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Be Emmanuel Lévinas Ingo Neumann "BITTE NACH IHNEN" Der Vorrang des Anderen in der Ethik von Emmanuel Lévinas als Herausforderung fiir Seelsorge und Beratung society ISSN: 1431 - 8962 for intercultural pastoral care andicounselling ‘ z Sane - , 5 Gesellschaft I ci (eurat fur interiialturelle 3 Seclsorge und Beratung e.V. Impressum Interkulturelle Seelsorge und Beratung Schriftenreihe der Gesellschaft far Interkulturelle Seelsorge und Beracung e.V. sipcc Society for Intercultural Pastoral Care and Counselling Herausgeberkreis Dr. Karl Federschmidt (Leitung) Ulrike Atkins Klaus Temme Helmut Weil Geschaftsstelle Friederike-Fliedner-Weg 72 40489 Dusseldorf Tel. 0211-479 05 25 Fax 0211-479 05 26 e-mail ewe sipce@t-online.de Nr. 5 Ingo Neumann "BITTE NACH IHNEN" Der Vorrang des Anderen in der Ethik von Emmanuel Lévinas als Herausforderung fur Seelsorge und Beratung Diisseldorf August 2000 Redaktion und Layout dieses Heftes: Helmut WeiS ISSN: 1431 - 8962 Ingo Neumann “BITTE NACH IHNEN" Der Vorrang des Anderen in der Ethik von Emmanuel Lévinas als Herausforderung fir Seelsorge und Beratung. EINLEITUNG: MEINE BEGEGNUNG- MIT EINEM FREMDEN DENKEN Bibel und Philosophie / Heidegger / Das Antlitz / Uberforderung 14 BIOGRAFIE Herkunfe: Der Antisemitismus als Staats- religion und die reiche Welt der Bucher 3-4 ScraSburg und Freiburg: Die Entdeckung der phinomenologischen Methode 5-6 Krieg und Nachkriegszeie: Begrandung einer eigenen Philosop! 6-7 ‘Auf dem Plateau: Dreiunddreifiig Jahre Doppelexistenz zwischen jdischer Hochschule und Philosophie 7-8 Dreifaches Finale: Sorbonne - Rom - Israel 8-12 Tod und Abschied 12 DER WEG ZUM ETHISCHEN ALS ERSTER PHILOSOPHIE 12-14 EMMANUEL LEVINAS ALS PHANOMENOLOGE 14-15 “Heraus aus der Konzentration auf die innerseelischen Prozesse! Reduktion! PHILOSOPHISCHE ANALYSEN, DIE DIE SEELSORGE BERUHREN Der Vorrang des Anderen, 15-17 Der Vorrang der Unterweisung 17-18 Der Vorrang des Todes des Anderen 18-19 Der Vorrang der Verantwortung 19-21 Literatur 2 Zu diesem Heft und zum Autor 2 (Helmut Wei8) Zum Selbseverstindnis von SIPCC 23-24 "BITTE NACH IHNEN" Der Vorrang des Anderen in der Ethik von Emmanuel Lévinas als Herausforderung fiir Seelsorge und Beratung Ingo Neumann EINLEITUNG MEINE BEGEGNUNG MIT EINEM FREMDEN DENKEN Wie kommen wir auf die Spur eines Au- tors, dessen Denken fiir uns schicksalhaft werden soll? "Wenn die Welt 24 uns spricht, ist es unmbg- lich 2x sagen, ob sie etwas mit uns mackt oder wm- -gekebrt wir etwas mit ihr... Niemals wissen wir sicher, ob wir Borschafien aussenden und Antwor- ten bekommen oder ob die Welt uns Botschafien schicks, die wir beantworten", schreibt Arnold ‘Mindell (Den Pfad des Herzens gehen, S. 62) Habe ich Levinas entdeckt oder hat er mich ge- funden? In einer Trierer Buchhandlung kam mir 1989 ein schmales Buch, fast ein Heft, mit wei- fem Umschlag in die Hand: Lévinas, "Ethik wad Unendlichkeit. Der Name schwedenblau. Schon beim ersten Hineinblatcern ist da sofort die elektrisierende Gewissheit, auf einen hochbe- deutsamen Text gestoBen 2u sein, auf einen Au- tor, der mir meine eigene Welt in einer von mir selbst nie erreichten Klarheit formuliert Das erste Kapitel mit der Uberschrift "Bi- bel und Philosophie" fahrt mich an den Beginn meines Studiums zuriick, wo ich mich mit der gleichen Begeisterung in die Theologie und die Philosophie hineinstirzte. "Jedes philosopbische Denken beri auf vor-philosophischen Erfabran- gen und die Lekeitre der Bibel hat bet mir 2x diesen Exfabrungen. grindender Art gehor’’, schreibt Lévinas da (S. 16). Und er schreibt es damals und heute auch far mich, Uber dem zweiten Kapitel steht einsam und groft der Name Heidegger. Und dann lese ich Satze uber "Sete und Zeit: "Es ist eines der scbonsten Biicher in der Geschichte der Philosophie ~ ich sage das nach einigen Jahren des Nachden- skens, Eines der schénsten neben vier oder fiinf anderen... Meine Bewunderung fiir Heidegger ist vor allem eine Bewunderung fizr ‘Sein und Zeit" G. 26). Im Wintersemester 1960/61 hielt Ger- hard Ebeling in Zorich ein vierscundiges Seminar fiber "Das Denken Martin Heideggers und die Theologie’. Dieses Seminar lockte mich nach Zirich. Heidegger kam zu zwei Sitzungen aus seiner Verbannung im Schwarzwald herunter nach Zirich, So lese ich diese Satze wie eine zart- liche Liebeserklarung, die auch meine Faszinati- on von damals wieder wachruft und ihr Absolu- tion erveilt. Das schreibs ein Jude! Dann falle mein Blick auf die Uberschrift zum 7, Kapitel: "Das Anclitz". Nichts mache ich lieber, als die Gesichter von Menschen betrach- ten, selbst noch auf den gro8en Plakaten von Calvin. Gott, der im Mitmenschen begegnet, das war der Leuchtpunkt der Theologie meines r- sten cheologischen Lehrers Herbert Braun, und es blicb in Zeiten des Zweifels und der Verdaste- rung der zuverlissige, nie verstellte Ort der Gotteserkenntnis. Aber hier wird priziser vom Antliz gerede: Das Antlitz - "am meister nackt.., auch am meisten entblép... exponiert, bedrobr, als witrde es uns zu einem Akt der Gewalt einladen. Zugleich ist das Anilitz das, was uns verbietet, 2 téren” (S. 64f.). Ich kann gar nicht mebr aufhéren zu lesen. Und dann als lerzter Eindruck cine Bor schafe ftir mich in meiner damaligen Arbeitssi- uation: Uberforderung. Das Wort steht da nicht. Aber es steht 2wischen den Zeilen. Die Beziehung zwischen dem Anderen und mir ist nicht gegenseitig. Ich bin dem Anderen gegen ‘aber unterworfen. Vor allem in diesem Sinn bin ich ‘Subjeke’ (sujet). "Ich bin es, der alles ertvagt Sie kennen diesen Satz von Dostojewski: in ‘Wahrheit bin ich fur alle schuldig und vielleiche schuldiger als alle. Nicht wegen der einen oder anderen Schuld, die tatséchlich meine ist, wegen Feblern, die ich begangen hitte; sondern, teil ich verantwortlich bin gemaR einer totalen Verant- wwortlichkeit... Das Icb hat immer ein Mebr an Verantwortlichkeit als alle anderen® (S. 76). Ich bin es, "der das Universum tragt, wie immer astch der Fortgang der Geschichte set” (S. 88). Diese Worte von einer unendlichen Uberforderung haben fuir mich etoas Erlosendes, weil sie sehr genau meine Erfahrung aussprechen: als Pfarrer tiner grofien Gemeinde mitten unter der unend- lichen Last der Bedrohung durch die Stationie~ rung der Pershings und Cruise Missiles, unter dem Zorang, etwas gegen den Krieg zu tun. Bibel und Philosophie, Heidegger, das Antlitz, totale Verantwortlichkeic - vier Themen, vertraut und doch in einer fremden Kahnheit zur Sprache gebracht. Ich gebe das Heft nicht mehr aus der Hand. Es enthalt eine Reihe von zehn Gesprichen, in denen der Philosoph Philippe Nemo sparsame Impulse gibt, die Lévinas einla- den, die Entfaltung seines Denkens in zehn klei- nen, kunstvollen Abhandlungen darzuscellen. Eine phantastische Einfuhrung, 1981 aufgenom- ‘men und von France-Culture ausgestrahlt. ch kaufe mir bald danach auch das Hauprwerk "Toralitat und Unendlichkeit” (1961) und nehme es als Urlaubslektire mit nach Nor- ‘wegen. Langsam dimmert mi, dass uns hinter all den sofort erkennbaren Bezgen noch ein Ge~ heimnis verbindet: Wir sind beide Uberlebende. Ich war als Siebenjahriger bei der Bombardierung von Dresden Februar 1944 verschiittet und habe den Untergang dieser Stadt tberlebt, in der 30.000 oder 300.000 Menschen ums Leben ge- kommen sind. Man wei8 das nicht. Er hat in deutscher Kriegsgefangenschaft den Holocaust fiberlebr, dem seine Eltern und Briider in Litauen zum Opfer gefallen sind. Das Schuldgefuhl der Uherlebenden, wir kennen es beide. Die glaskla- re, harte Erkenntnis, dass es kein Recht auf Le- ben, gar auf Gliick gibe. Und dass es keine Ant- wort gibt auf die Frage “warum"? Aber nun nicht: Warum tiffe es mich? sondern: Warum bi verschont geblieben? Warum darf ich leben? Diese Exfahrung ist, so merkte ich bald, cin zentraler Bezugspunkt seines Denkens ge- blieben. ‘Da war also eine Fille von Themen und Erfahrungen, dic eine Briicke schlugen zu diesem neuen philosophischen Autor, erstaunlich viele persénliche Berthrungen. Ganz schnell aber war da auch eine Ahmung, dass in diesem Denken ein radikaler Gegenzug formuliert wurde zu den Allerwelts-Uberzeugungen der Humanistischen Psychologie, bei der ich und viele Kolleginnen und Kollegen der Seelsorgebewegung viele Jahre stolz in die Schule gegangen waren: Nicht das Wohlbefinden, sondern die Last, die Passion; nicht bekommliche Abgrenzung, sondern totale Verantwortung; nicht Befreiung, sondern Gei- selhaft; nicht Partnerschaft, sondern die Hoheit des Anderen oder des Meisters. Meine Lust erwachte, unsere etablierven Uberzeugungen mit dem Denken von Lévinas zu Konfrontieren, etwa Carl Rogers, den Begrinder der Klientenzentrierten Therapie, der sehr viele Seelsorgerinnen und Seelsorger gepragt hatte, und Lévinas einander gegendberzustellen und selbst einmal wieder gegen den Strom zu schwimmen. Bin spites Echo dieser urspringli- chen Lust ist dieser Artikel Nach diesem sehr personlichen Einstieg machte ich nun Lévinas in den Mittelpunkt stel- Jen und sein Leben erzihlen. Marie-Anne Le- scourret hat 1994 eine breit angelegte Biogralie mit dem Titel "Emmanuel Lévinas” verolfent- licht, die die Stationen seines Lebens und Den- kens liebevoll und zurtickhaltend beschreibr. Sie ise bisher leider niche ins Deuische dberseczt worden. Ich warde mich weitgehend an diesem umfangreichen Buch orientieren (Seitenangaben in Klammern). “Iehsein bedeutet, sich der Verantwortung nicht entziehen konnen. Dieser Auswuchs an Sein, diese Ubertreibung, die man Ichsein hennt, dieser Ausbruch der Selbstheit im Sein vollzieht sich als Anwachsen der Verantwor- | tung. Die Infragestellung meiner Selbst durch den Anderen macht mich mit dem Anderen in unvergleichlicher und einziger Weise solida- fisch.” Die Spur des Anderen, S. 222 BIOGRAFIE HERKUNFT DER ANTISEMITISMUS ALS STAATSRELIGION UND DIE REICHE WELT DER BUCHER Emmanuel Lévinas wird in der damaligen russischen Baltenprovinz Litauen geboren, nach russischem Kalender am 30. Dezember 1905, nach unserem Kalender am 12. Januar 1906. Li- tauisch heir seine Geburtsstad: Kaunas, russisch Kovno, jtidisch Kovne. Und zur jidischen Ge- meinde gehort seine Familie. Schon diese unter- schiedlichen Angaben lassen etwas ahnen von den Unsicherheiten der Existenz in einer Grenz- region. Die Biografin kann ihn einen "Mann der Grenzregionen" nennen (S. 38). Der Vater ist Buchhindler. Seine Kunden sind vor allem Kanzleibeamte und Gymnasial- professoren. Emmanuel hat noch 2wei jiingere Briider, Boris und Abinadab. Er erinnert sich an