Be
Emmanuel Lévinas
Ingo Neumann
"BITTE NACH IHNEN"
Der Vorrang des Anderen in der Ethik von Emmanuel Lévinas
als Herausforderung fiir Seelsorge und Beratung
society
ISSN: 1431 - 8962
for intercultural
pastoral care
andicounselling ‘ z Sane - , 5
Gesellschaft I ci (eurat
fur interiialturelle 3
Seclsorge
und Beratung e.V.Impressum
Interkulturelle
Seelsorge und Beratung
Schriftenreihe der
Gesellschaft far
Interkulturelle Seelsorge
und Beracung e.V.
sipcc
Society for Intercultural
Pastoral Care and
Counselling
Herausgeberkreis
Dr. Karl Federschmidt
(Leitung)
Ulrike Atkins
Klaus Temme
Helmut Weil
Geschaftsstelle
Friederike-Fliedner-Weg 72
40489 Dusseldorf
Tel. 0211-479 05 25
Fax 0211-479 05 26
e-mail
ewe sipce@t-online.de
Nr. 5
Ingo Neumann
"BITTE NACH IHNEN"
Der Vorrang des Anderen in
der Ethik von Emmanuel
Lévinas als Herausforderung
fur Seelsorge und Beratung
Diisseldorf August 2000
Redaktion und Layout
dieses Heftes:
Helmut WeiS
ISSN: 1431 - 8962
Ingo Neumann
“BITTE NACH IHNEN"
Der Vorrang des Anderen in der Ethik
von Emmanuel Lévinas als
Herausforderung fir Seelsorge und
Beratung.
EINLEITUNG: MEINE BEGEGNUNG-
MIT EINEM FREMDEN DENKEN
Bibel und Philosophie / Heidegger /
Das Antlitz / Uberforderung 14
BIOGRAFIE
Herkunfe: Der Antisemitismus als Staats-
religion und die reiche Welt der Bucher 3-4
ScraSburg und Freiburg: Die Entdeckung
der phinomenologischen Methode 5-6
Krieg und Nachkriegszeie: Begrandung
einer eigenen Philosop!
6-7
‘Auf dem Plateau: Dreiunddreifiig Jahre
Doppelexistenz zwischen jdischer
Hochschule und Philosophie 7-8
Dreifaches Finale:
Sorbonne - Rom - Israel 8-12
Tod und Abschied 12
DER WEG ZUM ETHISCHEN
ALS ERSTER PHILOSOPHIE 12-14
EMMANUEL LEVINAS ALS
PHANOMENOLOGE 14-15
“Heraus aus der Konzentration auf die
innerseelischen Prozesse!
Reduktion!
PHILOSOPHISCHE ANALYSEN,
DIE DIE SEELSORGE BERUHREN
Der Vorrang des Anderen, 15-17
Der Vorrang der Unterweisung 17-18
Der Vorrang des Todes des Anderen 18-19
Der Vorrang der Verantwortung 19-21
Literatur 2
Zu diesem Heft und zum Autor 2
(Helmut Wei8)
Zum Selbseverstindnis von SIPCC 23-24"BITTE NACH IHNEN"
Der Vorrang des Anderen in der Ethik von Emmanuel Lévinas
als Herausforderung fiir Seelsorge und Beratung
Ingo Neumann
EINLEITUNG
MEINE BEGEGNUNG MIT EINEM
FREMDEN DENKEN
Wie kommen wir auf die Spur eines Au-
tors, dessen Denken fiir uns schicksalhaft werden
soll? "Wenn die Welt 24 uns spricht, ist es unmbg-
lich 2x sagen, ob sie etwas mit uns mackt oder wm-
-gekebrt wir etwas mit ihr... Niemals wissen wir
sicher, ob wir Borschafien aussenden und Antwor-
ten bekommen oder ob die Welt uns Botschafien
schicks, die wir beantworten", schreibt Arnold
‘Mindell (Den Pfad des Herzens gehen, S. 62)
Habe ich Levinas entdeckt oder hat er mich ge-
funden?
In einer Trierer Buchhandlung kam mir
1989 ein schmales Buch, fast ein Heft, mit wei-
fem Umschlag in die Hand: Lévinas, "Ethik wad
Unendlichkeit. Der Name schwedenblau. Schon
beim ersten Hineinblatcern ist da sofort die
elektrisierende Gewissheit, auf einen hochbe-
deutsamen Text gestoBen 2u sein, auf einen Au-
tor, der mir meine eigene Welt in einer von mir
selbst nie erreichten Klarheit formuliert
Das erste Kapitel mit der Uberschrift "Bi-
bel und Philosophie" fahrt mich an den Beginn
meines Studiums zuriick, wo ich mich mit der
gleichen Begeisterung in die Theologie und die
Philosophie hineinstirzte. "Jedes philosopbische
Denken beri auf vor-philosophischen Erfabran-
gen und die Lekeitre der Bibel hat bet mir 2x diesen
Exfabrungen. grindender Art gehor’’, schreibt
Lévinas da (S. 16). Und er schreibt es damals und
heute auch far mich,
Uber dem zweiten Kapitel steht einsam
und groft der Name Heidegger. Und dann lese
ich Satze uber "Sete und Zeit: "Es ist eines der
scbonsten Biicher in der Geschichte der Philosophie
~ ich sage das nach einigen Jahren des Nachden-
skens, Eines der schénsten neben vier oder fiinf
anderen... Meine Bewunderung fiir Heidegger ist
vor allem eine Bewunderung fizr ‘Sein und Zeit"
G. 26). Im Wintersemester 1960/61 hielt Ger-
hard Ebeling in Zorich ein vierscundiges Seminar
fiber "Das Denken Martin Heideggers und die
Theologie’. Dieses Seminar lockte mich nach
Zirich. Heidegger kam zu zwei Sitzungen aus
seiner Verbannung im Schwarzwald herunter
nach Zirich, So lese ich diese Satze wie eine zart-
liche Liebeserklarung, die auch meine Faszinati-
on von damals wieder wachruft und ihr Absolu-
tion erveilt. Das schreibs ein Jude!
Dann falle mein Blick auf die Uberschrift
zum 7, Kapitel: "Das Anclitz". Nichts mache ich
lieber, als die Gesichter von Menschen betrach-
ten, selbst noch auf den gro8en Plakaten von
Calvin. Gott, der im Mitmenschen begegnet, das
war der Leuchtpunkt der Theologie meines r-
sten cheologischen Lehrers Herbert Braun, und
es blicb in Zeiten des Zweifels und der Verdaste-
rung der zuverlissige, nie verstellte Ort der
Gotteserkenntnis. Aber hier wird priziser vom
Antliz gerede: Das Antlitz - "am meister
nackt.., auch am meisten entblép... exponiert,
bedrobr, als witrde es uns zu einem Akt der Gewalt
einladen. Zugleich ist das Anilitz das, was uns
verbietet, 2 téren” (S. 64f.). Ich kann gar nicht
mebr aufhéren zu lesen.Und dann als lerzter Eindruck cine Bor
schafe ftir mich in meiner damaligen Arbeitssi-
uation: Uberforderung. Das Wort steht da
nicht. Aber es steht 2wischen den Zeilen. Die
Beziehung zwischen dem Anderen und mir ist
nicht gegenseitig. Ich bin dem Anderen gegen
‘aber unterworfen. Vor allem in diesem Sinn bin
ich ‘Subjeke’ (sujet). "Ich bin es, der alles ertvagt
Sie kennen diesen Satz von Dostojewski: in
‘Wahrheit bin ich fur alle schuldig und vielleiche
schuldiger als alle. Nicht wegen der einen oder
anderen Schuld, die tatséchlich meine ist, wegen
Feblern, die ich begangen hitte; sondern, teil ich
verantwortlich bin gemaR einer totalen Verant-
wwortlichkeit... Das Icb hat immer ein Mebr an
Verantwortlichkeit als alle anderen® (S. 76). Ich
bin es, "der das Universum tragt, wie immer astch
der Fortgang der Geschichte set” (S. 88). Diese
Worte von einer unendlichen Uberforderung
haben fuir mich etoas Erlosendes, weil sie sehr
genau meine Erfahrung aussprechen: als Pfarrer
tiner grofien Gemeinde mitten unter der unend-
lichen Last der Bedrohung durch die Stationie~
rung der Pershings und Cruise Missiles, unter
dem Zorang, etwas gegen den Krieg zu tun.
Bibel und Philosophie, Heidegger, das
Antlitz, totale Verantwortlichkeic - vier Themen,
vertraut und doch in einer fremden Kahnheit zur
Sprache gebracht. Ich gebe das Heft nicht mehr
aus der Hand. Es enthalt eine Reihe von zehn
Gesprichen, in denen der Philosoph Philippe
Nemo sparsame Impulse gibt, die Lévinas einla-
den, die Entfaltung seines Denkens in zehn klei-
nen, kunstvollen Abhandlungen darzuscellen.
Eine phantastische Einfuhrung, 1981 aufgenom-
‘men und von France-Culture ausgestrahlt.
ch kaufe mir bald danach auch das
Hauprwerk "Toralitat und Unendlichkeit” (1961)
und nehme es als Urlaubslektire mit nach Nor-
‘wegen. Langsam dimmert mi, dass uns hinter all
den sofort erkennbaren Bezgen noch ein Ge~
heimnis verbindet: Wir sind beide Uberlebende.
Ich war als Siebenjahriger bei der Bombardierung
von Dresden Februar 1944 verschiittet und habe
den Untergang dieser Stadt tberlebt, in der
30.000 oder 300.000 Menschen ums Leben ge-
kommen sind. Man wei8 das nicht. Er hat in
deutscher Kriegsgefangenschaft den Holocaust
fiberlebr, dem seine Eltern und Briider in Litauen
zum Opfer gefallen sind. Das Schuldgefuhl der
Uherlebenden, wir kennen es beide. Die glaskla-
re, harte Erkenntnis, dass es kein Recht auf Le-
ben, gar auf Gliick gibe. Und dass es keine Ant-
wort gibt auf die Frage “warum"? Aber nun nicht:
Warum tiffe es mich? sondern: Warum bi
verschont geblieben? Warum darf ich leben?
Diese Exfahrung ist, so merkte ich bald,
cin zentraler Bezugspunkt seines Denkens ge-
blieben.
‘Da war also eine Fille von Themen und
Erfahrungen, dic eine Briicke schlugen zu diesem
neuen philosophischen Autor, erstaunlich viele
persénliche Berthrungen. Ganz schnell aber war
da auch eine Ahmung, dass in diesem Denken ein
radikaler Gegenzug formuliert wurde zu den
Allerwelts-Uberzeugungen der Humanistischen
Psychologie, bei der ich und viele Kolleginnen
und Kollegen der Seelsorgebewegung viele Jahre
stolz in die Schule gegangen waren: Nicht das
Wohlbefinden, sondern die Last, die Passion;
nicht bekommliche Abgrenzung, sondern totale
Verantwortung; nicht Befreiung, sondern Gei-
selhaft; nicht Partnerschaft, sondern die Hoheit
des Anderen oder des Meisters.
