder was auch immer man hier
vorzieht. Der ontologische Antirealismus ist eine verkappte Form des ontologi-
schen Monismus, weil er die Pluralität der Bereiche auf einen einzigen zurück-
führt. Putnams ‚begriffliche Relativität‘ erzeugt eine Pluralität von begrifflich
individuierten Bereichen und ist damit ontologisch antirealistisch orientiert. Ob
Vgl. Schaffer, Jonathan (2009): „Spacetime the One Substance“. In: Philosophical Studies 145,
131– 148; Schaffer, Jonathan (2010a): „Monism:The Priority of the Whole“. In: Philosophical Review
119 (1), 31– 76; Schaffer, Jonathan (2010b): „The Internal Relatedness of All Things“. In: Mind 119
(474), 341– 376; Schaffer, Jonathan (2013): „The Action of the Whole“. In: Proceedings of the Ari-
stotelian Society Supplementary Volume LXXXVII, 67– 87.
196 Markus Gabriel
dies mit einem metaphysischen Realismus (in meinem Sinn des Wortes) vereinbar
ist, ist eine offene Frage, zu der es viele Antworten bei Putnam gibt.
Einige Bereiche müssen folglich von der Regel ausgenommen sein, nur des-
wegen eine Pluralität zu bilden, weil wir diese Pluralität unterscheiden. Demnach
muss der ontologische Realismus angenommen werden, damit wir überhaupt
ontologische Pluralisten sein können, was wir sein müssen, weil der ontologische
Monismus und der ontologische Dualismus falsch sind. Natürlich ist auch der
ontologische Realismus keine globale These, die behauptet, dass alle Bereiche
eine gemeinsame Natur haben, die Natur, modal robust individuiert zu sein. Auch
dies ist ja ohnehin prima facie falsch, da es einige Bereiche gibt, die es nur gibt,
weil es uns gibt, z. B.: Uns.
Will man nun einen genuinen ontologischen Realismus vertreten, muss man
insbesondere eine Position vertreten, die man heute als ‚metaontologischen
Realismus‘ klassifizieren würde. Gegenwärtig ist der Begriff der ‚Metaontologie‘
wieder prominent, der mit anderer Akzentuierung in den zwanziger Jahren von
Heidegger als „Metontologie“ eingeführt wurde.¹³ Die ‚Metaontologie‘ ist eine
Untersuchung der Wahrheitsbedingungen der Ontologie selbst.
Die Ontologie postuliert einen Gegenstandsbereich. In diesem Gegenstands-
bereich kommen Existenz, Gegenstandsbereiche und eine Vielzahl möglicher
Positionen vor. Der Gegenstandsbereich der Ontologie koordiniert deswegen auch
verschiedene Ebenen: Die erststufige Ebene von Gegenständen, die in Gegen-
standsbereichen vorkommen mit der höherstufigen Ebene der Gegenstandsbe-
reiche, in denen Gegenstände vorkommen. Die gerade vollzogene Thematisierung
der Stufendifferenz und Stufenordnung entspricht natürlich selbst einem Diskurs,
demjenigen Diskurs, der die Ontologie thematisiert. Dieser heißt heute,wie gesagt,
‚Metaontologie‘. Die Ontologie untersucht den Existenzbegriff und die Metaon-
tologie untersucht die Frage, ob diese Untersuchung realistische oder antirealis-
tische Voraussetzungen trifft.
Nehmen wir zunächst an, die Ontologie wäre antirealistisch. In diesem Fall
wäre die ontologische Differenz von Gegenstandsbereich und Gegenständen
selbst nicht modal robust, sie existierte nur, insofern gewisse Diskursbedingungen
erfüllt sind. Nun existieren Gegenstände aber nur deswegen, weil die ontologische
Differenz existiert, d. h. nur deswegen, weil sie in Gegenstandsbereichen vor-
kommen. Der metaontologische Antirealismus scheitert also daran, dass er an-
nimmt, dass es ohne Ontologie keine ontologische Differenz gäbe. Beiläufig sei die
Vermutung ausgesprochen, dass Heidegger leider Zeit seines Lebens metaonto-
logischer Antirealist war, was er dadurch ausdrückt, dass es kein Sein ohne Dasein
gibt. Ohne Sein gibt es aber überhaupt nichts, auch und v. a. die ontologische
Differenz nicht. Selbst das Geviert braucht die Sterblichen, damit es den Bereich
der Dinge konfigurieren kann. Ohne Sterbliche keine Dinge und ohne Dinge keine
Sterblichen. Doch das halte ich für falsch, da es voraussetzt, dass es eine onto-
logisch maximal schweigsame Vorgeschichte der Gegenstände gibt, in denen die
Gegenstände nicht einmal voneinander unterschieden waren, als ob es überhaupt
nur deswegen Unterschiede gäbe, weil wir sie treffen, was ich für Unsinn halte. Der
Mond wäre auch dann nicht die Sonne gewesen, wenn niemand dies bemerkt
hätte, und es hätte den Mond ohnehin gegeben. Der metaontologische Antirea-
lismus diffundiert gleichsam durch die anderen Ebenen, da er diese für ein
Theoriekonstrukt hält.¹⁴
Dem metaontologischen Antirealismus ergeht es wie Gauß’ Traum, den der
Erzähler in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt referiert:
Am frühen Morgen weckte ihn ein quälender Traum. Er sah sich selbst auf der Pritsche liegen
und davon träumen, daß er auf der Pritsche lag und davon träumte, auf der Pritsche zu liegen
und zu träumen. Beklommen setzte er sich auf und wußte sofort, daß das Erwachen noch vor
ihm lag.¹⁵
Vgl. dazu ausführlicher Gabriel, Markus (2014): „Ist die Kehre ein realistischer Entwurf“. In:
David Espinet/Toni Hildebrandt (Hrsg.): Suchen Entwerfen Stiften: Randgänge zu Heideggers
Entwurfsdenken. München, 87– 106.
Kehlmann, Daniel (2005): Die Vermessung der Welt. Reinbek bei Hamburg, 184.
198 Markus Gabriel
Zeit bis zuletzt verhaftet, nur dass er den Antirealismus mit der Kehre eine Stufe
höhergerückt hat. Da dieser allerdings nach unten durchdiffundiert, hilft dieses
Manöver nicht, weshalb Heidegger am Ende auch einen Gott (bzw. einen Diktator)
brauchte, der seine Theorie rettet. Doch auch ein Gott kann nicht vor dem Antirea-
lismus retten.Was falsch ist, wird nicht dadurch wahr, dass wir einen Gott einführen,
der es, vielleicht hinter unserem Rücken, wahr macht.
In einem letzten Schritt möchte ich nun noch erläutern, inwiefern der metaon-
tologische Realismus im Unterschied zu seinem antirealistischen Pendant nicht
durchdiffundiert und die ganze Existenzordnung durcheinanderbringt. Der me-
taontologische Realismus behauptet, dass die ontologischen Begriffe, die ich ein-
geführt habe, auf modal robuste Tatsachen referieren. Es gibt also wirklich Gegen-
standsbereiche und Gegenstände, die ontologische Differenz ist nicht unwirklicher
oder sprachabhängiger als Wiesen oder Gasriesen. Dies impliziert nicht, dass alle
Gegenstandsbereiche intern realistisch konstituiert sind. Einige Gegenstandsbereiche
sind derart, dass sie eine lokale antirealistische Diskurstheorie erfordern. Viele So-
zialontologen etwa, am prominentesten natürlich John Searle, neigen dazu, dies für
alle sozialen Gegenstände anzunehmen, die sie mit guten Gründen für meinungs-
abhängig halten.¹⁶ Irgendwie stimmt es sicherlich, dass es kein Geld gäbe, wenn
niemand jemals eine Meinung über Geld gehabt hätte, während reines Wasser auch
dann H2O gewesen wäre, wenn es uns entgangen wäre. Meinungen machen also
einiges wahr, was sonst nicht wahr gewesen wäre. Doch dies kann man nur dann
erklären, wenn man dies für eine Wahrheit hält, die nicht in derselben Weise mei-
nungsabhängig ist. Es ist nicht meinungsabhängig, dass Geld meinungsabhängig ist.
Geld wäre auch dann meinungsabhängig gewesen, wenn es weder Geld noch Mei-
nungen gegeben hätte. Genau dies ist die Quintessenz des metaontologischen Rea-
lismus: er lässt lokale Antirealismen und lokale Realismen zu, genau in dem Sinne,
dass beide Varianten existieren können.
Meine Skizze möchte ich damit schließen, dass eine letzte Unterscheidung
eingeführt wird, die man beachten muss, um das genaue Profil des hier natürlich
nur grob skizzierten neuen ontologischen Realismus einzuschätzen. Ich meine die
Distinktion zwischen ‚adverbialen‘ und ‚lokativen Ontologien‘. Eine adverbiale
Ontologie nimmt modi essendi oder modi existendi an. Meinong etwa vertritt eine
adverbiale Ontologie, indem er annimmt, dass Zahlen und Bäume auf verschie-
dene Weise existieren, was er u. a. mit dem Unterschied von „Subsistenz“ und
„Existenz“ zum Ausdruck bringt.¹⁷ Ich schließe mich Peter van Inwagens Argu-
Vgl. Searle, John (2010): Making the Social World. The Structure of Human Civilization. Oxford.
Vgl. Meinong, Alexius (1904): „Über Gegenstandstheorie“. In: Alexius Meinong (Hrsg.): Un-
tersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie. Leipzig, 1– 50, hier 5.
Der neue ontologische Realismus 199
ment gegen adverbiale Ontologien an, das in nuce besagt, dass Existenz nichts ist,
das Gegenstände irgendwie leisten, tun oder vollziehen, einfach deswegen, weil
Existenz keine eigentliche (d. h. jedenfalls keine erststufige) Eigenschaft ist. Eine
lokative oder Bereichsontologie erinnert dagegen daran, dass Existenz in vielen
Sprachen lokativ ausgedrückt wird: il y’a, c’è, Dasein usw. ‚Existenz‘ selbst ist
lokativ, da es bekanntlich wörtlich ‚das Herausstehen‘ oder ‚das Heraustreten‘
bedeutet. Was existiert, existiert immer irgendwo, weil Existenz die Eigenschaft
eines Gegenstandsbereichs ist, nicht-leer zu sein. Ohne dies hier im einzelnen
auszuführen, möchte ich abschließend nur ins Unreine sagen, dass ich der Mei-
nung bin, dass Fregesche Sinne die Individuationsbedingung für Gegenstands-
bereiche sind, weshalb ich von ‚Sinnfeldern‘ statt von ‚Gegenstandsbereichen‘
spreche. Die Pluralität der Bereiche wird dadurch erklärt, dass die Bereiche mit
verschiedenen Zugangsregeln verbunden sind, weshalb ihre Gegenstände immer
auf eine bestimmte Weise gegeben werden. Dies sind keine Existenzmodi, weil
Existenz nicht adverbial ist, sondern Formen des Existierens-In. Dasein ist also In-
einer-Welt-Sein, doch hat das insgesamt herzlich wenig damit zu tun, dass wir
sterben müssen, wie Heidegger meinte. Existenz ist kein Privileg des Menschen.
Der Mensch ist nur ein Gegenstand unter anderen, wenn auch derjenige Gegen-
stand, der für uns, die Menschen, am Interessantesten ist. Denn wir sind jedenfalls
immer auch solche, denen es in ihrem Sein um ihr Sein selbst geht. Doch daraus
folgt erst einmal nichts Spektakuläres: Was über den Menschen wahr ist, ist über
den Menschen wahr, doch folgt daraus nicht, dass alles menschlich oder dass
Menschen ontologisch unerlässlich sind.
Jens Rometsch (Bonn)
Ontologie ohne Metaphysik?
Geht es um die philosophischen Großthemen von Metaphysik und Ontologie, emp-
fiehlt sich eine Sortierung des Terrains. Schließlich ist unter den Titeln Metaphysik
und Ontologie schon Vieles und Verschiedenartiges untersucht worden. Markus
Gabriels eindrucksvolle Sortierungsleistung leistet mit einer Typologisierung mögli-
cher Ontologien eine solche Absteckung des Terrains und schafft eine eigenständige
ontologische Programmatik, mit der sich vielversprechend weiterarbeiten lässt. Im
Folgenden möchte ich – skizzenhaft und vorläufig – erkunden, welche Rolle die
Metaphysik im Rahmen dieser Programmatik einnehmen könnte.
Gabriels überzeugende Erläuterung eines ontologischen Realismus erhellt
(zutreffend, wie ich finde), dass die Annahme einer irreduziblen Pluralität von
Gegenstandsbereichen eben schlicht realistischer ist als konkurrierende ‚monis-
tische‘ Thesen.¹ Denn ohne Zweifel gilt es anzuerkennen, dass es modal robuste
Tatsachen gibt, Tatsachen also, die sich in keiner Weise dem Umstand verdanken
können, dass wir über sie eine Meinung haben – diese Tatsachen empfehlen einen
Realismus. Und da es auch andere Tatsachen gibt, die sich auf verschiedene
Weisen dem Umstand verdanken, dass wir über sie eine Meinung haben, ist un-
schwer zu erkennen, dass bereits diese einfache Überlegung mindestens zwei
Bereiche voneinander unterscheidet, den Bereich modal robuster Tatsachen, und
den Bereich nicht modal robuster oder modal labiler Tatsachen, und dass beide
Bereiche nicht aufeinander reduziert werden können. Bereits diese einfache
Überlegung empfiehlt also einen ontologischen Pluralismus. Wenn es beide Be-
reiche tatsächlich gibt, gibt es sie unabhängig davon, welche Meinung wir über sie
haben, auch den Bereich modal labiler Tatsachen: Geld gäbe es nicht, wenn
‚niemand‘ eine Meinung über Geld hätte – aber dass wir unterschiedliche Mei-
nungen über Geld haben können, ändert nichts daran, dass es Geld gibt, und dass
manches als Tatsache über Geld gelten darf, und anderes nicht.
Die beiden Bereiche modal robuster und modal labiler Tatsachen unter-
scheiden sich also mindestens dadurch voneinander, dass unser Erkenntniszugriff
einen jeweils anderen Einfluss auf sie hat. Markus Gabriels ‚Gegenstandsbereiche‘
sind auch Tatsachenbereiche: Denn wenn, wie er sagt, in einem bestimmten
Die Darstellung und argumentative Fundierung von Gabriels realistischer Ontologie ist mitt-
lerweile in zahlreichen Aufsätzen und Monographien erfolgt; u. a. Gabriel, Markus (2012): Die
Erkenntnis der Welt. Eine Einführung in die Erkenntnistheorie. Freiburg, München; Gabriel,
Markus (2013): Warum es die Welt nicht gibt. Berlin; Gabriel, Markus (2015): Fields of Sense: A
New Realist Ontology. Edinburgh.
202 Jens Rometsch
sachen wohl anders ablaufen als die Eruierung irgendwelcher Tatsachen, die in
Gegenstandsbereichen situiert werden können.
Wenn die Welt alles ist, was der Fall ist, dann ist sie offensichtlich ein Fall wie
kein anderer. Diese Tatsache über die Welt gilt es sicherlich zu berücksichtigen,
bevor man sich als Metaphysiker daran macht, die Welt zu thematisieren um
herauszufinden, was es mit ihr als ganzer auf sich hat. Denn im Lichte dieser
ersten Tatsache wird sich die weitere Thematisierung der unrestringierten Totalität
nicht mehr als Erkenntniszugriff verstehen lassen, der in der Weise einer ge-
wöhnlichen Untersuchung verfährt, die sich dank ihres bereichsontologisch si-
tuierbaren Interesses und einer entsprechenden Methode als Disziplin (wie z. B.
die Botanik) verstehen lässt. Wie auch immer metaphysische Erkenntnisse ge-
wonnen werden können, die Metaphysik ist keine Disziplin wie irgendeine andere
(sofern sie überhaupt als ‚Disziplin‘ im beschriebenen Sinne in Frage kommt), weil
die Welt kein Fall ist, wie irgendein anderer.
Dass die Welt nicht in dem Sinne ‚existieren‘ kann, wie irgendetwas anderes,
was der Fall ist, weil es in der Welt vorkommt, wäre aber z. B. immer noch eine
Tatsache über die Welt. Wenn der Welt weder als einem Gegenstand noch als
einem ‚singulären Bereich‘ Existenz zukommen kann, wofür Markus Gabriel
plädiert, ist sie damit ja noch nicht ‚nichts‘ – also nicht dasjenige, was sich allein
dadurch auszeichnen soll, keine es betreffenden (positiven) Tatsachen zuzulas-
sen. Die Welt bleibt trotz des Befunds einer bei ihr notorisch scheiternden Exis-
tenzzuschreibung immer noch als dasjenige thematisierbar, von dem nicht um-
standslos gesagt werden kann, es komme irgendwo vor.
Ob die metaphysische Thematisierung der Welt als Welt oder des Ganzen im
Lichte seiner kategorialen Grundlagen daher schon mit Gabriels Überlegungen zu
beenden ist, möchte ich einstweilen dahingestellt sein lassen. Eine Beendigung
wäre sicherlich empfehlenswert, wenn diese Thematisierung auf einen ontologi-
schen Monismus im Sinne Gabriels hinauslaufen müsste. Aber verpflichtet uns der
Umstand, dass wir der Welt nicht ‚Existenz‘ im Sinne eines Vorkommens in einem
Gegenstandsbereich zuschreiben können, wirklich dazu, auf Metaphysik zu ver-
zichten? Folgt aus diesem Umstand wirklich zwingend, dass sich die Welt als Welt
oder als Ganzes gar nicht mehr thematisieren lässt, oder folgt aus ihm, dass sie, als
singulärer Fall, eben anders thematisiert werden muss, als alles, was sich mit
bereichsontologischen Restriktionen als Vorkommnis in einem restringierten
Gegenstandsbereich thematisieren lässt?
Eine Beilegung der Metaphysik wäre genau dann zwingend, wenn die unre-
stringierte Totalität auf keine Weise mehr thematisierbar wäre, allein weil ihr keine
‚Existenz‘ zukommt – allein weil es sich bei ihr entweder um einen singulären, da
nirgendwo vorkommenden Gegenstand handelt, oder weil es sich bei ihr um über-
haupt keinen Gegenstand mehr handelt. Klarerweise würde es für eine vernünftige
204 Jens Rometsch
Die Lage scheint paradox: Trotz der zu Recht gefolgerten ‚Nicht-Existenz‘ der
Welt lässt sich diese vielleicht nicht ohne weiteres als erledigt betrachten – und es
ist keinesfalls auszuschließen, dass die unrestringierte Totalität noch in einer
anderen Variante als der von ‚Allen Bereichen‘ vernünftig zu thematisieren wäre.
Gabriels Folgerung darf deshalb auch als Forderung nach einer ‚anderen‘ The-
matisierung von unrestringierter Totalität verstanden werden. Was diese (meta-
physische) Thematisierung leisten müsste, deutet die realistische Ontologie im-
merhin an – eine Ontologie, die sich unvermeidlich auf ‚Alle Bereiche‘ bezieht und
damit die intrinsische Pluralität ‚unrestringierter Totalität‘ berücksichtigt, aber
eben ohne über ‚Alle Bereiche‘ wie über einen irgendwo vorkommenden Gegen-
stand zu sprechen. Ob diese feine ontologische Balance durch programmatische
Metaphysikvermeidung aufrecht erhalten werden kann, sei, wie erwähnt, einst-
weilen dahingestellt.Wie auch immer eine andere metaphysische Thematisierung
unrestringierter Totalität aussähe, sie müsste sich auf jeden Fall mit Gabriels
ontologischem Realismus auseinandersetzen.
Sebastian Rödl (Leipzig)
Law as the Reality of the Free Will¹
This, that a reality is at all the reality of the
free will, is the law. (§29)
The law is the reality of the free will. I explain what this means in the first part.
In the second part, I describe how the free will is the ground of its own reality.
Finally, the third part shows how abstract right is the first reality of the will.
Dieser Artikel ist bereits auf deutsch in dem Band Autonomie und Normativität (Rödl, Se-
bastian (2014): “Recht als Dasein des freien Willens”. In: Kurt Seelmann/Benno Zabel (Hrsg.):
Autonomie und Normativität. Zu Hegels Rechtsphilosophie. Tübingen: Mohr Siebeck) erschienen.
208 Sebastian Rödl
The spirit is the general that has a general reality, one which does not merely
reside in the manifestation of itself in particular individuals, but in the return of
itself to itself as something general. This is the difference between spirit and na-
ture. A nature, physis, is something general that is real only in particular individ-
uals. For instance, the lion feeds on antelopes. The general item described in this
way, lion nature, is real in that this or that individual lion is devouring this or
that antelope. The lion, lion nature, the general, is real and is only real in this
or that lion and its acts. Lion nature has no reality in which it remains general.
Therein the lion is nature, physis.