cine christliche Hausangestellte und an Ferien in einer Datscha auf dem Land. Die Eltern sprechen untereinander jiddisch, mit ihren Kindern aber bewuke russisch. Als Emmanuel sechs Jahre alt ist, kommt zweimal in der Woche ein Hebraisch- Professor ins Haus. Der Schiler liest auf Hebri- isch, der Professor tbersetzt und interpretiert auf Russisch, So wichst Lévinas in zwei Spra- chen, in zwei Traditionen auf. Die hebriische Bibel verankert ihn im Glaubensmilieu seines Elternhauses, das Russisch offnet alle Tren in die groke Welt der russischen und der europii- schen Literatur Kaunas - Grburtsore von Lévinas Der Antisemitismus ist in RuSland "Staatsreligion” (S. 22). Obwobl es in Kaunas und dem benachbarten Wilna mit ihren bedeutenden jiidischen Gemeinden keine Pogrome gegeben hat, geschah es niche selten, dass Juden am Bart gezogen oder auf offener StraBe verpriigelt wrur- den. Wenn ein Jude Widerstand leistete, konnte ex wegen Storung der Gffentlichen Ordnung angeklage werden und sich im Gefingnis wieder- finden. So lernte man tiglich, die Demirigungen zu ignorieren und Mittel zu finden, um - wenn schon nicht den Stolz oder die Selbstachtung - so doch das Leben zu retten (S. 32). Beide Traditionen statten ihn mit reichen vor-philosophischen Erfahrungen und mit grin- denden Gewissheiten aus, von denen er ein Le- ben lang begeistert erzahlen und zehren wird. Die Familie gehért 2u den Midnagdim, den alten Gegnem des Chassidismus. Wie hinter den Chassidim der Baal Sschem Tov (1700-1760) erscheint, so hinter den Midnagdim der Gaon von Wilna (1720-1797). Uns sind durch Erzahlungen von Martin Buber und Elie Wiesel die Chassidim vertraut und lieb geworden. Der Gaon von Wilna hat 1772 ihre Exkommunikation ausgesprochen und damit eine Grenze markiert gegeniiber threm Glauben, der vor allem in Herz, Gemitr, Phanta- sie verwurzele war und sich in Wundergeschich- ren und Gebeten, in irrationaler und gefihlvoller Tnnerlichkeit ausdriickve. Emmanuel, Boris (Vater) und Aminadsb Lévinas Ex dagegen serzte auf die Wissenschaft, auf Mathematik, Astronomie, Anatomie, Her- mencutik, cine kritische Interpretation von Tora und Talmud. "Der Unwissende kann nicht fromm sein"! "Gebrauche deine eigenen Augen wad nicht die Brille der anderen" (S, 27). Das lest sich wie cin nahes Echo aus dem benachbarten Konigs- berg des Philosophen Immanuel Kant, wie eine Vorahnung von Ausfuhrungen von Friedrich Schleiermacher 2u Beginn des 19. Jahrhunderts. Ziel seiner Unterweisung ist dic personliche Vervollkommaung, die nur mithilfe der bibli- schen Tora erreicht werden kann (S. 28) [Nautirlich hat es Vermittlungsversuche ge- geben, trotzdem ist Levinas immer dieser Grundorientierung treu geblieben: dem Vorrang der Halacha, des juridischen Teils des Talmud, ‘gegentber der Haggada mit ihren narrativen Schatzen, Quelle von Legenden, Allegorien, ‘Mythen; dem Vorrang der Tora gegeniiber den Psalmen, 1964 wird er im jtidischen Konsistorium in aris sein Credo zur Erneuerung des Judentums zuspitzen in gewagten Antithesen: 'deshalb muss der Judaismus der Vernunfe den Judsismaus. des Gebets itberfligeln, der Jude des Talmud den Ju- den der Psalmen"(S. 363). In einer Auslegung zu ‘Marchitus 25 und Jesaja 58 wird es 1988 heiGen: "Spirtuell anspruchsvolle Menschen, die das Ange- sicht Gottes sehen und seine Nahe geniefien wollen, ‘werden sein Gesicht sehen, wenn sie ibre Sklaven freigelassen und die Hungrigen gesatuige haben” (S. 276). Genau so bedeutsam aber ist die russische Literatur, hinter der dann schnell auch die deut- sche, die franzésische, die englische und spani- sche erscheinen. Die Schwester des Vaters leitet in Kaunas die russische Bibliothek, Tausende Bacher gebdren ihm (8. 34): "Die rusischen Klassiker Puschkin, Lermontow, Gogol, Turgen- jew, Dostojewoski und Tolstoi, und auch die grofien Schrifisteller des cvestlichen Europa, or allem Shakespeare, den ich in Hamlet, Macheth snd Konig Lear sehr bewunder: babe. Ist dies (nicht) eine gute Vorbereitung auf Platon und Kant, wenn man die Kernfrage der Philosophie als die nach dem Sinn des Menschlichen... nach dem berihy- ten ‘Sinn des Lebens'~ nach dem sich die Romanfi- guren der russischen Schrfisteller wnunierbrochen ragen -, versteht?” so er selbst 1982 im Interview ‘mit Philippe Nemo, Es gibt eine besondere Nahe zu Dosto- jewski, dessen Buch "Die Bridder Karamasow" et seinen unendlich oft wiedetholten Leitsatz ent- lehne: "Sob, wir sind alle schuldig, send ich ‘mebr als die anderen". Und in dessen Panhuma- rnismus die russische Literaur seiner jiidischen ‘Tradition sehr nahe komme: "Wirklich Russe zx sein heift einzig und allein Bruder aller Menschen zx sein” (8.50). Hier schon, ganz frah, beginnt jene Arbeit an der Vermittlung gegensitzlicher Traditionen. Und hier schon lernt man verstehen, welch ho- hen Rang Bacher for ihn zeitlebens haben wer- den: Sie sind sein Zugang zur alltiglichen und zur groSen Welt. “Es gibt kein anderes Vaterland als das Buch” (S. 49). Die Riickkehr zum Erforschen der Bacher, ja DES BUCHES der Bibel, wird far ihn die Antwort sein auf die drokende Ver- weiflung angesichts des Holocaust (6. 147). Eien bitteren Vorgeschmack _bringt schon der Erste Weltkrieg mit sich. Die Familie fllichter in die Ukraine. Kiew ist den Juden ver- schlossen, Charkow erlaubt, Mit elf Jahren ber- steigt Emmanuel den engen Numerus Clausus fors Gymnasium, das die Zahl der Juden aufs auerste begrenzt. Die Familie feiert wie tblich mit grokem Pomp, wie wenn er ein Doktordi- plom erhalten hatie (S. 36). STRASSBURG UND FREIBURG DIE ENTDECKUNG DER PHANO- MENOLOGISCHEN METHODE Nach dem ersten Weltkrieg wird Litauen cin eigener Staat. Die alte Sicht der Dinge in der Familie Lévinas bleibt: “Was vor allem im Leben zible, das sind die Seudien" (8, 36). Die gebildere und ehrgeizige Mutter sorgt dafiir, dass er nach dem Abitur an ciner erstklassigen Universitat studiert, also auBerhalb Litauens. Kénigsberg, Berlin, Leipzig verweigern ihm die Immatrikula- sion. Die Wahl fille auf SeraGburg, schon Frank- reich, aber doch Kaunas so nahe wie méglich. “Er ist achtzehn Jabre alt. Ein junger Mann ‘von kleiner Gestalt mit einer schwarzen Haar- pracht. Sein Eranzésisch ist armselig, seine Mittel sind knapp. Er ise allein und kennt niemand” (S. 51). Die Universitit soll nach der "Rickkehr” des Elsa8 2u Frankreich nach dem Ersten Welt- kerieg demonstrativ ausgebaut werden. Die be- sten, fortschritelichsten Professoren Frankreichs werden nach ScraBburg geschickt, Philosophen, Germanisten, Historiker, Psychologen, Soziolo- gen, aber sie bilden ein Ghetto und haben nur eins im Sinn: 2urtick nach Paris, an die Sorbonne! ‘Von StraSburg an die Sorbonne, das wird auch Lévinas' Weg sein! Aber far thn fuhre der Weg uber Freiburg! StraSburg ist gut far ein solides Grund- studium. Aber der Kick kommt von woanders her. Da gibt es an der Evangelisch-Theologischen Fakultit einen Pfarrer, der vor 1914 Schiller von Hiusserl war und der jiingst (1926) ein Buch "Phinomenologie und Religionsphilosophie’ ver- ffendlcht hat. Er heift JEAN HERING, ist Junggeselle, wohnt in einer Are Hotel Rescaurant, ist weniger unzuginglich als die tb- tigen Professoren, ladt seine Studenten zu sich ein, wo ein Schild sie daran erinnerc, dass "Wasser trinken verboten" ist. Dieser junge, begeisterte, phantasievolle Mann wird far Lévinas zum Schicksal. Er gewinnt ihn fur die Phinomenolo- gie. Er halt ihm eines Tages auch Heideggers "Sein send Zeit” unter die Nase (S. 708, S. 74). “Ich hatte den Eindruck, nicht 24 einer nen- en spekulativen Konsiruktion den Zugang gewon- nen zu haben, sondem 21 newen Moglichkeiten 2 denken... Es ist diese neue Aujmerksambeit asf die Gebeimnisse und die vom Bewusstsein vergessenen Dinge, die den Sinn der Objektivitat oder des Seins enthillt und die mir reich an Méglichkeiten er- schien’, sagt Lévinas spater (1987, S. 71). Er schreibt seine "thése", seine Doktorar- beit uber die "Theorie der Intuition in der Pha- rnomenologie von Hlusser", abersetzt die “Carte- sianischen Meditationen" ins Franzésische und. bekennt sich in ersten Zeitschriftenartikeln als Husserliener (8.72) Im Wintersemester 1928/29 kann er noch Husserls letzte Vorlesungen héren. Er beschreibt den Arbeitsenthusiamus der Husserlschiler mit Anlethen aus dem deutschen Marchen: "Sie wol- len den Traum ibres Meisters Husserl realisieren, den Traum von einer wissenschafilichen Philoso- hie, die das Werk von Generationen von Arbei~ tem ist, wo jeder wenigstens ein bisschen zum Ge- aude der Philosophie beitrdg.. Und sie weiceifern dabei mit den Gromen der Marchen, die den Ehy- _geiz atten, es in einer Nacke zx errichten" (8. 73). So spottisch das klingt - als Levinas 1930 von Freiburg nach StraBburg 2uriickkehr, ist er im Besitz einer Methode (S. 85), die sein philo- sophisches Fragen und Forschen leitet und es ihm erlaubt, seine personlichen Gedanken auf cine wissenschaftliche Art und Weise zu formu- lieren, mit dem guten Gefuhl, auf der Hohe der Zeit zu sein (S. 74). Dazu tragt auch die Begeg- nung mit Heidegger bei. September 1928 tbemimmt Heidegger den Freiburger Lehrstuhl seines Lehrers Edmund Hisserl. Lévinas belegt bei ihm zwei Seminare. Vor allem aber wird er von StraBburg aus 7u cinem Kongress im Kurhaus von Davos ge- schickt, wo vom 17. Marz bis 6. April 1929 Hei- degger im kontroversen Dialog mit Cassirer seine neue Ausrichtung der Philosophie prokla- miert: "Das einzige Bestreben aller meiner philoso- phischen Forschungen geht dabin, den Horizont freizulegen, innerhalb dessen die Frage nach dem ‘Sein, nach seiner Struktur und nach seiner Wabr- seit, sich entfalten kann (S. 80). Lévinas erzihle im Gesprich mit Philippe Nemo davon auf seine Weise: "Mit Heidegger ist die "Verbalivée des Wortes Sein wiedererwecke ‘worden, das, was in ibm Ereignis, was in ihm das "Geschelen' des Seins ist. So als warden die Dinge nd alles, was tt, ‘eine Seinnveise fthren’, ‘einen Beruf des Seins ausiiben'. An diese verbale Klang fille hat Heidegger uns gewolmt. Diese Umerzie- hung unseres Hrens, auch wenn sie beutzutage banal erscbeint, ist sowergesslich" (Ethik und Un endliches,S. 27) (S. 82). KRIEG UND NACHKRIEGSZEIT BEGRUNDUNG EINER EIGENEN PHILOSOPHIE 1931 wird Lévinas die franzdsische Su bargerschafe verliehen. War far ihn bisher "die franzbsische Sprache der franzisische Boden’, gab ‘es fir den Mann der Grenzregionen und des Exodus bisher nur cine Verwurzelung in der Literatur, nicht in der Erde, also allenfalls so etwas wie cinen "Chawvinismus des Buches’ (S. 98), so wird diese Verleihung der Burgerrechte fur ihn zu einem “eierichen Akt, der durchdvinge bis ins innere Leben" (S. 98), Eine tiefe Dankbarkeit gegendber diesem Scaat, in dem zum ersten Mal Juden Bargerrecht hrawten, gehére von jetze an einfach zu thm, und das wird sich auswirken bis in scine deutliche Zuriickhalcung wahrend der Studentenunruhen von 1968 hinein. Das Bargerzecht beschert ihm schon ein Jahr spater den Militirdienst, der aber auf merkwardige Weise zu seinem Sinn far Au- toritat und Hierarchie passt. Er verliert seine Kameraden von damals nie mehr aus den Augen. 