Meine Lust erwachte, unsere etablierven
Uberzeugungen mit dem Denken von Lévinas zu
Konfrontieren, etwa Carl Rogers, den Begrinder
der Klientenzentrierten Therapie, der sehr viele
Seelsorgerinnen und Seelsorger gepragt hatte,
und Lévinas einander gegendberzustellen und
selbst einmal wieder gegen den Strom zu
schwimmen. Bin spites Echo dieser urspringli-
chen Lust ist dieser Artikel
Nach diesem sehr personlichen Einstieg
machte ich nun Lévinas in den Mittelpunkt stel-
Jen und sein Leben erzihlen. Marie-Anne Le-
scourret hat 1994 eine breit angelegte Biogralie
mit dem Titel "Emmanuel Lévinas” verolfent-
licht, die die Stationen seines Lebens und Den-
kens liebevoll und zurtickhaltend beschreibr. Sie
ise bisher leider niche ins Deuische dberseczt
worden. Ich warde mich weitgehend an diesem
umfangreichen Buch orientieren (Seitenangaben
in Klammern).
“Iehsein bedeutet, sich der Verantwortung
nicht entziehen konnen. Dieser Auswuchs an
Sein, diese Ubertreibung, die man Ichsein
hennt, dieser Ausbruch der Selbstheit im Sein
vollzieht sich als Anwachsen der Verantwor-
| tung. Die Infragestellung meiner Selbst durch
den Anderen macht mich mit dem Anderen in
unvergleichlicher und einziger Weise solida-
fisch.”
Die Spur des Anderen, S. 222BIOGRAFIE
HERKUNFT
DER ANTISEMITISMUS ALS
STAATSRELIGION UND DIE REICHE
WELT DER BUCHER
Emmanuel Lévinas wird in der damaligen
russischen Baltenprovinz Litauen geboren, nach
russischem Kalender am 30. Dezember 1905,
nach unserem Kalender am 12. Januar 1906. Li-
tauisch heir seine Geburtsstad: Kaunas, russisch
Kovno, jtidisch Kovne. Und zur jidischen Ge-
meinde gehort seine Familie. Schon diese unter-
schiedlichen Angaben lassen etwas ahnen von
den Unsicherheiten der Existenz in einer Grenz-
region. Die Biografin kann ihn einen "Mann der
Grenzregionen" nennen (S. 38).
Der Vater ist Buchhindler. Seine Kunden
sind vor allem Kanzleibeamte und Gymnasial-
professoren. Emmanuel hat noch 2wei jiingere
Briider, Boris und Abinadab. Er erinnert sich an
cine christliche Hausangestellte und an Ferien in
einer Datscha auf dem Land. Die Eltern sprechen
untereinander jiddisch, mit ihren Kindern aber
bewuke russisch. Als Emmanuel sechs Jahre alt
ist, kommt zweimal in der Woche ein Hebraisch-
Professor ins Haus. Der Schiler liest auf Hebri-
isch, der Professor tbersetzt und interpretiert
auf Russisch, So wichst Lévinas in zwei Spra-
chen, in zwei Traditionen auf. Die hebriische
Bibel verankert ihn im Glaubensmilieu seines
Elternhauses, das Russisch offnet alle Tren in
die groke Welt der russischen und der europii-
schen Literatur
Kaunas - Grburtsore von Lévinas
Der Antisemitismus ist in RuSland
"Staatsreligion” (S. 22). Obwobl es in Kaunas und
dem benachbarten Wilna mit ihren bedeutenden
jiidischen Gemeinden keine Pogrome gegeben
hat, geschah es niche selten, dass Juden am Bart
gezogen oder auf offener StraBe verpriigelt wrur-
den. Wenn ein Jude Widerstand leistete, konnte
ex wegen Storung der Gffentlichen Ordnung
angeklage werden und sich im Gefingnis wieder-
finden. So lernte man tiglich, die Demirigungen
zu ignorieren und Mittel zu finden, um - wenn
schon nicht den Stolz oder die Selbstachtung - so
doch das Leben zu retten (S. 32).
Beide Traditionen statten ihn mit reichen
vor-philosophischen Erfahrungen und mit grin-
denden Gewissheiten aus, von denen er ein Le-
ben lang begeistert erzahlen und zehren wird.
Die Familie gehért 2u den Midnagdim, den alten
Gegnem des Chassidismus. Wie hinter den
Chassidim der Baal Sschem Tov (1700-1760)
erscheint, so hinter den Midnagdim der Gaon
von Wilna (1720-1797).
Uns sind durch Erzahlungen von Martin
Buber und Elie Wiesel die Chassidim vertraut
und lieb geworden. Der Gaon von Wilna hat
1772 ihre Exkommunikation ausgesprochen und
damit eine Grenze markiert gegeniiber thremGlauben, der vor allem in Herz, Gemitr, Phanta-
sie verwurzele war und sich in Wundergeschich-
ren und Gebeten, in irrationaler und gefihlvoller
Tnnerlichkeit ausdriickve.
Emmanuel, Boris (Vater) und Aminadsb Lévinas
Ex dagegen serzte auf die Wissenschaft,
auf Mathematik, Astronomie, Anatomie, Her-
mencutik, cine kritische Interpretation von Tora
und Talmud. "Der Unwissende kann nicht fromm
sein"! "Gebrauche deine eigenen Augen wad nicht
die Brille der anderen" (S, 27). Das lest sich wie
cin nahes Echo aus dem benachbarten Konigs-
berg des Philosophen Immanuel Kant, wie eine
Vorahnung von Ausfuhrungen von Friedrich
Schleiermacher 2u Beginn des 19. Jahrhunderts.
Ziel seiner Unterweisung ist dic personliche
Vervollkommaung, die nur mithilfe der bibli-
schen Tora erreicht werden kann (S. 28)
[Nautirlich hat es Vermittlungsversuche ge-
geben, trotzdem ist Levinas immer dieser
Grundorientierung treu geblieben: dem Vorrang
der Halacha, des juridischen Teils des Talmud,
‘gegentber der Haggada mit ihren narrativen
Schatzen, Quelle von Legenden, Allegorien,
‘Mythen; dem Vorrang der Tora gegeniiber den
Psalmen,
1964 wird er im jtidischen Konsistorium in
aris sein Credo zur Erneuerung des Judentums
zuspitzen in gewagten Antithesen: 'deshalb muss
der Judaismus der Vernunfe den Judsismaus. des
Gebets itberfligeln, der Jude des Talmud den Ju-
den der Psalmen"(S. 363). In einer Auslegung zu
‘Marchitus 25 und Jesaja 58 wird es 1988 heiGen:
"Spirtuell anspruchsvolle Menschen, die das Ange-
sicht Gottes sehen und seine Nahe geniefien wollen,
‘werden sein Gesicht sehen, wenn sie ibre Sklaven
freigelassen und die Hungrigen gesatuige haben” (S.
276).
Genau so bedeutsam aber ist die russische
Literatur, hinter der dann schnell auch die deut-
sche, die franzésische, die englische und spani-
sche erscheinen. Die Schwester des Vaters leitet
in Kaunas die russische Bibliothek, Tausende
Bacher gebdren ihm (8. 34): "Die rusischen
Klassiker Puschkin, Lermontow, Gogol, Turgen-
jew, Dostojewoski und Tolstoi, und auch die grofien
Schrifisteller des cvestlichen Europa, or allem
Shakespeare, den ich in Hamlet, Macheth snd
Konig Lear sehr bewunder: babe. Ist dies (nicht)
eine gute Vorbereitung auf Platon und Kant, wenn
man die Kernfrage der Philosophie als die nach
dem Sinn des Menschlichen... nach dem berihy-
ten ‘Sinn des Lebens'~ nach dem sich die Romanfi-
guren der russischen Schrfisteller wnunierbrochen
ragen -, versteht?” so er selbst 1982 im Interview
‘mit Philippe Nemo,
Es gibt eine besondere Nahe zu Dosto-
jewski, dessen Buch "Die Bridder Karamasow" et
seinen unendlich oft wiedetholten Leitsatz ent-
lehne: "Sob, wir sind alle schuldig, send ich
‘mebr als die anderen". Und in dessen Panhuma-
rnismus die russische Literaur seiner jiidischen
‘Tradition sehr nahe komme: "Wirklich Russe zx
sein heift einzig und allein Bruder aller Menschen
zx sein” (8.50).
Hier schon, ganz frah, beginnt jene Arbeit
an der Vermittlung gegensitzlicher Traditionen.
Und hier schon lernt man verstehen, welch ho-
hen Rang Bacher for ihn zeitlebens haben wer-
den: Sie sind sein Zugang zur alltiglichen und zur
groSen Welt. “Es gibt kein anderes Vaterland als
das Buch” (S. 49). Die Riickkehr zum Erforschen
der Bacher, ja DES BUCHES der Bibel, wird far
ihn die Antwort sein auf die drokende Ver-
weiflung angesichts des Holocaust (6. 147).
Eien bitteren Vorgeschmack _bringt
schon der Erste Weltkrieg mit sich. Die Familie
fllichter in die Ukraine. Kiew ist den Juden ver-
schlossen, Charkow erlaubt, Mit elf Jahren ber-
steigt Emmanuel den engen Numerus Clausus
fors Gymnasium, das die Zahl der Juden aufs
auerste begrenzt. Die Familie feiert wie tblich
mit grokem Pomp, wie wenn er ein Doktordi-
plom erhalten hatie (S. 36).STRASSBURG UND FREIBURG
DIE ENTDECKUNG DER PHANO-
MENOLOGISCHEN METHODE
Nach dem ersten Weltkrieg wird Litauen
cin eigener Staat. Die alte Sicht der Dinge in der
Familie Lévinas bleibt: “Was vor allem im Leben
zible, das sind die Seudien" (8, 36). Die gebildere
und ehrgeizige Mutter sorgt dafiir, dass er nach
dem Abitur an ciner erstklassigen Universitat
studiert, also auBerhalb Litauens. Kénigsberg,
Berlin, Leipzig verweigern ihm die Immatrikula-
sion. Die Wahl fille auf SeraGburg, schon Frank-
reich, aber doch Kaunas so nahe wie méglich.
“Er ist achtzehn Jabre alt. Ein junger Mann
‘von kleiner Gestalt mit einer schwarzen Haar-
pracht. Sein Eranzésisch ist armselig, seine Mittel
sind knapp. Er ise allein und kennt niemand” (S.
51).