There are statements that represent the will as nature, as physis: they repre-
sent it as real in particular individuals. We can say, for instance, that a subject of
will – in short, a will – wants a happy life. The generality that this statement rep-
resents is real only in this or that particular individual who wants to live a happy
life. However, if the will is not only nature, but spirit, then there is a general
statement about the will that bears a different logical form: a statement repre-
senting a reality that is itself general, a general act, a general activity of the
will. Hegel explains that this statement is the following: The will wants the
law. And through this, Hegel defines the law: the law is the general act of the
will, the act of willing in which the will is real as the general item that it is.
Let us try to form a preliminary concept of such a general act, a preliminary con-
cept of the will as spirit.
The will is general in being present in indefinitely many particular individ-
uals as their capacity to want this or that. Now, a capacity, in its reality in the
particular, is in turn general: it is expressed in indefinitely many acts, indefinite-
ly many acts in which the particular individual wants this or that. Since the ca-
pacity of the particular individual, the capacity as particular, is in turn some-
thing general, we shall want to say that it, namely the capacity as particular,
too, is real only in its particular acts. The reality of the will, then, so it seems,
resides in this or that individual’s wanting this or that. Someone wants some-
thing: in this, the will is real.
So this is the general formula of a reality of the will: someone wants some-
thing. We will consider how this formula must be determined in order to repre-
sent a general reality of the general. Someone wants something has two poles,
the one who wants, and what he wants. We first consider the latter pole, what
he wants. What someone wants first is this: that something be thus and so, as
it is not yet. I want the butter to be on the table. This is not yet so; the butter
is in the fridge. In wanting the butter to be on the table, I want to do what is nec-
essary in order for things to be as they are not yet: I want to put the butter on the
table. Such an act of wanting is finite or limited in two ways. First, its object is a
particular thing, in our example it is the butter that must be on the table; second-
Law as the Reality of the Free Will 209
ly, the act is finite in the sense that it brings itself to an end. For when the butter
is on the table, which it is as I have done what I wanted to do, I no longer want it
to be on the table. I cannot want this precisely because the butter is on the table.
I might want the butter to stay on the table, if it is necessary that I do something
toward this end (if, for instance, Katharina threatens to throw the butter down).
But that will be an act of wanting which is different from the first one; it will be a
further act of the will. What I want to be is not yet. An act of wanting of the kind
we are discussing is not the same as what it produces, its result. Nor is this all:
the result excludes the act that brings it about from reality. As long as the want-
ing is, its result is not yet, and as soon as the latter is, the former is no more.
Now, our will does not exhaust itself in this, i. e., in our wanting that this or
that be thus and so. G. E. M. Anscombe writes:
The reckoning what to do or abstain from in particular circumstances will constantly in-
clude a reference, implicit or explicit, to generalities. […] Because of it human conduct is
not left to be distinguished from the behavior of other animals by the fact that in it calcu-
lation is used by which to ascertain the means to perfectly particular ends. The human
wants things like health and happiness and science and fair repute and virtue and prosper-
ity, he does not simply want, e. g., that such-and-such a thing should be in such-and-such a
place at such-and-such a time.²
A human being, says Anscombe, not only wants that this or that be here or there
now or then. A human being wants health, wisdom, recognition. Nor does a
human being want these kinds of things side by side. As I deliberate and decide
to see to it that this or that be thus and so, I refer to things like health, wisdom,
recognition. I want this or that to be thus and so for the sake of my health, or in
order to gain recognition. In this relation to my wanting certain results, health
and recognition reveal themselves to be in turn things that I want.
Anscombe calls these other things men want – health, wisdom, recognition
– generalities. They are general in that indefinitely many things may be done for
their sake. This becomes clearest when we bring these things together in one
thing that comprises them all. Let us say, I want a happy life. Every single
thing I do to achieve certain results includes a reference to this act of will; I
do whatever I do for the sake of happiness. My wanting a happy life does not
exhaust itself in a result that is a different reality from it, the wanting of it. As
I want happiness, I am not after a result in which my wanting would come to
rest and cease to be. This act of wanting does not exhaust itself; it does not
Anscombe, Elizabeth (1981): “Authority in Morals”. In: G.E.M. Anscombe (ed.): Ethics, Reli-
gion, and Politics. Collected Philosophical Papers. Vol. III. Oxford, 48.
210 Sebastian Rödl
give out as long as I do not. This is because this act of wanting underlies and
thereby holds together a priori each and every one of my finite, limited acts of
wanting, in which I want this or that to be thus and so.
The will – that is how we began – is something general that is present in
particular individuals as their capacity to want this or that. The capacity, in its
reality in the individual human being, is itself general; it is real in its indefinitely
many particular acts. However, we now recognize an act of willing – I want a
happy life – that always already underlies all of these indefinitely many acts.
This act is as general as the capacity of the particular individual; in this act
the capacity has a reality in which it remains general. We can say this act is
the reality of the capacity, for in this act it is real as the general thing that it is.
A capacity, as general, is a capacity to indefinitely many acts. These acts are
possible in virtue of the capacity. However, the act that is the reality of the capacity
itself is only one, for the capacity, whose reality it is, is one. This act, which is itself
general, is thus not merely a possible act, i.e., possible as one among indefinitely
many which are equally possible. This act – I want a happy life – is as such actual,
for it is the act in which the capacity itself is real. (This is why Kant asserts that hap-
piness is an end that is predicated assertorically.)
We said we considered the will insofar as it is real as a capacity in a partic-
ular human being. Now we see that it would be more correct to say that we con-
sidered the will insofar as it is real as a particular human being. For her will is
the principle of existence of a human being. A human being lives because she
wants to live; to live and to want to live, where both are present, is the same.
If, therefore, I want a happy life is the reality of the capacity as a particular in-
dividual, this act of wanting is nothing other than she who wants. I, as a partic-
ular individual, am this act. So we said above: this act gives out as I give out.
We considered the will as a particular capacity, as a particular human being. It
is true that this capacity is real in its particular acts. However, it is also, and funda-
mentally, real in a general act, which is identical with the capacity and in which,
therefore, the capacity itself, as general, is real. In the course of these reflections,
we continued to think of her who wants, the subject term in someone wants some-
thing, as a particular individual. When Hegel says that the reality of the will is the
law, he means that the law is a reality of the will that is as general as the will, i.e.,
general in respect of the indefinitely many who want this or that. If this is right, then
we must be able to introduce into our formula someone wants something a distinc-
tion of general and particular regarding her who wants, too.
If our formula someone wants something is to represent a general reality, the
subject term must be an expression of generality. We might try all human beings
want this or that. But in this way, we do not represent a reality that is itself gen-
eral; we speak generally, summarily, about particular individuals. Or we think of
Law as the Reality of the Free Will 211
the generality in question as the generality of a nature, a physis. Thus, we say the
lion hunts zebras. This does not mean that all lions do; the lioness, for instance,
that injured her foreleg, does not. However, a statement of this form, a statement
about a nature, describes something that is not yet completely real; it must be
realized in particular individuals who manifest or exemplify it. The lion hunts ze-
bras, we say, Look there, the lioness, how she is pouncing on the zebra! If the will
were mere nature, physis, its reality would exhaust itself in this. We say, men
want this or that, wisdom and recognition, say. Or we sum up everything of
this kind in men want happiness. These statements describe the nature of the
human will, the will as nature, the natural will.
As the reality of the will is the law, the will is spirit, not nature. It is not only
the ground of acts or capacities of particular individuals, in which it is real; it is
itself real as a general act. What we said about the general act of the will of the
particular individual (of the particular individual as a general act of will) holds,
mutatis mutandis, of this general act, i. e., an act that is general not only with
respect to the object wanted, but also with respect to the wanting subject.
First, the subject of this act, the will, is nothing other than this act, for the
will has reality in this act as the general thing that it is. Secondly, since this
act is as general as the will, it is not one among indefinitely many acts, but a
single act. For an analogous reason, I want a happy life, as we saw, is not only
a possible act of the particular capacity, but is as such actual. Now, the act of
wanting that is the reality of the will as general is not only possible, nor is it
only actual; rather, it is necessary. For, while the will as a particular individual
is finite and perishes, the will as general is not finite. The act of wanting, in
which the will has a general reality, is the only necessary act of the will. Thirdly,
what the will wants in this act is not a result different from the act of wanting it
and in which this act would bring itself to an end. The object of the general act of
the will is the will itself. Therefore, in this act, the subject who wants, the act of
wanting and the object wanted are all the same. This structure already character-
izes the general act of the capacity as particular in each case of I want to live hap-
pily.
Hegel’s thought that the will is spirit and has a general reality is traditional. I
will not go into this history; it is of merely historical interest. I will only remark
that the thought in question is also to be found in Kant. The consciousness of the
moral law is an act of willing the will, namely its form. That is why the subject of
this act is universal; it is the will, or, as Kant says, practical reason. The con-
sciousness of the moral law is the deed, the fact of practical reason; it is the
fact in which practical reason itself has and gives itself reality. Whoever looks
to encounter practical reason outside its fact should not be surprised if he
does not find anything. Therefore, as Hegel asserts, the consciousness of the
212 Sebastian Rödl
moral law, or morality, is a determination of law, of the reality of the will. The
two other determinations of the law that Hegel expounds are abstract right
and Sittlichkeit. Since there is only one necessary act of the will, a single act
in which the will itself has its reality, these determinations are not different
acts, but determinations of a single act. Hegel thinks that Kant did not sufficient-
ly develop the fact of practical reason, the general act in which the will is real.
Yet, Hegel’s thought that the object of practical philosophy is the fact of practical
reason and nothing else is, in fact, Kant’s thought.
I want to do A.
does so as it belongs to its form to enter into practical reasoning that specifies
sufficient and available means.
I want to do A.
To do B is a way.
I do B.
Now, if I am doing B because I see that this is how I can do A, then I am doing,
therein, A. If I want to make yeast dough, and I am pouring flour in the bowl be-
cause I know that this is needed for that, then I am making yeast dough, and am
making yeast dough in that I am pouring flour in the bowl. This shows that I
want to do A and I am doing A are not different thoughts, but one thought.
The second manner of expressing this thought makes explicit the consciousness
of its practical character, which consciousness is internal to the thought. For, as
we said, its practical character resides in this, that the thought enters into prac-
tical reasoning through which I, wanting to do A, am doing A. This is, Hegel
writes, “the formal will as self-consciousness, which encounters an exterior
world and … is the process of translating the subjective end through the media-
tion of activity and a means into objectivity” (§8). On this account, the subjective
end is a finite end, precisely one that, resulting from the activity that produces it,
is different from this activity.
This, the immediate will, is the will as choice (according to Kant’s terminol-
ogy, which Hegel adopts): for choice is the will insofar as it includes conscious-
ness of its efficacy, that is, consciousness of sufficient and available means. If
choice is free (‘freie Willkür’), then it is on account of the source of the act of
choice: I want to do A. Now, our observations concerning I am doing A and I
want to do A show that these words do not describe anything that exists inde-
pendently of the thought that they express. And this entails that there can be
no cause external to and not contained in this thought that explains why I
want to do A and am doing it. For, if the cause were a given reality, then its effi-
cacy, too, would on that account be given.
What then is it that ultimately explains why I want to do and am doing A? If we
talk in a manner that appears irresistible to contemporary philosophers, we can say:
the ultimate ground why I am doing A cannot reside in anything other than myself. I
am the ground of my doing A. The ground of my doing A is contained in I am doing
A in the manner of being that which the term ‘I’ signifies. Surely, “impulses, desires,
inclinations” will explain why doing A suggests itself to me as an end, as Hegel says
(§11). But these things, i.e., impulses, desires, inclinations, cannot explain why
doing A is my end. Rather, so we say with a moved heart and shaking voice, I myself
– not only my impulse, my desire, my inclination, no I myself – must be present in
214 Sebastian Rödl
this end; I must find myself in it, I must identify myself with it, or whatever pathetic
metaphors please the imagination.
If we are to move beyond sentimental metaphors, we must consider our
schema. We noticed that I am doing A is precisely that, a schema; it has indefi-
nitely many instances; doing A is one of indefinitely many possible ends. And ‘I’
signifies the a priori unifying ground of all these possible ends. Therein, we rec-
ognize that what ‘I’ signifies is something general; it is as one and the same gen-
eral underlying all possible acts of finite wanting: I want to do A, B, C, etc. What
‘I’ signifies is that I am not exhausted by any of these ends; I cannot be deter-
mined by any of them, nor through any sum of them. Hegel expresses this as fol-
lows:
The will contains (α) the element of pure indeterminacy or the pure reflection of the I in
itself, in which every limit, every content immediately present or given and determined
through whatever it may be – nature, needs, desires and impulses – is dissolved; the un-
limited infinity of absolute abstraction or generality, the pure thinking of itself. (§5)
The reflection that is brought to bear upon the impulses, as it represents them, calculates
by comparing them with one another and then with their means and consequences, and so
on, and with a whole of satisfaction – happiness – brings the formal generality to this stuff,
and purifies it of its crudity and barbarism in an external manner. (§20)
Law as the Reality of the Free Will 215
Happiness is a general end that underlies indefinitely many particular ends. This
general end does not have a determination of its own; it receives it from the im-
pulses, desires, inclinations that it comprises. In this conjoining of materials,
even the rule according to which the materials are conjoined is arbitrary and
does not have its source in the concept of happiness. (Contemporary philosophy
bears ample witness of this, too, in its quarrels on how to calculate the rational
whole of satisfaction out of given impulses or preferences or pro-attitudes.)
And as an impulse is merely the simple direction of its own determination, and thus con-
tains no measure within itself, the subsuming and sacrificing determination is the arbitrary
decision of choice, no matter whether it proceeds with calculating understanding and con-
siders which impulse will yield more satisfaction, or whether it follows any other consider-
ation. (§17)
General end – happiness – but contentless in itself, indeterminate – for real is an individual
pleasant sensation, the satisfaction of particular impulses – not of the general – a general
that remains general in its determinacy. [The contrast is: ‘allgemeiner Zweck, nicht Zweck
des Allgemeinen,’ i. e., general end, not end of the general. S.R.]
The ideal of happiness comprises two elements. First something general, which is higher
than all particulars; yet, as the content of this general item is in turn only general pleasure,
there appears here once more the individual, particular and finite, and retreat must be
made to impulse … (§20, addition)
But the truth of this formal generality, which by itself is undetermined and finds its definite
character in this material, is the self-determining generality. (§21)
Above, we discussed an act of willing of this form, an act of willing that is gen-
eral in such a manner that its generality is the source of its content. The subject
of this willing is not the particular individual, but a general subject, namely the
will. Its content does not originate from particular ends; the will as general has
216 Sebastian Rödl
no such ends. The content of this act of will is rather nothing but the will itself
and thus is as general as the will. Therefore, in this act, the will is “the self-de-
termining generality”. This act of will is the truth of the will to happiness.
We noticed above that the moral law is a determination of the will willing itself.
Hegel also follows Kant in holding that the will determines the moral law to be the
truth of happiness. For the consciousness of the moral law underlies the wish for
happiness, which is why the will, insofar as it is in agreement with its form, subor-
dinates the maxim of self-love to the moral law as its condition.
We have encountered in the natural will, in the will as it is in itself, the ne-
cessity of an act of will that is an act of willing the will and is the general reality
of the will. Such an act is necessary as that which dissolves the contradiction of
the natural will. However, we have not yet determined this act; this, we shall do
now. Its first determination is abstract right.
our reflections show that the first consciousness of a subject other than myself is
interaction.
I want to do A, I am doing A do not describe a given reality, but one that rests
on the expressed act of the will. That is why the expression of an act of the will
demands the first person pronoun. This holds true for interaction, for it is an act
of choice. Here, too, the linguistic expression thus demands the first person. A
gives B an apple contains I am giving B an apple, thought by A, and I am receiving
an apple from A, thought by B. But this does not yet make it a relational predi-
cation, not yet a shared act of choice. Rather, we have two, perhaps coordinated,
monadic predications; two, perhaps coordinated, acts of each of the two individ-
ual subjects. But two acts of choice are not a relation, which is itself an act of
choice, just as two monadic predications are no relational predication. One
might think that it is enough if the two acts are coordinated. For in the coordi-
nation – whatever it consists in – lies a relation of subjects. However, the relation
must be an act of choice. It follows that the coordination must be represented as
such by both subjects, and it must be represented in an act of choice. Further-
more, its two acts must be represented as coordinated in one shared act. If its
acts were represented as coordinated in two different acts (these different acts
would at best be coordinated), we would have to say the same regarding
them, etc. A relation that is an act of choice is a shared act of choice, which is
represented first personally by both and in one act. The linguistic expression
of this act, double in itself like the description of every dynamic relation, de-
mands the second person pronoun: I am giving you an apple, I am receiving
an apple from you.
Free choice, because it distinguishes the general as the ultimate ground of
the particular individual, contains the concept of a subject of choice other
than myself. That is the concept of a relation that is an act of choice. It is the
concept of choice as relation, as we may put it. The general representation of
choice as relation is contained in every shared act of choice, in every relation
that is such an act.
Free choice, therefore, is the source of a general representation of itself as a
relation through itself. It determines itself to be a relation. And it is precisely in
this that choice is no longer nature, but spirit; no longer only free choice, but
will. Insofar as choice is nature, a representation that originates in the power
of choice itself is real only separately in each individual that possesses the
power of choice. It is spirit, as the representation in question is a general reality,
i. e., a representation of the general subject or the will. And now it is easy to see
that the general representation of choice as relation is not only real in each in-
dividual. For every real relation to a particular other subject is one act in both
subjects. Thus, the general representation, which is contained in this act, is
Law as the Reality of the Free Will 219
the same act in both. The general representation, however, is contained in every
possible relation of choice and is therefore the same act in every possible subject
of such a relation, and that means in every possible subject of choice.
The first determination, to which choice – the self-determining generality –
determines itself, is choice as relation. The generality itself is the source of this,
i. e., its determination. For the determination in question, namely choice as rela-
tion, originates precisely in the generality that is, as the generality of choice, first
pure indeterminacy, i. e., the contradiction of the general as the ultimate ground
of every particular end, I want to do A. In this determination, choice as relation,
the will is for itself its own concept; this determination is the general act, the act
of a general subject. In this determination, the will itself has first of all a general
reality. If we develop this determination further, we will come upon the basic
principles of abstract right. Conversely, only what is contained in the general
act is a basic principle of law, because the law is nothing but the general reality
of the will. My object was not the developed content of the general act of will,
but the idea of such an act and the development of its first determination
from the abstract concept of the will, in the determination of which the will is
the self-determining generality.
Gabriele Gava (Frankfurt a. M.)
How Does the Self-Consciousness
of the Subject of a General Will Relate to
Rödl’s Account of Self-Consciousness?
A Response to Sebastian Rödl
In his paper, Sebastian Rödl follows Hegel’s Introduction to the Grundlinien der Phi-
losophie des Rechts in order to develop an account of a general will, in which the
consciousness that a person has of herself as a willing subject is radically changed.
In this commentary, I do not want to discuss the accuracy of Rödl’s reconstruction
or praise the various merits of his paper. Rather, I wish to point out some questions
that arise when one compares Rödl’s claims in his article with his account of self-
consciousness, as it is developed in his major works on the subject.
In the Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hegel analyzes the dialectic of
the willing subject, by means of which this subject recognizes herself as part of a
broader social world and regards the institutions of the latter as the product of a
general will that is also her own. In this sense, right is a concrete realization of
this general will. “[D]er an und für sich seiende Wille hat den Willen selbst als
solchen, hiermit sich in seiner reinen Allgemeinheit zu seinem Gegenstande –
der Allgemeinheit, welche eben dies ist, daß die Unmittelbarkeit der Natürlich-
keit und die Partikularität […] in ihr aufgehoben ist.”¹ Rödl follows Hegel’s argu-
ment, as it is developed in the Introduction, insofar as it is able to offer an exam-
ple of a kind of self-consciousness, in which an individual recognizes herself not
only as a particular instance of a species, but as representing in her individuality
the generality of a communal will.
Rödl accordingly notices that “[t]he general act of will […] is a consciousness
that each individual subject of choice has, in order to notice, then, that the sub-
ject of this consciousness is in truth as general as the will.”² This latter claim can
be understood in very different ways and it would surely deserve a long commen-
tary that I cannot provide here. If I am right, Rödl uses Hegel here to stress that
there are cases in which, by using the expression ‘I want,’ I can recognize a will
Hegel, Georg W. F. (1986): Grundlinien der Philosophie der Rechts. Werke 7 [1832 – 1845].
Frankfurt am Main, § 21.
Rödl, Sebastian (2015): “Law as the Reality of the Free Will”. In: Markus Gabriel/Wolfram Hog-
rebe/Andreas Speer (eds.): Das neue Bedürfnis nach Metaphysik. The New Desire for Metaphysics.
Berlin, 217.
222 Gabriele Gava
as mine, which is not only my own, but essentially a general and shared will. In
following Hegel’s dialectical argument, Rödl shows how the subject is brought to
recognize herself as a bearer of this general will, insofar as she would not oth-
erwise be able to solve the inner contradictions caused by the consideration of
herself as a free individual subject, who can arbitrarily choose which of her dif-
ferent desires to satisfy. In this process, the consciousness that a subject has of
herself as an individual is radically changed.