1939 wird er mit 34 Jahren als Unteroffi- zier und Dolmetscher eingezogen und mit der 10. Armee am 16. Juni 1940 in Rennes gefangen- genommen. Vier Jahre ist er Kriegsgefangener in Deutschland. Das Hauptlager ist Fallingboscel zwischen Hannover und Bremen (S. 119). Er wird als Holzarbeiter eingesetzt. Sie sind wie Verdammte, infiziert mit Keimen. Aber ein Kleiner Hund verabschiedet sie jeden Morgen und begriiBt sie jeden Abend mit einem freudigen Gebell. Fur ihn, schreibe Lévinas, waren wir Menschen. So war er "der letzve Kantianer von Nazi-Deutsehland” (S. 120). Alls deutscher Kriegsgefangener entgeht er dem Untergang und iberlebr wie Paul Riceur und andere. Seine Frau Raissa und seine Tochter Simone finden 1943 Zuflucht im Kloster, bei den Schwestern des Saint-Vincent-de-Paul in der Nahe von Orléans. Erst bei seiner Riickkehr nach Paris und zu seiner Familie sickert nach und nach die schreckliche Wahrheit durch: Im April 1944 sind seine Eltern und seine beiden Brider von deut- schen und litauischen Nazis mit Zehntausenden anderer aus Kaunas weggefuhrt und erschossen worden. Lévinas setzt nie mehr einen Fu auf deutschen Boden. ‘Levinas im Milcardicnst (ganz ree) Er sucht Worte fir die Schuld des Uberle- benden. "Wenn man diesen Tumor ir der Erin- nerung hat, konnen zwanzig Jahre nichts datan erindem, selbst wenn der Tod bald das smge- rechifertigte Privileg, sochs Millionen Tote aberlebt zu haben, annullieren wird" (8. 127). “Schuldig, ‘wir sind alle schuldig, und ich mehr als die ande- ‘Aber im selben Text von 1966 gibt es auch eine Wendung nach vorn, zum Handeln: "Wir miissen dennoch, in der unvermetdlichen Reprise der Zivilisation ... den neuen Generationen die Kraft anerzichen, die nétig ist, um in der Isolation stark 21 sein, und alles, znas ein zerbrechliches Ge- wissen jetzt herausgefordert ist in sich 2x tragen. Es ist notwendig, quer durch alle diese Erinnerssi- gen hindurch einen neuen Zugang zu den jdischen Texten zu erdffuen und das innere Leben mit ei- nem nenen Privileg auszustatten: der Verpflich- nung, die ganze Menschlichkeit des Menschen in dieser Hite zu beberbergen, die allen Winden offensteht: der Hite des Gewissens’ (Honneur sans drapeau, Biografie S. 127). Hier wird der Judaismus als Humanismus definiert und damit das Zentrum benannt, von dem aus sich seine Aktivititen in den nachsten Jabrzehnten entfalten werden: «als Direktor einer Schule, «als Ausleger der Schriften, «als Philosoph. ‘Lévinas ist durch die russische Literatur rit der Frage nach dem Sinn des Lebens infiziert worden. Er selbst hat da langst seinen eigenen Akzent hinein geserzt und sie in die Frage nach dem Sinn des Menschlichen umgeformt. Sie hat sich ihm bei Heidegger transformiert in die Frage nach dem Sinn von Sein, Jetzt kann er sagen: Der Sinn des Seins ist ethischer Natur (S. 210). In dieser Erkenntnis vollzicht sich in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust und seiner Uberlebensschuld die Begrandung einer «eigenen, neuen Philosophie. Die Poesie der Welt ist untrennbar verbunden mit der Nahe par excellence oder mit der Nahe des Nachsten par excellence Diese Bezie~ hung der Nahe, dieser Kontakt... ist die ur springliche Sprache, Sprache ohne Worte und Satze, reine Kommunikation Die Spur des Anderen, S. 280 AUF DEM PLATEAU 33 JAHRE DOPPELEXISTENZ ZWI- SCHEN JUDISCHER HOCHSCHULE UND PHILOSOPHIE Mit seiner preisgekrénten Doktorarbeit aber "Die Theorie der Intuition in der Phinome- nologie von Husserl" hat Lévinas die Phinome- nologie in Frankreich eingefuihrt. Seine Biografin imme den Mund hier niche zufalig etwas voll. Sie findet es unsinnig, dass Lévinas sich danach nicht habilitiert hat, um mit Volldampf auf eine Universivatslaufbahn 2uzusteuern. Startdessen ‘bernimmt er 1930 eine sehr anspruchslose Stelle an der Ecole Normale Israelite Oreintale, der Orientalisch-jadischen Hochschule (ENTO) in Paris. Dreiunddrei8ig Jahre wird er das Leben dieser Hochschule begleiten, nach dem Krieg als ihr Direktor (S. 89, S. 133). Gleichzeitig beginne ex, in angeschenen philosophischen Fachzeit- schriften 2u publizieren. Eine Are Doppelleben beginnt. Diese Hochschule bietet ihm viele Vor- teile, Sie sichert seine Existenz und stellt thm spiter eine grofzgige Wohnung zur Verfagung in einem bevorzugten Arrondissement von Paris. 1952 heiratet er in Kaunas dic Tochter ihrer Nachbarn, Raissa Lévi. Wie Lévinas’ Mutter ist sie gebildet, hat in Wien Musik studiere, trite in Paris sofort in die Meisterklasse des Conservatoi- re national supérieur du musique ein und weicht all die Jahre niche von der Seite ihres Mannes. ‘Wie Lévinas' Eltern einst mit ihm, so sprechen sie miteinander russisch. 1935 wird als erstes Kind Simone geboren, nach dem Krieg 1949 der Sohn Michael. Die Hochschule gehért einem jidischen Verein, der 1860 gegrinder worden ist, um jidi- sche Schulen in Landern zu schaffen, in denen ische Kinder in der Bildung benachteiligt sind, Die erste Schule wird 1861 in Tetouan in Marok- ko gegrandet. 1931, als Lévinas seine Arbeit begiant, gibt es 115 Schulen mit 41.300 Schalern. Die Hochschule in Paris hat die Aufgabe, Lehrer fur diese Schulen des Vereins auszubilden. Die Lehrer-Schiler verbringen dort vier Jahre. Sie lernen navirlich Hebraisch, lernen die Bibel zu ubersetzen und zu kommentieren, vor allem aber lemen sie Franzésisch, Mathematik, Physik, Naturwissenschaften, Geschichte, Geo- grafie, Pidagogik, Buchfthrung, Zeichnen, Mu- sik. Ziel ist, Pioniere des aufgeklirten Judaismus auszubilden. Die “Pioniere” wohnen’ am Ort Emmanuel Lévinas ist fur den Studienbetrieb verantwortlich, seine Frau fOr die Hauswirtschaft und eine familidre Atmosphire (S. 95). ‘Tagen Tak, Empnaml Tenis und Dadnig Belson im Davos Wie Martin Luther King hat auch Lévinas einen Traum: Er méchte diese Schule ausweiten zu einem Zentrum jiddischer Studien, die auf die breite Offentlichkeit der modernen Welt zieler. Ingenieure, Psychoanalytiker, _Schrftstellern sollen 2usammenwirken, um den kiinftigen Leh- rer weite Perspektiven mitzugeben. Dieser ‘Traum geht nicht in Erféllung. Im Gegenteil, die jiidische Hochschule verliert nach und nach ihre urspriingliche Funk- tion der Lehrerausbildung. Viele Lander werden nach dem Krieg selbstindig und abernehmen die Schulen der Allianz, Juden bekommen Zugang zu den staatlichen Schulen. Andere wandern nach Israel aus. Aus der Hochschule wird eine ganz normale jidische Privatschule, ‘Aber neben der Tagesarbeit gibr es noch die Nachtarbeit, wo der Philosoph sich ans Werk macht: 1932 erscheint ein Artikel aber "Marcin Heidegger und die Ontologie” (S. 181), 1949 ein erster Sammelband mit dem Titel "Die Existenz entdecken mit Husserl und Heidegger’, und 1961 sein Hauptwerk "Totalitit und Unendlichkeit’ Friichte dieser Nachtarbeit aber sind auch die “Talmudischen Lektionen’, deren erste er beim dritten "Colloquium der franzbsisch sprechenden jdischen Incellektuellen" vortragr (S. 168). Diese “konfessionellen” Texte werden 1968-88 in vier Sammelbinden veroffentlicht. Alle vierzehn Tage am Samstag halt er dariber hinaus eine offentli- che Vorlesung, in der er den Talmud auslegt (. 174) So sehr die Biografin auch die Nase rampft: Lévinas har in dieser kleinen privaten jdischen Hochschule nicht nur eine Nische zum Uberleben fiir sich und seine Familie gefunden, sondern auch eine Nische, wo er sein aufgeklir~ tes Judentum auf der Linie des Gaon von Wilna wweitgehend ungestért leben und lelrend entwik- keln kann. Er hat in diesem merkwirdigen Prie- sterseminar fr jdische Lehrer neben all der Verwaleungsarbeit, far die er niche geschaffen war, doch Zeit genug gefunden, um ein groes philosophisches Oeuvre auszuarbeiten. Diesen Rahmen konnte er ausfillen, wahrend es ihm nicht gegeben war, ein groes Auditorium zu fesseln oder gar mitzureifen. Er war ein Meister mit geringer Ausstrahlung. So war diese dreiund- dreiig Jahre wihrende Doppelexistenz vielleicht doch nicht nur eine Notlésung aus Schiichtern- heit, sondern ein geeigneter Raum far sein Den- ken in awei benachbarten und doch unterschie~ denen Riumen, far die zwei Namen stehen: Athen und Jerusalem. DREIFACHES FINALE SORBONNE - ROM - ISRAEL SORBONNE Flnfzehn Jahre hat Lévinas gebraucht, um nach dem Ende des Keieges eine Antwort auf sein Fragen nach dem Sinn von Sein zu finden. 1961 erscheine sein Haupewerk "Totalitét und Unendlichkeit". Es wendet sich gegen die machti- ze philosophische Tradition, die das Ganze, die ‘Totalitat zu denken versucht, eindrucksvoll ver- wweten durch Hegel. Nach den Erfahrungen mic dem Dritren Reich und dem Sowjerstaat erkennt ex schon in diesem Denken totalitire Zage, den Willen zu einer totalen Bemachtigung. Diese erstrebte Totalitit aber wird aufge~ brochen durch den Andeven, der unzuginglich ist, fremd, in dem sich eine Unendlichkeit aufeut Nicht die ‘schlechte’ Unendlichkeit des Raumes oder der Zeit, sondern eine qualitative Unend- Fichkeit, ein Uberma8, ein Exzess von Sein. Die- sem Anderen komme innerhalb unserer vom Be- wussisein geordneren und beherrschten Welt Exterioritat zu, es ist innerweltlich niche 21 ver- rechnen, ist aber auch nicht in einer transzen- denten Welt anzusiedeln. Der Untertitel zu “Toralitit und Unendlichkeit" lautet deshalb: "Versuch ber Exterioritat (S. 214). Mit dem Manuskript habilitiert sich Lévinas an der Sorbonne. Zur Jury gehort Paul Ricoeur, von dem ein geflasterter Ausspruch tberliefere ise: "ferzt wid man mit Lévinas rech- nen méssen’ (S. 218). Damit stehen dem 56- Jahrigen nun doch noch die ‘Turen zur Universi- tit offen, Er bekommr einen Lehrstubl in POT- TIERS, wo interessierte Kollegen auf ihn warten, die zum Teil langst schon von ihm gelernt haben, oder die in einem véllig anderen Stil Philosophie betreiben, wie der Alt-Stalinist Garaudy, der mit Kiinstlern und Staatsoberhiuptern_gleicherma- Ren verkehrt. Dem Kontakt kommt zugute, dass man sich am Wochenende im Zug nach Paris wwiffe 1967 wird er von den befreundeten Kolle- gen Mikel Dufrenne und Paul Ricoeur nach Nanterre geholt, der Pariser Neugriindung, gera- de im richtigen Augenblick, um dort den Aus bruch der Srudentenunruhen zu erleben. Paul Ricoeur mische sich ein, wird Doyen der Fakul- tat, kana schlieSlich nicht umkin, doch noch die Polizei zu rufen, die ricksichtslos zulangt. Ri- coeur tritt 2urtick, verlaBt die franzOsische Uni- versitat und Frankreich und lehre far viele Jahre in Chicago. Lévinas bewelige sich nicht an den Ereig- nissen. Ist die Universitat geoffnet, versiehe er sorgfaltig seine Vorlesungen, ist sie geschlossen, ist er dispensiert. Er vertrigt nicht das Du, die Distanzlosigheit, den Konflikt. Er mi8billige die Ideologie vom schnellen Genuss ($. 