Die Universitit soll nach der "Rickkehr”
des Elsa8 2u Frankreich nach dem Ersten Welt-
kerieg demonstrativ ausgebaut werden. Die be-
sten, fortschritelichsten Professoren Frankreichs
werden nach ScraBburg geschickt, Philosophen,
Germanisten, Historiker, Psychologen, Soziolo-
gen, aber sie bilden ein Ghetto und haben nur
eins im Sinn: 2urtick nach Paris, an die Sorbonne!
‘Von StraSburg an die Sorbonne, das wird auch
Lévinas' Weg sein! Aber far thn fuhre der Weg
uber Freiburg!
StraSburg ist gut far ein solides Grund-
studium. Aber der Kick kommt von woanders
her. Da gibt es an der Evangelisch-Theologischen
Fakultit einen Pfarrer, der vor 1914 Schiller von
Hiusserl war und der jiingst (1926) ein Buch
"Phinomenologie und Religionsphilosophie’ ver-
ffendlcht hat. Er heift JEAN HERING, ist
Junggeselle, wohnt in einer Are Hotel
Rescaurant, ist weniger unzuginglich als die tb-
tigen Professoren, ladt seine Studenten zu sich
ein, wo ein Schild sie daran erinnerc, dass "Wasser
trinken verboten" ist. Dieser junge, begeisterte,
phantasievolle Mann wird far Lévinas zum
Schicksal. Er gewinnt ihn fur die Phinomenolo-
gie. Er halt ihm eines Tages auch Heideggers
"Sein send Zeit” unter die Nase (S. 708, S. 74).
“Ich hatte den Eindruck, nicht 24 einer nen-
en spekulativen Konsiruktion den Zugang gewon-
nen zu haben, sondem 21 newen Moglichkeiten 2
denken... Es ist diese neue Aujmerksambeit asf die
Gebeimnisse und die vom Bewusstsein vergessenen
Dinge, die den Sinn der Objektivitat oder des Seins
enthillt und die mir reich an Méglichkeiten er-
schien’, sagt Lévinas spater (1987, S. 71).
Er schreibt seine "thése", seine Doktorar-
beit uber die "Theorie der Intuition in der Pha-
rnomenologie von Hlusser", abersetzt die “Carte-
sianischen Meditationen" ins Franzésische und.
bekennt sich in ersten Zeitschriftenartikeln als
Husserliener (8.72)
Im Wintersemester 1928/29 kann er noch
Husserls letzte Vorlesungen héren. Er beschreibt
den Arbeitsenthusiamus der Husserlschiler mit
Anlethen aus dem deutschen Marchen: "Sie wol-
len den Traum ibres Meisters Husserl realisieren,
den Traum von einer wissenschafilichen Philoso-
hie, die das Werk von Generationen von Arbei~
tem ist, wo jeder wenigstens ein bisschen zum Ge-
aude der Philosophie beitrdg.. Und sie weiceifern
dabei mit den Gromen der Marchen, die den Ehy-
_geiz atten, es in einer Nacke zx errichten" (8. 73).
So spottisch das klingt - als Levinas 1930
von Freiburg nach StraBburg 2uriickkehr, ist er
im Besitz einer Methode (S. 85), die sein philo-
sophisches Fragen und Forschen leitet und es
ihm erlaubt, seine personlichen Gedanken auf
cine wissenschaftliche Art und Weise zu formu-
lieren, mit dem guten Gefuhl, auf der Hohe der
Zeit zu sein (S. 74). Dazu tragt auch die Begeg-
nung mit Heidegger bei.
September 1928 tbemimmt Heidegger
den Freiburger Lehrstuhl seines Lehrers Edmund
Hisserl. Lévinas belegt bei ihm zwei Seminare.
Vor allem aber wird er von StraBburg aus 7u
cinem Kongress im Kurhaus von Davos ge-
schickt, wo vom 17. Marz bis 6. April 1929 Hei-
degger im kontroversen Dialog mit Cassirer
seine neue Ausrichtung der Philosophie prokla-
miert: "Das einzige Bestreben aller meiner philoso-
phischen Forschungen geht dabin, den Horizont
freizulegen, innerhalb dessen die Frage nach dem
‘Sein, nach seiner Struktur und nach seiner Wabr-
seit, sich entfalten kann (S. 80).
Lévinas erzihle im Gesprich mit Philippe
Nemo davon auf seine Weise: "Mit Heidegger ist
die "Verbalivée des Wortes Sein wiedererwecke
‘worden, das, was in ibm Ereignis, was in ihm das"Geschelen' des Seins ist. So als warden die Dinge
nd alles, was tt, ‘eine Seinnveise fthren’, ‘einen
Beruf des Seins ausiiben'. An diese verbale Klang
fille hat Heidegger uns gewolmt. Diese Umerzie-
hung unseres Hrens, auch wenn sie beutzutage
banal erscbeint, ist sowergesslich" (Ethik und Un
endliches,S. 27) (S. 82).
KRIEG UND NACHKRIEGSZEIT
BEGRUNDUNG EINER EIGENEN
PHILOSOPHIE
1931 wird Lévinas die franzdsische Su
bargerschafe verliehen. War far ihn bisher "die
franzbsische Sprache der franzisische Boden’, gab
‘es fir den Mann der Grenzregionen und des
Exodus bisher nur cine Verwurzelung in der
Literatur, nicht in der Erde, also allenfalls so
etwas wie cinen "Chawvinismus des Buches’ (S.
98), so wird diese Verleihung der Burgerrechte
fur ihn zu einem “eierichen Akt, der durchdvinge
bis ins innere Leben" (S. 98),
Eine tiefe Dankbarkeit gegendber diesem
Scaat, in dem zum ersten Mal Juden Bargerrecht
hrawten, gehére von jetze an einfach zu thm, und
das wird sich auswirken bis in scine deutliche
Zuriickhalcung wahrend der Studentenunruhen
von 1968 hinein. Das Bargerzecht beschert ihm
schon ein Jahr spater den Militirdienst, der aber
auf merkwardige Weise zu seinem Sinn far Au-
toritat und Hierarchie passt. Er verliert seine
Kameraden von damals nie mehr aus den Augen.
1939 wird er mit 34 Jahren als Unteroffi-
zier und Dolmetscher eingezogen und mit der
10. Armee am 16. Juni 1940 in Rennes gefangen-
genommen. Vier Jahre ist er Kriegsgefangener in
Deutschland. Das Hauptlager ist Fallingboscel
zwischen Hannover und Bremen (S. 119). Er
wird als Holzarbeiter eingesetzt.
Sie sind wie Verdammte, infiziert mit
Keimen. Aber ein Kleiner Hund verabschiedet sie
jeden Morgen und begriiBt sie jeden Abend mit
einem freudigen Gebell. Fur ihn, schreibe
Lévinas, waren wir Menschen. So war er "der
letzve Kantianer von Nazi-Deutsehland” (S. 120).
Alls deutscher Kriegsgefangener entgeht er
dem Untergang und iberlebr wie Paul Riceur
und andere. Seine Frau Raissa und seine Tochter
Simone finden 1943 Zuflucht im Kloster, bei den
Schwestern des Saint-Vincent-de-Paul in der
Nahe von Orléans.
Erst bei seiner Riickkehr nach Paris und
zu seiner Familie sickert nach und nach die
schreckliche Wahrheit durch: Im April 1944 sind
seine Eltern und seine beiden Brider von deut-
schen und litauischen Nazis mit Zehntausenden
anderer aus Kaunas weggefuhrt und erschossen
worden. Lévinas setzt nie mehr einen Fu auf
deutschen Boden.
‘Levinas im Milcardicnst (ganz ree)Er sucht Worte fir die Schuld des Uberle-
benden. "Wenn man diesen Tumor ir der Erin-
nerung hat, konnen zwanzig Jahre nichts datan
erindem, selbst wenn der Tod bald das smge-
rechifertigte Privileg, sochs Millionen Tote aberlebt
zu haben, annullieren wird" (8. 127). “Schuldig,
‘wir sind alle schuldig, und ich mehr als die ande-
‘Aber im selben Text von 1966 gibt es auch
eine Wendung nach vorn, zum Handeln: "Wir
miissen dennoch, in der unvermetdlichen Reprise
der Zivilisation ... den neuen Generationen die
Kraft anerzichen, die nétig ist, um in der Isolation
stark 21 sein, und alles, znas ein zerbrechliches Ge-
wissen jetzt herausgefordert ist in sich 2x tragen.
Es ist notwendig, quer durch alle diese Erinnerssi-
gen hindurch einen neuen Zugang zu den jdischen
Texten zu erdffuen und das innere Leben mit ei-
nem nenen Privileg auszustatten: der Verpflich-
nung, die ganze Menschlichkeit des Menschen in
dieser Hite zu beberbergen, die allen Winden
offensteht: der Hite des Gewissens’ (Honneur
sans drapeau, Biografie S. 127).
Hier wird der Judaismus als Humanismus
definiert und damit das Zentrum benannt, von
dem aus sich seine Aktivititen in den nachsten
Jabrzehnten entfalten werden:
«als Direktor einer Schule,
«als Ausleger der Schriften,
«als Philosoph.
‘Lévinas ist durch die russische Literatur
rit der Frage nach dem Sinn des Lebens infiziert
worden. Er selbst hat da langst seinen eigenen
Akzent hinein geserzt und sie in die Frage nach
dem Sinn des Menschlichen umgeformt. Sie hat
sich ihm bei Heidegger transformiert in die Frage
nach dem Sinn von Sein, Jetzt kann er sagen: Der
Sinn des Seins ist ethischer Natur (S. 210).
In dieser Erkenntnis vollzicht sich in der
Auseinandersetzung mit dem Holocaust und
seiner Uberlebensschuld die Begrandung einer
«eigenen, neuen Philosophie.
Die Poesie der Welt ist untrennbar verbunden
mit der Nahe par excellence oder mit der Nahe
des Nachsten par excellence Diese Bezie~
hung der Nahe, dieser Kontakt... ist die ur
springliche Sprache, Sprache ohne Worte
und Satze, reine Kommunikation
Die Spur des Anderen, S. 280
AUF DEM PLATEAU
33 JAHRE DOPPELEXISTENZ ZWI-
SCHEN JUDISCHER HOCHSCHULE
UND PHILOSOPHIE
Mit seiner preisgekrénten Doktorarbeit
aber "Die Theorie der Intuition in der Phinome-
nologie von Husserl" hat Lévinas die Phinome-
nologie in Frankreich eingefuihrt. Seine Biografin
imme den Mund hier niche zufalig etwas voll.
Sie findet es unsinnig, dass Lévinas sich danach
nicht habilitiert hat, um mit Volldampf auf eine
Universivatslaufbahn 2uzusteuern. Startdessen
‘bernimmt er 1930 eine sehr anspruchslose Stelle
an der Ecole Normale Israelite Oreintale, der
Orientalisch-jadischen Hochschule (ENTO) in
Paris.