In his book Self-Consciousness, Rödl has developed an account of self-knowl-
edge as an instance of what he calls ‘spontaneous’ knowledge.³ Rödl accordingly
stresses that “in contrast to receptive knowledge, which is of an independent ob-
ject, spontaneous knowledge is identical with its object.”⁴ In this sense, a sub-
ject is capable of meaningfully referring to herself as an I, insofar as she is that
‘I.’ She recognizes herself as the ‘I’ that is responsible for her beliefs and actions
and she has thus an immediate grasp of herself as an ‘I.’ Rödl argues: “[f]irst per-
son reference depends on a way of knowing an object such that I know an object
in this way by being this object. Unmediated first person thoughts articulate
knowledge I possess, not by ‘perceiving,’ but by ‘being’ their object. If I know
without mediation that I am F, then I know it, not by perceiving that I am F,
but by being F.”⁵
Moreover, Rödl claims that this spontaneous knowledge of the ‘I’ gives us
access to a ‘materialist’ theory of self-consciousness. He uses Marx’s Thesen
über Feuerbach to maintain that only by limiting our understanding of the mate-
rial reality to objects of intuition and receptivity we could fail to recognize how
spontaneity and self-consciousness justify a conception of ourselves as material
substances.⁶ It is only the focus on the subject as an ‘active’ being, which can
reveal her spontaneity as a material reality. Rödl accordingly stresses:
I have spontaneous knowledge of the kind of substance I am, the kind of substance that the
concept designates that is contained in my first person thoughts that represent my inten-
tional actions. I know that I fall under this concept not by perceiving a substance that
falls under it, but by being a substance that falls under it, or, shorter, by falling under
it. An acting subject is a material substance of a kind such that she knows what kind of
substance she is by being a substance of that kind. This follows from our account of
self-consciousness, which thus transpires to underwrite a true materialism, which conceives
material reality not only as an object of intuition, but as human spontaneity.⁷
Cf. Rödl, Sebastian (2007): Self-Consciousness. Cambridge, Mass., ix, 13 – 4, 110 ff.
Rödl 2007, ix.
Rödl 2007, 9.
Cf. Rödl 2007, 122.
Rödl 2007, 131.
How Does the Self-Consciousness of the Subject of a General Will Relate 223
It is not clear to me how Rödl’s analysis of Hegel’s argument in the paper under dis-
cussion relates to the views expressed in Rödl’s book. If I am right, Hegel wants to
show that the most immediate grasp we have of ourselves as willing subjects, as
capable of choosing between contrasting drives, does not reflect the essence of
our being subjects of the will. This essence is only displayed in our recognition of
the idea of a general will expressed in the concept of right. Through this renewed
look at ourselves as willing subjects, the consciousness that we have of ourselves
as individual subjects is drastically changed. As we have seen, Rödl claims in his
book Self-Consciousness that the subject has an immediate grasp of herself as an
I and that this grasp is an instance of ‘spontaneous’ knowledge. Now, Hegel
would surely describe the development of self-consciousness as a spontaneous de-
velopment of the subject as Geist. However, what seems to be in contrast to Rödl’s
book on self-consciousness is the fact that the development of self-consciousness
for the subject of a general will needs mediation and in the course of this mediation
we discover that the most immediate grasp of ourselves as willing subjects is not a
true representation of ourselves and our will.
Moreover, for Hegel, the necessity to go beyond the immediate image we
have of ourselves as free willing subjects displays the need to overcome a purely
formal representation of the will.
Rödl’s ‘materialist’ view of self-consciousness can also be seen as a criticism
of a purely formal conception of the ‘I,’ but it is not easy to see how his view can
be related to Hegel’s. Hegel’s critique of formalism requires that a proper self-rec-
ognition of myself as a free willing subject is mediated by an objective represen-
tation (in our discussion, the representation of right). On the other hand, in his
book, Rödl seems to connect his materialist view of self-consciousness to the im-
mediate (and spontaneous) knowledge I have of myself.
To put the question more simply, we might say that it is not clear what
should come first in terms of importance. If we follow Hegel, it seems that the
more complex view of self-consciousness resulting from the dialectical develop-
ment of thought reveals our essence as subjects of the will. By contrast, Rödl
seems to give – at least in his book on self-consciousness – a much more impor-
tant role to our immediate grasp of ourselves as subjects. If we interpret Rödl’s
article in connection with his book on self-consciousness, the self-consciousness
of the subject of a general will could only add something to our basic and imme-
diate self-consciousness, but not reveal the essence of the latter.
Maybe an answer to these worries could be found in Rödl’s account of our re-
lationship with other subjects through the second person. In the last chapter of his
book Self-Consciousness, Rödl tries to show that the way in which we refer to other
224 Gabriele Gava
subjects, by means of the second person, has the same basis as my capacity to refer
to myself as an ‘I.’⁸ Rödl also makes reference to the second person in the paper
under discussion here. Accordingly, he stresses that in the determination of the fac-
ulty of ‘choice’ as ‘relation’ “the will itself has first of all a general reality”⁹ and this
determination of the faculty of choice “is the general act, the act of a general sub-
ject.”¹⁰ The relationship between two subjects is thus the first way in which a gen-
eral will becomes determinate. “A relation that is an act of choice is a shared act of
choice, which is represented first personally by both [i.e., the ‘I’ and the ‘you’] and
in one act.”¹¹ Thus, this is a way in which the self-consciousness of a general will
first becomes determinate. Rödl therefore reserves a special place for the concept
of the second person in both the article under discussion and his book on self-con-
sciousness. However, in these passages on the second person, we find the same am-
biguity between two different viewpoints on self-consciousness. Accordingly, we can
read Rödl’s paper as saying that a reference to another subject through the second
person is a condition of gaining a true self-conscious representation of myself as a
willing subject (this seems to be in line with a more Hegelian line of reasoning), or
we can just see the second person as the correct way to understand our knowledge
of other subjects (this appears to be what Rödl says in his book and in this case, the
immediate spontaneous grasp of myself as an ‘I’ would preserve its priority).
To conclude, it is not easy to see how Rödl would account for the relation-
ship between the self-consciousness of the subject of a general will, which he
has developed in the paper under discussion, and the concept of self-conscious-
ness that he has presented in other works. It seems to me that he has basically
two options: he could either stress that the self-consciousness of the subject of a
general will he presents in his paper simply adds another perspective on the sub-
ject, which is different from the one he introduced in his book. This would prob-
ably prevent contradictions between different works, but it would get him into a
position less Hegelian than the one he seems to be willing to endorse in his
paper. Or, he could stress that the self-consciousness of the subject of a general
will he analyzed in his paper reveals something essential about our way of refer-
ring to ourselves in the first person. In this case, he would need to revise the ac-
count of spontaneity and unmediated reference he developed in his book.
I
Ohne auf den besonderen Einwand stoßen zu müssen, kann thesenartig gesagt
werden, dass die Metaphysik in ihrem Wesen durchaus abendländisch ist. Sie
entstand bei den Altgriechen und entwickelte sich durch die abendländische
Denktradition hindurch. Allerdings verstand sie sich in ihrem Universalitätsan-
spruch nicht als beschränkt durch ihren lokalen Entstehungsort. Weder Platon
noch Aristoteles hat gedacht, dass idea oder ousia nur für die Griechen gültige
Ideen sind. Auch in der Neuzeit konzipierten Descartes und Leibnitz die mathesis
universalis. Der Metaphysik wurde, wie Kant schreibt, der Name Königin aller
Wissenschaften gegeben. Der Titel Königin will sagen, dass alle Wissenschaften
das Vorbild ihres Denkens eben in der Metaphysik finden. Man könnte dieses
Vorbild wiederum thesenartig das ‚rational begründende Denken‘ nennen. Im
Mutterleib dieser Königin wuchs der Embryo der modernen, rationalen Wissen-
schaft und Technik auf. Es war kein Wunder, dass Europa historisch zum einzigen
Geburtsort der Wissenschaft und Technik wurde.
Die empirischen Kunden im Bereich der Medizin, der Architektur, der Kos-
mologie, des Ackerbaus usw., die sich in den antiken Zivilisationen wie China,
Ägypten, Mesopotamien, usw. entwickelt hatten, führten nicht zur rationalen
Wissenschaft, die sich mit der heutigen Technologie verbindet. Thales gilt deshalb
als der erste Philosoph, weil er mit seinem Wort, das Prinzip aller Dinge sei das
Wasser, den Denkhorizont eröffnete, wie Hegel in seinen Vorlesungen über die
Geschichte der Philosophie sagt, den Gedanken des ‚Prinzips‘ eröffnete, der in den
empirischen Kunden nicht bewusst gemacht wurde.
Die Stelle der Metaphysik als Königin wurde allerdings teilweise gerade an-
gesichts der von ihr geborenen Kinder, der von der Physik und der Kosmologie
vertretenen Naturwissenschaft, erschüttert. Kant deckte die Klage der Königin
Hecubas mit der Klage der Metaphysik: „Einst war sie die mächtigste auf der Erde,
jetzt aber ist sie verstoßen und verlassen.“¹ Die rational begründende moderne
Wissenschaft hat die Metaphysik verstoßen und verlassen. Die positivistisch-
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (KrV), A, VIII: „Hecuba: modo maxima rerum, tot
gerenis natisque potens – nunc traho exul, inops“.
226 Ryôsuke Ôhashi
moderne Wissenschaft leistete immer größere Erfolge, angesichts deren die Me-
taphysik in ihrer raison d’être in Frage gestellt wurde. Nach dem letzten großar-
tigen Kampf des deutschen Idealismus um die Rehabilitierung und den Neuauf-
bau der Metaphysik kam Nietzsche, dessen radikaler Nihilismus als das Ende der
metaphysischen Seinslehre, somit der Metaphysik gilt, und die Erklärung des
Endes der Metaphysik wurde in der Philosophie des 20. Jahrhundertes zum Ge-
meinplatz. Der Kampfplatz, wie ihn Kant die Lage der Metaphysik bezeichnete,
scheint seitdem ganz still geworden zu sein.²
Wenn jetzt vom ‚neuen Bedürfnis der Metaphysik‘ die Rede sein, und dieses
neue Bedürfnis tatsächlich irgendwo in irgendeiner Form existieren soll, so würde
es wohl nur in einer neuen Perspektive des Denkhorizontes zu beanspruchen sein.
Wenn ein solcher Denkhorizont tatsächlich eröffnet werden kann, wird auch die
abendländische Herkunft der Metaphysik und deren Tragweite in einem neuen
Licht gesehen werden. Ob ein solcher Anspruch tatsächlich geöffnet und ge-
rechtfertigt werden kann, ist die Frage des vorliegenden Vortrags.
Die gesuchte neue Denkperspektive wurde eigentlich schon lange vor der
heutigen Globalisierung eröffnet, wobei ein neues Bedürfnis der Philosophie jedes
Mal geäußert wurde, allerdings ohne dass dieses Bedürfnis wirklich bearbeitet
wurde. Einige Zeugnisse davon sollten hier zitiert werden.
Als Schelling, der den Lehrstuhl Hegels an der Humboldt-Universität Berlin
übernahm und seine Philosophie der Offenbarung als Gegenstück gegen die
Hegelsche Philosophie konzipierte, schrieb er in der Einleitung:
Und wie viele und welche inhaltsvolle Jahrhunderte sind nun inzwischen über den
menschlichen Geist hinweggegangen; wie hat erst durch das nach Europa verpflanzte
Christenthum, dann durch die in neuester Zeit fast unbeschränkt erweiterten Weltverbin-
dungen Orient und Occident nicht bloß sich berührt,wie sind sie gleichsam genöthigt worden
sich in einem und demselben Bewußtseyn zu durchdringen, einem Bewußtseyn, das schon
darum allein zum Weltbewußtseyn erweitert seyn sollte!³
KrV, A. VIII.
Schelling, Friedrich W. J. (1928): „Philosophie der Offenbarung“. In: Schellings Werke. Nach der
Originalausgabe in neuer Anordnung. Manfred Schröter (Hrsg.). Sechster Ergänzungsband, Erstes
und zweites Buch. München, 185x., XIII, 8.
Eine/Die Andere Metaphysik im interkulturellen Denkhorizont 227
Europäer war historisch eine Folge der Expansion der europäischen Welt in der
sog. ‚Zeit der Entdeckung‘, die etwa von der Mitte des 15. Jahrhundertes bis zur
Mitte des 17. Jahrhundertes dauerte, und als die erste Ankündigung der Globali-
sierung von heute gilt.
Es sei erlaubt, nun direkt zum 20. Jahrhundert zu springen. Es war Martin
Heidegger, der das Ende der Metaphysik am gründlichsten erklärte, indem er die
abendländische Metaphysik als Geschichte der Seinsvergessenheit bezeichnete,
deren Folge der Nihilismus sein soll, und der Nihilismus bedeutet den Untergang
der Seinslehre, wie sie einst von den Griechen als die erste Philosophie bezeichnet
wurde, und in der abendländischen Metaphysik entwickelt wurde. Nach Hei-
degger ist auch die restlose Vernetzung der modernen Technik namens ‚Ge-stell‘
die äußerste Folge der Metaphysik. Alles wird in diesem Ge-stell vor-gestellt, be-
stellt, her-gestellt, so dass die Natur im Ganzen durchaus entwurzelt wird. Er
suchte ein anderes Denken, dessen eine Möglichkeit er in der Begegnung mit dem
asiatischen Denken erneut fand. ‚Erneut‘ heißt, dass er schon in der griechischen
Antike dasselbe Bedürfnis sieht.
Nur kraft der schärfsten, aber schöpferischsten Auseinandersetzung mit dem
ihm (dem Griechentum) Fremdesten und Schwierigsten – dem Asiatischen –
wuchs dieses Volk hinauf in die kurze Bahn seiner geschichtlichen Einmaligkeit
und Größe.⁴
Heidegger sah allerdings, dass diese Auseinandersetzung bis heute noch gar
nicht weit genug vollzogen wird.
Es bedarf auch hier keiner prophetischen Gaben und Gebärden, um daran zu denken, dass
dem planetarischen Bauen Begegnungen bevorstehen, denen die Begegnenden heute auf
keiner Seite gewachsen sind. Dies gilt für die europäische Sprache und für die ostasiatische in
gleicher Weise, gilt vor alldem für den Bereich ihrer möglichen Zwiesprache. Keine von
beiden vermag von sich aus diesen Bereich zu öffnen und zu stiften.⁵
Heidegger ahnte in der Begegnung des europäischen und asiatischen Denkens die
Möglichkeit eines anderen Denkens, obwohl er selber in dieser Ahnung stehen-
blieb, ohne weiter zu gehen.
Einen ähnlichen Schritt kann man auch bei Michel Foucault sehen, der
ebenfalls vom „Ende der abendländischen Philosophie“ redet. Er glaubte in der
Begegnung mit dem japanischen und chinesischen Denken die Möglichkeit eines
anderen Philosophierens gesehen zu haben. Während seiner Japan-Reise 1978
Heidegger, Martin (1983): „Wege zur Aussprache“. In: Gesamtausgabe (HGA). Bd. 13. Hermann
Heidegger (Hrsg.). Frankfurt am Main, 21.
HGA 9, 424.
228 Ryôsuke Ôhashi
führte er in einem Zen-Tempel ein Gespräch mit den Bonzen und einem Zen-
Meister. Dort redete er vom Wendepunkt der europäischen Philosophie. „Wenn es
also eine Philosophie der Zukunft gibt, dann muss sie außerhalb Europas ent-
stehen, oder sie muss als Folge von Begegnungen und Erschütterungen zwischen
Europa und Nicht-Europa entstehen.“⁶
Bis zu diesem Punkt ist Foucault derselben Ansicht wie Heidegger, obwohl er
behauptet: „Es gibt keinen Philosophen, der diese Epoche markiert.“⁷ Nur in der
Frage, wo man die konkrete Möglichkeit des anderen Philosophierens sieht, steht
Foucault woanders als Heidegger. Er betont nämlich immer wieder die Bedeutung
der ‚Übung‘ im Denken. So war er von der Körperhaltung während der Zen-Me-
ditation, d. h. der geraden Haltung, besonders beeindruckt. Er fand in ihr „neue
Verhältnisse zwischen Geist und Körper, und außerdem neue Beziehungen zwi-
schen dem Körper und der Außenwelt“.⁸
Seine Betonung der ‚Übung‘ ist die Kehrseite seiner Kritik am europäischen
Denken, das zwar den Universalitätsanspruch erhebt, aber dieser Anspruch zu-
gleich als Gewalt in der neuzeitlichen Institutionalisierung der menschlichen und
sozialen Phänomene wie Wahnsinn, Gefängnis, Geschlecht, usw. angetan wird.
„Europa ist der Geburtsort der Universalität. In diesem Sinne zieht die Krise des
europäischen Denkens die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich, und sie
betrifft auch die ganze Welt sowie das allgemeine Denken der Welt.“⁹ Er sagt im
genannten Zen-Tempel, dass für ihn Japan ein Rätsel ist. „Das bedeutet nicht, dass
Japan der westlichen Rationalität entgegengesetzt ist. In Wirklichkeit gründet
Letztere [die westliche Rationalität] überall sonst Kolonien, während sie in Japan
von einer solchen Gründung weit entfernt ist. Vielmehr wird sie von Japan kolo-
nisiert.“¹⁰ Foucault wollte damit sagen, dass das geistige Leben in Japan, wie es
beispielsweise in einem Zen-Tempel Wurzeln schlägt und weiter gebildet wird, gar
nicht durch das westlich rationale Denken kolonisiert wird. Umgekehrt scheint
Japan die westliche Rationalität voll akzeptiert und sich angeeignet zu haben,
ohne sein geistiges Leben zu verlassen. Allerdings gestand Foucault, dass er nicht
ständig an Japan interessiert ist. Er blieb als Autors des Buchs Archäologie des
Wissens ‚wissensarchäologischer‘ Beobachter des asiatischen Denkens, ohne
selber dieses Denken zu ‚üben‘.
Foucault, Michel (2003): „Michel Foucault und das Zen: ein Aufenthalt in einem Zen-Tempel“.
In: Daniel Defert, François Ewald (Hrsg.): Dits et Ecrits. Bd. 3. Frankfurt am Main, 781.
Foucault 2003, 781.
Foucault 2003, 779.
Foucault 2003, 779.
Foucault 2003, 778.
Eine/Die Andere Metaphysik im interkulturellen Denkhorizont 229
II
Um die Möglichkeit und Wirklichkeit eines anderen Denkens in konkretisierter
Form ins Auge zu fassen, ist jetzt zu fragen, ob und welcher Ansatz zu diesem
anderen Denken bisher gemacht werden konnte, und zwar von der asiatischen
Seite. Denn der einseitige Liebesruf (love call) von der europäischen Seite be-
fruchtet nichts. In diesem Zusammenhang möchte ich einen japanischen Philo-
sophen heranziehen, den Gründer der Philosophie der Kyoto-Schule ist: Kitarô
Nishida (1870 – 1945). Biographisches zu Nishida darf ich jetzt überspringen, und
zwar nicht nur wegen der beschränkten Zeit, sondern auch teilweise deshalb, weil
sein Name inzwischen in Europa bekannt geworden ist. Dazu sei nur die von mir
herausgegebene Textsammlung mit der Einführung anzugeben, die letztes Jahr in
der 2. Auflage in Deutschland erschien. ¹¹ Ich komme direkt zu einem Text von ihm,
der betitelt wird: Das Problem des zurückgelassenen Bewusstseins. In diesem
Aufsatz redet er ausdrücklich von der ‚bisherigen Metaphysik‘ unterschiedenen
‚anderen Metaphysik‘.
Der Ausdruck ‚das zurückgelassene Bewusstsein‘ weist auf das Problemge-
biet, dessen Erörterung in den Augen Nishidas das Desiderat der europäischen
Metaphysik und Philosophie bleibt. Nishdia meint, dass in der europäischen
Philosophie das Erkenntnissubjekt zwar mit dem Namen der Seele oder des Be-
wusstseins immer wieder problematisiert wurde, aber meistens in der Weise des
objektivierten Subjektes, als des bewussten Bewusstsein, nicht aber als das vor
jeglicher Objektivierung diese selbst vollziehende, bewusstseiende Bewusstsein.
In den Augen Nishidas herrschte in der europäischen Philosophie seit der Grie-
chen bis zur Gegenwart, die Tendenz, die zu betrachtende Sache immer zu ver-
gegenständlichen und zu objektivieren, was zwar durchaus einen Sinn hat, dabei
wurde aber das bewusstseiende Bewusstsein als solches, das Wesen der Aktivität
des Wissens selbst als Problem zurückgelassen.
Nishida, Kitarô (1987– 1989): „Das Problem des zurückgelassenen Bewusstseins“ (Torinoko-
saretaru ishiki no mondai). In: Nishida Kitaro Gesamtausgabe (Nishida Kitarô zenshû) (NKZ). Bd.