241). Er verabscheut die Gewalt. Dennoch sieht er sich in einem bestitigt: dass bei aller Verachtung der Dargerlichen Werte eines nicht angerastet wor- den ist: das Recht des Anderen, ein Anderer zu sein(S. 242) Diese stimulierende, phantastisch beset2- te, inzwischen weltherahmr gewordene Univer sitat verla®t Lévinas 1973, um drei Jahre vor seiner Emeritierung an die heruntergewirtschaf- tete, verstaubte, langweilige Sorbonne uberzu- -wechseln, Ein Ritsel? Fur ihn offenbar ein wich- tiger Schritt. Emmanuel Levinas, Jude aus Kau- nas, wird Philosophieprofessor an der Sorbonne, der Universitat mit dem berahmtesten Namen seit der Zeit der Aufflarung, Erfellung der Wan- sche seiner Mutter, die ihn erst aufs russische Gymnasium, dann auf die franzdsische Univer- sivat geschickt hat? (S. 250). Umeerrichten - das ist fr ihn eine hohe Berufung, die im Zentrum seines Denkens ver~ ankert ist. "Rabbi Meir sagte: Wer die Tora stw diert, obme sie 2u unterrichten, der hat das Wort der Tora verachtet" (S. 255). Das Unterrichten ist notwendig, auch fur die Verfertigung des eigenen Denkens beim Unterrichtenden. Wer sich mit seinen noch so genialen Ideen einschlieBt, sich isoliert, begeht die Sinde des Hochmuts! (8. 256). Und doch ist Lévinas auf eine bescimmte Grundhaltung festgelege, auf das Modell von Meister und Schiller. Der Schiller soll Fragen stellen, auch kihne Fragen (5. 256). Aber Lévinas ist kein dialogischer Mensch. Er entwik- elt seine Gedanken. Aber "er hat niemals eine Maieutiee enzwickele, bat nie das Denken seiner Schitter zur Welt gebvacht"(S. 259). So waren seine Schiler nicht zahlreich, Die blieben, bildeten bald einen festen Zirkel mit ciner besonderen Leidenschaft fir die Phinome- nologie (S. 2581.). 1976 wird Lévinas emeritiert, 1979 - mit 74 Jabren - ziehe er sich endgiiltig zurtick, verliBr ein Jahr spater auch seinen Po- sten als Direktor der Ecole Normale Israclite Orientale und fare nur noch seine Samstagvor- lesungen weiter, diese eine Stunde Auslegung des Talmud (S. 267). Es gibt offizielle Ehrungen: Ritter der Eh- renlegion war er schon seit 1956. 1991 wird er Offizier der Ehrenlegion. Er nimme sie mit Stolz entgegen (S. 266f.). Aber der Versuch, ihn in die Akademie zu wablen, geht unter im Gestrapp von akademischen Intrigen (S. 323). Die Bindung zum Anderen bahnt sich nur als Verantwortung an, wobei es im ubrigen einer- lei ist, ob diese akzeptiert oder abgelehnt wird, ‘0b man sie zu Ubernehmen weil oder auch nicht, ob man fur den Anderen etwas Konkre- tes tun kann oder auch nicht. Zu sagen: Hier bin ich. Etwas zu tun fir einen Anderen. Zu geben. Menschlicher Geist zu sein, das ist es. Die Inkarnation der menschlichen Subjektivitat garantiert deren Geistigkeit (ich sehe nicht, | was die Engel sich geben oder wie sie sich | gegenseitig helfen konnten). Dia-Konie vor jedem Dia-Log: Ich analysiere die zwischen- menschliche Beziehung so, als ware in der Nahe zum Anderen - jenseits des Bildes, das ich mir vom anderen Menschen mache - sein Antitz, der Ausdruck des Anderen (und in | diesem Sinn ist mehr oder weniger der ganze | menschliche Kérper Antlitz), das, was mir be- fiehit, ihm zu dienen. Ich verwende diese ex- treme Formulierung. Das Antlitz ersucht mich lund gebietet mir. Seine Bedeutung ist eine signifxante Anordnung. Genauer gesagt, wenn das Antltz mir gegendber eine Anord- | ‘nung bedeutet, so nicht in der Weise, wie ir- | gendein Zeichen sein Bezeichnetes bezeich- | net; diese Anordnung ist die eigentliche Be- | deutung des Antitzes. Ethik und Unendliches, S. 74 ROM Parallel 2u dieser Universitatskarriere be- kommt seine Geschichte mit den Christen "Fahre': als Jude engagiert er sich im Jadisch- Christlichen Dislog und serzt deutliche Zeichen des Protests selbst im persénlichen Kontakt zu Johannes Paul IZ; als Philosoph wird er zuneh~ ‘mend von Theologen wahrgenommen und aner- kkannt, wiederum bis hin zu Johannes Paul Il. 2u dessen phinomenologischer Dissertation er eine Rezension geschrieben hat "Sich nach den Nazi-Massakern als Jude wiederzufinden bedeutete, aufi nee Position zu bezichen gegeniiber dem Christentum”, schreibt et 1963 (S. 268). Eine doppelte Erfahrung geht mitten durch ihn hindurch: wihrend ein Teil seiner Fa- milie im katholischen Litauen umgebracht wur- de, versteckten katholische Christen seine Tochter und seine Frau im Kloster und retceten ihnen das Leben (S. 268) Von 1965 ab gehort er zum Vorstand der Amisie Judeo-Chretienne de France (S. 280). Er 10 fahrt in die Provinz, um Konferenzen far lokale Gruppen zu unterstiitzen. Von 1969-86 nimmt er fast jahrlich am Colloquium Castelli teil, einer funftagigen Begegnung grofer Geister, zu der Enrico Castelli als Mazen in die Villa Mirafiori in Rom einlidt. Endlich ist er zweimal, 1983 und 1985, Gast in Castel Gandolfo bei dreitagigen Gespri- chen, zu denen Johannes Paul Il. Philosophen und Gelehrte einlidt, Gadamer, Carl Friedrich von Weizsicker, Leszek Kolakowski, Paul Rix coeur. Einmal sitzt der Papst beim Essen 2wi- schen ihm und Ricoeur, wei die Biografin zu berichten, Er ist kein einfacher Dialogpartner. Ein- mal kann er Juden und Christen in der gro8ten Nahe zueinander ansiedeln: "Gleiche Emotion angesichts der Dinge, gleiches Schicksal von Fremdheit in der Welt, das ist eine Siht, die selbse das Problem der Beziebungen zwischen Juden smd Christen ins Herz trie und die seine Lisung be- stimamen muss” (S. 268). Andererseits sind da die Erfahrungen der Geschichte, der jtingsten zumal. Im Gesprich mit Bischof Hemmerle von Aachen erzahlt er: “In meiner Kindbeit sprach das Christentsan 2% mir wie eine ganz verschlossene Welt, von der man als Jude nichts Gutes zu erwarten hatte. Die ersten Seiten der Geschichte des Christentimms, die ich lesen konnte, erziblten von der Inquisition. Schon mit acht oder neun Jahren lernte ich das Leiden der Marranes in Spanien. Ein wenig spater war es die ensscheidende Lekeitre der Geschichte der Krenzzii- ge. Ich habe meine Kindbeit in einem Land ver- brache, wo es keinen sozialen Kontakt zwischen Juden und Christen gab. Ich bin in Litanen gebo~ ren, einem schinen Land mit schinen Walder und. braven, sebr katholischen Menschen, wo man sich aber zwischen Juden snd Christen nicht be~ suchte, es sei denn unter irgendwelchen rein dko- nomischen Vorwiinden" (S. 1756) Er benennt das Unangenchme eines Dia- logs, wo die einen immer die Opfer sind und sich dann auch immer mehr in diese Rolle hineinar- beiten miissen, wahrend die andern den Verdacht haben, dass da auch ein Leidensgewinn im Spiel ist, und fahrt fort: "Gewis, trot aller dieser Jabre eines fortschreitenden Vergessens: niemand unter uns kann die Wundmale von so vielen Verbren- nungen heilen, noch verzziben, noch eine Absoluti~ ‘on aussprechen an Stelle derer, die tot sind. Aber die jitdisch-chrisiliche Freundschaft 2u prakticieren bestebt weder darin, sich in der Rolle des Opfers 21 ‘gefallen, noch sich vom Mitleid verfthren (séduire) ‘21 lassen” (1967, S. 282). Lévinas besteht auf dem Unterscheiden- den, dessen Kategorien er in "Totalizat und Un- endlichkeit" entwickelt hat. Fir ihn ist det Weg zum Frieden nicht die Vermittlung, die gutliche Einigung, sondern, im Gegenteil, “es ist die Be- krifeigung der absoluten Unterschiedenbeit, ent- sprechend einer Redefinition des Dialogs, die den Frieden gewibrleisiec’ (Biografin, S. 215). Die Sprache schafft einen gemeinsamen Ort So wichtig ihm die Wardigung durch Jo- hannes Paul IT. gewesen sein muss, er sagt 1987 seine Teilnahme am Sommerseminar in Castel Gandolfo ab, weil die polnischen Karmelicerin- nen weiter darauf bestehen, im Gaslager von ‘Auschwitz ein Kloster zu ertichten. 1993 versi- chert der Papst definitiv, dass der Konvent aus- ieht. Lévinas hort nicht auf zu bedauern, dass der reisende Papst Israel noch nicht besucht hat. Vielleicht hat seine Stimme dabei mitgewirkt, dass diese Reise jetzt, im Jahr 2000, Wirklichkeit geworden ist Far die Resonanz seines Denkens im theologischen Raum sind die Verleihungen der Ehrendoktorwurde quer durch die Konfessionen cin Indiz: den Anfang machen die Jesuiten in Chicago 1970; 1975 folgt die Evangelisch- Theologische Fakuleix der Universitat Leyden, ein Jahr spater die Katholische Fakultat von Lo- ISRAEL Sei 1952 hat Lévinas Israel immer wieder besucht. Israel ist fir thn der Ort, "wo die Pro- pheter gesprochen haber" (S. 330), Keinesfalls aber das verheigene Land seines Messianismus (. 338). Er vollzieht nicht die Alyah, die Einbiirge- rung im jungen Scat Israel. Fur die Juden im Scaat Israel grenzt das an Schizophrenie, wenn fin Jude dreimal am Tag ein Gebet spricht, das die Riickkehr nach Jerusalem erfleht, und bei- spielsweise in Frankreich bleibe. Bei Lévinas sind die Grande daftr tef in seinem Denken verankert: Die Diaspora ist fiir thn das Ubungsfeld fiir die Alterivit, die Diffe- uw renz, das Jude-Sein. Far ihn, der sein Denken im Gegenzug zur Totalitit entwickelt hat, kann ¢s den Zirkel der Identitat nicht geben, wo ich am Ende wieder bei mir selbst ankomme. "Dem My- thos des Odysseus, der nach Ithaka zurickkebri, miichten wir die Geschichte von Abraham entge- gensetzen, der sein Vaterland fir immer verlast fir cin noch unbekanntes Land und es seinem Diener sogar untersagt, seinen Sohn an diesen Ausgangsort uriickzubringen’, schreibt Lévinas in "La trace de Yautre" (8.329). In Israel dominiers das angelsachsische Denken. Die Linguistik ist modern. Als Schiler von deutschen Gelehrven wie Husserl und Hei- degger wirkt er ein bisschen verstaubt. Oder nicht ganz koscher. Sein Hebraisch klingt alter- umlich, Unter diesen Umstanden ist es erstaun- lich, dass er von der Abteilung Philosophie der Universitat von Jerusalem mehrfach zu Kongres- sen eingeladen wird, Aber seinen Ehrendokt bekommt er nicht hier, sondern von der Religié- sen Universivit von Bar-Ilan. Sie witrdige thn als Pionier, der das Judentum durch seine neue Sicheweise auch fur Intellekwuelle wieder zuging- lich gemacht hat und stellt ihn als einen der we~ nigen bedeutenden jiidischen Philosophen unse~ res Jahrhunderts neben Hermann Cohen und Franz Rosenzweig (5. 