Dreiunddrei8ig Jahre wird er das Leben
dieser Hochschule begleiten, nach dem Krieg als
ihr Direktor (S. 89, S. 133). Gleichzeitig beginne
ex, in angeschenen philosophischen Fachzeit-
schriften 2u publizieren. Eine Are Doppelleben
beginnt.
Diese Hochschule bietet ihm viele Vor-
teile, Sie sichert seine Existenz und stellt thm
spiter eine grofzgige Wohnung zur Verfagung
in einem bevorzugten Arrondissement von Paris.
1952 heiratet er in Kaunas dic Tochter ihrer
Nachbarn, Raissa Lévi. Wie Lévinas’ Mutter ist
sie gebildet, hat in Wien Musik studiere, trite in
Paris sofort in die Meisterklasse des Conservatoi-
re national supérieur du musique ein und weicht
all die Jahre niche von der Seite ihres Mannes.
‘Wie Lévinas' Eltern einst mit ihm, so sprechen sie
miteinander russisch. 1935 wird als erstes Kind
Simone geboren, nach dem Krieg 1949 der Sohn
Michael.
Die Hochschule gehért einem jidischen
Verein, der 1860 gegrinder worden ist, um jidi-
sche Schulen in Landern zu schaffen, in denen
ische Kinder in der Bildung benachteiligt sind,
Die erste Schule wird 1861 in Tetouan in Marok-
ko gegrandet. 1931, als Lévinas seine Arbeit
begiant, gibt es 115 Schulen mit 41.300 Schalern.
Die Hochschule in Paris hat die Aufgabe, Lehrer
fur diese Schulen des Vereins auszubilden.
Die Lehrer-Schiler verbringen dort vier
Jahre. Sie lernen navirlich Hebraisch, lernen dieBibel zu ubersetzen und zu kommentieren, vor
allem aber lemen sie Franzésisch, Mathematik,
Physik, Naturwissenschaften, Geschichte, Geo-
grafie, Pidagogik, Buchfthrung, Zeichnen, Mu-
sik. Ziel ist, Pioniere des aufgeklirten Judaismus
auszubilden. Die “Pioniere” wohnen’ am Ort
Emmanuel Lévinas ist fur den Studienbetrieb
verantwortlich, seine Frau fOr die Hauswirtschaft
und eine familidre Atmosphire (S. 95).
‘Tagen Tak, Empnaml Tenis und Dadnig Belson im Davos
Wie Martin Luther King hat auch Lévinas
einen Traum: Er méchte diese Schule ausweiten
zu einem Zentrum jiddischer Studien, die auf die
breite Offentlichkeit der modernen Welt zieler.
Ingenieure, Psychoanalytiker, _Schrftstellern
sollen 2usammenwirken, um den kiinftigen Leh-
rer weite Perspektiven mitzugeben. Dieser
‘Traum geht nicht in Erféllung.
Im Gegenteil, die jiidische Hochschule
verliert nach und nach ihre urspriingliche Funk-
tion der Lehrerausbildung. Viele Lander werden
nach dem Krieg selbstindig und abernehmen die
Schulen der Allianz, Juden bekommen Zugang
zu den staatlichen Schulen. Andere wandern nach
Israel aus. Aus der Hochschule wird eine ganz
normale jidische Privatschule,
‘Aber neben der Tagesarbeit gibr es noch
die Nachtarbeit, wo der Philosoph sich ans Werk
macht: 1932 erscheint ein Artikel aber "Marcin
Heidegger und die Ontologie” (S. 181), 1949 ein
erster Sammelband mit dem Titel "Die Existenz
entdecken mit Husserl und Heidegger’, und 1961
sein Hauptwerk "Totalitit und Unendlichkeit’
Friichte dieser Nachtarbeit aber sind auch die
“Talmudischen Lektionen’, deren erste er beim
dritten "Colloquium der franzbsisch sprechenden
jdischen Incellektuellen" vortragr (S. 168). Diese
“konfessionellen” Texte werden 1968-88 in vier
Sammelbinden veroffentlicht. Alle vierzehn Tage
am Samstag halt er dariber hinaus eine offentli-
che Vorlesung, in der er den Talmud auslegt (.
174)
So sehr die Biografin auch die Nase
rampft: Lévinas har in dieser kleinen privaten
jdischen Hochschule nicht nur eine Nische zum
Uberleben fiir sich und seine Familie gefunden,
sondern auch eine Nische, wo er sein aufgeklir~
tes Judentum auf der Linie des Gaon von Wilna
wweitgehend ungestért leben und lelrend entwik-
keln kann. Er hat in diesem merkwirdigen Prie-
sterseminar fr jdische Lehrer neben all der
Verwaleungsarbeit, far die er niche geschaffen
war, doch Zeit genug gefunden, um ein groes
philosophisches Oeuvre auszuarbeiten. Diesen
Rahmen konnte er ausfillen, wahrend es ihm
nicht gegeben war, ein groes Auditorium zu
fesseln oder gar mitzureifen. Er war ein Meister
mit geringer Ausstrahlung. So war diese dreiund-
dreiig Jahre wihrende Doppelexistenz vielleicht
doch nicht nur eine Notlésung aus Schiichtern-
heit, sondern ein geeigneter Raum far sein Den-
ken in awei benachbarten und doch unterschie~
denen Riumen, far die zwei Namen stehen:
Athen und Jerusalem.
DREIFACHES FINALE
SORBONNE - ROM - ISRAEL
SORBONNE
Flnfzehn Jahre hat Lévinas gebraucht, um
nach dem Ende des Keieges eine Antwort auf
sein Fragen nach dem Sinn von Sein zu finden.
1961 erscheine sein Haupewerk "Totalitét und
Unendlichkeit". Es wendet sich gegen die machti-
ze philosophische Tradition, die das Ganze, die
‘Totalitat zu denken versucht, eindrucksvoll ver-
wweten durch Hegel. Nach den Erfahrungen mic
dem Dritren Reich und dem Sowjerstaat erkennt
ex schon in diesem Denken totalitire Zage, den
Willen zu einer totalen Bemachtigung.Diese erstrebte Totalitit aber wird aufge~
brochen durch den Andeven, der unzuginglich
ist, fremd, in dem sich eine Unendlichkeit aufeut
Nicht die ‘schlechte’ Unendlichkeit des Raumes
oder der Zeit, sondern eine qualitative Unend-
Fichkeit, ein Uberma8, ein Exzess von Sein. Die-
sem Anderen komme innerhalb unserer vom Be-
wussisein geordneren und beherrschten Welt
Exterioritat zu, es ist innerweltlich niche 21 ver-
rechnen, ist aber auch nicht in einer transzen-
denten Welt anzusiedeln. Der Untertitel zu
“Toralitit und Unendlichkeit" lautet deshalb:
"Versuch ber Exterioritat (S. 214).
Mit dem Manuskript habilitiert sich
Lévinas an der Sorbonne. Zur Jury gehort Paul
Ricoeur, von dem ein geflasterter Ausspruch
tberliefere ise: "ferzt wid man mit Lévinas rech-
nen méssen’ (S. 218). Damit stehen dem 56-
Jahrigen nun doch noch die ‘Turen zur Universi-
tit offen, Er bekommr einen Lehrstubl in POT-
TIERS, wo interessierte Kollegen auf ihn warten,
die zum Teil langst schon von ihm gelernt haben,
oder die in einem véllig anderen Stil Philosophie
betreiben, wie der Alt-Stalinist Garaudy, der mit
Kiinstlern und Staatsoberhiuptern_gleicherma-
Ren verkehrt. Dem Kontakt kommt zugute, dass
man sich am Wochenende im Zug nach Paris
wwiffe
1967 wird er von den befreundeten Kolle-
gen Mikel Dufrenne und Paul Ricoeur nach
Nanterre geholt, der Pariser Neugriindung, gera-
de im richtigen Augenblick, um dort den Aus
bruch der Srudentenunruhen zu erleben. Paul
Ricoeur mische sich ein, wird Doyen der Fakul-
tat, kana schlieSlich nicht umkin, doch noch die
Polizei zu rufen, die ricksichtslos zulangt. Ri-
coeur tritt 2urtick, verlaBt die franzOsische Uni-
versitat und Frankreich und lehre far viele Jahre
in Chicago.
Lévinas bewelige sich nicht an den Ereig-
nissen. Ist die Universitat geoffnet, versiehe er
sorgfaltig seine Vorlesungen, ist sie geschlossen,
ist er dispensiert. Er vertrigt nicht das Du, die
Distanzlosigheit, den Konflikt. Er mi8billige die
Ideologie vom schnellen Genuss ($. 241). Er
verabscheut die Gewalt. Dennoch sieht er sich in
einem bestitigt: dass bei aller Verachtung der
Dargerlichen Werte eines nicht angerastet wor-
den ist: das Recht des Anderen, ein Anderer zu
sein(S. 242)
Diese stimulierende, phantastisch beset2-
te, inzwischen weltherahmr gewordene Univer
sitat verla®t Lévinas 1973, um drei Jahre vor
seiner Emeritierung an die heruntergewirtschaf-
tete, verstaubte, langweilige Sorbonne uberzu-
-wechseln, Ein Ritsel? Fur ihn offenbar ein wich-
tiger Schritt. Emmanuel Levinas, Jude aus Kau-
nas, wird Philosophieprofessor an der Sorbonne,
der Universitat mit dem berahmtesten Namen
seit der Zeit der Aufflarung, Erfellung der Wan-
sche seiner Mutter, die ihn erst aufs russische
Gymnasium, dann auf die franzdsische Univer-
sivat geschickt hat? (S. 250).
Umeerrichten - das ist fr ihn eine hohe
Berufung, die im Zentrum seines Denkens ver~
ankert ist. "Rabbi Meir sagte: Wer die Tora stw
diert, obme sie 2u unterrichten, der hat das Wort der
Tora verachtet" (S. 255). Das Unterrichten ist
notwendig, auch fur die Verfertigung des eigenen
Denkens beim Unterrichtenden. Wer sich mit
seinen noch so genialen Ideen einschlieBt, sich
isoliert, begeht die Sinde des Hochmuts! (8.
256).
Und doch ist Lévinas auf eine bescimmte
Grundhaltung festgelege, auf das Modell von
Meister und Schiller. Der Schiller soll Fragen
stellen, auch kihne Fragen (5. 256). Aber
Lévinas ist kein dialogischer Mensch. Er entwik-
elt seine Gedanken. Aber "er hat niemals eine
Maieutiee enzwickele, bat nie das Denken seiner
Schitter zur Welt gebvacht"(S. 259).