VII. 3. Auflage. Tôkyô, 5.
KrV, A 348 ff.
Eine/Die Andere Metaphysik im interkulturellen Denkhorizont 231
fassen. Der Ort im Sinne Nishidas ist, um die Darstellung vorwegzunehmen, der
‚Ort des Nichts‘, der in der Tradition der Seinslehre der europäischen Philosophie
nicht thematisiert wurde.
Ein Hintergrund dieses Ortgedankens bei Nishida ist der Buddhismus, in dem
die Wesensnatur des Lebewesens als Leere (synnyata), als Nichts, aufgefasst wird.
Aber Nishida kam zu seinem Gedanken des Nichts erst in Auseinandersetzung mit
der griechischen Philosophie zustande. Einerseits sagt er: „Die tiefe und wahr-
hafte Bedeutung des Nichts lässt sich in der griechischen Philosophie nicht fin-
den.“¹⁴ Aber der platonische Gedanke des τόπος τῶν εἰδῶν oder χώρα (in Tima-
ios), und vor allem die Definition der ousia im Buch Δ der aristotelischen
Metaphysik, waren entscheidende Anstöße für Nishida. Er paraphrasiert diese
aristotelische Definition, und sagt, ουσια sei das, was zum Satzsubjekt eines Ur-
teils wird, ohne selber zum Prädikat zu werden.¹⁵ Die Substanz ist nach dieser
paraphrasierten Definition das letzt zu erreichende Einzelne in einer Aussagen-
reihe des objektivierenden Urteils. Sie selbst wird zu keinem Prädikat mehr für ein
anderes Satzsubjekt. In einem Urteil ‚A ist B‘ ist das Satzsubjekt A ein Objekt, das
mit dem Prädikat B ausgesagt wird. Dieses Prädikat B kann wiederum in einem
anderen Urteil ‚B ist C‘ zum Satzsubjekt prädiziert und objektiviert werden. Diese
Objektivierungsreihe endet dort, wo der äußerste Punkt X gefunden wird, der
selbst nicht mehr wieder prädiziert, d. h. nicht mehr mit dem weiteren Prädikat
ausgesagt zu werden braucht. Als dieses transzendente X, das Äußerste in der
Richtung auf die Objektivierung durch Urteile, muss die Substanz gesehen werden.
Nishida dachte nun, dass in der umgekehrten Richtung, im Rückgang zum
Quell des prädizierenden Aktes selbst, zum Innersten des Subjektes selbst, das-
jenige gefunden werden muss, was als das ‚Selbst‘ des prädizierenden Subjektes
gilt. Dieses letzte prädizierende Subjekt kann nicht mehr als ein substanziell
Seiendes objektiviert bzw. gesetzt werden. Es ist als solches insofern nur als das
Nichts aufzufassen, aber nicht im Sinne des leicht vorstellbaren leeren Vakuums,
sondern als der Ort, in dem der Urteilsakt überhaupt besteht. Auch die letzte
Substanz muss sich erst in ihm finden.
Es ist zu bemerken, dass der Ort in diesem Sinne im Buddhismus als das
‚Selbst‘ des Menschen bzw. als die Buddha-Natur bzw. als Nirwana erfahren wird.
Als Sache der Lebenserfahrung ist der Ort nichts anderes als unsere Wesensnatur,
das Worin aller Aktivitäten des ichlichen Willens, aber er selber entzieht sich
diesem Willen. Er ist der Ort, wo erst alle Erscheinungen entstehen. Nishida wollte
diese Erfahrung nicht nur als die Sache der religiösen Übungspraxis belassen,
NKZ, VII, 7.
NKZ, VII, 13.
232 Ryôsuke Ôhashi
sondern als die Sache des Denkens im Element des philosophischen Denkens
bearbeiten, und von ihr ausgehend philosophieren. Die gewöhnliche Subjekt-
Objekt-Logik genügte dabei nicht. Eine ‚Ortlogik‘, die Logik des Nichts, musste
entwickelt werden. Nishidas Philosophie lässt sich im Großen und Ganzen als die
Mühe um die Ortlogik bezeichnen.
Sehen wir ein Stück weiter, wie Nishida in diesem Zusammenhang die neu-
zeitliche Philosophie betrachtete. Denn wir wissen, dass diese neuzeitlich-euro-
päische Philosophie als Erkenntnislehre entwickelt wurde, somit den Charakter
der Bewusstseinslehre hat. Weiterhin wurde auch das bewusstseiende Bewusst-
sein beispielsweise in der Wissenschaftslehre Fichtes ausdrücklich ins Auge ge-
fasst.¹⁶ Fichte würde, sagen, dass das von Nishida gemeinte Problem des zu-
rückgelassenen Bewusstseins in seiner Wissenschaftslehre nicht existiert. Man
müsste allerdings die Ansicht Fichtes über das bewusstseiende Bewusstsein
eingehend mit der Ansicht Nishidas vergleichen. Weiterhin könnte man sagen,
dass das Problem noch viel früher, schon bei Aristoteles, ins Auge gefasst wurde,
als er von der νόησις νοήσεως redet. Bekannterweise hat Hegel in der Enzyklo-
pädie diese Formel an seine Philosophie angewendet.
Statt einen ausführlichen Vergleich des Gedankens Nishidas mit dem deut-
schen Idealismus zu versuchen, sei hier nur darauf hinzuweisen, dass beim
deutschen Idealismus der Grundgedanke der des ‚Absoluten‘, und der Grundge-
danke bei Nishida der des absoluten Nichts ist. Das Absolute im deutschen
Idealismus ist der philosophische Name für Gott, der nicht objektiviert werden
kann und kein bloß Seiendes ist, somit insofern das ‚Nichts‘ ist, wie in der
deutschen Mystik tatsächlich auch so aufgefasst wird. Das absolute Nichts an-
dererseits ist kein bloßes Nichts, sondern eben ‚absolut‘, und insofern das Ab-
solute. Beide sind nicht der voneinander verschiedene Sachverhalt. Aber dennoch
ist die extrem konträre Richtung festzuhalten. Die eine Richtung ist die der
Vollendung und Perfektion des Seins, und die andere ist die des Zurücknehmens
dieser Perfektion und der Rückgang ins Nichts.
Nishida kam, wie gesagt, erst durch die Auseinandersetzung mit der euro-
päischen Metaphysik zu seinem Ortsgedanken. Zu dieser Auseinandersetzung
gehört auch die Beschäftigung Nishidas mit Kant. Nach Kant ist die Erkenntnis die
synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung durch die transzen-
dentale Apperzeption. Man erkennt den Gegenstand, indem man in dem Man-
nigfaltigen der Anschauung die synthetische Einheit bewirkt hat. Nishida weist
aber darauf hin, dass mit dieser synthetischen Einheit das bewusstseiende Be-
wusstsein noch nicht erklärt wird. „Kantische Philosophie geht von vorn herein
vom Gegensatz zwischen dem Subjekt und Objekt aus, wobei das Wissen als ein
subjektiver Akt aufgefasst wird“.¹⁷ Wenn das Subjekt bloß als das dem tran-
szendenten Gegenstand Gegenüberstehenden aufgefasst wird, wird es als eine Art
des Seienden objektiviert, und nicht als das bewusstseiende Bewusstsein ver-
standen. Dies gilt nach Nishida letztlich auch von der Phänomenologie Husserls.
Nishida schreibt, „dass auch Husserls Phänomenologie nur die Struktur des be-
wussten Bewusstseins erläutert, ohne das Wesen des bewusstseienden Be-
wusstseins zu problematisieren. Auch wenn er vom reinen Bewusstsein redet, ist
das nichts anderes als das gedachte Bewusstsein.“¹⁸
Nishida versuchte, das in seinen Augen einst von Platon und Aristoteles an-
gesetzte, aber nicht thematisch weiter geführte, und am Ende zurückgelassene
Problem des bewusstseienden Bewusstseins als ‚Ort des Nichts‘ aufzufassen und
durch eine Logik des Nichts zu entwickeln. Das war ein Versuch, eine andere
Metaphysik zu entwerfen. Nishida selbst schreibt dies:
Die bisherige Metaphysik hat in der Richtung der Objektivierung des Satzsubjekts das Sein
gesehen. Auch die Metaphysik nach Kant hat sich von dieser Tendenz nicht befreit. Mir
scheint, dass man eine andere Metaphysik anbahnen kann, indem man in der Richtung des
Rückgangs zur Prädikation selbst etwas Transzendentes sieht.¹⁹
Ich möchte zum Schluss zwei Bemerkungen machen. Die erste Bemerkung ist mit
dem Wort Nishidas selbst zu ersetzen, der zu seinem Aufsatz bemerkt:
Dieser Aufsatz wurde in der Zeit verfasst, in der ich in den Gedanken des ‚Ortes‘ eintrat. Was
ich damals bloß negativ als den Ort des absoluten Nichts gedacht hatte, ist das, was ich jetzt
den Standpunkt der Tatanschauung oder der geschichtlichen Wirklichkeit nenne.²⁰
Um diese erste Bemerkung zu verstehen, ist zunächst zu sagen, dass der Terminus
Nishidas ‚Tatanschauung‘ ein Name für das bewusstseiende Bewusstsein ist, das
jeder Tat des Menschen eingesetzt ist. Die geschichtliche Wirklichkeit ist unsere
wirkliche Welt, die je und je durch die Tatanschauung²¹ der Menschen gestaltet
Nishida 1926, 9.
Nishida 1926, 10.
Nishida 1926, 17.
Nishida 1926, 17.
Das originale Wort lautet: Kôi-teki-chokkan. Kôi heißt die Tat, teki ist Genitiv und chokkan heißt
die Anschauung. Nishida meinte mit der ‚Tatanschauung‘, dass jede Tat untrennbar verbunden
wird mit einer Anschauung, die ihr zugrundeliegt.Wird bei Fichte mit der ‚Tathandlung‘ der Urakt
des Bewusstseins gemeint, so bedeutet die ‚Tatanschaung‘ Nishidas die Grundstruktur der Tat
überhaupt.
234 Ryôsuke Ôhashi
wird. Der bisher zitierte Text entstand 1926. Nishida setzte sein Philosophieren bis
zu seinem Tod 1945 fort. Sein Gedanke des absoluten Nichts wurde bis zum Ende
seines Philosophierens beibehalten, wobei der Gedanke nicht als eine neue Be-
wusstseinslehre blieb, sondern sich in Form der Geschichts- und Religionsphi-
losophie entwickelte. Im vorliegenden Vortrag wurde von dieser Weiterentwick-
lung des Ortsgedankens abgesehen. Es ist nur darauf hinzuweisen, dass Nishida
ausgehend vom Problem des zurückgelassenen Bewusstseins eine andere Meta-
physik im Bereich der Geschichts- und Religionsphilosophie entwickelte, und
diese Philosophie zum Quell der Philosophie der Kyoto-Schule in mehreren Ge-
nerationen in verschiedenen Richtungen wurde.
Die zweite Bemerkung ist, dass Nishidas Versuch einer anderen Metaphysik
als ein philosophiegeschichtliches Ereignis zu verstehen ist, wobei der Sinn der
Philosophiegeschichte in Frage gestellt wird. Die bisherige Philosophiegeschichte
war die Geschichte der abendländischen Philosophie. Die Philosophiegeschichte
verbindet sich aber untrennbar mit der Philosophie selbst, wie Hegel in seinen
Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie erörterte.²² Wenn ein aus der
außer-europäischen Denktradition stammendes Denken sich im Element des
durchaus europäisch philosophischen Denkens entwickelt, und die Aufsätze zu
dieser Philosophie in europäischen Sprachen jetzt weit mehr als dreihundert
zählen,²³ dann kann die Philosophiegeschichte nicht mehr die Geschichte der
abendländischen Philosophie bleiben, wie diese bisher von Autoren der Philo-
sophiegeschichte dargestellt wurde. Die Philosophie des Nichts, wie sie Nishida
teilweise in der asiatischen Denkperspektive entwickelte, ist ein philosophiege-
schichtliches Ereignis, weil sie eben eine wichtige Korrektur des Charakters der
Philosophiegeschichte mit sich bringt. Die Philosophiegeschichte muss einen
interkulturellen Charakter haben. Was der philosophische Dialog zwischen Ost
und West für die Zukunft der Metaphysik bringt, wie er auf der europäischen Seite
einst von Heidegger geahnt, von Foucault beobachtet und auf der japanischen
Seite von Nishida angesetzt wurde, verweist auf eine neue Phase der Philoso-
phiegeschichte, in der vielleicht auch ein neues Bedürfnis der Metaphysik ent-
deckt wird. In diesem Sinne darf die Metaphysik als die ‚künftige‘ bleiben, wie
einst Kant im Untertitel seiner Prolegomena vermerkt hat.
Hegel, Georg W. F. (1959): Einleitung in die Geschichte der Philosophie, Johannes Hoffmeister
(Hrsg.). Hamburg, 35 f.
Vgl. die Bibliographie in Ohashi 2011. In dieser Bibliographie werden die in europäischen
Sprachen verfassten Aufsätze nicht nur über Nishida, sondern auch über die Philosophen der
Kyoto-Schule aufgezählt, allerdings bis 2008. Im Hinblick auf die explosive Zunahme der Se-
kundärliteratur zu Nishida in den vergangenen zehn Jahren ist zu ahnen, dass die in der Bi-
bliographie gezählte Zahl 315 jetzt weit überholt ist.
Sanem Yazıcıoğlu (Istanbul)
The Promise of Metaphysics
A Response to the Paper of Ryôsuke Ôhashi
The ‘new’, beyond doubt, is one of the most challenging words since the formation
of the modern world. The new lands, new orders, new science of those periods are
today replaced by the new aspects, new policies, and mostly by the new consumer
goods. In all those usages, the new is the announcement of something good that is
coming to be in the future. Thus, the major character of the new is its intrinsic re-
lation to the future and its hidden promise of the ‘not yet seen or not yet happened.’
On the other hand, what we confront as the new is often difficult to distinguish from
other things that have already been seen or have already happened or from a similar
form of them. Moreover, the distinction could only be possible by knowing and re-
ferring to these previous ones; not only to distinguish whether what is confronted is
new or other, but also to understand the difference between the two. However, from
the ontological perspective, knowing the others as a whole is neither considerable
nor possible. Then why are those notions of ‘the new’, ‘the other’ or ‘the new other’
receive major attention in the modern era and the contemporary world? This must
be related to what they promise. But how can we consider the content and the ful-
fillment of those promises?
Mentioning the novelty of contemporary metaphysics has similar difficulties
as the new. Especially when considering the difficulty of subsuming the meta-
physical traditions in Western thought under the one general title of metaphy-
sics, because it rather appears in its manifoldness due to its changing temporal
and spatial horizon. However, first of all – as Ryosuke Ohashi indicated at the
beginning of his lecture –, in such manifoldness, there is also the universality
of some of those metaphysical problems that are very well capable of transcend-
ing a certain time or place. Therefore, Ohashi claims the possibility of thinking in
an intercultural horizon. Yet, two interrelated questions need to be answered in
order to fulfill such a possibility: first, as he also indicates, it has to be asked
how this possibility might be saved from the destructive effect of a uniformizing
rational thinking. Second, is it indeed possible to mention a novelty in metaphy-
sics offered by the 20th century continental thought against any form of rational-
ity? There are still significant difficulties to consider in the implications of those
ideas offered by continental thought on the very notion of plurality. Hence, be-
fore transplanting the intersubjective and intercultural aspect of plurality to any
possible horizon of understanding, would it be possible to call intercultural
236 Sanem Yazıcıoğlu
thinking a horizon ahead of us? These two are closely related to Ohashi’s lecture
and the possibility of an ‘other’ metaphysics.
I
From the aspect of universality of the metaphysical problems, the dialogue be-
tween Plato and Nishida, as well as Ohashi’s dialogue with them, are examples
of the three phases of the continuity and the transcendence of these problems.
However, in his lecture, the dialogue proposes something more than continuity.
Nishida’s notion of nothingness offers a central shift that can provide another
point of departure for metaphysics. This shift, as he claims, is a possibility
that can be gained by confronting a wider horizon of thinking.¹ Nevertheless,
this confrontation is not without difficulties. As Ohashi indicates, the major dif-
ficulty in contemporary thinking is the destructive effect of the positivistic-mod-
ern scientific way of rational thinking. This new form of rational thinking has a
high impact on contemporary metaphysics due to its tendency to unify the multi-
plicity of the explanatory models to one principle.
This reductionist aspect and the classical metaphysical clues coming from
history are responded to by continental philosophy with a series of rebellious ar-
gumentations. Although the core of those argumentations can be caught in sev-
eral ways, the basic characteristic can be divided into two headings: (i) overcom-
ing polarizations like subject and object, intelligible and sensible etc., and the
hierarchies imposed on those polarizations, and (ii) the abandonment of the
ideal of a secure ground, the security of which is guaranteed by an unchanging
principle and the attempts of its foundation. These attempts mostly show them-
selves in a quest for the truth in its internal, circular perfection. Although they
can appear in several different forms, similar propositions can still be observed
in them, whether in the idea of totality or in the dialectical process or in a tran-
scendental grounding.² In this respect, contemporary thinking owes much to
Husserl’s suggestion of the “principle of presuppositionlessness”³ (Prinzip der
Voraussetzunglosigkeit) as the major task of philosophy and, after him, to the
radicalization of phenomenology by Heidegger in his idea of the ontological dif-
See also Ohashi, Ryôsuke (ed.) (22011): Die Philosophie der Kyôto-Schule: Texte und Einführung.
Freiburg.
Vattimo, Gianni (1985): Art’s Claim to Truth. Edited by Santiago Zabala and translated by Luca
D’Isanto. New York, 16 ff.
Husserl, Edmund (1984): Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänome-
nologie und Theorie der Erkenntnis. Husserliana XIX/1. Edited by Ursula Panzer. The Hague, 24.
The Promise of Metaphysics 237
II
One of those crucial conceptual relations is the ancient problem of singularity
and universality, which is transposed into the relation of singularity and plural-
ity in contemporary philosophy. As a result, much literature can be found on the
full recognition of a singular appearance and its unique quality of creating
meaning. The horizon of intercultural thinking assumes the recognition of the
difference of a culture in its constant interaction with other cultures. Such a dif-
ference of aspects can provide the plurality in which another or new metaphysics
can flourish. In this sense, metaphysics can also be interpreted as the concrete
possibility of learning from another mind and another culture.
This pluralistic perspective, as one can conclude from Ohashi’s lecture, is
the only possible way of looking at these issues differently, and to gain another
aspect of a new horizon. The new horizon that the lecture refers to is exemplified
by Nishida’s investigations of the major metaphysical texts from Plato to his own
lifetime. In those readings, Nishida observes a continuous lack of thematization
of nothingness and the conscious consciousness (das bewusstseiende Bewusst-
sein) of the self without thematizing it as an object. Indeed, such a difference
in aspect can be a radical point of departure for an ‘other’ metaphysics, if not
a new one. In this case, there is no significant importance of knowing or saying
beforehand whether it is new or other. However, from the viewpoint of intercul-
turalism, the major attention needs to be given to the possibility of the confron-
tation with another philosopher and culture, since only this confrontation will
lay the focus on how Nishida and an other metaphysic is to be understood.
Categorically, another person, metaphysics or culture can seem too distant.
However, if there were any possibility of a new metaphysics, it can only be ac-
tualized when Nishida’s (or another philosopher’s) texts are discussed as
much as other philosophers from the tradition of western thought. Hence, the
238 Sanem Yazıcıoğlu
more decisive question here is how to give an equal recognition to the other per-
son, metaphysics or culture. Although a discussion of the concept of equality
and how it is practiced in the contemporary world are beyond the limits of
this paper, several crucial questions still refer to the same points, whether it is
on the level of intersubjectivity or interculturalism: the primary need for the ac-
ceptance and recognition of the other. Nevertheless, since the experience of
equal recognition is not intrinsic to world history, and since it is rather dominat-
ed by power as Arendt and Foucault rightly claim, the possibility of accessing the
new aspect remains a fundamental question and point of departure. In many
senses, this equal recognition necessitates such a new radical departure, since
it was not experienced before. This departure is also where the notion of the
new surpasses and demands more than the contextual offer of an other, since
this offer can be the similar other, rather than the new other.
Using the end of metaphysics, Heidegger offers such a fundamental depar-
ture point in his later works. In Beiträge, he indicates that the possibility of a
new departure can be accessible by a leap: “Since the beginning occurs only
in the leap, even this preparation must already be a leaping and, as preparatory,
must originate in and spring from the confrontation (interplay) with the first be-
ginning and with its history.”⁴ In the light of Ohashi’s lecture, the confrontation
Heidegger mentions here can be interpreted as the ‘intercultural thinking hori-
zon’ and the leap as the reversal of a metaphysical aspect. Nevertheless, the is-
sues I briefly developed above show our distance – for the time being – to the
prior significance of the ‘principle of presuppositionless;’ in this context, this
principle can be transposed into being ready for the recognition of an ‘other’
thought and the changes it may bring. As both the very title of the conference,
which refers to a ‘new desire’ and Ohashi’s lecture, which refers to ‘an other met-
aphysics’ confirm, for a confrontation like this nothing less will be sufficient
than a strong will, a desire, and a future prospection, which is the promise of
the coming metaphysics.