351). ‘Trotadem kann er in Israel nicht heimisch werden, "Er ist Jude, er ist Litauer, und dann ist er auch noch Philosoph!” Aber auch die Fach- kollegen nehmen von ihm keine Notiz. Er wird eingeladen, in Jerusalem Vorlesungen zu halcen. Es kommen fii oder sechs Studenten, die gro8e Schwierigkeiten haben, cin so ausgearbeitetes Denken zu verstehen (S, 332). Dazu spricht er Franzésisch. Es ist fast unmbglich, seine Texte in ein modernes Hebraisch oder Englisch zu uber- setzen. Wie iblich ister himter dem Pult kaum zu sehen. Mic Vergniigen entdeckt man einen rick sichtslosen Zug in seiner Ungeschicklichkeit und Bescheidenhtit. Aber auch da, wo er um Kollegen wirbs, die in der deutschen Kulur verwurzelt sind, wichst keine herzliche Kollegialicit oder Freund- schait. Er hat Gershom Scholem fast alle seine ‘Werke mit Widmang zugeschickt. Aber der cine kommt aus dem groSbirgerlichen Berlin, der andere aus dem armseligen Kaunas, der eine ver- tieft sich in die juische Mystik, den Chassidis- mus und die Kabbala, und der andere ist verwur- zelt in der antimystischen Aufklirung des Gaon von Wilna, der eine gibr Empfinge, der andere kann sich auf dem grofien Parkett nicht bewegen, ‘Mit Mastin Buber kollidiert er im Ver- stindnis der Ieh-Du-Bevichung, die far ihn eine elementar ethische Beziehung ist, asymmetrisch, nicht partnerschaftlich. So bleibt es bei einer diffizilen Beziehung, auch wenn seine Werke inzwischen auf dem Umweg tiber New York ins Hebriische Gbersetzt werden. "In Israel impor- tiert man keine Prophecen’. "Nur der falsche Pro- phet hat eine offzielle Funktion" (S. 337). Bissige Bemerkungen, die vielleicht etwas von einer un= ¢gliicklichen Liebe verraten, TOD UND ABSCHIED In seinen bitteren Anspielungen auf den Propheten, der im eigenen Vaterland nichts gilt, rjmmt Lévinas die biblische Figur des Propheten far seine Selbstdeutung in Anspruch. Dieses Wort kehrt wieder in der Ansprache, die sein Kollege und Freund Jacques Derrida am Grabe von Lévinas hilt. Lévinas hat keine Synthese zwischen Phinomenologie und rabbinischer Weisheit geschaffen, wohl aber hat er beide Sei- ten auf eine radikale und subversive Art kon- fromiert und verindert. Das ist das Prophetische seines Denkens. Emmanuel Lévinas stirbt am 25. Dezem- ber 1995 nach langer Krankheit, wie es in der Zeitung eit (Frankfurter Rundschau, 28.12.95), im Alter von 90 Jahren in cinem Pari- ser Krankenhaus. Es ist der siebte und letzte Tag des jidischen Hanouka-Festes, des Lichterfestes, dessen Abschlu8 gerade in diesem Jabr mit dem christichen Weihnachtsfest. 2usammenfallt. Es ist, wie wenn mit diesem Datum aber seinem: Leben ein Licht aufleuchtet, das er als Lohn, als Kronung, als Motiv ethischen Handelns cin Le- ben lang strikst ausgeschlossen hat. Jacques Derrida nimmt in seinem Adieu dieses Trostliche auf, wenn er ihm am Grabe zuruft: "Das «-Dieu grifft den Anderen jenseits des Seins in dem, was jenseits des Seins das Wort Rubm bedeutee" (AZ 12.2.2000), namlich doxa, Glanz, Herrlichkeit. So fromm kénnen in Frank- reich Philosophen aus der ersten Reihe reden. Emmanuel Lévnas unter Freunden DER WEG ZUM ETHISCHEN ALS ER- STER PHILOSOPHIE Lévinas Denkweg wird gekennzeichner durch drei gro8e Abgrenzungen, von denen zwei sich auf seine bedeutendsten philosophischen Lehrer, die dritte auf den michtigsten Strom abendlandischen Philosophierens beziehen: 1, Husserl, der Begrinder der Phinome- nologie, hat mit seiner Methode noch einmal ein philosophisches Forschen begriindet, das sich als ‘Wissenschaft verstehen kann. Mit dem Begriff Incentionalitat beschreibr er die Fahigkeit des Bewusstseins, sich auf schlechterdings alle Ge- sgenstinde zu bezichen, Far Lévinas ist das letzt- lich ein toualitérer Anspruch, dem er mit dem Begriff des Unendlichen und damit der Dimensi- oon des Ethischen cine Grenze 2u setzen versucht. 2. Heidegger entwirit in "Sein snd Zeit* cine phinomenologische Analyse des Menschen, die er jedoch als Fundamentalontologie versteht, als Beschreibung jenes Ortes, an dem die Seins- frage gestellt wird - die sein eigentliches Anliegen ist. ‘Wahrend Heidegger nach der Kehre vor Seienden zum Sein vorzudringen versucht, gegen den Strom der Seinsvergessenheit in der abend- lindischen Philosophie, sucht Lévinas dieses Sein radikal 2u Uberschreiten und jenseits seiner cine neue Dimension zu eréffnen, die des Echischen: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1974/1998). 3. In_unserer mafgeblichen philosophi- schen Tradition von Parmenides bis Spinoza und Hegel wird der Einkeit ein absoluter Vorrang cingerdume. "Aufgabe der Meiaphysik sei es, die Trennung 21 iberwinden, die Einheit berzustellen" (Totalitat und Unendlichkeit S. 145). Demgegeniiber akzentuiere Lévinas die ‘Trennung: "Die Trennung ist die eigentliche Konstitu- tion des Denkens und der Innerlichkeit, dh. einer Beziebung in der Unabbangigheit" (Totaliat und Unendlichkeit S. 147). Erst wenn die Trennung gedacht wird, kann auch die Schopfung gedacht werden: "Das Unendliche ereignet sich, indem es in ciner Kontraktion auf die Ausbreitung 2 einer Tovalivét verzichtet und damit dem getvennten Seienden einen Platz lift. So zeichnen sich Bezie- hungen ab, die einen Weg aus dem Sein hinaus baknen. Ein Unendliches, das sich nicht Rreisformig mit sich zesammenschlieft, sondern sich aus dem ontologisehen Raum zuriickzieht, um einem ge- trennten Seienden einen Platz zu lassen, existiert gitlich, Es stifet oberbalb der Totalitit eine Ge- meinschaft. Die Beziehungen, die zwischen dem -getrennten Seienden und dem Unendlichen entsie- hen, machen wieder gut, was in der schipferischen Kontraktion des Unendlichen an Minderung lag. Der Mensch kauft die Schopfiog zurick" (Totalitat und Unendlichkeit S. 148). "Das Wesentliche der geschaffenen Existenz liegt in ihrer Trennung vom Unendlichen" (Toualiti: und Unendlichkeit S. 149) Der Seligkeit der Verschmelzung wird das Abenteuer der Trennung und der Begegnung gegeniibergestellt: "Das Abenteuer, das von der Trennang eriffuet wird, ist absolut new im Ver- hhilenis zur Seligheit des Einen und seiner famosen Freibeit, die darin besteht, das Andere zx vernei- nner oder z absorbieren, um nichts zu begegnen.” (Totalitat und Unendlichkeit S. 423). 3 Dieses Werben fir eine neve Wardigung der Trennung spiegele sich auch darin wider, dass er gegeniber dem Bedirfnis, das die Trennung aufheben méchte, weil es unter ihr leider, das Begehren auszeichnet, das “einen Abstand zeigt, dier kostharer ist als die Berihrung, einen Nicht- Besitz, kosthaver als das Besitzen... (Totalitat und Unendlichkeit S. 260) Wenn wir versuchen, diese drei Abgren- zungen noch einmal zusammenzufassen, dann wird deutlich, dass es dreimal um das gleiche Anliegen geht: dem Ethischen, der Beziehung, dec Gemeinschaft Raum zu schaffen = gegenitber der Totalirit des intentionalen Bewusstseins (Husser!), ~ gegentaber der Totalitat des Seins (Hei- degger) = und gegentiber der Toualitic der Ver- schmelzung und des Einen (Plotin} Vor dem Hintergrund seiner Lebensge- schichte konnen wir die Radikalitit dieser Ab- grenzungen gut verstehen: Er hat am eigenen Leibe erfabren, wie die Grundlagen der Humanitit im toralitaren Staat zerstort werden. Aus solch einer Krisenerfahrung, wird cin personliches Vermichinis, das dazu drangt, in einem radikal anders angelegten Den- ken ausgefuhre und wirksam gemacht zu werden. ‘Trennungserfahrungen sind ihm in ihrer Schmerzlichkeit, aber auch in ihrer erniichtern- den Klarheit von Kindheit auf vertraut. Sie spie- geln sich noch einmal im Glauben: Die Trennung des auserwahlten Volkes von allen Vélkern ist auch Zeichen fiir die Trennung zwischen Gott und den Gottern, fiir die Distanz zwischen Gort und seiner Schopfung. Gott ist nicht das ver- traute Du - hier rackt er ab von Buber - sondern das fremde ER. Par dieses ER, in das die Anrede der Psalmen mitunter von einem Vers zum ande- ren umschligt, pragt er sein merkwirdigstes Kunscwort: Heit "Dus bereitest vor mir einen Tisch im Ange- sicht meiner Feinde...ER erquicket meine Seele. ER fibret mich auf rechter Strafe um seines Namens wwillen’ (Psalm 23). Trotz dieser Abgrenzungen ist Lévinas mic seinen Gesprichspartnern auf einem gemein- samen Boden geblieben. Auch und gerade mit Heidegger. Ist es nur der gemeinsame Boden der Sprache? Oder auch der der gemeinsamen Schu- le, der gemeinsamen Methode, eben der gemein- same Boden der Phinomenologie? EMMANUEL LEVINAS ALS PHANO- MENOLOGE Es ist eine spannende Aufgabe herauszu- finden, wie es Lévinas gelungen ist, in diesen Abgrenzungen doch das phinomenologische Erbe weiterzufuhren Levinas hat die Phinomenologie in Frank- reich eingefuhrt. Seine Biografin wird nicht mi- de, diese Feststellung zu wiederholen. Er ist da~ mit einer der vielen bedewenden Philosophen, die die Phanomenologie innerhalb weniger Jahre zu einer michtigen philosophischen Bewegung gemacht haben, die in Deutschland, Belgien, den Niederlanden, in Frankreich, Julien und den angelsichsischen Linder eigenstindige Schulen mit je eigenen Themen und Stilen begrindet hat. Genauso umfangreich ist die Liste der ‘Wissenschaften, die sich die phinomenologische Methode zunutze gemacht haben: Psychologie, Psychopathologie, Padagogik, Literatur- und Kunsttheorie, Religionsphilosophie und Theolo- gie. Wybe Zijlstra bezieht sich bei der metho- dischen Grundlegung seines Buches ier "Kli- isch Pastorale Vorming" (1969) neben der Tie- fenpsychologie vor allem auf die Phanomenolo- gle. Hilarion Petzold zahlt Lévinas neben ande- ren Phinomenologen zu den Referenzphiloso- phen der Invegrativen Therapie und widmer ihm zu seinem Tode einen umfangreichen Aufsatz. Es ist also zu erwarten, dass wir als Seel- sorger und Berater vor den Herausforderungen erst einmal auf eine Fille von Gemeinsamkeiten stoflen, wenn wir uns mit der Phanomenologie und ihrer Weiterfohrung durch Lévinas befassen. Wir beschrinken uns dabei auf einige pri- gnante Impulse, die sich glicklicherweise schlag- wortartig zusammenfassen lassen Berihmat geworden ist die Parole: “Zurich zu den Sachen selbst!" (Bernhard Waldenfels, Einfahrung in die Phanomenologie, S.17). "Zu- rrack zu den Sachen selbst’, das kann heifen: 1. Heraus aus der Konzemtration auf die innerseelischen Prozesse! "Die Idee der Intentionalitét erschien wie eine Befreiung. Sie begreift den Ak des Meinens als das Wesen des Seelischen..; fir sie spiel sich das Sein des Bewusstseins auflerbalb seines .. Seins ime engen Sinn des Wortes ab.... Insgesamt war der Psychologismaus, gegen den sich diese neue Sebrweise richtete, nur eine der wesentlichen Formen, den Bewusstseinsakt mit dem Gegenstand, den er an- zielt, die seelische Realitat mit dem, was sie meint, 1 verwechsein; Verwechsling, aufrund derer die Seele sich in sich selbst verschloss, unabhiingig eon den Gedanken, die sie bewegen mockien... Die Intentionalitat brachte die neue Idee eines Heraustretens aus dem Ich, Bei der ersten Berithrung mit Husserl zable allein diese Offuung, dieses Gegenswértigeein in der Welt, "in der Gasse sind auf den Strafien', die Enthillung, von der man bald eden sollte” (Die Spur des Anderen, S. 154). Es ist deutlich, dass Husser! mit der Idee der Intentionalitat die Subjekt-Objekt-Spaltung vermeidet. Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. Das Ich ist immer schon bei den Sa- chen. Das Bewusstsein ist zur Welt hin offen (Die Spur des Anderen, S. 160). 2. "Zuriick 2u den Sachen. selbst!" - das kann aber auch heigen: "Reduktion", Zurckfa rung der Sachen zu ihrem Ursprung, zur Ge~ schichte ihres Sich-Zeigens, Einbezichung ihres Horizontes, Einbezichung der unscheinbaren, abgeblendeten Wahrnehmungen, Phinomenolo- gie als “Schule des Sehens’. Denn die Sachen selbst sind ja nicht jene simplen Gegenstinde, die einfach vorliegen. Dabei werden zwei Pole wichtig: die Empfindung und die Idemtitat stiftende Abtivitat des Bewusstseins: Die Empfindung, “eir: betonter Augenblick, Iebendig, absolut neu ~ die Urimpression” (Die Spur des Anderen, S. 168). Im Vordringen zu diesen Urimpressionen, zum Ursprung, steckt Husserls Ehrgeiz und seine Hoffnung: "Der Kampf gegen die Ensfremdung, in die uns ein Den keen wirfe, das seine Urspringe verbingt, der Durchbruch in das Gebeimnis der verborgenen Sinnentstellungen, die Uberwindumg der snver- meidlichen Selbstoergessenheit der Spontaneitat, dies ist die eigentliche Absicht der Hlusserlschen Phinomenologie... Riickgang 21m Phénomen, dem, was einen Sinn erstrablen lift.” "Es gibt einen Ursprang ~ ist seine erste Gewissheit" (Die Spur des Anderen, S. 182f.). Das Denken braucht einen Ursprung, ein Apriori, einen Grund, ohne den es heimatlos bleibt. "Der Grund ist Urimpression’. Diese Urimpression ist "sospringliche Helle’, “durch sich selbst sinnvoll’. "Sie ist evbellend, bevor sie beweist” (Die Spur des Anderen, S. 183). Man kann gut sehen, wie Lévinas in seiner Darstellung von Husserl Sehrict fiir Schrite den Boden bereiter, auf dem er dann das Antlitz als die dieses Denken sprengende “Urimpression” einfihren kann. Das Antlicz des anderen Menschen ise fir ihn der *urspriingliche Ore des Sinnvollen". Es bietet sich der Wahmehmung dar, der Empfis dung, dem Erleben, Aber es transzendiert dieses Transzendieren auf die Gegenstinde hin noch einmal, Es ist ein "Einbruch in die phinomenale Ordnung des Erscheinens’ (Wenn Gott ins Den~ ken einbtichr, S, 250). Es ist aufgeladen durch die Idee des Unendlichen, die Lévinas von Descartes endlehnt hat. Die Intentionalitit kommt hier an ihre Grenze. Sie wird in ein Geschehen hineingeris- sen, wo sie auf keinen Gegenstand mehr trfft, ‘wo ein Jenseits des Seins aufleuchtet: als Forde- rung, ais das Ethische, das anders als Sein ge- schieht. Das Antlitz als Urimpression offnet die Dimension des Ethischen. Damit wird der An- fang des Philosophierens neu markiert. Die Ethik ist die erste Philosophie - nicht die Ontologie, die Seinslebre. PHILOSOPHISCHE ANALYSEN, DIE DIE SEELSORGE BERUHREN DER VORRANG DES ANDEREN Allle entscheidenden Themen der Philoso- phic von Lévinas sind zentriert in der phinome- nologischen Beschreibung des _menschlichen Antlitzes: Hier wird der unfassbare Uberschuss des Unendlichen wahrnehmbar; hier begegnet der Andere in seiner Fremdheit, seiner Nacke- hacit, seiner Hoheit; hier erfabre ich das "Du sols. niche téten"; hier werde ich zu meiner Verant- wortung gerufen; hier werde ich 2ur Geisel und gleichzeitig als unvertretbar ausgezeichnet. Lévinas hat diese elementare Erfahrung des Antlitzes immer wieder neu zur Sprache gebrach. "Die Idee des Unendlichen, das unendlich Mebr, das im Weniger enthalten ist, ereignet sich hkonkret in der Gestalt einer Beziehung mit dem Anliz Uberflisig, auf die Banalinat hinzwweisen, dass sich beim Mord der Widerstand des Hinder- nisses als gleichsem null erweist... Der Andere, der ‘mir souvent Nein sagen kann, setzt sich der Spitze des Sebwertes oder der Revolverkugel aus... Im Zusansmenang der Wel ster quasi nichts. Der Widerstand, hart und uniberwindbar, leuchtet im Anilte des Anderen, in der Blafee der absoluten Offenbeit des Transzendenten, Hier liege nicht eoie Beziebung mit einem sebr grofen Wie derstand vor, sondern mit etwas absolut Anderem: der Widerstand dessen, was heinen Widerstand leistee- der echische Widerstand. In dem ehischen Widerstand prisentier sich das Unendliche als Antive; der ethische Wi- derstand labme meine Vermigen snd evbebe sich im seiner Nacktheit und seiner Not hart und absolut vom Grunde der webriosen Augen. Das Verstind- nis fiir diese Not und diesen Hunger stifet die tigentliche Nahe des Anderen. Dies indes ist die Art und Weise, wie die Epiphanie des Unendlichen ‘Ausdruck und Rede is Das Seiende, das sich ausdriickt, setzt sich durch; aber es tut dies, indem es mich in seiner Not und seiner Nacktheit ~ in seinem Hunger - wm Hilfe angehs, obne dass ich fir seinen Araf taub sein kénnte... Die Verantwortung kann nicht abgewiesen werden. Das Anutite offnet die w- spriingliche Rede, deren erstes Wort Verpflichtung ist; kemerlei ‘Innerlichkeit’ geseatet, der Verpflich- tung aus dem Weg zu gehen. Die Rede verpflichtet zum eingchen auf die Rede..” (Toralitat und Unendlichkeic S. 280-289) Die Phinomenologie des Antlitzes ver- dichtet sich in der Verantwortung fir den ande- ren, in der ethischen Beziehung, Diese Beziehung. ist eine radikal asymmetrische: der Andere be- gegnet mir gerade als Bedurftiger in einer Ho- heie, die mich zu seiner Geisel macht. Die Ver- antwortung ist eine unendliche: "Die Unendlich- keeit der Verantwortung bedentet nicht ibre akewelle Unermesslicbkett, sondem ein Anwachsen der Verancwortung in dem Mae, in dem sie iber- nommen wird; die Pflichten erweitern sich in dem Mafe, in dem sie erfille werden..Je gerechter ich bin, um so schuldiger bin ich... (Coralitat und Unendlichkeit S. 360) Lévinas kann diesen Vorrang des Anderen auch in der schlichten Geste wiederfinden, in der ich 2um Anderen sage: Bitte nach Thnen! "Die Gite bestebt darin, sich im Sein so 2u setzen, dass der Andere mekr zihle als ich selbst" Es gehtrt 2u den Gemeinplitzen der Seel- sorgelehre, dass ich mich erst selbst licben muss, bevor ich den anderen liebe. Kaum eine Entdek- kung in der Schriftauslegung hat jemals so durch- schlagend berzeugt, wie die entsprechende Auslegung des Liebesgebotes. In der Praxis sieht es allerdings so aus, dass viele mit dem Sich- selbst-Lieben nicht recht zurande kommen, so dass far den andern dann keine Zeit mehr bleibt. Lévinas konfrontiert uns in seinem Den- Ken mit einem Stick unserer eigenen Ausle- gungstradition, das wir anscheinend aberwunden, aber vielleicht doch nicht wirklich gewiirdige haben, 16 Karl Barth beruft sich auf Luther und Cal- vin, wenn er "die Vorstellung con einer nicht mcr berechtigien, sondern gebotenen 'Selbstliebe™ zu ruckweist: "Sich selbst liebend, liebt der Mensch aberhanpt noch nicht oder nicht meb. Denn, sich selbst liebend, ist der Mensch mit sich selbst al- dein... Zur Liehe gehirt ein Gegeniiber’ (Kirchli- che Dogmatik 11,2, S. 426f.). Jedenfalls sind Selbsiliebe und die Liebe zum Anderen von ganalich uncerschiedlicher Serulstur. In dem “wie dich selbst” kann es nicht um cinen Vorrang der Selbstliebe gehen; cher um eine gnidige, humorvolle Wahrnehmung meiner Rolle im Gegeniber zum Anderen, die jeden ‘Aufschub unnétig macht: "Wir werden ihn ja doch mur lieben wie uns selbst, dub. als die sich selbst Liebenden und Lieblosen.. Wir konnen und sollen den Nachsten lieben als die, die wir sind, und also ‘wie uns selbst" (Kischliche Dogmatik I12S. 502). In dieser demitigen Begrenzung wird der Vorrang des Anderen gerade bewahre. Die erste Herausforderung ist also cine theologische: noch einmal neu ber die Ausle- ‘gung des Liebesgebots nachzudenken, Es gibr andere neutestamentliche Scellen, die direkter als das Liebesgebot vom Vorrang des “Anderen sprechen: "Einer komme dem andera mit Ehrerbietwng zor", hei es im Romerbrief (12,10). "Un Dems achte einer den anderen hoher als sich selbst’, sagt der Philipperbrief (2,3). Wel- che Herausforderungen ergeben sich von hier aus fiir Seelsorge und Beratung? - Fair mich ist die therapeutische Grundhaliung von Carl Rogers noch einmal neu zum Leuchten gekommen, dieser Vor- rang der Aufmerksamkeit fir den Anderen, der mehr ist als cine klientenzentrierte Me- thode, sondern agape, Wertschatzung des Anderen. - Hilarion Perzold sieht seine the- rapeutischen Kolleginnen und Kollegen und sich selbst zu ciner Gewissenserforschung herausgefordert, wiewcit in der therapeuti- schen Situation wirklich die Wiirde des an Ger gewahre wird, wieweit nicht durch ob- jektivierende Methoden, oder etwa das Schweigen des Therapeuten, Ubergriffe pro- sgrammiert sind, = _ Im Wahrnehmen des Antlitzes steckt fiir ihn aber auch eine Einladung, den Kontakt aber Blicke ganz wichtig zu neh- men: im Umgang mit Babies, aber auch mit schwwersteraumatisierten Menschen, oder in der Seerbebegleitung (H. Petzold: Der ‘An- dere'~ der Fremde und das Selbst) Lévinas hat den Vorrang des Anderen oft so drastisch heraus gearbeizet, dass er formlich dazu cinladt, ihn zu veralbern. Seine Biografin amisiere sich bei dem Gedanken, dass mit dem "Bite nach Ihnen!" schlieflich keiner durch die ‘Tar komme. Lévinas weist immer wieder darauf hin, dass dieser Vorrang des Anderen sozusagen die "Urimpression’ ist, dass sich schon mit dem Dazukommen eines Dricten das neue Problem der Gerechtigkeit stellt, dass es Sicuationen gibt, swo ich in der Tat flr mich selbst zu sorgen habe (Jenseits des Seins, S. 285). Aber er insistiert darauf, dass auch im Staat und in groffen Institu- tionen bei allen Regelungen etwas durchschim- mern muss von dieser urspriinglichen Wardigung des Antlitzes, diesem Vorrang des Anderen. DER VORRANG DER UNTERWEISUNG Der Vorrang des Anderen erfuhre in der Unterweisung noch einmal eine besondere Zu- spitzung: der Andere begegnet mir als der MET- STER. "Die ‘Koramunikation' der Ideen, die Ge- _genseitigheit des Dialogs, verbergen