So waren seine Schiler nicht zahlreich,
Die blieben, bildeten bald einen festen Zirkel mit
ciner besonderen Leidenschaft fir die Phinome-
nologie (S. 2581.). 1976 wird Lévinas emeritiert,
1979 - mit 74 Jabren - ziehe er sich endgiiltig
zurtick, verliBr ein Jahr spater auch seinen Po-
sten als Direktor der Ecole Normale Israclite
Orientale und fare nur noch seine Samstagvor-
lesungen weiter, diese eine Stunde Auslegung des
Talmud (S. 267).
Es gibt offizielle Ehrungen: Ritter der Eh-
renlegion war er schon seit 1956. 1991 wird er
Offizier der Ehrenlegion. Er nimme sie mit Stolz
entgegen (S. 266f.). Aber der Versuch, ihn in die
Akademie zu wablen, geht unter im Gestrapp
von akademischen Intrigen (S. 323).Die Bindung zum Anderen bahnt sich nur als
Verantwortung an, wobei es im ubrigen einer-
lei ist, ob diese akzeptiert oder abgelehnt wird,
‘0b man sie zu Ubernehmen weil oder auch
nicht, ob man fur den Anderen etwas Konkre-
tes tun kann oder auch nicht. Zu sagen: Hier
bin ich. Etwas zu tun fir einen Anderen. Zu
geben. Menschlicher Geist zu sein, das ist es.
Die Inkarnation der menschlichen Subjektivitat
garantiert deren Geistigkeit (ich sehe nicht, |
was die Engel sich geben oder wie sie sich |
gegenseitig helfen konnten). Dia-Konie vor
jedem Dia-Log: Ich analysiere die zwischen-
menschliche Beziehung so, als ware in der
Nahe zum Anderen - jenseits des Bildes, das
ich mir vom anderen Menschen mache - sein
Antitz, der Ausdruck des Anderen (und in
| diesem Sinn ist mehr oder weniger der ganze
| menschliche Kérper Antlitz), das, was mir be-
fiehit, ihm zu dienen. Ich verwende diese ex-
treme Formulierung. Das Antlitz ersucht mich
lund gebietet mir. Seine Bedeutung ist eine
signifxante Anordnung. Genauer gesagt,
wenn das Antltz mir gegendber eine Anord- |
‘nung bedeutet, so nicht in der Weise, wie ir- |
gendein Zeichen sein Bezeichnetes bezeich-
| net; diese Anordnung ist die eigentliche Be-
| deutung des Antitzes.
Ethik und Unendliches, S. 74
ROM
Parallel 2u dieser Universitatskarriere be-
kommt seine Geschichte mit den Christen
"Fahre': als Jude engagiert er sich im Jadisch-
Christlichen Dislog und serzt deutliche Zeichen
des Protests selbst im persénlichen Kontakt zu
Johannes Paul IZ; als Philosoph wird er zuneh~
‘mend von Theologen wahrgenommen und aner-
kkannt, wiederum bis hin zu Johannes Paul Il. 2u
dessen phinomenologischer Dissertation er eine
Rezension geschrieben hat
"Sich nach den Nazi-Massakern als Jude
wiederzufinden bedeutete, aufi nee Position zu
bezichen gegeniiber dem Christentum”, schreibt et
1963 (S. 268).
Eine doppelte Erfahrung geht mitten
durch ihn hindurch: wihrend ein Teil seiner Fa-
milie im katholischen Litauen umgebracht wur-
de, versteckten katholische Christen seine
Tochter und seine Frau im Kloster und retceten
ihnen das Leben (S. 268)
Von 1965 ab gehort er zum Vorstand der
Amisie Judeo-Chretienne de France (S. 280). Er
10
fahrt in die Provinz, um Konferenzen far lokale
Gruppen zu unterstiitzen. Von 1969-86 nimmt er
fast jahrlich am Colloquium Castelli teil, einer
funftagigen Begegnung grofer Geister, zu der
Enrico Castelli als Mazen in die Villa Mirafiori in
Rom einlidt.
Endlich ist er zweimal, 1983 und 1985,
Gast in Castel Gandolfo bei dreitagigen Gespri-
chen, zu denen Johannes Paul Il. Philosophen
und Gelehrte einlidt, Gadamer, Carl Friedrich
von Weizsicker, Leszek Kolakowski, Paul Rix
coeur. Einmal sitzt der Papst beim Essen 2wi-
schen ihm und Ricoeur, wei die Biografin zu
berichten,
Er ist kein einfacher Dialogpartner. Ein-
mal kann er Juden und Christen in der gro8ten
Nahe zueinander ansiedeln: "Gleiche Emotion
angesichts der Dinge, gleiches Schicksal von
Fremdheit in der Welt, das ist eine Siht, die selbse
das Problem der Beziebungen zwischen Juden smd
Christen ins Herz trie und die seine Lisung be-
stimamen muss” (S. 268).
Andererseits sind da die Erfahrungen der
Geschichte, der jtingsten zumal. Im Gesprich
mit Bischof Hemmerle von Aachen erzahlt er:
“In meiner Kindbeit sprach das Christentsan 2%
mir wie eine ganz verschlossene Welt, von der man
als Jude nichts Gutes zu erwarten hatte. Die ersten
Seiten der Geschichte des Christentimms, die ich
lesen konnte, erziblten von der Inquisition. Schon
mit acht oder neun Jahren lernte ich das Leiden der
Marranes in Spanien. Ein wenig spater war es die
ensscheidende Lekeitre der Geschichte der Krenzzii-
ge. Ich habe meine Kindbeit in einem Land ver-
brache, wo es keinen sozialen Kontakt zwischen
Juden und Christen gab. Ich bin in Litanen gebo~
ren, einem schinen Land mit schinen Walder
und. braven, sebr katholischen Menschen, wo man
sich aber zwischen Juden snd Christen nicht be~
suchte, es sei denn unter irgendwelchen rein dko-
nomischen Vorwiinden" (S. 1756)
Er benennt das Unangenchme eines Dia-
logs, wo die einen immer die Opfer sind und sich
dann auch immer mehr in diese Rolle hineinar-
beiten miissen, wahrend die andern den Verdacht
haben, dass da auch ein Leidensgewinn im Spiel
ist, und fahrt fort: "Gewis, trot aller dieser Jabre
eines fortschreitenden Vergessens: niemand unter
uns kann die Wundmale von so vielen Verbren-
nungen heilen, noch verzziben, noch eine Absoluti~
‘on aussprechen an Stelle derer, die tot sind. Aberdie jitdisch-chrisiliche Freundschaft 2u prakticieren
bestebt weder darin, sich in der Rolle des Opfers 21
‘gefallen, noch sich vom Mitleid verfthren (séduire)
‘21 lassen” (1967, S. 282).
Lévinas besteht auf dem Unterscheiden-
den, dessen Kategorien er in "Totalizat und Un-
endlichkeit" entwickelt hat. Fir ihn ist det Weg
zum Frieden nicht die Vermittlung, die gutliche
Einigung, sondern, im Gegenteil, “es ist die Be-
krifeigung der absoluten Unterschiedenbeit, ent-
sprechend einer Redefinition des Dialogs, die den
Frieden gewibrleisiec’ (Biografin, S. 215). Die
Sprache schafft einen gemeinsamen Ort
So wichtig ihm die Wardigung durch Jo-
hannes Paul IT. gewesen sein muss, er sagt 1987
seine Teilnahme am Sommerseminar in Castel
Gandolfo ab, weil die polnischen Karmelicerin-
nen weiter darauf bestehen, im Gaslager von
‘Auschwitz ein Kloster zu ertichten. 1993 versi-
chert der Papst definitiv, dass der Konvent aus-
ieht. Lévinas hort nicht auf zu bedauern, dass
der reisende Papst Israel noch nicht besucht hat.
Vielleicht hat seine Stimme dabei mitgewirkt,
dass diese Reise jetzt, im Jahr 2000, Wirklichkeit
geworden ist
Far die Resonanz seines Denkens im
theologischen Raum sind die Verleihungen der
Ehrendoktorwurde quer durch die Konfessionen
cin Indiz: den Anfang machen die Jesuiten in
Chicago 1970; 1975 folgt die Evangelisch-
Theologische Fakuleix der Universitat Leyden,
ein Jahr spater die Katholische Fakultat von Lo-
ISRAEL
Sei 1952 hat Lévinas Israel immer wieder
besucht. Israel ist fir thn der Ort, "wo die Pro-
pheter gesprochen haber" (S. 330), Keinesfalls aber
das verheigene Land seines Messianismus (.
338). Er vollzieht nicht die Alyah, die Einbiirge-
rung im jungen Scat Israel. Fur die Juden im
Scaat Israel grenzt das an Schizophrenie, wenn
fin Jude dreimal am Tag ein Gebet spricht, das
die Riickkehr nach Jerusalem erfleht, und bei-
spielsweise in Frankreich bleibe.
Bei Lévinas sind die Grande daftr tef in
seinem Denken verankert: Die Diaspora ist fiir
thn das Ubungsfeld fiir die Alterivit, die Diffe-
uw
renz, das Jude-Sein. Far ihn, der sein Denken im
Gegenzug zur Totalitit entwickelt hat, kann ¢s
den Zirkel der Identitat nicht geben, wo ich am
Ende wieder bei mir selbst ankomme. "Dem My-
thos des Odysseus, der nach Ithaka zurickkebri,
miichten wir die Geschichte von Abraham entge-
gensetzen, der sein Vaterland fir immer verlast fir
cin noch unbekanntes Land und es seinem Diener
sogar untersagt, seinen Sohn an diesen Ausgangsort
uriickzubringen’, schreibt Lévinas in "La trace de
Yautre" (8.329).
In Israel dominiers das angelsachsische
Denken. Die Linguistik ist modern. Als Schiler
von deutschen Gelehrven wie Husserl und Hei-
degger wirkt er ein bisschen verstaubt. Oder
nicht ganz koscher. Sein Hebraisch klingt alter-
umlich,
Unter diesen Umstanden ist es erstaun-
lich, dass er von der Abteilung Philosophie der
Universitat von Jerusalem mehrfach zu Kongres-
sen eingeladen wird, Aber seinen Ehrendokt
bekommt er nicht hier, sondern von der Religié-
sen Universivit von Bar-Ilan. Sie witrdige thn als
Pionier, der das Judentum durch seine neue
Sicheweise auch fur Intellekwuelle wieder zuging-
lich gemacht hat und stellt ihn als einen der we~
nigen bedeutenden jiidischen Philosophen unse~
res Jahrhunderts neben Hermann Cohen und
Franz Rosenzweig (5. 351).
‘Trotadem kann er in Israel nicht heimisch
werden, "Er ist Jude, er ist Litauer, und dann ist
er auch noch Philosoph!” Aber auch die Fach-
kollegen nehmen von ihm keine Notiz. Er wird
eingeladen, in Jerusalem Vorlesungen zu halcen.