“Nun aber muβ, da der Anfang nur im Sprung geschieht, auch diese Vorbereitung schon ein
Springen sein und als vorbereitend zugleich herkommend und abspringend aus der Auseinan-
dersetzung (Zuspiel) mit dem ersten Anfang und seiner Geschichte”. (Heidegger, Martin
(1989): “Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)”. Gesamtausgabe (HGA). Bd. 65. Friedrich-Wil-
helm von Hermann (ed.). Frankfurt am Main, 228 – 229. Translated by Richard Rojcewicz/Daniela
Vallega-Neu as Contributions to Philosophy (Of the Event). Bloomington, 180.)
Gottfried Boehm (Basel)
Dunkles Licht
Über ikonische Negation
„Ich weiß
nichts Dunkleres
denn das Licht“
Ernst Meister ¹
Francisco de Zurbarán (1598 – 1664) war ein Zeitgenosse des Velázquez. Von
seinen Stillleben ist gesagt worden, sie vermittelten so etwas wie „ontologische
Gewissheit“⁷. Die einfachen, in sparsamer Regie dargebotenen Gefäße bezeugen
deren unerschütterliches Dasein, weil sie keinerlei Ablenkung zulassen. Mehr
‚Ding‘ bzw. dingliche Gegenwart ist in der Malerei nie gewesen. Diese ‚Dinge‘
stehen da: per saecula saeculorum.Worin aber besteht die Unverrückbarkeit dieses
Da? Derartig aufmerksam geworden wird man freilich auch in vielen anderen
Bildern ‚Suggestionen gesteigerter Gegenwart‘ begegnen. Sie operieren mit einer
Verschiebung der Wahrnehmung: von den bildlichen Mitteln auf das sichtbar
gemachte Objekt. So sehr, als ginge es darum, mit dem Bild eine Art Stellvertretung
der Sache oder Person zu erreichen. Damit sie über- oder nachleben können ar-
retiert der Künstler seine Sujets im Werk, und entzieht damit ihre individuellen
Eigenschaften und deren Bedeutungskraft der Vergänglichkeit. Ein Verfahren, das
bei Zurbarán vor allem deshalb überrascht, weil es dem ganz Vordergründigen,
Alltäglichen und Unwürdigen Ewigkeit zumisst.
Einen kurzen Seitenblick verdient an dieser Stelle auch die Gattung des
Trompe l’Œils, die Sandrart „Kunstreichen Augentrug“ genannt hat. Und zwar
deshalb, weil hier die ins Extrem gesteigerte ‚Affirmation‘ ihre Prämissen aufdeckt.
Sie bestehen in einer ‚Täuschung‘. Denn für einen Moment ‚scheint‘ die Darstel-
lung dem Dargestellten nicht nur zu ähneln, sondern an seine Stelle zu rücken. Um
im nächsten Augenblick durchschaut zu werden und so die Kunstfertigkeit des
Künstlers hervortreten zu lassen, der dergleichen vermocht hat. Das Trompe l’Oeil
operiert auf spielerische Art mit ‚Wirklichkeit und Täuschung‘, unter der Vor-
aussetzung allerdings, dass die Leistung des Bildes in einem wörtlichen Realismus
besteht, an der Ähnlichkeit mit seiner Vorlage gemessen werden will. Negation
schleicht sich durch diese Hintertüre wieder ein.⁸
Unser zweites Beispiel entstammt nicht der Kunst – sondern der Wissen-
schaftsgeschichte. Es handelt sich um eine aus der Sternbeobachtung entstandene
Zeichnung des englischen Astronomen Herschel, die zu einer Sequenz weiterer
Blätter gehört. Sie unternimmt es, die Konfiguration eines bestimmten Sternbildes
aus der Fülle der nächtlichen Lichtpunkte herauszuarbeiten, seine Konstellation
zu identifizieren. Ich habe dieses Blatt den Studien von Omar Nasim entnommen.
Mündliche Äußerung von Seckel, Heidelberg 1967. Vgl. zu Zurbarán Anm. 52 und 55.
Vgl. Boehm, Gottfried (2010): „Die Lust am Schein im Trompe-l’Œil“. In: Bärbel Hedinger
(Hrsg.): Täuschend echt. Illusion und Wirklichkeit in der Kunst. Hamburg, 24– 29. Manches spricht
dafür, dass die spätantiken Trompe l’Œil-Diskurse, vor allem bei Plinius, auf die platonische Kritik
reagieren, nach der Bilder doppelt entfernt von der Wahrheit seien (25 – 26).
242 Gottfried Boehm
Mein Dank gilt Omar Nasim und seiner Abhandlung Observing by Hand. Scetching the Nebulae in
the Nineteenth Century (Nasim, Omar [2013]): Observing by Hand. Scetching the Nebulae in the
Nineteenth Century, Chicago, London, 179 u. ö.).
Parmenides 1974, B3: „Denn dasselbe ist Erkennen und Sein“.
Gadamer, Hans-Georg (1996): Der Anfang der Philosophie. Stuttgart, 130 ff., 149 ff.
Dunkles Licht 243
‚Nichtigkeit des Nichtigen‘: den eine Göttin ausspricht und dessen Evidenz der
Text begründet.¹² Parmenides schrieb wie Homer oder Hesiod in Hexametern, ein
philosophischer Dichter, dessen unvergleichlicher Ton bis heute spürbar ist. Die
Wahrheit des Seins, um die es geht, expliziert Parmenides in einer emphatischen
Feier von Licht und Einsicht. Im Proömium schildert er die Fahrt des Erzählers, die
– begleitet von den Töchtern der Sonne und auf einem dahinschießenden Wagen –
aus dem „Haus der Nacht dem Lichte zu“¹³ führt. Die Passage zur Wahrheit
vollzieht sich vermittels eines genau beschriebenen Tors, wo die Mädchen ihre
Schleier vom Gesicht nehmen. Empfangen werden sie von der Göttin – Gadamer
schlägt vor die Namenlose mit Mnemosyne zu identifizieren,¹⁴ die für Erinnerung
und abwägendes Denken steht. Sie eröffnet dem Fahrenden der „überzeugenden
Evidenz unerschütterliches Herz“.¹⁵ Um welche Art von Evidenz handelt es sich?
Sie betrifft das Seiende im Ganzen, die Ordnung des Universums und sie wird
zuerst durch einen denkwürdigen Satz vermittelt. Dessen erste Hälfte lautet: „es
ist, und Sein ist notwendig“ und dessen zweite, inakzeptable Hälfte: „es ist nicht,
und Nicht-Sein ist notwendig.“¹⁶ Macht sich Parmenides blind für die offen-
sichtlichen Veränderlichkeiten der Welt? Gewiss nicht. Denn die Vortrefflichkeit
des Lichtes führt dem ‚Denken‘ die ‚Einsicht‘ zu, dass die Idee der Einheit und
Selbigkeit der Welt im Ganzen, in all ihren Gegensätzen und Bewegungen als
unerschütterliche Evidenz, als zwingend gegeben und das heißt als wahr gelten
kann. Eine Identität aller Dinge, die durch die sinnliche Witterung des Nous er-
fahren wird, der hier nicht die Fähigkeit zu abstraktem Denken bezeichnet, son-
dern viel mit dem sinnlichen Spüren und Berühren zu tun hat, dem aber durchaus
jene Erkenntnis zugebilligt wird, von der das berühmte Fragment spricht.¹⁷
Es gibt also zwei Wege, denjenigen, dass es Ist gibt und Nicht-Sein nicht gibt
und den anderen, der aber als „unerfahrbar“ beschrieben wird: „denn das Nicht-
Seiende kannst Du weder erkennen – noch aufzeigen.“¹⁸ Und wenige Zeilen später
folgt eine eherne Formulierung mit lange nachhallendem Nachdruck: „Denn Sein
gibt es, Nichts aber gibt es nicht: Das heiße ich Dich bedenken.“¹⁹ Parmenides
befestigt die schattenlose Präsenz des Seins, indem er zeitliche Veränderungen als
undenkbar und unstimmig ausschließt und tatsächlich wird es als unbeweglich,
als dicht, ungeschaffen, lückenlos und dauernd beschrieben. Parmenides leugnet
das Werden keineswegs, was er dagegen als Evidenz aufbietet, sind die geprüften
Logoi, zuvorderst das ἔστι, das ES GIBT, das in einer ‚Selbigkeit‘ von ‚Wahrneh-
mung‘ und ‚Wahrgenommenem‘ überzeugend erfahren wird. Wenn man also
verstehen will, was die Welt im Innersten zusammenhält (man spricht ja von der
‚Naturphilosophie‘ der Vorsokratik), dann ist es die Unverzichtbarkeit der These
eines dauerhaften und lichthaften Seins, die allein die Irrwege des Denkens
vermeidet, auf den Weg der Wahrheit führt.
Damit kommt eine denkwürdige Asymmetrie zwischen dem Positiven und dem
Negativen ins Spiel. Sie besagt, dass es ‚Gegebenes‘ braucht, die Vorgabe eines
Sinnes, wenn negiert werden soll. Nicht-Gegebenes bzw. Nicht-Sein hat keine Prä-
dikate.²⁰ Das wird am Un-Sinn besonders deutlich. Niklas Luhmann benennt in einem
Beitrag, der uns noch beschäftigen wird, ein gut gewähltes Beispiel.²¹ Es lautet: „Bad
Homburg pflügt Kopfschmerzen“ und er fügt hinzu: „Unsinn lässt sich nur produ-
zieren, aber nicht negieren“. Denn worin bestünde die Negation in diesem Falle?
Wobei man einräumen wird, dass die sogenannte Nonsense-Poesie, Autoren des
Dadaismus wie Hans Arp oder Kurt Schwitters, die Ränder vorgeblich vernünftiger
Sätze poetisch durchforscht haben und mit oft metaphorischen Mitteln dunklen Sinn
aus sprachlichen Untiefen emporförderten.²² Bleibt man aber beim wahrheitsfähigen
Aussagesatz, dann ist die Asymmetrie klar. Zu ihr gehört dann auch, dass Sagen stets
heißt etwas ‚Bestimmtes‘ sagen.Wir haben kein sprachliches Mittel (es sei denn eben
das poetische Bild) Ist und Ist-Nicht ‚im gleichen Zuge‘ zu prädizieren. Sagen heißt
‚Etwas‘ sagen, und Wahrheit kann in der epistemischen Welt nur beanspruchen,
worüber verifizierbare Aussagen möglich sind.²³ Auch hier hilft ein Beispiel weiter. Ein
Satz wie: Diese Rose ist ‚nicht‘ rot öffnet mit der Negation einen Raum der Unbe-
stimmtheit, der sich jeder weiteren Prädikation entzieht, der aber immer auch der
Raum jeder möglichen Bestimmbarkeit ist.²⁴ Der eröffnete Möglichkeitskontext des
Satzes wird zugleich angesprochen und ausgegrenzt. Was alles nicht sein kann – in
Bezug auf die Rose – bleibt im wörtlichen Sinne nicht sagbar und das heißt nichts-
sagend. Wir werden sehen, dass sich dies im Falle der Wahrnehmung bzw. der Bilder
‚ganz anders‘ verhält. Ihre Logik bzw. ihre Negationsvalenz operiert mit dem Spiel-
raum des Unbestimmten und Möglichen, bezieht ihn auf funktionale Weise ein: davon
wird die Rede sein.
Die Verlagerung der Negationsdebatte auf die Sprache tat ein Übriges, um das
affirmative Vorurteil gegenüber Bildern zu plausibilisieren. Wenn Negation bedeutet,
einer zweiwertigen Logik zu folgen und das heißt sich zwischen Ja oder Nein zu
entscheiden,²⁵ dann haben Bilder daran tatsächlich keinen Anteil, auch wenn man
ihnen „Selbstreferentialität“ zubilligt oder von „Metapikturalität“ spricht.²⁶ Das ‚Ja‘,
das heißt die Affirmation des Bildes, entstammt keiner Opposition zu einem ‚Nein‘.
Damit zeichnet sich aber auch der Weg ab, den wir im Folgenden gehen werden. Es
geht darum, ‚andere Modelle von Negation‘ zu entwickeln und wir werden dazu
vorprädikative Bereiche in den Blick nehmen und zunächst Wahrnehmung auf ihre
negierenden Valenzen hin befragen. In der Erwartung herauszufinden, welchen
Regeln ikonische Negation folgt, wenn nicht solchen der Sprache und welcher Anteil
der Negation an der Sinngenese zukommt.
Die Debatte, die wir zu führen versuchen ist deshalb schwierig, weil sie sich
nicht nur mit dem Vorurteil der ikonischen Affirmation konfrontiert sieht, sondern
noch mit einem anderen, das durch Aristoteles in die Welt kam und seitdem
Gültigkeit beansprucht. Es besteht in der Einschätzung, dass nur Sprache einen
veritablen Zugang zur Realität eröffnet. Der apophantische Logos, d. h. die ‚auf-
weisende Rede‘ etabliert, wie wir gesehen haben, ein einfaches Bestimmungs-
verhältnis: S ist P. Etwas wird als ein Jeweiliges bestimmt, als Dies-da (tode ti).²⁷
Der Satz spricht Eigenschaften zu, begründet eine Verweisung, die Aristoteles
‚Kategorien‘ genannt hat. Diese Verweisungen sind aber nicht nur formale Va-
lenzen des Sprachsystems selbst, sondern zugleich auch – dem Ausschlag einer
Kompassnadel vergleichbar – Richtungsaspekte in der Realität. Die Kategorien
erschließen die Welt, wenn sie Etwas als Etwas benennen, im Hinblick auf
‚Hinsichten‘. Eine nach Modi gegliederte Wirklichkeitsordnung tritt zu Tage, die
sich unter anderem nach Qualität (z. B. rot), nach Relation (kleiner/größer), nach
Raum (an der Ecke) oder Zeit (gestern) auffächert. Das ‚kategoriale Zeigeschema
der Sprache‘ geht mit unserer Sicht auf die Welt eine denkbar enge Verbindung ein.
Nur was sich so oder so sagen und das heißt bestimmen lässt, hat Realitäts- und im
Übrigen Wahrheitsanspruch. Ohne diese unerhörte Leistung der Prädikation hätte
sich das europäische Wissenssystem vermutlich nicht in der uns bekannten Form
entwickeln können. Man sieht damit aber auch, was die Bilderfrage in Bewegung
bringt, wenn man dem Ikonischen nicht nur Ähnlichkeit und Nachbildung,
sondern auch Aufschluss von Wirklichkeit zubilligt. Das Problem der ikonischen
Negation führt ins Zentrum dessen, was Bilder vermögen und was nicht.
Vgl. Heidegger, Martin (1960): Sein und Zeit. 9. Auflage, Tübingen, 154: „1. Aussage bedeutet
primär Aufzeigung. Wir halten damit den ursprünglichen Sinn von LOGOS als APOPHANSIS fest:
Seiendes von ihm selbst her sehen lassen.“
Baldwin, James M. (1908): Das Denken und die Dinge, oder: Genetische Logik. Eine Untersu-
chung der Entwicklung und der Bedeutung des Denkens. 3 Bände (1908 – 1914), Leipzig. Bd. I, 223 f.,
Bd. II, 264 f. – Übrigens begründet Luhmann den Rückgriff auf Baldwin damit, dass ihm sonst
„keine direkten Analysen der Funktion des Negierens bekannt sind.“ (Luhmann 1975, 202). Hei-
degger war ihm offensichtlich aus dem Blick geraten, und seine intensive Husserl-Lektüre dies-
bezüglich nicht anschlussfähig.
Dunkles Licht 247
gungsprozess alltäglichen Lebens,³⁵ Dasein ‚legt sich aus‘, nicht Etwas. Erzielt
wird schon auf dieser Ebene ein nicht zuletzt sozialer Einklang, dessen deiktisch-
gestische Basis mittlerweile verstärkt von Linguistik bzw. Verhaltensforschung
diskutiert wird.³⁶ Wir haben verstanden, bevor wir verstehen: diesen oder jenen
Satz hören oder sprechen, indem sich diese oder jene Sicht auf die Dinge dann
sprachlich ausformt, situationsunabhängig und d. h. überprüfbar niederschlägt.
Die Aussage ist in dieser durch Heidegger zugespitzten Auffassung – gegenüber
der basalen Lebenspraxis und ihren Aktivitäten – etwas Nachträgliches. Negieren
können wir nicht, weil wir Sprache haben, sondern weil wir existieren und
wahrnehmend imstande sind, Strukturen von Bezugnahme (‚Als‘) zu realisieren –
deren implizites Momentum in Negation besteht.
Es gehört zu den großen intellektuellen Herausforderungen der Bilderfrage,
jene ‚Lehre‘ zu entziffern, die in den Phänomenen selbst liegt. Die theoretische
bzw. wissenschaftliche Argumentation an jenen Ort zu führen, an dem sich Bilder
explizieren und wo der Betrachter in ihren Sinn eintaucht. Der ‚visuelle Kontrast‘
und seine qualitativen Wechselwirkungen ist ein derartiges Schlüsselphänomen,
das die Struktur der Wahrnehmung von Wirklichkeit mit der Organisation der
Bilder zu verbinden erlaubt. Als ein Schlüsselphänomen ist der Kontrast als der
gleiche mehrfach lesbar: als materielle, artifizielle, funktionale oder sinnstiftende
Größe. Auch Luhmanns ‚Urform‘ ließe sich auf diese Art betrachten. Denn Kontrast
meint jene schon im Sichtbaren liegende ‚Unstetigkeit‘, mittels derer sich ver-
einzelte Distinktionen abheben und Aufmerksamkeit attrahieren. Der ‚gestaltete
Kontrast‘, d. h. das Bildwerk organisiert sich vielfältig in Formen, Flecken oder
Figuren, die sich vom Kontinuum des Grundes unterscheiden. Das klingt nach
einer gestaltpsychologischen Allerweltsweisheit.Wer sich damit jedoch begnügen
würde, der hätte schon verloren – seine Chance zu einer weiterführenden Einsicht.
Denn der visuelle Kontrast ist sehr viel komplexer organisiert.Was ihn im Tiefsten
auszeichnet ist kein Entweder-Oder bzw. Sowohl-als-Auch von Figur und Grund,
sondern: eine wechselseitige, dynamische Bezugnahme, das ‚Zugleich‘ von ‚So‘
und ‚So nicht‘.Wie aber kommt Negation hier ins Spiel? Sehen wir nicht immer nur
‚Dieses‘, eben diese Figur vor dem Grund ihres Erscheinens? Wir sehen mehr, wenn
wir auf die Modi des Erscheinens selbst achten, auf das, was Husserl als „Ab-
schattung“ beschrieben hat.³⁷ Dann bemerken wir nämlich, dass der unbestimmte
Horizont nicht aus einer dahinterliegenden, neutralen Folie besteht, sondern sich
Heidegger 1960, 148 ff., 154 ff. Entsprechend gibt es eine „Auslegung ohne Worte“ (157).
Jäger, Ludwig (im Erscheinen): Der gestische Ursprung der Sprache. Basel.
Husserl versteht unter „Abschattung“ (Husserl 1976, 14, 85) die Gegebenheitsweise physischer
Dinge in der wechselnden Orientierung des wahrnehmenden Subjekts, also auch das Verhältnis
von Wahrgenommenem und Nicht-Wahrgenommenem.
250 Gottfried Boehm
in jeder Figuration selbst manifestiert.³⁸ Mit anderen Worten: Dieses, das wir sehen
ist was es ist, weil es aus einem Horizont des Möglichen ‚hervorgetreten‘ ist. Da wir
tatsächlich nie wissen bzw. wahrnehmend erkennen, was diese ‚Welt‘ in toto
beinhaltet, ist sie nicht nur tragender Grund, sondern stets auch ein undurch-
schaubares, ein abgründiges Potential. Alles, was sich im Kontinuum der Wahr-
nehmung abhebt, ‚schließt‘ diesen Abgrund und hält ihn zugleich ‚offen‘. In jedem
So und Nicht Anders wurde über eine bestimmte Auslegung der Welt entschieden
– um den Preis einer Zurückdrängung aller anderen, die möglich gewesen wären.
Die nie, irgendwann oder beim nächsten Mal einen ganz anderen Kontrast aus-
bilden werden. Die Sichtbarkeit der Welt, die sich mittels des ‚Filters‘ der Kontraste
erschließt ist in einen Möglichkeitsgrund getaucht, den Negationen flüssig und
offen halten. Sie sind es, die die Welt immer wieder anders erscheinen lassen, sie
verändern, verjüngen, erneuern, den götzenhaften Bann purer Affirmation bre-
chen, die Kraft verändernder Zeit mobilisieren; sie gegen jene Ontologie der
Vorhandenheit ins Feld führen, die wir als Prämisse einer parmenideischen
Seinsbehauptung identifiziert hatten. Negation dagegen setzt eine Option des
Möglichen, setzt Möglichkeitssinn voraus.