bereits das tefe Wesen der Sprache. Dieses Wesen berubt auf der Unumbehrbarkeit der Beziehung zwischen mir und dem Anderen, auf der Herrschaft des Meisters, die mit seiner Stellung als der Stellung eines Anderen und Auferen zusammenfalle’ (Toralitat und Un- endlichkeit S. 144). Worin diese Unumbehrbarkeit der Bezie- hung begrindet ist, wird deutlich an der Unter- weisung: "Die Unterweisung abermittelt nicht nur einen abstrakien send allgemeinen Inhalt, der mir und dem Anderen schon gemeinsam ist. Sie ier- immt nicht nur eine, am Ganzen gemessen, subsi- dire Funktion, namlich die Entbindung des Gei- stes, der seine Frucht schon in sich trage. Evst das Wort stifie die Gemeinsehafe kraft der Gabe, in dem es das Phinomen als das Gegebene prisentiert; und es gibt, ndem es thematisier. Die Anfmerksambett ist auf etwas azfmerk- sam, weil sie auf jemanden aufmerksars ist, Fir die ‘Aufmerksamkeit, die die eigeniliche Spannueng des 17 Ich ist, st die Exterioritat ihres Ausgangspunkes wesentlich. Die Schule, obne die kein Denken smoglich is, ist die Bedingung fur die Wissenschaft Die Enffalung des Denkens kann mur 24 weit geschehen; sie besckranke sich nicht daraz, das zu finden, was man bereits besaf. Aber das Exste, worin uns das Unterweisende unterweist, ist seine Gegenwart selbst als die eines Unterweisen- den" (Totalitat und Unendlichkeit S. 139-142) Diese Beschreibung der Unterweisung grenzt sich ab gegen das Sokratische, die Maieu- tik. Sie ist "eine Rede, in der der Meister dem Schiler beibringen kann, «was der Schitler noch nicht weift" (Toralitat und Unendlichkeit S. 262). Aber sie beschreibr auch eine Gemeinschaft, in der gelernt wird, weil "der Meister" *von auSen" ecwas “gibt’: Phanomene prisentiert, themati- siert. Die Welt geht fir mich gleichsam durch die Hinde des Anderen. Dabei ist die Rolle des Andern gerade nicht so beschrieben, wie in der Maieutik: dass er nur Geburtshelfer wire auf meinem Weg der Selbstentdeckung und Selbstexploration (50 bei Rogers), War uns im vorigen Rapicel der Andere in der Nackiheit und Bedirftigkeit des Anclitzes begegnet, als unendliche Fordcrung, so kommt mit dem Stichwort “Unterweisung" eine ganz andere Seite zum Vorschein: der Andere als Mei- ster, als Gastgeber, der in der Unterweisung den ganzen Reichtum der Welt vor uns auszubreiten vermag. Mazin Hesdegger 1929 Der Meister belehrt nicht, er macht auf exwas aufmerksam, er prisenciers, er thematisiert Er bindelt die Aufmerksamkeit, die ihm entge- gengebracht wird, und lenkt sie auf die Phino- Selbstverstindlich gewordene Arbeits- schcite in der Supervision kommen in den Blick. und werden hervorgehoben: Wir prasentieren ein Gesprichsprotokoll. Wir thematisieren Gefuihle, Empfindungen, suchen vielleicht nach den ‘Urrimpressionen hinter landlaufigen Auferungen, Wir merken, wie dabei Gemeinschaft entscebr. ‘Wundern uns dber die Kraft der Worte, Phino- mene zu erschlieBen. Fublen uns wie Gastgeber ‘oder Gaste, haufig reich beschenkt. Aber auch das "Verbalisieren” im seelsor~ gerlichen Gesprich bekommt noch einmal cine neue Beleuchcung. Es dient der Selbstexplorati- on, der Bewusstwerdung, habe ich in Holland gelernt, Mit Lévinas konnen wir sehen, wie im ‘Verbalisieren wirklich die Welt des ander durch meine Hande geht, wie dadurch etwas Neues ins komme, das vorher nicht da war. Noch ‘einmal: "Die Entfaltung des Denkens kann nur 2 weit gescheben; sie beschrinke sich nicht darasf, das zx finden, was man bereits besaf (Toralitat und Unendlichkeit $. 141) Der Meister prisentiert sich aber auch selbst als das Gegeniiber, in dem die "eigentliche Epiphanie des Antlitzes..sich ereigner’. Unter- ‘weisung ist 2uerst und zuletzt ethische Unter- -weisung. Erziehung zielt nicht auf Auronomie, sondern auf Offenheit fir das Antlitz, und damic auf Dienst, auf Veranewortung, auf Ubernahme des Geisel-Seins. Unterweisung lat sich niche zum Heranmasten von Egoisten und Narzissten mibrauchen. Im Vorrang der Unterweisung hére ich die Herausforderung an Seelsorger und Berater, dic Rolle des Gastgebers zu ubemehmen, dem anderen grozigig zu begegnen, sich an die phi- nomenologische Arbeit zu machen und dabei dem Reichrum und der gemeinschaftsstiftenden Kraft der Sprache zu vertrauen. "Daum gleicht jeder Schrifigelebrae, der ein Jinger des Himmelreichs geworden ist, einem Hausvater, der aus seinem Schatz. Newes nd Altes ervorbol” (Mc13,52) 18 Die Rollenverteilung zwischen Meister und Schiler ist Gbrigens nicht starr: "Rabbi Chama sagte, Rabbi Chanina habe gesagt: Eisen scharft Eisen, das besagt dir: Wie beim Eisen eines das andere schirfe, so schirfen auch zwei Gelehrte einander.... Viel habe ich von meinen Lehrer geleznt, von meinen Kollegen mebr als von meinen Lehrern, und von meinen Schilern mehr als von ihnen allen” (Talmud, S. 267f.). DER VORRANG DES TODES DES ANDEREN ‘Was zuerst ins Auge springt, ist eine Reihe von Aussagen ber den Tod, die einen existen- sialistischen Geschmack haben. Da wird hervor- gchoben, dass mein Tod sich “niche auf dem Wege der Analogie vom Tod der Anderen ableita”. Wir horen im Hintergrund Heideggers Rede von der Je-Meinigkeit des Todes. "Mein Tod ist gegeben in ‘der Furcht, die ich um mein Sein haben kann” (Totaitét und Unendlichkeit $. 341). In dieser Furcht meldet sich ein instinkrives Wissen um den Tod, das der Erfahrung vom Tod des Ande- ren vorausgeht, das sozusagen urspriinglicher ist. ‘An Camus erinnern Aussagen, die das Absurde, Gewalesame des Todes hervorheben: "Tm Tod bin ich der absoluten Gewalt ansgesetzt, dem Mord in der Nacht" (Toralitat und Unendlichkeit S. 341), Dann aber gib: es eine Wende, einen Bruch mit diesem traditionell _gewordenen Denken des Todes, zumindest aber einen 2weicen, neuen Einsatz: "Der Tod ist Tod von jemandem, und das Geweien-Sein von jemandem wird nicht vom Sterbenden, sondern vom Uberlebenden getragen" (Gow, der Tod und die Zeit, zit. in: Michael Mayer, Der Tod des Anderen ist der erste Tod, FR vom 1.3.1997). Damit taucht nun auch im Nachdenken liber den Tod das uns schon vertraute Motiv der Uberlebensschuld auf. Dass es ein Leben nach dem Tode gibt, ein Uberleben nach dem Tod des Anderen ~ damit benennt Lévinas ein Problem, das so in der abendlindischen Philosophie kaum je Beachtung fand. Wahrend bisher der Vorrang des je eigenen Todes vor dem des Anderen wie selbstverstindlich vorausgesetat_ wurde, steht sun nicht linger mehr ‘mein’ Tod, sondern der Tod und das Sterben des Anderen im Mitcel- punkt. Und wie der Vorrang des Anderen die Ethik als Erste Philosophie begrindet, so kann es jetzx heiflen: "Der Tod des Andeven ise der Erste Tod’. Durch diesen radikalen Perspektivwechsel wird das Bild des Todes nicht freundlicher. "Der Tod, s0 wie er sich im Tod des Anderen ankiindigt sand betrofjen macht und Scbrecken erregt wd ‘Angst einflii, ist eine Vernichtung, die ihren Place niche m2 der Logik des Seins und des Nichts finders eine Vernichtung, die einen Skandal darstell..” (Gort, der Tod und die Zeit). Nicht das Bild des Todes macht also das Wesentliche dieses Perspektivenwechsels aus. Das liege vielmehr in meinem Betroffensein vor Andlitz des Anderen in seinem Sterben. Schon von jeher war das Antlitz des Anderen durch seine Sterblichkeit gezeichner. "Als ob der Tod, den der Andere 2war noch nicht kent, der ibn aber in der Nacksheit seines Antliczes bereits be- iff, mich anblickwe und anginge, noch bevor ich sells mit ibm konfrontiert werd.” Der Tod verscharft dieses "von jeher" noch einmal: “Der Tod des anderen Menschen stellt mich vor Gericht und in Frage, als ob ich diesen Tod des Andeven zx verantworten bitte und ich den Anderen in seiner todlichen Einsamkeit riche allein lassen difie". Fur Lévinas hat diese Verantwortung for den Tod des Anderen eine solche elementare Bedeutung, dass "der Sinn des Todes eben von daber verstanden werden muss" (Wenn Gott ins Denken einflle, $. 252). Bs ist ein sehr konkre- ter, mitmenschlicher Sinn: er verbieter mir, den Anderen an seine Einsamkeit preiszugeben. Was wi Perspektivwechsel_genannt ha- ben, schlieBe fir Lévinas auch cine Transformati- con der Furcht ein: "Der Wille ist unter dem Urteil Gottes, wenn seine Furcht vor dem Tode sich wm- kebre in die Furckt, einen Mord zu begeben" (Lo- talitit und Unendlichkeit S. 359). Dieser Perspektivwechsel fordert mich als Seelsorger gleich mehrfach heraus. Ich habe ge- lem: Wenn Kranke im Gesprich mit mir vom Sterben anderer reden, dann liegt der Verdacht rahe, dass sie damit vor dem Ernst des eigenen Sterbenmissens ausweichen, also flichten, ver~ deingen. Es kénnte aber sein, dass wir mit dieser tiefenpsychologischen Deutungstradition im 19 Hintergrund das ganz urspriingliche Mitbetrof- fensein vom Tod des anderen tberh6ren. Wir haben gelernc, starke Schuldgefthle im Umkreis des S:erbens von nahen Menschen therapeutisch zu bearbeiten, dh. wirkliche Schuldanteile cinzugrenzen und jeden Exzess dabei als vorubergehende Phase in einem Trauer- proze8 zu deuten. Wenn wir der Sicht von Lévinas folgen, gibt es dazu eine Alternative: in diesen Schuldgefahlen das Aufleuchten ciner tiefen Erkenntnis zu sehen, in der ihn das Antlitz des Anderen erreicht hat und er seines Geisel- Scins, seiner Verantwortung inne geworden ist, dic sich nicht auflésen lisse, die vielmehr gerade unsere Humanisér ausmacht. Gibt es das: ein ‘Nicht-Loslassen des anderen Menschen in sei- nem Tod, das doch etwas anderes ist als eine abnorme Trauerreaktion? Als eine FinbuSe an cigenen Lebensméglichkeiten? Endlich verstirken die Worte von Lévinas fur uns das alte jidische Gebot, Sterbende nicht allein zu lassen. DER VORRANG DER VERANTWORTUNG Freiheie ist in unserer Gesellschaft weithin zum héchsten Wert geworden. Aber gerade die selbstgewiss proklamierte Freiheit, das ungebro- chen in Anspruch genommene Recht auf Lebens- raum treffen bei Lévinas auf Miftrauen, auf grundsitzlichen Widerspruch. In seinem Denken wird Freiheit verstanden “als erwas, das eine Rechfercigung verlangt..”