Es kommen fii oder sechs Studenten, die gro8e
Schwierigkeiten haben, cin so ausgearbeitetes
Denken zu verstehen (S, 332). Dazu spricht er
Franzésisch. Es ist fast unmbglich, seine Texte in
ein modernes Hebraisch oder Englisch zu uber-
setzen. Wie iblich ister himter dem Pult kaum zu
sehen. Mic Vergniigen entdeckt man einen rick
sichtslosen Zug in seiner Ungeschicklichkeit und
Bescheidenhtit.
Aber auch da, wo er um Kollegen wirbs,
die in der deutschen Kulur verwurzelt sind,
wichst keine herzliche Kollegialicit oder Freund-
schait. Er hat Gershom Scholem fast alle seine
‘Werke mit Widmang zugeschickt. Aber der cine
kommt aus dem groSbirgerlichen Berlin, der
andere aus dem armseligen Kaunas, der eine ver-
tieft sich in die juische Mystik, den Chassidis-mus und die Kabbala, und der andere ist verwur-
zelt in der antimystischen Aufklirung des Gaon
von Wilna, der eine gibr Empfinge, der andere
kann sich auf dem grofien Parkett nicht bewegen,
‘Mit Mastin Buber kollidiert er im Ver-
stindnis der Ieh-Du-Bevichung, die far ihn eine
elementar ethische Beziehung ist, asymmetrisch,
nicht partnerschaftlich. So bleibt es bei einer
diffizilen Beziehung, auch wenn seine Werke
inzwischen auf dem Umweg tiber New York ins
Hebriische Gbersetzt werden. "In Israel impor-
tiert man keine Prophecen’. "Nur der falsche Pro-
phet hat eine offzielle Funktion" (S. 337). Bissige
Bemerkungen, die vielleicht etwas von einer un=
¢gliicklichen Liebe verraten,
TOD UND ABSCHIED
In seinen bitteren Anspielungen auf den
Propheten, der im eigenen Vaterland nichts gilt,
rjmmt Lévinas die biblische Figur des Propheten
far seine Selbstdeutung in Anspruch. Dieses
Wort kehrt wieder in der Ansprache, die sein
Kollege und Freund Jacques Derrida am Grabe
von Lévinas hilt. Lévinas hat keine Synthese
zwischen Phinomenologie und rabbinischer
Weisheit geschaffen, wohl aber hat er beide Sei-
ten auf eine radikale und subversive Art kon-
fromiert und verindert. Das ist das Prophetische
seines Denkens.
Emmanuel Lévinas stirbt am 25. Dezem-
ber 1995 nach langer Krankheit, wie es in der
Zeitung eit (Frankfurter Rundschau,
28.12.95), im Alter von 90 Jahren in cinem Pari-
ser Krankenhaus. Es ist der siebte und letzte Tag
des jidischen Hanouka-Festes, des Lichterfestes,
dessen Abschlu8 gerade in diesem Jabr mit dem
christichen Weihnachtsfest. 2usammenfallt. Es
ist, wie wenn mit diesem Datum aber seinem:
Leben ein Licht aufleuchtet, das er als Lohn, als
Kronung, als Motiv ethischen Handelns cin Le-
ben lang strikst ausgeschlossen hat.
Jacques Derrida nimmt in seinem Adieu
dieses Trostliche auf, wenn er ihm am Grabe
zuruft: "Das «-Dieu grifft den Anderen jenseits des
Seins in dem, was jenseits des Seins das Wort
Rubm bedeutee" (AZ 12.2.2000), namlich doxa,
Glanz, Herrlichkeit. So fromm kénnen in Frank-
reich Philosophen aus der ersten Reihe reden.
Emmanuel Lévnas unter Freunden
DER WEG ZUM ETHISCHEN ALS ER-
STER PHILOSOPHIE
Lévinas Denkweg wird gekennzeichner
durch drei gro8e Abgrenzungen, von denen zwei
sich auf seine bedeutendsten philosophischen
Lehrer, die dritte auf den michtigsten Strom
abendlandischen Philosophierens beziehen:
1, Husserl, der Begrinder der Phinome-
nologie, hat mit seiner Methode noch einmal ein
philosophisches Forschen begriindet, das sich als
‘Wissenschaft verstehen kann. Mit dem Begriff
Incentionalitat beschreibr er die Fahigkeit des
Bewusstseins, sich auf schlechterdings alle Ge-
sgenstinde zu bezichen, Far Lévinas ist das letzt-
lich ein toualitérer Anspruch, dem er mit dem
Begriff des Unendlichen und damit der Dimensi-
oon des Ethischen cine Grenze 2u setzen versucht.
2. Heidegger entwirit in "Sein snd Zeit*
cine phinomenologische Analyse des Menschen,
die er jedoch als Fundamentalontologie versteht,
als Beschreibung jenes Ortes, an dem die Seins-
frage gestellt wird - die sein eigentliches Anliegen
ist.‘Wahrend Heidegger nach der Kehre vor
Seienden zum Sein vorzudringen versucht, gegen
den Strom der Seinsvergessenheit in der abend-
lindischen Philosophie, sucht Lévinas dieses Sein
radikal 2u Uberschreiten und jenseits seiner cine
neue Dimension zu eréffnen, die des Echischen:
Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht
(1974/1998).
3. In_unserer mafgeblichen philosophi-
schen Tradition von Parmenides bis Spinoza und
Hegel wird der Einkeit ein absoluter Vorrang
cingerdume. "Aufgabe der Meiaphysik sei es, die
Trennung 21 iberwinden, die Einheit berzustellen"
(Totalitat und Unendlichkeit S. 145).
Demgegeniiber akzentuiere Lévinas die
‘Trennung:
"Die Trennung ist die eigentliche Konstitu-
tion des Denkens und der Innerlichkeit, dh. einer
Beziebung in der Unabbangigheit" (Totaliat und
Unendlichkeit S. 147).
Erst wenn die Trennung gedacht wird,
kann auch die Schopfung gedacht werden:
"Das Unendliche ereignet sich, indem es in
ciner Kontraktion auf die Ausbreitung 2 einer
Tovalivét verzichtet und damit dem getvennten
Seienden einen Platz lift. So zeichnen sich Bezie-
hungen ab, die einen Weg aus dem Sein hinaus
baknen.
Ein Unendliches, das sich nicht Rreisformig
mit sich zesammenschlieft, sondern sich aus dem
ontologisehen Raum zuriickzieht, um einem ge-
trennten Seienden einen Platz zu lassen, existiert
gitlich, Es stifet oberbalb der Totalitit eine Ge-
meinschaft. Die Beziehungen, die zwischen dem
-getrennten Seienden und dem Unendlichen entsie-
hen, machen wieder gut, was in der schipferischen
Kontraktion des Unendlichen an Minderung lag.
Der Mensch kauft die Schopfiog zurick" (Totalitat
und Unendlichkeit S. 148). "Das Wesentliche der
geschaffenen Existenz liegt in ihrer Trennung vom
Unendlichen" (Toualiti: und Unendlichkeit S.
149)
Der Seligkeit der Verschmelzung wird das
Abenteuer der Trennung und der Begegnung
gegeniibergestellt: "Das Abenteuer, das von der
Trennang eriffuet wird, ist absolut new im Ver-
hhilenis zur Seligheit des Einen und seiner famosen
Freibeit, die darin besteht, das Andere zx vernei-
nner oder z absorbieren, um nichts zu begegnen.”
(Totalitat und Unendlichkeit S. 423).
3
Dieses Werben fir eine neve Wardigung
der Trennung spiegele sich auch darin wider, dass
er gegeniber dem Bedirfnis, das die Trennung
aufheben méchte, weil es unter ihr leider, das
Begehren auszeichnet, das “einen Abstand zeigt,
dier kostharer ist als die Berihrung, einen Nicht-
Besitz, kosthaver als das Besitzen... (Totalitat und
Unendlichkeit S. 260)
Wenn wir versuchen, diese drei Abgren-
zungen noch einmal zusammenzufassen, dann
wird deutlich, dass es dreimal um das gleiche
Anliegen geht: dem Ethischen, der Beziehung,
dec Gemeinschaft Raum zu schaffen
= gegenitber der Totalirit des intentionalen
Bewusstseins (Husser!),
~ gegentaber der Totalitat des Seins (Hei-
degger)
= und gegentiber der Toualitic der Ver-
schmelzung und des Einen (Plotin}
Vor dem Hintergrund seiner Lebensge-
schichte konnen wir die Radikalitit dieser Ab-
grenzungen gut verstehen:
Er hat am eigenen Leibe erfabren, wie die
Grundlagen der Humanitit im toralitaren Staat
zerstort werden. Aus solch einer Krisenerfahrung,
wird cin personliches Vermichinis, das dazu
drangt, in einem radikal anders angelegten Den-
ken ausgefuhre und wirksam gemacht zu werden.
‘Trennungserfahrungen sind ihm in ihrer
Schmerzlichkeit, aber auch in ihrer erniichtern-
den Klarheit von Kindheit auf vertraut. Sie spie-
geln sich noch einmal im Glauben: Die Trennung
des auserwahlten Volkes von allen Vélkern ist
auch Zeichen fiir die Trennung zwischen Gott
und den Gottern, fiir die Distanz zwischen Gort
und seiner Schopfung. Gott ist nicht das ver-
traute Du - hier rackt er ab von Buber - sondern
das fremde ER. Par dieses ER, in das die Anrede
der Psalmen mitunter von einem Vers zum ande-
ren umschligt, pragt er sein merkwirdigstes
Kunscwort: Heit
"Dus bereitest vor mir einen Tisch im Ange-
sicht meiner Feinde...ER erquicket meine Seele. ER
fibret mich auf rechter Strafe um seines Namens
wwillen’ (Psalm 23).
Trotz dieser Abgrenzungen ist Lévinas
mic seinen Gesprichspartnern auf einem gemein-
samen Boden geblieben. Auch und gerade mit
Heidegger. Ist es nur der gemeinsame Boden der
Sprache? Oder auch der der gemeinsamen Schu-le, der gemeinsamen Methode, eben der gemein-
same Boden der Phinomenologie?
EMMANUEL LEVINAS ALS PHANO-
MENOLOGE
Es ist eine spannende Aufgabe herauszu-
finden, wie es Lévinas gelungen ist, in diesen
Abgrenzungen doch das phinomenologische
Erbe weiterzufuhren
Levinas hat die Phinomenologie in Frank-
reich eingefuhrt. Seine Biografin wird nicht mi-
de, diese Feststellung zu wiederholen. Er ist da~
mit einer der vielen bedewenden Philosophen,
die die Phanomenologie innerhalb weniger Jahre
zu einer michtigen philosophischen Bewegung
gemacht haben, die in Deutschland, Belgien, den
Niederlanden, in Frankreich, Julien und den
angelsichsischen Linder eigenstindige Schulen
mit je eigenen Themen und Stilen begrindet hat.