III Bedeutsamkeit
Zurück zu Luhmann. Er beschreibt die Aspekte der Negation in einer anderen
Begrifflichkeit, wenn er etwa vom „Kombinationsgewinn“³⁹ spricht, der in der
Ausgrenzung von Etwas liegt und er verbindet diese Emergenz mit zwei weiteren
Bestimmungen. Die vorprädikative Urform des Negierens erscheint ihm als „eine
… notwendig reflexive Prozessform des Erlebens“, was heißt: Sie kann auch auf
sich selbst angewendet und sie kann ihrerseits negiert werden. Mit letzterem hängt
zusammen, was er als die in der Negation gelegene ‚Generalisierungsleistung‘
charakterisiert. Wenn sich wahrnehmend Etwas heraushebt, geht dieses Etwas
nicht nur eine Relation zu anderen, vielleicht benachbarten Distinktionen ein,
sondern es bezieht sich stets auch auf den gesamten Raum des Erscheinens, auf
seine Welt. Mit einer isolierten Bestimmung aber ein Ganzes auszulegen, so könnte
man die Pointe dieser Einsicht benennen, definiert die Struktur einer ‚Verallge-
meinerung‘.⁴⁰ Luhmann lässt die Frage offen, ob es – analog zur Negation der
Vgl. Boehm, Gottfried (2012): „Der Grund. Über das ikonische Kontinuum“. In: Gottfried
Boehm, Matteo Burioni (Hrsg.): Der Grund. Das Feld des Sichtbaren. München, 29 – 94.
Luhmann 1975, 204.
Luhmann 1975, 205. Neben der „Generalisierungsleistung“ diskutiert Luhmann als zweiten
Gesichtspunkt „aller Negationsleistungen: ihre Reflexivität.“
Dunkles Licht 251
Negation auch eine Affirmation des Affirmativen geben könnte. Die beiden
Bildbeispiele des ersten Teils wiesen darauf hin, dass Affirmation mit der Zu-
rückdrängung des Unbestimmten und seiner Negationspotentiale einher geht und
dabei eine Steigerung erfahren kann.
Eine bildtheoretische Adaption der angedeuteten Überlegungen Luhmanns muss
freilich noch etwas weiter ausholen, um schließlich auch die ikonischen Spezifika-
tionen zu verdeutlichen, die ihn nicht interessiert haben bzw. die im großen Rahmen
seiner allgemeinen Theorie der Sinnkonstitution unkenntlich bleiben.
Unstrittig scheint die Einsicht, dass sich Negation wahrnehmend in einem
unbestimmten Feld vollzieht, in einer Welt, bzw. innerhalb eines Horizontes. Mit
anderen Worten: ‚Negation‘ ereignet sich ‚situativ‘. Und: ‚Situativität‘ verbindet die
Strukturen der ‚Wahrnehmung‘ mit denen des ‚Bildes‘. Wir fassen damit den ‚Ort‘
ins Auge, an dem sich wahrnehmend und schließlich auch bildlich gestaltend
Negationen vollziehen. Dieser Ort tritt an die Stelle der ‚Aussage‘, also sprachlich
gefasster Propositionen, sollte aber Vergleichbares leisten. Nämlich jene Urform
der Negation in der Wahrnehmung, die mit der Erfahrung des Unsteten eingesetzt
hat, weiter zu entwickeln. Luhmann hatte diesen Ort eine ‚Welt‘ genannt und ihr
Unbestimmtheit zugeschrieben, diese minimale Prämisse dann aber in Richtung
begrifflicher bzw. diskursiver Verfahren der Erkenntnis oder der Sinnkonstitution
weiterentwickelt. Heidegger dagegen hatte diesen Ort auf exemplarische Weise mit
Kategorien seiner Daseinsanalyse untersucht. Gegenüber diesen fundamentalen
Bestimmungen erweisen sich freilich Wahrnehmung bzw. ‚Sicht‘ ihrerseits le-
diglich als ein abkünftiger Modus primärer ‚Vorsicht‘, in der sich – zusammen mit
‚Vorgriff‘ und ‚Vorhabe‘ – die Bedürfnisse und Strukturen des menschlichen
Handelns und Lebensvollzugs ausformen.⁴¹ Im Dialog mit diesen Positionen gilt
es, das Erkenntnisziel der ikonischen Negation im Auge zu behalten.
Ein plausibler Schritt in diese Richtung liegt zunächst in einer unscheinbaren
Feststellung. Wir hatten bislang von Wahrnehmung gesprochen und darin die of-
fensichtliche ‚Pluralität‘ sinnlicher Erfahrungsweisen verschwinden lassen. In Tat
und Wahrheit aber sind wir keine Agenten des ‚einen Blicks‘ und nur ausnahmsweise
von einer kyklopischen Blickstarre befallen, die sich von einem einzigen arretierten
Punkt aus die Welt zu unterwerfen trachtet. Nicht zufällig sprachen wir ja auch von
‚Wahrnehmung‘, die nicht nur alle ‚Sinnesmodalitäten‘ umfasst, sondern sich auch
handelnd einlässt. Das gilt in gleichem Maße für Bildwerke, deren komplexe visuelle
Organisation nicht nur mit Augenbewegungen rechnet, sondern mit ganz unter-
schiedlichen Modifikationen des Wahrnehmens, das gewiss zu fixieren oder kon-
trahieren imstande ist, aber auch schweifen, greifen und sich verlieren, das verglei-
Grimm, Jacob und Wilhelm (1984): Deutsches Wörterbuch (1854). Bd. 1. München „Bedeut-
samkeit“; Scheller, Immanuel J. G. (1805): Lateinisch-Deutsches Wörterbuch. Leipzig, 10192– 10193.
Dilthey, Wilhelm (1958): „Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften“. In: Gesam-
melte Schriften. Bd.VII. Bernhard Groethuysen (Hrsg.). Stuttgart, Göttingen, 238 – 339. Die Passage
stammt aus einem Abschnitt mit dem Titel „Die Kategorien des Lebens“ unter der Spezifikation:
Bedeutung, Bedeutsamkeit, Wert.
Dunkles Licht 253
ferenz, Diffusion oder Entropie erklärt, mit denen eine anthropologische Ängs-
tigung einhergehe.⁴⁴ Dabei hebt er besonders die mittels Wiederholungen ge-
stärkte Prägnanz an der Bedeutsamkeit heraus.
Unser Akzent liegt dagegen stärker auf der in einem umrissenen ‚Feld des
Möglichen‘ in Gang gesetzten ‚Bedeutungsentstehung‘. Dabei modifizieren wir
eine Intention Heideggers, der ‚Potentialität‘ dadurch radikalisierte, dass er sie aus
dem abstrakten Gedankenhimmel in den Bereich des Lebensvollzugs (‚Dasein‘)
versetzte und damit in die Sphäre der ‚Zeit‘ verpflanzt hatte. Es ist ein ‚Sein
können‘ das ständig ‚über sich hinaus ist‘, das „ist, was es wird bzw. nicht wird“,
gemäß der Maxime: „Werde, was Du bist!“⁴⁵ Sie realisiert sich unter Vorzeichen
wie ‚Entwurf‘, ‚Erschlossenheit‘ oder ‚Befindlichkeit‘, die die Bewegungsmuster
des Lebensvollzugs kennzeichnen. Für ein solches in einem basalen Sinne durch
Potentialität ausgezeichnetes Leben ist „Bedeutsamkeit … das, woraufhin Welt als
solche erschlossen ist.“⁴⁶ Damit kehrt sich aber der Bezug von Bedeutung und
Bedeutsamkeit um. Nicht die Analyse der einzelnen Bedeutungen schafft eine
tragende Basis, sondern die Bedeutsamkeit fundiert, was sich an einzelnen
Sinnbestimmungen benennen lässt. Das tätige Subjekt ist dabei stets involviert
und an Bedeutsamem beteiligt, was sich unter anderem an der ominösen Struktur
des hermeneutischen Zirkels ablesen lässt. Er gehört zu den begrifflichen und
phänomenalen Vehikeln, mit denen Heidegger die Scheidung von Subjekt und
Objekt in die eine Aktualität des In-der-Welt-Seins überführt. Innerhalb derer
Vertrautheit mit Bedeutsamkeit korrespondiert. Die temporale Struktur der Si-
tuativität (‚In-sein‘) wird in Gang gehalten, durch die unaustilgbare Erfahrung
einer Ängstigung, deren Nichtigkeit den Einzelnen zu dem stimuliert, was er seiner
Möglichkeit nach sein kann.
Reflektiert man die durch Heidegger entfaltete Kategorie der Bedeutsamkeit,
dann fällt besonders Prozessualität als Grundzug ins Auge. Zugleich repräsentiert
sie jenes ‚Worumwillen‘ einer Welt, jenen rahmenden Horizont einer Ganzheit, in
der sich nach Maßgabe des jeweils Möglichen Sinn konstituiert. Dieser Raum
möglichen Sinnes ist durchtränkt von Veränderungen, Bedeutungsnuancen,
Vieldeutigkeiten, Uneinlösbarem und Anspielungen – Latenzen, die sich allesamt
nicht unter eine ideale Bedeutungsbestimmung bringen lassen. Es ist diese ‚La-
tenz der Negation‘, die in jener fundamentalen Möglichkeitsstruktur enthalten ist,
die jetzt den Ort der Bedeutsamkeit auszeichnet. Potentialität meint nicht die
privative Schattenseite des Wirklichen, d. h. einen Mangel an Sein, sondern die
Blumenberg, Hans (1979): Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main, 68 – 126, besonders 124 ff.
Heidegger 1960, 145.
Heidegger 1960, 143.
254 Gottfried Boehm
Matrix eines erscheinenden Sinnes, der sich jeweils aus limitativen und emer-
genten Valenzen bestimmt. Als Horizont schließt Bedeutsamkeit den Wahrneh-
menden stets ein. Eine Situativität des Sinnes, für die Wolfram Hogrebe⁴⁷ – in
eigenem Erkenntnisinteresse – die wie mir scheint glückliche Wendung eines
‚szenischen Verstehens‘ gefunden hat. Szenisch meint: unter gegebenen Um-
ständen, in einem jeweils ausgespannten Raum, der zwischen Vorgabe und Ein-
lösung prozediert und deshalb auch der Ort ist, um fortgesetzte Urteilsbildungen,
Erprobungen, Abduktionen, die Produktivität von trial and error, glückliche Mo-
mente oder auch Schwunderfahrungen, z. B. das Vergessen in Gang zu halten.
Szenisch meint im Falle des Bildes aber auch die Bindung an einen materiellen
Ort, an ein spezifisches Artefakt. Das sinnkonstitutive ‚Als‘ bedarf wie Richard
Wollheim zu Recht gegen Gombrich eingewandt hat, der Verortung in einem
‚Sehen-in‘. Es erlaubt allererst „eine simultane Aufmerksamkeit auf das Darge-
stellte und auf die Darstellung“ zu richten.⁴⁸ Bedeutsamkeit umreißt mithin den
Bereich einer doppelten, d. h. ausgezeichneten Erfahrung.Von ihr, ‚der Erfahrung‘,
kann man behaupten, sie sei in einem wesentlichen Sinne negativ, d. h. durch die
Enttäuschung von Erwartungen, durch Schmerz und Nichtigkeit hindurchge-
gangen.⁴⁹ In diesem Paradox einer ‚Einsicht‘ durch ‚Negation‘ bildet sich ab, was
im Bereich des Sozialen, der Kunst und Kultur bzw. der Geschichte wohl insgesamt
zu beobachten ist. Wir gelangen nicht nur dahin unsere Augen zu öffnen und
sehend festzustellen, bzw. zu affirmieren was jeweils ist, sondern darüber hinaus
gelangen wir dazu ‚mehr‘ und ‚anders‘ wahrzunehmen.⁵⁰
Hogrebe, Wolfram (2009): Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen. Berlin.
Vgl. Wollheim, Richard (1982): Objekte der Kunst. Frankfurt am Main, 199.
Gadamer, Hans-Georg (1986): „Wahrheit und Methode (1960)“. In: Gesammelte Werke. Bd. 1.
Tübingen, 359 ff.
Gadamer 1986, 359 ff.
Dunkles Licht 255
Wirklichen. Hier mag man sich an die hybride Bestimmung des Bildes erinnern, die in
einer Bemerkung Platons im Sophistes knapp und treffend festgehalten ist.⁵¹
Sie weist allerdings weit voraus und wir beginnen stattdessen mit einem
ersten Schritt. Es geht darum, die Bedingungen einer Negation zu klären, die sich
als ‚materielle Größe‘ darstellt.Von der Logik des Kontrastes in der Wahrnehmung
war ja bereits die Rede gewesen und es liegt nahe, sie jetzt auf die Stofflichkeit des
Bildes zu übertragen. Der damit ‚stillgestellte‘ Kontrast ist eine visuelle Auffäl-
ligkeit und zugleich viel mehr. Die Rede von einer ‚Urform‘ – jetzt der des Bildes –
bietet sich an. Was unterscheidet sie bzw. was zeichnet sie aus?
Will man visuelle Kontraste – Flecken und Formen, Erhebungen oder Dinge in
der Welt – beschreiben, beginnt man damit, ‚Vorhandenheit‘ samt der damit
verbundenen Eigenarten zu ‚konstatieren‘. Der Fleck, die Form, die Figur ‚des
Bildes‘ und ‚im Bild‘ wären damit aber keineswegs angemessen erfasst. Warum?
Was wir mit ‚ikonischer‘ Differenz beschreiben meint zunächst einen mate-
riellen Befund, bei dem die jeweiligen Distinktionen ‚vor‘ einen Grund treten: ein
physisches ‚Hintereinander‘ begründen. Anders gesagt: das Feld (F) hat jeweils
mehr Extension, als dasjenige (F‘), das in ihm erscheint. Zugleich etabliert sich ein
anschauliches Wechselspiel, indem sich das Faktische verwandelt, ‚als‘ Etwas
sichtbar gemacht und angeschaut wird. Die Zeichen verweisen aufeinander, sie
begründen eine bewegliche Vielfalt, eine Inferenz, die über bloße ‚Vorhandenheit‘
hinausweist. Gewiss beginnt jedes Bild zunächst mit dinglichen Substraten –
Leinwand, Papier, Ton, Farbe, Elektrizität und so fort – und mit ‚physischen
Spuren‘, die durch Hände und Werkzeuge entstanden sind. Aber erst, wenn es
möglich ist, den komplexen Zusammenhang beider – den von Material und Spur –
zu erkennen und ihn wahrnehmend auszulegen, sind wir auf der Ebene des
Sinnes, d. h. beim Bild angelangt. Diese elementare Transformation des Materi-
ellen ins Immaterielle und zurück, umschreibt das ikonische Grundereignis und
jede Bildtheorie muss sich daran messen lassen,wie sie es verständlich zu machen
vermag. In deskriptiver Perspektive verbindet sich die Transformation mit der
‚Ausgrenzung‘ eines Feldes der Darstellung im ‚Kontinuum‘ der Welt. Dazu bedarf
es nicht eines ausdrücklichen Rahmens, konstitutiv ist zuvor schon der ‚Rück-
bezug der Zeichen‘ auf den ‚Ort‘ ihres Vorkommens. Damit grenzt sich ein ‚Inneres‘
gegenüber dem Kontext des Äußeren ab. Zugleich aber so, dass die innerbildlichen
Relationen imstande sind, auf ein Äußeres zu ‚verweisen‘, es sichtbar zu machen,
Platon: Sophistes, 240b: „Ist es nun also nicht wirklich nicht seiend, doch wirklich das,was wir
ein Bild nennen?“ Diese Auskunft des ‚Fremden‘ kommentiert Theaitetos: „In einer solchen
Verflechtung (Symploké) scheint das Nichtseiende mit dem Seienden verflochten zu sein, die ganz
ungereimt ist“, worauf der ‚Fremde‘ meint, man sehe daran, dass die Argumentation dazu geführt
habe: „dem Nichtseienden wider Willen zuzugestehen, dass es irgendwie sei.“ (240c).
256 Gottfried Boehm
Etwas darzustellen, was zur Welt gehört. Auch glauben wir ‚in‘ das Bild hinein
blicken zu können, es als einen Bereich eigener Bedeutsamkeit zu betrachten. Der
Umschlag ikonischer Faktizität in Sinn beruht darauf, dass die unter Bedingungen
der Wahrnehmung materiell fixierten Relationen komplex erscheinen, dem si-
multanen Blick überschießende Möglichkeiten darbieten. Schon ein einziger
Punkt auf einer leeren Fläche impliziert eine Fülle visueller Valenzen. Apropos:
Urform. Was immer wir Bildern an Sinn oder Tiefsinn, an Einsicht oder Wirkung
zuschreiben – in einem weiten, historischen Spektrum, vom Paläolithikum bis
zum technischen Bild – es entstammt dem ‚materiellen‘ Logos einer sinngene-
rierenden ‚Differenz‘. Die offensichtliche Verwandtschaft zwischen dem aufwei-
senden bzw. sehenlassenden Logos, wie ihn Aristoteles bestimmt hat, und dem
Wechselspiel zwischen Synthesis und Diairesis im Vollzuge der ikonischen Dif-
ferenz, bedarf einer weiterführenden Klärung. Wie immer man Logos aber auch
fassen mag, er zeigt wovon er handelt, lässt es ‚als‘ Dieses erscheinen. Stellt nicht
nur fest, sondern macht sichtbar.
Man kann die ikonische Differenz ‚nicht‘ denken, ohne auf den ‚blinden Fleck‘
zu achten, der Bildern innewohnt. Er entsteht, weil Zeichen nicht nur ‚vor‘ ihren
Grund treten, sondern ihn im gleichen Zuge auch ‚verschwinden‘ lassen. Bezogen
auf den betrachtenden Blick ist der Ort an dem die visuelle Distinktion erscheint
und mit ihrem materiellen Substrat verschmilzt, unvermeidlicherweise ‚verdeckt‘.
Indem Figur, an genau dieser Stelle erscheint, wird der Grund opak. Dieses Un-
sichtbar-werden ist die Bedingung dafür, dass sich im Bild Sinnaspekte ‚eröffnen‘:
sich ,Etwas‘ zeigt, in dem sich das Bild als ein ausgegrenztes ‚Ganzes‘ erschließt.
Die Negation des Grundes, die da und dort angreift, ist gleichzeitig aber auch
Bedingung dafür, dass er als Grund des Bildes überhaupt wahrgenommen werden
kann und seine Funktion übernimmt. Mit anderen Worten: Das Moment der Ne-
gation verankert sich bereits in der materiellen Organisation. Es basiert auch auf
physischen und sehphysiologischen Prämissen, bevor es sich gestaltend formt.
Wären die Materialien, mit denen der Künstler arbeitet, nicht opak und seine (bzw.
unsere) Augen nicht frontal organisiert, Bilder würden nicht entstehen. Die Rede
vom blinden Fleck beschreibt, genauer betrachtet, eine ‚doppelte Negation‘: Die
jeweiligen Distinktionen lassen den Grund verschwinden und sie negieren dieses
Ereignis, weil es stets auf der unzugänglichen Rückseite des Darstellens geschieht.
Nie wird es einem Betrachter möglich sein, an jene Stelle zu gelangen, an der sich
das Distinkte (Fleck, Figur, Zeichen etc.) mit dem materiellen Grund verschränkt.
Es sei denn, sein Name sei ‚Alice‘ und sein Ort ‚Wonderland‘. Das Zeigen impliziert
ein Geschehen, in dem Entzug zum Antrieb der Affirmation wird.
Mit anderen Worten: Negation ist ein integraler Aspekt des Bildes, dann je-
denfalls, wenn man ihm zutraut, aus einer jeweiligen materiellen Eigenart Sinn zu
entfalten. Man kann, wie gesagt, keine Differenz denken, auch nicht die Ikonische,
Dunkles Licht 257
ohne mit dem Moment des Negierens zu operieren. Was das nun in concreto be-
deutet, wenn sich Sinn nicht prädikativ expliziert, sondern mit den Mitteln des
materiellen Dispositivs der ikonischen Differenz, lässt sich an einem Beispiel
weiterentwickeln. Wir kommen dazu auf Zurbaráns Stilleben zurück.
Wir hatten an ihm zunächst eine Zugangsweise beschrieben, die in empha-
tisch gesteigerte Affirmation mündete. Und zwar deshalb, weil die Aufmerksam-
keit ganz nach der Seite des ‚Dargestellten‘ verschoben war. Wie wenig zwingend
aber diese Art des Zugangs ist – die freilich einer überwältigenden Konvention des
Sehens entspricht – lehrt eine Betrachtungsweise, die aus der Analyse der Be-
deutsamkeit und ihres Raumes gelernt hat. Der amerikanische Hispanist Jonathan
Brown benennt in seiner Analyse von Zurbaráns Stillleben in Pasadena ein
Phänomen, das wir als Zugang zur Frage der Negation nutzen wollen.⁵² Er
kennzeichnet die rigide, parataktische Anordnung der Dinge, indem er die pas-
sionierte und kalkulierende Intelligenz eines Schachspielers zum Vergleich her-
anzieht und hält dann eine denkwürdige Zwiespältigkeit fest. Das von oben links
steil einfallende Licht erhelle zwar die ‚Dinge‘ nach Farbe, Gestalt und materieller
Textur, es sei aber – entgegen natürlicher Erwartung – nicht imstande den
dunklen Bereich des ‚Grundes‘ aufzuhellen, diesen tiefen Raum zu erschliessen.