. "Stelle die Gegenwart des Anderen nicht das naive Recht der Freibeit in Frage? Evscheint sich die Freiheit nicht selbst als eine Schande fiir sich? Und als Anmafung, solange sie auf sich selbst za- niickgefihrt wird? ... Die Freiheit muss sich recht- ‘fertgen" (Tonalitat und Unendlichkeit S. 441) “Indem ich an den Anderen herantret, stelle ich meine Freiheit in Frage, meine Spontaneitit als die Spontaneitat eines Lebendigen, meinen Zugriff auf die Dinge, diese Freibeit einer Nauurkrafi, dieses Ungestim, das wie ein Strom ist und dem alles erlaubt ist, selbst der Mord. Das ‘Du wirst kkeinen Mord begeben’, das das Antlitz. voraeichnet, in dem sich der Andere ereignet, unterwirfi meine Freiheit dem Urtel. Die morelische Rechiferigung der Frei- eit, besteht darin, an die eigene Freibeit eine unendliche Forderung 2u stellen, gegeniiber der eigenen Freibeit radikal unduldsam zs sein. Die Freibeit rechfertigh sich nicht im Bewustsein der Gewissheit, sondern in einer unendlichen Forde- rung gegen sich selbst, darin, dass sie jedes gute Gewissen hinter sich life" (Totalitat und Unend- lichkeit S. 441f,). Im Verstindnis der Freiheit entscheidet sich, = ob Gore und der Andere, ja die Welt schlechthin 2uerst und zuleezt Diener meiner Bedirfnisse sind und sich vor mir auszuweisen und 2u rechefertigen haben, oder ob ich mich von ‘Anfang an vorfinde in einer Verantworung, die ich nie hinter mir lassen, qualifiziert durch eine Daseinsschuld, die ich nie abtragen kann; = 0b ich von Hause aus autonom bin und dann gnidig und in dem Ma6, das ich bestimme, auch Verantwortung fir andere ubernchme, oder ob ich mich von Anfang an verantwortlich vor- finde, gastlich empfangen vor gnidigen Nach- sten, der mich unterweist, Geisel des Nackcen und Bedirftigen, der mir als Forderung begeg- net; = ob survival guilt mur die traumatische Verarbeitung einer extremen Erfahrung ist, die therapeutisch aufgelost werden muss, oder ex- emplarisch fir den Status des Menschen uber- hhaupt, nimlich Schuldner zu sein; ~ also: ob Freiheit umgriffen wird von ei- ner wesentlichen Demut und Dankbarkeit, oder als Besitz in Anspruch genommen und ausge- beutet wird, wie ein "Raub"; = ob die Menschenrechte in erster Linie verstanden werden als meine Rechte, oder als die Lebensrechte des anderen, fiir deren Beachtung ich verantwortlich bin "Die Moral beginns, wenn sich die Freiheit, state sich durch sich selbst 2u reflektieren, als will- eirlich und gewalttitig empfindet" (Toralitat und Unendlichkeit S, 116). Ich sehe Lévinas hier nicht nur in Ausein- anderseczung mit der Erfahrung des Dritten Reichs, der Proklamation des Rechtes auf Le- bensraum, sondern auch mic der Kehrseice unse- rer westlichen Freiheit, die darin zum Vorschein kommt, dass wir die Menschenrechte einer Na- tion verdanken, die nicht nur die Bewohner eines ganzen Kontinents ausgerortet (vertrieben) hat, 20 sondern durch ihre atomare Rastung bis heute demonstriert, dass sie im Ernstfall bereie ist, den Holocaust ganzer Komtinente in Kauf zu neh- Lévinas sicht durchaus, dass die Men- schenrechte ihr Entstehen der Rationalicit von ‘Wissenschaft und Technik verdanken. Thre Ver~ teidigung jedoch geschah von Anfang an auch durch die Berufung auf eine Instanz, die auSer- halb des Staates lag, vergleichbar der Stimme der Propheten gegentber der Politik ihrer Zeit. In zwischen jedoch ist davon nur noch die Berufung auf die Freiheit der Person abriggeblieben, die cine Beschrinkung ihrer Freiheitsrechte durch andere hinnehmen muss. Gerechtigkeit als Kom- promiss wechselseitiger Freihcitsbeschrankung (aurek, $. 84). Dem stellt er sein Verstindnis der Men- schenrechte entgegen: Menschenrechte sind “uaspriznglich die Reche des anderen Menschen" (Biografie S. 365). “Die ~ mit der niichternen Kalte Kains ge- dachte ~ biologische Briiderlichkeit der Menschen ist kein binreichender Grund dafitr, dass ich fir ein ‘von mir getrenntes Wesen verantwortlich bin. Die nitchterne Kalte Kains - damit meinen wir cin Denken, welches die Verantwortlichkeit con der Ereiheit her oder nach Art eines Vertrages denke. Die Verantwortlichkeit fiir den Anderen kommt ‘20n diesseits meiner Freibeie" (Gott und die Phi- losophie, in: Got: nennen, S. 110). ‘Mit dieser Neudefinition verliert der Mensch niche seine Warde. Sie komme ihm nur nicht von sich selbst her 2u, sondern sie ist gege- ben in meiner Unersevzlichkeit, in der Herclich- elt, die 'sich in meinem Sagen verbertlicht, indem sie mir durch meinen Mund gebiete” (Ethik und Unendliches,S. 78S. 84). In diesem Versuch, vom Vorrang der Ver- ancwortung her zu denken, steckt eine auerst radikale Herausforderung an Theologie und Seel- sorge: In der ‘narzisstischen Gesellschaft’, die corientiert ist am "Idea! des befriedigten Menschen, dem alles erlaubs ist, oas méglich ist" (Wenn Gott ins Denken einfille, S. 241), finden Kirche und Seelsorge anscheinend nur dann eine Nische, wenn sie etwas beitragen zur Bedirfnisbefriedi- gung. Auch das immer beliebter werdende Seg- nen kommt diesem Trend entgegen. Die Theodi- zeefrage ist weithin der entsetzte Aufschrei, dass in dieser Bedtrfaisbefriedigung eine Storung cingetreten ist. "Wie kann Gott das zulassen?” Seelsorge kommt nur dann aus dieser Falle der Bediirfnisbefriedigung heraus, wenn sie mit diesem Denken radikal bricht, das vom Recht auf geht, vor dem alle anderen sich zu verantworten haben: Familie, Staat, Seelsorger, Gott. Das wird nicht méglich sein, ohne die tiefen Krankungen hinzunehmen, die das Den- ken von Lévinas uns zumutet: den Vorrang des anderen, das Anwachsen der Schuld, die Aus- zeichnung der Passion und der Geduld. Leben, Wohistand, Gesundheit und Glitck aus- ZITIERTE LITERATUR WERKE VON EMMANUEL LEVINAS (Die erste Ziffer kennzeichnet das Erscheinungsjahr in Frankreich, die zweite das Erscheinungsjahr der zitierten deutschen Ausgabe) = Toralitat und Unendlichkeit. Versuch aber die Exterioritat (1961/1987) = Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1978/1998) - Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phinomenologie und Sozialphilosophie (—-/1987) = Gott und die Philosophie, in: Gott nennen. Phinomenologische Zuginge (1975/1981) - Wenn Gort ins Denken einfalls. Diskurse aber Betroffenheit von Transzendenz (1982/1988) ~ _ Ethik und Unendliches. Gespriche mit Philippe Nemo (1982/1986) ~ Gout, der Tod und die Zeit (1995/1996) LITERATUR AUS DEM UMKREIS VON LEVINAS - Der Talmud. Ausgewahl, abersetzt und erklirt von Reinhold Mayer. Goldmann 1989 = Marie-Anne Lescourret: Emmanuel Lévinas, Flammarion 1994 = Bernhard Taurek: Lévinas zur Finfthrung, Hamburg 1991 ~ Peter Prechtk Husserl zur Finfhrung, Hamburg 1991 - Bermhard Waldenfels: Einfithrung in die Phinomenologie, Minchen 1992 - Bernhard Waldenfels: Phinomenclogie in Frankreich, Frankfurt 1998 = Heinz J-Kersting: Im Antlitz des Anderen. Die Ethik der Verantwortung nach Emmanuel Lévinas, Vorabdruck - Hilarion G.Petzold: Der "Andere" - der Fremde und das Selbst. Tentative, grundsétzliche und person- liche Uberlegungen for die Psychotherapie anlalich des Todes von Emmanuel Lévinas (1906-1995), in: Integrative Therapie 2-2/1996 - Michael Mayer: "Der Tod des Anderen ist der erste Tod", FR 1.3.1997 = Karl Barch: Kirchliche Dogmatik 1,2, Zollikon 1938 - Amold Mindell: Den Pfad des Herzens gehen, Petersberg 1996 = Wybe Zijlstra: Klinisch Pastorale Vorming, Assen 1969 a4 Zu diesem Heft und zum Autor: ‘Am 29, April 2000 hielt die Gesellschaft fir Taterkulvurelle Seelsorge und Beratung (Society for Intereultu~ sal Pastoral Care and Counselling - SIPC) ihre 5. Konsultation in Dusseldorf ab. Konsultationen sollen anregen, aber Themen, die mit interkuleureller Seelsorge und Beratung in Verbindung stehen, nachzuden- keen. Schon seie einiger Zeit war in der Gesellschaft das Thema der Ethik diskutiert worden und im interkultu- rellen Zusammenhang das Thema des Fremden und des Anderen So kam es den Organisatoren sehr gelegen, dass Ingo Neumann sich auf Anfrage hin bercic erklarte, zu Emmanuel Lévinas 2u referieren. INGO NEUMANN ist Landespfarrer fir Seclsorgefortbildung und Supervision in der Evangelischen Kir- che im Rheinland. Aber nicht nur in Seclsorge, sondern auch in der Philosophie - und hier gerade in der franzésischen - kennt er sich gut aus. Er hat die Werke Lévinas in der Originalsprache gelesen und studiert und sich damit intensiv auseinander gesetzt. Wie seine Einleitung erzahlt, ist dies far ihn nicht eine akade- mische Angelegenheit, sondern sehr existentiell. Es ist der Lektire abzuspiiren und wurde im Vortrag of- fensichtlich, wie anragend dieses Denken far ihn ist und mit welcher Begeisterung er deriber reden kann. Nach den Vortrigen beschaftigte sich die Teilnehmenden in kleinen Gruppen mit Texten von Lévinas. Danach wurde im Plenum dartiber diskutiert, was dieses Denken far Seclsorge und Beratung austrag:, Zwei Diskussionsstrange méchte ich hier erwahnen, um deutlich 2u machen, wie fruchtbar es fur Seelsorge und Beratung ist, Lévinas zu lesen und zu reflektieren: Die Satze Lévinas, die nach erstem Lesen abstrakt Klingen mogen, gewinnen volles Leben, wenn sie mit persénlichen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden. Sie sind ja auch entstanden aus tiefen und schmerzhaften personlichen Erfahrungen. Was also auf den ersten Blick abstrakt erscheinen mag, kann lebendig werden. Dies erinnert daran, wie wichtig ¢s in Seelsorge und Beratung ist, Sitze von Betroffenen und von Horenden immer wieder in Erfahrungen und Geschichten umzusetzen. Gerade in interkultureller Seelsorge und Beratung hat diese einen hohen Stellenwert: Menschen erzalilen von sich in Geschichten. In Geschichten werden Beziehungen, Prozesse und Prigungen horbar. Das Gegeniiber muss sich durch Ge- schichten nicht eingeengt oder manipuliert fuhlen, es bleibt frei, die cigene Geschichte hinzuzusetzen. Der Andere bekommt Vorrang, der Andere wird zum Meister. ‘Verantwortung ist ein wichtiges Thema der Seelsorge und Beratung. Der Andere bekommt Vorrang, indem Seelsorgerinnen und Berater bei ihren Gegentber einsewzen, dort anknipfen, wo die sind, zuhéren. Sie lassen sich “einnehmen" - um nicht das Wort "Geisel” zu gebrauchen, das vielen in der Diskussion zu miss- verstindlich war. Aber dann antworten sie, suchen eine Nahe mit Sprache und aber Sprache hinaus, und setzen sich dafitr ein, dass der Sinn des Menschlichen aufleuchtet, Far SIPCC ist Ethik eine wichtige Frage. Gerade ein Verein mit Mitglieder aus etwa 30 Lander mit un- terschiedlichen Sprachen, Kulturen, Glaubensauffassungen, politischen und sozialen Systemen und auch wirtschaftlichen Verhaltnissen muss sich dariber verstandigen, welches seine “ethical codes’ sind, In einem umfassenden Diskussionsprozess hat SIPC sich ein "mission statement’ gegeben, dessen deutschen Text wir auf den letzten Seiten des Heftes abdrucken. SIPCC ist Ingo Neumann dankbar fir seine Impulse. Wir alle durfen Emmanuel Lévinas dankbar sein for cin Denken, das durchdrungen ist von den schmerzlichsten Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und doch leuchtet und dem Antlitz des Menschen eine géctliche Wurde gibt. Helmut Wei

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