Genauso umfangreich ist die Liste der
‘Wissenschaften, die sich die phinomenologische
Methode zunutze gemacht haben: Psychologie,
Psychopathologie, Padagogik, Literatur- und
Kunsttheorie, Religionsphilosophie und Theolo-
gie.
Wybe Zijlstra bezieht sich bei der metho-
dischen Grundlegung seines Buches ier "Kli-
isch Pastorale Vorming" (1969) neben der Tie-
fenpsychologie vor allem auf die Phanomenolo-
gle. Hilarion Petzold zahlt Lévinas neben ande-
ren Phinomenologen zu den Referenzphiloso-
phen der Invegrativen Therapie und widmer ihm
zu seinem Tode einen umfangreichen Aufsatz.
Es ist also zu erwarten, dass wir als Seel-
sorger und Berater vor den Herausforderungen
erst einmal auf eine Fille von Gemeinsamkeiten
stoflen, wenn wir uns mit der Phanomenologie
und ihrer Weiterfohrung durch Lévinas befassen.
Wir beschrinken uns dabei auf einige pri-
gnante Impulse, die sich glicklicherweise schlag-
wortartig zusammenfassen lassen
Berihmat geworden ist die Parole: “Zurich
zu den Sachen selbst!" (Bernhard Waldenfels,
Einfahrung in die Phanomenologie, S.17). "Zu-
rrack zu den Sachen selbst’, das kann heifen:
1. Heraus aus der Konzemtration auf die
innerseelischen Prozesse!
"Die Idee der Intentionalitét erschien wie
eine Befreiung. Sie begreift den Ak des Meinens als
das Wesen des Seelischen..; fir sie spiel sich das
Sein des Bewusstseins auflerbalb seines .. Seins ime
engen Sinn des Wortes ab.... Insgesamt war der
Psychologismaus, gegen den sich diese neue Sebrweise
richtete, nur eine der wesentlichen Formen, den
Bewusstseinsakt mit dem Gegenstand, den er an-
zielt, die seelische Realitat mit dem, was sie meint,
1 verwechsein; Verwechsling, aufrund derer die
Seele sich in sich selbst verschloss, unabhiingig eon
den Gedanken, die sie bewegen mockien...
Die Intentionalitat brachte die neue Idee
eines Heraustretens aus dem Ich, Bei der ersten
Berithrung mit Husserl zable allein diese Offuung,
dieses Gegenswértigeein in der Welt, "in der Gasse
sind auf den Strafien', die Enthillung, von der man
bald eden sollte” (Die Spur des Anderen, S. 154).
Es ist deutlich, dass Husser! mit der Idee
der Intentionalitat die Subjekt-Objekt-Spaltung
vermeidet. Bewusstsein ist immer Bewusstsein
von etwas. Das Ich ist immer schon bei den Sa-
chen. Das Bewusstsein ist zur Welt hin offen
(Die Spur des Anderen, S. 160).2. "Zuriick 2u den Sachen. selbst!" - das
kann aber auch heigen: "Reduktion", Zurckfa
rung der Sachen zu ihrem Ursprung, zur Ge~
schichte ihres Sich-Zeigens, Einbezichung ihres
Horizontes, Einbezichung der unscheinbaren,
abgeblendeten Wahrnehmungen, Phinomenolo-
gie als “Schule des Sehens’. Denn die Sachen
selbst sind ja nicht jene simplen Gegenstinde, die
einfach vorliegen.
Dabei werden zwei Pole wichtig: die
Empfindung und die Idemtitat stiftende Abtivitat
des Bewusstseins:
Die Empfindung, “eir: betonter Augenblick,
Iebendig, absolut neu ~ die Urimpression” (Die
Spur des Anderen, S. 168). Im Vordringen zu
diesen Urimpressionen, zum Ursprung, steckt
Husserls Ehrgeiz und seine Hoffnung: "Der
Kampf gegen die Ensfremdung, in die uns ein Den
keen wirfe, das seine Urspringe verbingt, der
Durchbruch in das Gebeimnis der verborgenen
Sinnentstellungen, die Uberwindumg der snver-
meidlichen Selbstoergessenheit der Spontaneitat,
dies ist die eigentliche Absicht der Hlusserlschen
Phinomenologie... Riickgang 21m Phénomen,
dem, was einen Sinn erstrablen lift.” "Es gibt
einen Ursprang ~ ist seine erste Gewissheit" (Die
Spur des Anderen, S. 182f.).
Das Denken braucht einen Ursprung, ein
Apriori, einen Grund, ohne den es heimatlos
bleibt. "Der Grund ist Urimpression’. Diese
Urimpression ist "sospringliche Helle’, “durch
sich selbst sinnvoll’. "Sie ist evbellend, bevor sie
beweist” (Die Spur des Anderen, S. 183).
Man kann gut sehen, wie Lévinas in seiner
Darstellung von Husserl Sehrict fiir Schrite den
Boden bereiter, auf dem er dann das Antlitz als
die dieses Denken sprengende “Urimpression”
einfihren kann.
Das Antlicz des anderen Menschen ise fir
ihn der *urspriingliche Ore des Sinnvollen". Es
bietet sich der Wahmehmung dar, der Empfis
dung, dem Erleben, Aber es transzendiert dieses
Transzendieren auf die Gegenstinde hin noch
einmal, Es ist ein "Einbruch in die phinomenale
Ordnung des Erscheinens’ (Wenn Gott ins Den~
ken einbtichr, S, 250). Es ist aufgeladen durch die
Idee des Unendlichen, die Lévinas von Descartes
endlehnt hat.
Die Intentionalitit kommt hier an ihre
Grenze. Sie wird in ein Geschehen hineingeris-
sen, wo sie auf keinen Gegenstand mehr trfft,
‘wo ein Jenseits des Seins aufleuchtet: als Forde-
rung, ais das Ethische, das anders als Sein ge-
schieht. Das Antlitz als Urimpression offnet die
Dimension des Ethischen. Damit wird der An-
fang des Philosophierens neu markiert. Die Ethik
ist die erste Philosophie - nicht die Ontologie,
die Seinslebre.
PHILOSOPHISCHE ANALYSEN, DIE
DIE SEELSORGE BERUHREN
DER VORRANG DES ANDEREN
Allle entscheidenden Themen der Philoso-
phic von Lévinas sind zentriert in der phinome-
nologischen Beschreibung des _menschlichen
Antlitzes: Hier wird der unfassbare Uberschuss
des Unendlichen wahrnehmbar; hier begegnet
der Andere in seiner Fremdheit, seiner Nacke-
hacit, seiner Hoheit; hier erfabre ich das "Du sols.
niche téten"; hier werde ich zu meiner Verant-
wortung gerufen; hier werde ich 2ur Geisel und
gleichzeitig als unvertretbar ausgezeichnet.
Lévinas hat diese elementare Erfahrung
des Antlitzes immer wieder neu zur Sprache
gebrach.
"Die Idee des Unendlichen, das unendlich
Mebr, das im Weniger enthalten ist, ereignet sich
hkonkret in der Gestalt einer Beziehung mit dem
Anliz
Uberflisig, auf die Banalinat hinzwweisen,
dass sich beim Mord der Widerstand des Hinder-
nisses als gleichsem null erweist... Der Andere, der
‘mir souvent Nein sagen kann, setzt sich der Spitze
des Sebwertes oder der Revolverkugel aus... Im
Zusansmenang der Wel ster quasi nichts.
Der Widerstand, hart und uniberwindbar,
leuchtet im Anilte des Anderen, in der Blafee der
absoluten Offenbeit des Transzendenten, Hier liege
nicht eoie Beziebung mit einem sebr grofen Wie
derstand vor, sondern mit etwas absolut Anderem:
der Widerstand dessen, was heinen Widerstand
leistee- der echische Widerstand.
In dem ehischen Widerstand prisentier
sich das Unendliche als Antive; der ethische Wi-
derstand labme meine Vermigen snd evbebe sich im
seiner Nacktheit und seiner Not hart und absolutvom Grunde der webriosen Augen. Das Verstind-
nis fiir diese Not und diesen Hunger stifet die
tigentliche Nahe des Anderen. Dies indes ist die
Art und Weise, wie die Epiphanie des Unendlichen
‘Ausdruck und Rede is
Das Seiende, das sich ausdriickt, setzt sich
durch; aber es tut dies, indem es mich in seiner Not
und seiner Nacktheit ~ in seinem Hunger - wm
Hilfe angehs, obne dass ich fir seinen Araf taub
sein kénnte... Die Verantwortung kann nicht
abgewiesen werden. Das Anutite offnet die w-
spriingliche Rede, deren erstes Wort Verpflichtung
ist; kemerlei ‘Innerlichkeit’ geseatet, der Verpflich-
tung aus dem Weg zu gehen. Die Rede verpflichtet
zum eingchen auf die Rede..” (Toralitat und
Unendlichkeic S. 280-289)
Die Phinomenologie des Antlitzes ver-
dichtet sich in der Verantwortung fir den ande-
ren, in der ethischen Beziehung, Diese Beziehung.
ist eine radikal asymmetrische: der Andere be-
gegnet mir gerade als Bedurftiger in einer Ho-
heie, die mich zu seiner Geisel macht. Die Ver-
antwortung ist eine unendliche: "Die Unendlich-
keeit der Verantwortung bedentet nicht ibre akewelle
Unermesslicbkett, sondem ein Anwachsen der
Verancwortung in dem Mae, in dem sie iber-
nommen wird; die Pflichten erweitern sich in dem
Mafe, in dem sie erfille werden..Je gerechter ich
bin, um so schuldiger bin ich... (Coralitat und
Unendlichkeit S. 360)
Lévinas kann diesen Vorrang des Anderen
auch in der schlichten Geste wiederfinden, in der
ich 2um Anderen sage: Bitte nach Thnen! "Die
Gite bestebt darin, sich im Sein so 2u setzen, dass
der Andere mekr zihle als ich selbst"
Es gehtrt 2u den Gemeinplitzen der Seel-
sorgelehre, dass ich mich erst selbst licben muss,
bevor ich den anderen liebe. Kaum eine Entdek-
kung in der Schriftauslegung hat jemals so durch-
schlagend berzeugt, wie die entsprechende
Auslegung des Liebesgebotes. In der Praxis sieht
es allerdings so aus, dass viele mit dem Sich-
selbst-Lieben nicht recht zurande kommen, so
dass far den andern dann keine Zeit mehr bleibt.