Der Verfasser liest daran die Absicht Zurbaráns ab: „to produce the effect of nature
raised by artifice to a higher degree“ und diskutiert eine Steigerung „from the real
to the superreal“.⁵³ Hier sind wir nicht weit entfernt von jener Erfahrung ‚onto-
logischer Gewissheit‘, von der eingangs schon die Rede war.
Nach dieser Vorbereitung ist es nun aber nicht allzu schwer an Zurbaráns
Gemälde eine temporale Genese aufzuweisen, die ihren Schub durch die Konti-
nuität des Dunkelgrundes erhält und deren Gegenimpuls in den luziden Körper-
formen liegt, auf denen da und dort Glanzlichter aufleuchten. Wie wenig diesen
Befund das bloße Figur-Grund-Schema erfasst, zeigt sich auch daran, dass sich die
Energie des Dunkels ‚mobilisiert‘. In der opaken Tiefe organisiert verbleibt sie
nicht im Hintergrund, sondern sie greift via Schatten und das Relief der frontal
dargestellten Dinge nach vorne aus. Genauere Betrachtung erkennt ein Hin und
Her, ein Wechselspiel voller Übergänge und Nuancen. So hart die Kontraste gesetzt
sind, auf vielen Wegen sind fast unmerkliche Übergänge gebaut. Es ist dieses
implizite Gefälle, welches das Auge auf die zeitliche Struktur lenkt und es ver-
anlasst, die Vielfalt und den Reichtum des visuell Möglichen zu realisieren, mit
dem Takt und Rhythmus dieses Gemäldes körperlich mitzugehen.
Kluge, Friedrich (1985): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Auflage. Berlin,
New York, 558 – 559.
Vgl. Birus, Henrik (2005): „Sprachen jenseits der Sprache: Adorno/Barthes. Blickwechsel“. In:
Akten des 11. Lateinamerikanischen Germanistenkongresses. Bd. 1. Sao Paulo, 231– 245; Boehm,
Gottfried (1994): „Prägnanz. Zur Frage der bildnerischen Individualität“. In: Gottfried Boehm,
Enno Rudolph (Hrsg.): Individuum. Probleme der Individualität in Kunst, Philosophie und Wis-
senschaft. Stuttgart, 1– 24.
Dunkles Licht 259
Dunkel kommt dann in seiner konstitutiven Funktion zur Geltung, wenn wir die
ganze, durch das Gemälde eröffnete Spanne als einen Raum der Bedeutsamkeit
erfassen. Dort hat Negation ihren Ort, indem sie sich in einer Vielfalt von Nuancen
ausdifferenziert. Man erkennt hier mit letzter Deutlichkeit, dass sie sich subtiler
Modifikationen bedient: in jedem Gefäß, in jeder Zone des Gemäldes auf etwas
andere Weise operiert. Ausdruck dessen, was Goodman auch die „Dichte“ des
Bildes genannt hat.⁵⁶ Nochmals erinnern wir an die Struktur der ‚sprachlichen‘
Verneinung, die sich fokussiert und jeglichen Kontext ausblendet: es war eben
‚diese‘ Rose, die ‚nicht‘ blüht. Mit der Kategorie der Bedeutsamkeit des Bildes sind
wir nun imstande den Ort und die Verfahrensweise der ikonischen Negation ge-
nauer anzugeben. Er hat mit dem Hintergründigen und dem Nichtartikulierten zu
tun, das wir in aller Figuration und jeweiligen Artikuliertheit mitsehen. Die Kraft der
Prägnanz erwächst gerade aus der im Bilde angelegten Differenz, im Vermögen eine
spannungsvolle Mitte zu halten, im jeweiligen Prozess so etwas wie Dauer zu ver-
gegenwärtigen. So rührt die Zurbaráns Stillleben immer wieder zugeschriebene
‚pure Affirmation‘ nicht aus der Feststellung, dass hier solide Gefäße auf einer
stabilen Unterlage dauerhaft verharren, sondern aus einem Prozess der Erfahrung.
Sie, diese Erfahrung, durchschaut, dass es materieller Trägheit und der ganzen
Nichtigkeit malerischer Substrate, dass es der Kraft ikonischer Negation bedarf,
damit sich darin auf dem Wege des Gemachtseins, Etwas zeigt, in dem sich Sinn
verkörpert.
* Eine gute Abbildung des herangezogenen Stilllebens von Zurbarán findet sich in:
Kat. Francisco de Zurbarán, Museo del Prado, Madrid 1988, 441.
Goodman, Nelson (1997): Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt am Main,
133.
Ingo Meyer (Bielefeld)
Respondenz zum Beitrag
von Gottfried Boehm
„Das Bild liegt tiefer als die Worte“¹
Zunächst möchte ich aussortieren, welche Ansätze und Theoriegüter für die
Kommentierung von Boehms ,ikonischer Negativität‘ wenig abwerfen. Helmuth
Plessners später Aufsatz „Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks“ von
1967 bleibt für Bildfragen enttäuschend, stellenweise gar irreführend;² Lambert
Wiesings ‚negative‘ Bestimmung des Bildobjekts als „physikloser aber doch
sichtbarer Gegenstand sui generis“, als „Sichtbarkeit von etwas ohne Anwesen-
heit“³ scheint das Ontologieproblem des Pikturalen zu unterschätzen. Sodann
sollte die gesamte dialektische Tradition seit Hegel ausgeblendet werden, da mit
seiner grundlegenden Entdeckung, dass Negieren, der bestimmte Widerspruch,
die eigentliche Arbeitsform des Geistes ist, Boehms Fragestellung unscharf wird,
was ebenso für Spinozas Brief an Jarigh Jelles vom 2. Juni 1674 gilt.
In frühen Jahren akademischer Wirkung zwar einsamer „Waldläufer“⁴, hat
Boehm mit seiner Annonce einer „ikonischen Wendung“⁵ und dem „Programm
einer ‚bildlichen Logik‘“⁶ zwei der geisteswissenschaftlich folgenreichsten Be-
griffe der letzten Jahrzehnte lanciert. Zudem insistierte er vielleicht als erster
immer wieder auf der Autonomie des Bildlichen⁷ und ist bei Erkundungen der
Weiss, Peter (1968): „Laokoon oder über die Grenzen der Sprache“. In: Peter Weiss: Rapporte.
Frankfurt am Main, 170 – 187, hier: 182.
Etwa, wenn trotz Kenntnis der ‚radikalen Malerei‘ Farben ohne Gegenstandsbezug die Mög-
lichkeit zu Rhythmik und Spannungsaufbau abgesprochen wird, vgl. Plessner, Helmuth (1980 ff.):
„Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks“. In: Günther Dux u. a. (Hrsg.): Ausdruck und
menschliche Natur [Gesammelte Schriften, Bd. 7]. Frankfurt am Main, 459 – 477, hier: 469, 471.
Wiesing, Lambert (2005): „Die Hauptströmungen der gegenwärtigen Philosophie des Bildes“.
In: Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt am Main,
17– 36, hier: 32 f.
Ein Rückblick auf das für Bildwissenschaft ungünstige Klima der späten 70er und frühen 80er
bei Boehm, Gottfried (2007a): „Iconic Turn. Ein Brief“. In: Hans Belting (Hrsg.): Bilderfragen.
Bildwissenschaften im Aufbruch. München, 27– 36, hier: 27 f.
Boehm, Gottfried (1994a): „Die Wiederkehr der Bilder“. In: Gottfried Boehm (Hrsg.): Was ist ein
Bild? München, 11– 38, hier: 13.
Boehm, Gottfried (1994b): „Die Bilderfrage“. In: Gottfried Boehm (Hrsg.): Was ist ein Bild?
München, 325 – 343, hier: 326.
Boehm, Gottfried (1978): „Zu einer Hermeneutik des Bildes“. In: Gottfried Boehm/Hans-Georg
Gadamer (Hrsg.): Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Frankfurt am Main, 444– 471, hier: 457;
262 Ingo Meyer
Boehm, Gottfried (1980): „Bildsinn und Sinnesorgane“. In: Neue Hefte für Philosophie 18/19, 118 –
132, hier:119; Boehm, Gottfried (2007b):Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin, 34.
Boehm 2007b, 199 – 212, hier: 209; auch schon Boehm 1980, 130 f.
Boehm 2007b, 39; Boehm 2007b, 19 – 33, bes. 28 f.
Boehm 2007b, 211, 208; Boehm 1978, 454, sah für Bild und Sprache noch einen „gemeinsamen
Grund von Bildlichkeit“, den ich mir durch die Nähe zu Gadamers Sprachautokratismus erkläre.
Eine Würdigung Gadamers als Hermeneut des Bildes dann bei Boehm 2007b, 243 – 267.
Einfache Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich auf Boehms Beitrag „Dunkles Licht“ in
diesem Band.
Boehm 2007b, 114– 140, hier: 124.
Boehm 2007b, 127.
Boehm 2007b, 210.
Lipps, Theodor (1906): Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst. Bd.2: Die ästhetische
Betrachtung und die bildende Kunst. Hamburg, Leipzig, 175.
Lipps 1906, 176.
Respondenz zum Beitrag von Gottfried Boehm 263
Boehm 2007b, 38 f.
Luhmann, Niklas (1975): „Über die Funktion der Negation in sinnkonstituierenden Systemen“.
In: Harald Weinrich (Hrsg.): Positionen der Negativität (Poetik und Hermeneutik VI). München,
201– 218, hier: 204.
Luhmann 1975, 213.
Boehm 2007b, 209 f.
Husserl, Edmund (1980): „Phantasie und Bildbewußtsein 1904/05“. In: Husserliana: Phan-
tasie, Bildbewußtsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen.
Texte aus dem Nachlaß (1898 – 1925). Bd. 23. Eduard Marbach (Hrsg.). Den Haag, 1– 104, hier: 4;
Casey, Edward (1976): Imagining. A Phenomenological Study. Bloomington, London, 146 f.
Husserl (1980): 58 f., 72, 79, 93.
Boehm 2007b, 210.
264 Ingo Meyer
Husserl, Edmund (1966): „Analyse der Wahrnehmung“. In: Husserliana Bd. XI: Analysen zur
passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten (1918 – 1926). Margot Fleischer
(Hrsg.). Den Haag, 3–24, hier: 3.
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am
Main, 98: „Sinn zwingt sich selbst zum Wechsel.“
Boehm, Gottfried (1969): Studien zur Perspektivität. Philosophie und Kunst in der frühen Neuzeit.
Heidelberg.
Etwa Boehm 1980, 125.
Gemeint ist Heidegger, Martin (1993): Sein und Zeit. 17. Aufl., Tübingen, 145, 154, 157.
Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen.
Frankfurt am Main, 176. Kritisch ferner zur Heideggerschen Variante der Apophantik als Ver-
derbnis ursprünglicher methodischer Phänomenologie (Habermas 1985, 173), der man allerdings
beipflichten muss, wenn man Husserls tiefschürfende (und arg verwickelte) „Apophasis“ als
Respondenz zum Beitrag von Gottfried Boehm 265
Weiterhin ist es nicht ohne Delikatesse, dass Hans Ulrich Gumbrecht, der seit
einigen Jahren „die Substantialität des Seins gegen den Universalitätsanspruch
der unendlichen Interpretation kehren möchte“³⁰ mit Heideggers „In-der-Welt-
Sein“ ausgerechnet eine langsam emanierende³¹ Präsenzerfahrung als „Nicht-
Hermeneutisches“, verstanden als Positiv-Uninterpretierbares, zu denken ver-
sucht, das neben unseren Sinnzuschreibungen zumindest die zweite Hälfte der
ästhetischen Erfahrung ist – sie wäre sonst nicht ästhetisch.³² Auch Boehm setzt
mithilfe Heideggers auf „Bedeutungsentstehung“ und betont die „Prozessualität“;
es geht darum, auf „Sinn zu achten, sofern er hervorkommt“ (253). Heidegger also
scheint sich zur Zeit zu einer Allzweckwaffe gerade in aestheticis zu mausern, offen
gesagt ein Umstand, der mir wenig behagt, hat er doch das von Husserl über-
nommene, luzide Instrumentarium der Wahrnehmungsanalyse und Sinnkonsti-
tution fast durchweg verunklart.
Insgesamt wünschte ich mir an dieser Stelle eine etwas ‚ästhetischere‘ Phä-
nomenologie, auch weil verschiedentlich hervorgehoben wurde, dass Boehms
Bildwissenschaft immer ,Kunstwerken‘ gilt.³³ Insofern müsste die Husserlsche
Tradition energisch modifiziert werden, allein weil, soweit ich sehe, ihre Vertreter
durchweg die strikte Trennung von Perzeption und Imagination aufrechterhalten;
mehr noch, sie behaupten, dass sich der Wahrnehmende in eine kontemplativ-
offene, ‚freie‘ ästhetische Einstellung genannt, begeben muss.³⁴
Kurzum: Fehlt mir bei Boehm noch die Emphase einer ‚ästhetischen‘ Diffe-
renz, so beim phänomenologischen Instrumentarium der Einzug des kreativisti-
„behauptende Gewißheit“ dagegenhält, vgl. Husserl, Edmund (1974): „Formale und transzen-
dentale Logik (1928/29)“. In: Husserliana. Bd. 17. Paul Janssen (Hrsg.). Den Haag, 1– 298, hier: 57,
ferner 85, 93, 131, 136.
Gumbrecht, Hans U. (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt
am Main, 75, ferner 86 ff.
Seine Beispiele sind etwa das No- und Kabuki-Theater, Gumbrecht 2004, 173 ff, aber auch die
„crescendofreien Alltagsrituale“, Gumbrecht 2004, 157.
Was u. a. daran scheitert, dass er mit seinen Theoriemitteln nicht in der Lage ist, „einen von
Innovation und Überraschung losgelösten Ereignisbegriff zu denken“ (Gumbrecht 2004, 104), der
dann auch noch „Epiphanie[n]“ zeitigen soll (Gumbrecht 2004, 114 f., 131 ff). Ein Ereignis ohne
merkbare temporale Markierung ist keins, sondern nur ‚white noise‘. Die „Insularität des äs-
thetischen Erlebens“ (Gumbrecht 2004, 122) ist mit (Heideggerscher) Phänomenologie gerade
nicht zu haben.
Wiesing, Lambert (1999): „Bilder im Geiste und an der Wand“. In: Philosophische Rundschau
46, 56 – 71, hier: 62; Seel, Martin (2000): Ästhetik des Erscheinens. München, 269. Wer mag, kann
hier noch immer eine Parallele zu Gadamer erblicken, der Sprachverstehen überhaupt an Dich-
tung explizierte.
Etwa bei Smuda, Manfred (1979): Der Gegenstand in der bildenden Kunst und Literatur.
München, 19; Casey 1976, 206 f.
266 Ingo Meyer
schen Anteils bereits von Wahrnehmung,³⁵ denn nicht zuletzt entgleitet so der
Umstand, dass uns ‚das‘ Ästhetische überfallen, anspringen, sogar quälen kann;
Momente von Intensität unstreitig, die wir nicht missen wollen, Boehm hervor-
hebt³⁶ und ohne die die Kunstgeschichte der Moderne, Stichwort Avantgarden und
Schockästhetik, höchst unvollständig wäre. Mit Boehms Zugang ist der sukzessive,
doch behutsame Bildaufbau zu plausibilisieren,³⁷ nicht aber der Überfall qua Bild.
Hinter seinem Ansatz verbirgt sich nolens volens natürlich auch der die langen
Museumsgänge abschreitende Kunstkenner, der die Betrachtung der Artefakte
selbst zur Kunstform nobilitiert hat. All dies mag an Husserls Theorie einer
kontinuierlichen Wahrnehmung, eines fließenden Ineinanders von Intention, Pro-
und Retention auf dem Boden dezenter passiver Synthesen liegen, aus dem wir
niemals ‚herausfallen‘ können.³⁸ Sagt Husserl.³⁹ Ihr fehlt die Möglichkeit von
quereinschießenden Überraschungs- oder gar Schockmomenten, die uns faszi-
nieren und ans Bild fesseln. Sinn kann sich auch schlagartig einstellen, auch und
gerade vor dem Bild. Literaturwissenschaftlich z. B. hat sich gezeigt, dass der
phänomenologische Ansatz nur bei der Analyse illusionistischer Literatur greift,
in der man nicht zufällig ‚versinken‘ kann.⁴⁰
Andererseits: Betont man die ästhetische Differenz, sei an Karl Heinz Bohrer
erinnert, der ebenfalls verschiedene Ansätze zu einer Negativitätsästhetik vor-
gelegt hat,⁴¹ die aber auf strikte Autonomie des Kunstwerks und die Diskontinuität
sowie Inkommensurabilität seiner Erfahrung pocht – und sich daher fragen lassen
Zuletzt anhand von Musik stark gemacht von Hogrebe, Wolfram (2013): Der implizite Mensch.
Bonn, 121 ff. Eine kritische Würdigung der hier virulenten Theoriestränge bei Meyer, Ingo (2013):
„Notizen zur gegenwärtigen Lage der Ästhetik“. In: Merkur 67, 191– 204.
Boehm 2007b, 211.
Den Boehm auch hervorhebt (Boehm 2007b, 125).
Husserl, Edmund (1948): Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik.
Hamburg, 25.
Dass man das sehr wohl kann, lehrt jede echte Depression oder Unterhaltungen mit Schi-
zoiden, denen z. B. Zeit erstarrt wie flüssiges Kerzenwachs. Derartige Beobachtungen bei Theu-
nissen, Michael (1991): „Melancholisches Leiden unter der Herrschaft der Zeit“. In: Negative
Theologie der Zeit. Frankfurt am Main, 218 – 281; zu Prinzhorn Boehm 2007b, 229 – 242.
Neben Iser, Wolfgang (1976): Der Akt des Lesens. Theorie literarischer Wirkung. München;
klassischer Text Lobsien, Eckhart (1975): Theorie literarischer Illusionsbildung. Stuttgart. Zum
Problemfeld Meyer, Ingo (2009): Im ‚Banne der Wirklichkeit‘? Studien zum Problem des deutschen
Realismus und seinen narrativ-symbolistischen Strategien. Würzburg, 306 – 317.
Die allerdings in temporaler Perspektive eine Art unwiderrufliches Verschwinden umkreisen:
Es bleibt nichts übrig, auch nicht eine konsistente Erinnerung an ‚bright moments‘, außer unserem
Bewusstsein, dass das so ist – was Literatur von Rang artikuliere. Vgl. Bohrer, Karl H. (1996): Der
Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin. Frankfurt am Main; Bohrer,
Karl H. (2002): Ästhetische Negativität. München.
Respondenz zum Beitrag von Gottfried Boehm 267
muss, wozu wir letztere denn brauchen, wenn sie nicht anschlussfähig sein soll.
Diese Gefahr ist bei Boehm nicht gegeben, das Kunstwerk ist ihm, in langer Tra-
dition, ganz selbstverständlich Erkenntnismittel, weil, mit einer Lieblingsvokabel
Alois Hahns, vorzüglicher Sinngenerator.⁴²
Weiter zur Negativität. Luhmann weist darauf hin, dass man in der Sprache
alles negieren könne, was für Bilder so nicht gelte: „Es gibt jedenfalls nicht im
gleichen Sinne wie beim Widerspruch des Wortes gegen das Wort einen Wider-
spruch des Bildes gehen das Bild.“⁴³ Auch Dieter Mersch betont, dass Bilder „eine
prinzipiell affirmative Struktur“ haben und durch „Fehlen der Negation“ ge-
kennzeichnet seien.⁴⁴
Solch „gängiger Auffassung“ (239) möchte Boehm nun, nach dem Präludium
von 2007,⁴⁵ entgegentreten, doch sei mir ein Umweg gestattet, um die m. E. zentrale
Schwierigkeit vorzubereiten. Mersch teilt Boehms Auffassung, im Modus (oder
Gestus) des Zeigens liege das Spezifikum einer Sinngenese des Bildes,⁴⁶ erkundet,
scheinbar eng benachbart, Bildlogiken⁴⁷ und stieß dabei ebenfalls auf Negativität.
Sein Versuch, Bildlichkeit jenseits der Paradigmen von Repräsentation und Ex-
emplifikation zu fassen,verdient Aufmerksamkeit, doch die Bestimmung medialer
Negativität des Visuellen ist nicht nur arg verklausuliert, sondern vielleicht auch
trivial. Mersch gilt als ausgemacht, „dass die Medialität des Mediums zu den
Formen der Mediatisierung in ein Verhältnis der Negativität tritt. Ihr korrespon-
diert auf der anderen Seite, die Kluft zwischen dem, ,was‘ ein Bild sichtbar macht,
was es also jeweils zur Darstellung bringt, ohne seine Darstellungsweise mit
abzubilden, und seinem ästhetischen Überschuss – der schlichten Tatsache,
In einer E-Mail vom 23. Oktober 2012 erinnert mich Hahn daran, dass man hier auch Luhmanns
Deutung von Bildern als ‚Kompaktkommunikation‘, die mit Sprache so nicht möglich ist, stark machen
könnte. Boehm weiß das, vgl. Boehm, Gottfried/Schöttle, Rüdiger (2011): 3 Gespräche. Köln, 60.
Luhmann, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien. 2. Aufl. Opladen, 80.
Mersch, Dieter (2003a): „Einleitung: Wort, Bild, Ton, Zahl – Modalitäten medialen Darstel-
lens“. In: Dieter Mersch (Hrsg.): Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens.
München, 9 – 49, hier: 34.
Boehm 2007b, 67ff.
Mersch, Dieter (2004): „Bild und Blick. Zur Medialität des Visuellen“. In: Christian Filk u. a.
(Hrsg.): Media synaesthetics. Konturen einer physiologischen Medienästhetik. Köln, 95 – 122, hier:
110 f. Am Rande – und in Bonn – notiert: ‚Harte‘ Philosophen wie Bromand, Joachim (2009): Die
Grenzen des Wissens. Paderborn, 10, sprechen von „der schwierigen Doktrin des Zeigens“, die uns
Wittgenstein hinterlassen habe. Karl Bühlers „Zeigfeld“ kommt hier interessanterweise nicht vor,
vgl. Bühler, Karl (1982): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache 1934. Stuttgart, 79 ff.,
107, 121 ff.
Neuerdings gar eine ikonische Vernunft, was dann wohl doch ein wenig überzogen ist, vgl.
Hessler, Martina/Mersch, Dieter (Hrsg.) (2009): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen
Vernunft. Bielefeld.
268 Ingo Meyer
,dass‘ es, was es sichtbar werden lässt, im Medium der Sichtbarkeit und seiner
Eigenart, seinem besonderen Format tun muss.“⁴⁸
Wenn ich es richtig sehe, ist für Mersch der Umstand entscheidend, dass
Medien gemeinhin dezent sind, man ihre Transzendentalität, ihren Vermitt-
lungscharakter gerade nicht bemerkt: „Die Materialität des Mediums bedingt seine
Spiegelung, jene Stelle, an der ein störendes oder irritierendes Element zum
Vorschein kommt, woran seine Funktion erlischt oder gesprengt wird. Sie markiert
diejenige Stelle, an der es als Medium hervortreten und damit wahrnehmbar
werden kann. Erst vermöge dieser Spaltung ‚gibt es‘ Medien und sind als solche
beschreibbar – gibt es Medienreflexion und folglich ‚Medienphilosophie‘: Sie
wäre als ‚negative‘ zu fundieren.“⁴⁹ Mersch spricht von einer „konstitutionellen
Negativität des Medialen“, die im Falle des Bildes durch einen „Rückstand des
Sichzeigens“ charakterisiert sei,⁵⁰ den er mit Barthes’ „punctum“, Benjamins
„Aura“ und Adornos „Rätselcharakter“ in Verbindung bringt,⁵¹ um ein „Unge-
nügen oder Mangel des Medialen, sein strukturelles Verfehlen“ hervorzuheben.⁵²
Mit Verlaub, ist hier wirklich mehr als der allbekannte rezeptionsästhetische
Umstand, dass ich beim Sprachverstehen vergessen muss, dass ich Sprache, Ketten
von Signifikanten, Kombinationen von Morphemen verstehe? Dass ich, zumindest bei
gegenständlichen Darstellungen, vergessen muss, dass Velàzquez’ Porträt des Hof-
narren Pablo aus Valladolid (1636/37) aus Leinwand, Pigmenten und Bindemitteln
besteht? Dass ich ‚des‘ Ästhetischen niemals habhaft werde, sondern nur seiner je-
weiligen Realisierungen?⁵³ Merschs Summe einer „dreifachen Differenz und Negati-
vität“ des Visuellen, das er in der „Reflexivität des Blicks, des Blickwechsels und des
Chiasmus der Blicke gegeben“ sieht und das stets die „Wahrnehmung des Bildes
zerschneidet“,⁵⁴ leidet an einer Überfrachtung mit postmodernen Theoriegut und ist,
bei Licht besehen, nicht viel mehr als die Adaption der raunenderen Einlassungen
von Lacan und Didi-Huberman. Worum es auch Mersch geht, die notorische se-
mantische Überschüssigkeit der Bilder,⁵⁵ ist hermeneutisch wohl unspektakulärer zu
haben und muss nicht als „Spiel von Zug und Entzug“⁵⁶, Bild- und Blickspaltung etc.
hochgeschrieben werden.
Da ist Boehms Negativität griffiger. Wahrnehmung von etwas – darauf weist
auch Boehm hin –⁵⁷ geht immer zu Lasten von etwas ,anderem‘, sowohl räumlich
(Simultaneität) als auch temporal (Sukzession). Unbestimmtheit und Kontrast,
den Umstand, dass Bilder zugleich optisch distinkt und semantisch offen sind, hat
Boehm als „Erscheinungsdichte“ (248) bereits an Bildern Monets, Warhols,
Mondrians und Tobeys überzeugend aufgewiesen.⁵⁸
Sehr viel heikler ist dies bei gegenständlicher Kunst. Die Analyse von Zur-
baráns Stillleben möchte dartun: „Negation ist ein integraler Aspekt des Bildes
[…]. Man kann […] keine Differenz denken, auch nicht die Ikonische, ohne mit dem
Moment des Negierens zu operieren“ (257). Das sei stets der Fall, „weil Zeichen
nicht nur vor ihren Grund treten, sondern ihn im gleichen Zuge auch verschwinden
lassen. […] Die Negation des Grundes, die da und dort angreift, ist gleichzeitig aber
auch Bedingung dafür, dass er als Grund des Bildes überhaupt wahrgenommen
werden kann und seine Funktion wirksam wird“ (256). Tatsächlich wird solch
Umstand an Zurbaráns Bild besonders sinnfällig, doch scheint er mir – hartnäckig
meldet sich erneut die ästhetische Differenz – für jedes Bild, jede Art Darstellung
zu gelten und es steht zu befürchten, dass sehr viele Stillleben, man denke nur an
Beispiele Cézannes oder Morandis, „ontologische Gewissheit“ (241, 257), um das
von Boehm aufgeschnappte Bonmot Dietrich Seckels zu zitieren, vermitteln
können.⁵⁹ Vielleicht gar ist es ihr ‚metaphysischer Sinn‘.
Deshalb mein zweiter Haupteinwand an Boehms Erkundung ikonischer Ne-
gativität: ‚Negation‘ ist für das hier Gemeinte womöglich zu stark. Das aber liegt
v. a. daran, dass wir, sprachlich-logisch, zwischen Position und Negation über
kein Drittes verfügen, insofern hat Boehms Insistenz auf Inkommensurabilität des
Bildlichen generell wiederum ihr gutes Recht. Um beim Theoriegut zu verbleiben,
schon Husserl betont eine „Struktur der vorprädikativen Erfahrung“⁶⁰, in der er
selbst die formale Logik gründen lassen möchte,⁶¹ denn vor „jedem Einsatz einer
Erkenntnistätigkeit sind schon immer Gegenstände für uns da, in schlichter Ge-
wissheit vorgegeben“.⁶² Zudem, und dies mag einen verwertbaren Ertrag meines
Kommentars abgeben, stellt der späte Rickert in einer wenig bekannten Schrift
fest: „Die Andersheit geht der Negation logisch voran. Logisch noch Ursprüngli-
cheres […] kann gar nicht gedacht werden.“⁶³ Negation, so Rickert, „vermag das
Andere vielleicht zu entdecken, aber nie zu erzeugen“, weshalb er vor jeder
‚dialektischen‘ Verrechnung warnt und für diesen seltsamen epistemischen Status
einer indifferenten Gewahrung den Begriff der „Heterothesis“ vorschlägt.⁶⁴
Verträgt sich Heterologie vielleicht nicht auch mit der Boehmschen Logik des
Konstrasts, des Zeigens und der Gestalt- als Sinngenese vor und aus einem opaken
Grund besser, die dann als differentielles Geschehen zu verstehen wäre, nicht aber
als Negation (mit ihrem starken ‚Richtungssinn‘)?
Und weiter: Obwohl mir ein wenig unwohl dabei ist, einem philosophisch
kompetenten Kunsthistoriker den höheren Rechenschieber George Spencer Bro-
wns, das Mantra des späten Luhmann, anzudienen, mag auch er hier ein wenig
weiterhelfen. Die Pointe seines Kalküls ist ja – und nur darauf kommt es an – dass
Bezugnahme immer zwei Operationen untrennbar in eine fasst: ‚indication‘ ist
nicht ohne Unterscheidung zu haben, ‚distinction‘ nicht möglich, ohne etwas zu
markieren, das dann Raum gibt für ein infinites Undsoweiter des Spiels von Un-
terscheidungen. Solch Formenkalkül impliziert die Zunahme und Anreicherung
von, ich erinnere Luhmann 1975, Möglichkeiten der Negation bei jeder Position
und umgekehrt. Allerdings macht Luhmanns eigener Versuch einer Produkti-
onsästhetik mit besagten Mitteln wenig Lust auf mehr.⁶⁵ Dennoch, Negation als
Modus von Sinngenese wäre damit theoretisch entdramatisiert, und Luhmann
selbst betont in einer späten Einlassung zur Negation dann auch „die mitkon-
stituierende Relevanz des Nichtbezeichneten.“⁶⁶
Zu einem guten Schluss gelangt man mit Boehms Ausblick auf die Moderne,⁶⁷
dem Erhabenheitsdiskurs, Lyotard und Barnett Newman, wieder in erdnähere
Gefilde. Es war ja kein Zufall, dass diese altehrwürdige ästhetische Kategorie vom
Negativitätsästhetiker Adorno reanimiert wurde⁶⁸ und dann doch überraschend
als Platzhalter des, sagen wir, verstellten Schönen, während der Debatten um die
Postmoderne fungierte. Hier hätte ikonische Negativität, freilich auf einer allge-
meineren kunsthistorischen Ebene, ihren guten Sinn und es steht zu vermuten,
dass Boehm dieser Traditionslinie in einer künftigen Monografie breiten Raum
gewähren wird. Wie geht man mit Phänomenen um, für die die Literaturwissen-
schaft über den Begriff der Intertextualität verfügt?⁶⁹ Wie sortiert man etwa
Magrittes und Picassos Parodien und Dekonstruktionen von Bildern Manets? Ist
das auch ikonische Negativität? Gibt es eigentlich wirklich ironische Bilder, die ja
zeigen müssten, was sie nicht meinen?
Der nicht geringste Vorteil einer Orientierung an Spencer Browns ‚Entde-
ckung‘ aber wäre, dass man angesichts des hermetischen, nicht nur ungegen-
ständlichen Strangs der Moderne m. E. wenig belastbare Thesen wie Lyotards
Separierung eines schieren ‚Dass‘ des bildlichen Ereignisses vom ‚Was‘⁷⁰ oder
Imdahls Emphase eines „sehenden Sehen[s]“, das sich vorschneller Bedeu-
tungszuschreibungen enthalte,⁷¹ umsteuern könnte: Wer wahrnimmt, semanti-
siert – und kann dabei, dies die Pointe ‚mit Spencer Brown‘, auch nicht umhin,
seinen Gegenstand differentiell (immer wieder neu) zu bestimmen. Boehm weiß
das, wenn er ausführt, dass „Bilder immer etwas darstellen“⁷² und festhält:
„[K]eine Sinnordnung ist davor gefeit, durch eine nächste Lektüre des Auges auch
wieder zerstreut zu werden.“⁷³ Vermutlich lag gerade noch Derridas berühmte
Ich beziehe mich hier auf eine frühere Fassung von „Dunkles Licht“, nämlich Boehm, Gottfried
(2012): Die Rückseite der Präsenz. Über ikonische Negation. Ms. Bonn, 29 ff.
Adorno, Theodor W. (1973): Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main, 292– 296 u. passim.
Natürlich – scheußlich genug – Isekenmeier, Guido (Hrsg.) (2013): Interpiktorialität. Theorie
und Geschichte der Bild-Bild-Bezüge. Bielefeld. Ein ungeschickterer Buchtitel ist kaum denkbar.
Lyotard, François (1997): „Das Erhabene und die Avantgarde (1984)“. In: Karl Heinz Bohrer/
Kurt Scheel (Hrsg.): Die Botschaft des Merkur. Eine Anthologie aus fünfzig Jahren der Zeitschrift.
Stuttgart, 322– 335, hier: 322, 332 f. Ich konnte mich bei diesem Text allerdings nie des Eindrucks
erwehren, dass es Lyotard recht eigentlich darum geht, den schönen Pariser Mai 1968 noch einmal
zu denken.
Imdahl, Max (1996): „Giotto. Zur Frage der ikonischen Sinnstruktur (1979)“. In: Reflexion –
Theorie – Methode [Gesammelte Schriften. Bd. 3]. Gottfried Boehm (Hrsg.). Frankfurt am Main,
424– 463, hier 432.
Boehm, Gottfried (1992): „Sehen. Hermeneutische Reflexionen“. In: Internationale Zeitschrift
für Philosophie 1, 50 – 67, hier: 63.
Boehm, Gottfried (1990a): „Abstraktion und Realität“. In: Philosophisches Jahrbuch 97, 225 –
237, hier: 231.
272 Ingo Meyer
Dissémination auf Boehms Tisch. Gerade anlässlich der von ihm genannten Maler
wie Roman Opalka, Gotthard Graubner und Johannes Geccelli wäre ja die Er-
kundung von Sinnprägnanz als „auf Dauer gestelltes Verhältnis von dichter Im-
plikation und offener Explikation“ (259) ohnehin paradigmatisch und stets aufs
Neue als Pensum aufgegeben.⁷⁴
Der Effekt aber ist bekannt: „Wenn er nachdenkt über die Einzelheiten des
Bildes, verlieren sie sich schon.“⁷⁵
Boehm hat sich über Graubner und Geccelli ausführlicher geäußert, vgl. Boehm, Gottfried
(1990b): „Atem. Zum Werk Gotthard Graubners“. In: Deutsche Siedlungs- und Landesrentenbank
(Hrsg.): Gotthard Graubner. Bonn, 6 – 15, der Hinweis auf das „Potential der Wirkung“ Boehm 1990,
8; Boehm, Gottfried (1998): Annäherungen an Johannes Geccelli. In: Johannes Geccelli und Danuta
Karsten. Mit Beiträgen von Jacek Barski und Gottfried Boehm. Regensburg/Esslingen, 7– 12.
Weiss 1968, 182.
Wolfram Hogrebe (Bonn)
Das Neue Bedürfnis nach Metaphysik
Dinner Speech
Irgendwann erwischt es einen auch zuletzt noch. Jetzt bin ich dran, eben zuletzt.
Das neue Bedürfnis nach Metaphysik war unser Thema.
Warum ist überhaupt von einem neuen Bedürfnis die Rede?
Ein Bedürfnis entsteht da, so heute Morgen Birgit Sandkaulen, wo etwas
mangelt. Dies ist in unserer Zeit ein Mangel in der Selbstinterpretation des Men-
schen.
Seine naturalistische Selbstinterpretation blieb lange Zeit unter der Ersatz-
fütterung durch Wissenschaften einfach defizitär und unterkomplex.
Die Menschen fühlten: Wir sind mehr und anderes als nur Körperzellen. Wir
sind nicht nur Seinsgebilde, sondern auch Sinngebilde. Wir existieren physisch
‚zugleich‘ in Sinnfeldern, wie Markus Gabriel ausgeführt hat.
Das merkten auch die Philosophen, zuerst in Italien, dann in Frankreich, dann
in den USA.
Nur die Deutschen, außer in Bonn, hatten immer noch nichts bemerkt.
Hier griff endlich die Alexander von Humboldt-Stiftung ein und zwar unter der
Devise: So kann das nicht weitergehen.Wir helfen den armen deutschen Denkern,
indem wir unsere ausländischen Preisträger und Stipendiaten nach Bonn ein-
berufen.
Nun sind sie hier, um den deutschen Denkern Nachhilfeunterricht zu geben.
Sie haben es getan und es tat gut.
Wie lautet nun die Antwort, die unsere Tagung erbracht hat?
Ganz einfach: Metaphysik ist Denken auf Distanz, genauer: Denken auf variie-
rende Distanz, nah und fern zum uninterpretierten Einen. Darauf hatte Jens
Halfwassen hingewiesen.
Da ist die Physis, das ist z. B. der Boden, auf dem wir stehen. Und da ist die
kleine Differenz zwischen Boden und Fußsohle. Diese Differenz wird meistens in
gewebter Form verkörpert: Das sind Teppiche. Zwischen Boden und Fußsohle liegt
ein Teppich. Genau das ist, mit Stefan George gesprochen, der ‚Teppich des Le-
bens‘. Der Boden denkt nicht, deshalb stehen wir auf dem Teppich des Lebens.
Deshalb gibt es ein Denken eben nur auf Distanz.
Metaphysik ist also nicht nur ein Gewölbe über uns, sondern auch die Dif-
ferenz zum Boden. ‚Metaphysik von unten‘ ist genau das, was wir heute brauchen.
Was erhebt uns minimal über die Physis ohne uns abheben zu lassen? Genau
das ist die Frage der Metaphysik. Sie folgt der Devise: Menschen sollten auf dem
Teppich bleiben.
Wolters in römischer Tradition völlig einig, Metaphysik ist keine Sache des Ge-
brauchs (uti), sondern ultimativ einfach eine Sache des Genusses (frui).
Guten Appetit!
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Adams, Bob 82 Bowra, Maurice 15
Adorno, Gretel 56, 240, 258, 268, 271 Brandom, Robert 85, 156
Adorno, Theodor W. 56, 240, 258, 268, 271 Brentano, Clemens 27
Agamben, Giorgio 75 Bromand, Joachim 267
Alexander v. Aphrodisias 26, 35 Brook, Andrew 97 f., 107, 113
Allais, Lucy 83, 124 Brown, Jonathan 170 f., 173, 257
Allison, Henry 84, 143 f. Bubner, Rüdiger 270
Ameriks, Karl 79, 87 – 90, 92 Buée, Jean-Michel 62
Anscombe, Gertrude E. M. 209, 214 Bühler, Karl 267
Anton, John P. 29 Burge, Tyler 83
Arendt, Hannah 80, 238 Burioni, Matteo 250
Aristoteles 3, 5, 7 – 11, 19 f., 22 – 24, 27, 29 –
32, 34 – 40, 42 – 44, 46, 63 – 66, 225, Calogero, Guido 13
232 f., 242, 245 f., 256 Canguilhem, Georges 134
Armstrong, David 184 f. Carnap, Rudolf 189, 194
Arp, Hans 244 Carr, David 79
Aubenque, Pierre 34, 37 – 40, 87 Carr, H. Wildon 120
Austin, John L. 80, 130 Casey, Edward 263, 265
Cassam, Quassim 83
Baldwin, James M. 246 f. Cassirer, Ernst 84, 152
Barnes, Jonathan 12 Cavell, Stanley 82, 190
Barthes, Roland 258, 268 Cézannes, Paul 269
Basso, Elisabetta 133 Chalmers, David 83, 192
Beall, Jc 185 Chignell, Andrew 85
Beckett, Samuel 81 f. Chisholm, Roderick 82 f.
Beierwaltes, Werner 72 Chomentowska, Sylvia 240
Belting, Hans 261 Cohen, Hermann 96, 113, 156
Benjamin, Walter 76, 177, 186, 266, 268 Collingwood, Robin G. 38 f., 41, 43, 45
Bennett, Jonathan 83 Conant, James F. 133, 137, 151
Bergson, Henri 190 Correia, Fabrice 177, 186
Berkeley, George 120, 126 Crick, Francis 75
Bernays, Jacob 7 Cubo, Óscar 113
Bernecker, Sven 161, 167, 177, 181 – 183, Cuvier, Georges 135
186 – 188
Betz, Hans D. 59 Dante Alighieri 76
Birus, Henrik 258 Darwall, Stephen 82
Blumenberg, Hans 252 f. Daston, Lorraine 134
Boehm, Gottfried 239 – 241, 250, 258, 261 – Defert, Daniel 228
267, 269 – 272 Deleuze, Gilles 189 f.
Boghossian, Paul 120 Deligiorgi, Katerina 85
Bohrer, Karl Heinz 266, 271 Della Rocca, Michael 82
Bonitz, Herrmann 35 Demokrit 6, 19, 22
BonJour, Laurence 178 DeRose, Keith 167
288 Index