Lévinas konfrontiert uns in seinem Den-
Ken mit einem Stick unserer eigenen Ausle-
gungstradition, das wir anscheinend aberwunden,
aber vielleicht doch nicht wirklich gewiirdige
haben,
16
Karl Barth beruft sich auf Luther und Cal-
vin, wenn er "die Vorstellung con einer nicht mcr
berechtigien, sondern gebotenen 'Selbstliebe™ zu
ruckweist: "Sich selbst liebend, liebt der Mensch
aberhanpt noch nicht oder nicht meb. Denn, sich
selbst liebend, ist der Mensch mit sich selbst al-
dein... Zur Liehe gehirt ein Gegeniiber’ (Kirchli-
che Dogmatik 11,2, S. 426f.). Jedenfalls sind
Selbsiliebe und die Liebe zum Anderen von
ganalich uncerschiedlicher Serulstur.
In dem “wie dich selbst” kann es nicht um
cinen Vorrang der Selbstliebe gehen; cher um
eine gnidige, humorvolle Wahrnehmung meiner
Rolle im Gegeniber zum Anderen, die jeden
‘Aufschub unnétig macht: "Wir werden ihn ja
doch mur lieben wie uns selbst, dub. als die sich
selbst Liebenden und Lieblosen.. Wir konnen und
sollen den Nachsten lieben als die, die wir sind,
und also ‘wie uns selbst" (Kischliche Dogmatik
I12S. 502). In dieser demitigen Begrenzung
wird der Vorrang des Anderen gerade bewahre.
Die erste Herausforderung ist also cine
theologische: noch einmal neu ber die Ausle-
‘gung des Liebesgebots nachzudenken,
Es gibr andere neutestamentliche Scellen,
die direkter als das Liebesgebot vom Vorrang des
“Anderen sprechen: "Einer komme dem andera mit
Ehrerbietwng zor", hei es im Romerbrief
(12,10). "Un Dems achte einer den anderen hoher
als sich selbst’, sagt der Philipperbrief (2,3). Wel-
che Herausforderungen ergeben sich von hier aus
fiir Seelsorge und Beratung?
- Fair mich ist die therapeutische
Grundhaliung von Carl Rogers noch einmal
neu zum Leuchten gekommen, dieser Vor-
rang der Aufmerksamkeit fir den Anderen,
der mehr ist als cine klientenzentrierte Me-
thode, sondern agape, Wertschatzung des
Anderen.
- Hilarion Perzold sieht seine the-
rapeutischen Kolleginnen und Kollegen und
sich selbst zu ciner Gewissenserforschung
herausgefordert, wiewcit in der therapeuti-
schen Situation wirklich die Wiirde des an
Ger gewahre wird, wieweit nicht durch ob-
jektivierende Methoden, oder etwa das
Schweigen des Therapeuten, Ubergriffe pro-
sgrammiert sind,= _ Im Wahrnehmen des Antlitzes
steckt fiir ihn aber auch eine Einladung, den
Kontakt aber Blicke ganz wichtig zu neh-
men: im Umgang mit Babies, aber auch mit
schwwersteraumatisierten Menschen, oder in
der Seerbebegleitung (H. Petzold: Der ‘An-
dere'~ der Fremde und das Selbst)
Lévinas hat den Vorrang des Anderen oft
so drastisch heraus gearbeizet, dass er formlich
dazu cinladt, ihn zu veralbern. Seine Biografin
amisiere sich bei dem Gedanken, dass mit dem
"Bite nach Ihnen!" schlieflich keiner durch die
‘Tar komme. Lévinas weist immer wieder darauf
hin, dass dieser Vorrang des Anderen sozusagen
die "Urimpression’ ist, dass sich schon mit dem
Dazukommen eines Dricten das neue Problem
der Gerechtigkeit stellt, dass es Sicuationen gibt,
swo ich in der Tat flr mich selbst zu sorgen habe
(Jenseits des Seins, S. 285). Aber er insistiert
darauf, dass auch im Staat und in groffen Institu-
tionen bei allen Regelungen etwas durchschim-
mern muss von dieser urspriinglichen Wardigung
des Antlitzes, diesem Vorrang des Anderen.
DER VORRANG DER
UNTERWEISUNG
Der Vorrang des Anderen erfuhre in der
Unterweisung noch einmal eine besondere Zu-
spitzung: der Andere begegnet mir als der MET-
STER. "Die ‘Koramunikation' der Ideen, die Ge-
_genseitigheit des Dialogs, verbergen bereits das tefe
Wesen der Sprache. Dieses Wesen berubt auf der
Unumbehrbarkeit der Beziehung zwischen mir und
dem Anderen, auf der Herrschaft des Meisters, die
mit seiner Stellung als der Stellung eines Anderen
und Auferen zusammenfalle’ (Toralitat und Un-
endlichkeit S. 144).
Worin diese Unumbehrbarkeit der Bezie-
hung begrindet ist, wird deutlich an der Unter-
weisung: "Die Unterweisung abermittelt nicht nur
einen abstrakien send allgemeinen Inhalt, der mir
und dem Anderen schon gemeinsam ist. Sie ier-
immt nicht nur eine, am Ganzen gemessen, subsi-
dire Funktion, namlich die Entbindung des Gei-
stes, der seine Frucht schon in sich trage. Evst das
Wort stifie die Gemeinsehafe kraft der Gabe, in
dem es das Phinomen als das Gegebene prisentiert;
und es gibt, ndem es thematisier.
Die Anfmerksambett ist auf etwas azfmerk-
sam, weil sie auf jemanden aufmerksars ist, Fir die
‘Aufmerksamkeit, die die eigeniliche Spannueng des
17
Ich ist, st die Exterioritat ihres Ausgangspunkes
wesentlich. Die Schule, obne die kein Denken
smoglich is, ist die Bedingung fur die Wissenschaft
Die Enffalung des Denkens kann mur 24
weit geschehen; sie besckranke sich nicht daraz,
das zu finden, was man bereits besaf. Aber das
Exste, worin uns das Unterweisende unterweist, ist
seine Gegenwart selbst als die eines Unterweisen-
den" (Totalitat und Unendlichkeit S. 139-142)
Diese Beschreibung der Unterweisung
grenzt sich ab gegen das Sokratische, die Maieu-
tik. Sie ist "eine Rede, in der der Meister dem
Schiler beibringen kann, «was der Schitler noch
nicht weift" (Toralitat und Unendlichkeit S. 262).
Aber sie beschreibr auch eine Gemeinschaft, in
der gelernt wird, weil "der Meister" *von auSen"
ecwas “gibt’: Phanomene prisentiert, themati-
siert. Die Welt geht fir mich gleichsam durch die
Hinde des Anderen.
Dabei ist die Rolle des Andern gerade
nicht so beschrieben, wie in der Maieutik: dass er
nur Geburtshelfer wire auf meinem Weg der
Selbstentdeckung und Selbstexploration (50 bei
Rogers),
War uns im vorigen Rapicel der Andere in
der Nackiheit und Bedirftigkeit des Anclitzes
begegnet, als unendliche Fordcrung, so kommt
mit dem Stichwort “Unterweisung" eine ganz
andere Seite zum Vorschein: der Andere als Mei-
ster, als Gastgeber, der in der Unterweisung den
ganzen Reichtum der Welt vor uns auszubreiten
vermag.
Mazin
Hesdegger
1929Der Meister belehrt nicht, er macht auf
exwas aufmerksam, er prisenciers, er thematisiert
Er bindelt die Aufmerksamkeit, die ihm entge-
gengebracht wird, und lenkt sie auf die Phino-
Selbstverstindlich gewordene Arbeits-
schcite in der Supervision kommen in den Blick.
und werden hervorgehoben: Wir prasentieren ein
Gesprichsprotokoll. Wir thematisieren Gefuihle,
Empfindungen, suchen vielleicht nach den
‘Urrimpressionen hinter landlaufigen Auferungen,
Wir merken, wie dabei Gemeinschaft entscebr.
‘Wundern uns dber die Kraft der Worte, Phino-
mene zu erschlieBen. Fublen uns wie Gastgeber
‘oder Gaste, haufig reich beschenkt.
Aber auch das "Verbalisieren” im seelsor~
gerlichen Gesprich bekommt noch einmal cine
neue Beleuchcung. Es dient der Selbstexplorati-
on, der Bewusstwerdung, habe ich in Holland
gelernt, Mit Lévinas konnen wir sehen, wie im
‘Verbalisieren wirklich die Welt des ander durch
meine Hande geht, wie dadurch etwas Neues ins
komme, das vorher nicht da war. Noch
‘einmal: "Die Entfaltung des Denkens kann nur 2
weit gescheben; sie beschrinke sich nicht darasf,
das zx finden, was man bereits besaf (Toralitat
und Unendlichkeit $. 141)
Der Meister prisentiert sich aber auch
selbst als das Gegeniiber, in dem die "eigentliche
Epiphanie des Antlitzes..sich ereigner’. Unter-
‘weisung ist 2uerst und zuletzt ethische Unter-
-weisung. Erziehung zielt nicht auf Auronomie,
sondern auf Offenheit fir das Antlitz, und damic
auf Dienst, auf Veranewortung, auf Ubernahme
des Geisel-Seins. Unterweisung lat sich niche
zum Heranmasten von Egoisten und Narzissten
mibrauchen.
Im Vorrang der Unterweisung hére ich
die Herausforderung an Seelsorger und Berater,
dic Rolle des Gastgebers zu ubemehmen, dem
anderen grozigig zu begegnen, sich an die phi-
nomenologische Arbeit zu machen und dabei
dem Reichrum und der gemeinschaftsstiftenden
Kraft der Sprache zu vertrauen.
"Daum gleicht jeder Schrifigelebrae, der ein
Jinger des Himmelreichs geworden ist, einem
Hausvater, der aus seinem Schatz. Newes nd Altes
ervorbol” (Mc13,52)
18
Die Rollenverteilung zwischen Meister
und Schiler ist Gbrigens nicht starr: "Rabbi
Chama sagte, Rabbi Chanina habe gesagt: Eisen
scharft Eisen, das besagt dir: Wie beim Eisen
eines das andere schirfe, so schirfen auch zwei
Gelehrte einander.... Viel habe ich von meinen
Lehrer geleznt, von meinen Kollegen mebr als
von meinen Lehrern, und von meinen Schilern
mehr als von ihnen allen” (Talmud, S. 267f.).
DER VORRANG DES TODES DES
ANDEREN
‘Was zuerst ins Auge springt, ist eine Reihe
von Aussagen ber den Tod, die einen existen-
sialistischen Geschmack haben. Da wird hervor-
gchoben, dass mein Tod sich “niche auf dem Wege
der Analogie vom Tod der Anderen ableita”. Wir
horen im Hintergrund Heideggers Rede von der
Je-Meinigkeit des Todes. "Mein Tod ist gegeben in
‘der Furcht, die ich um mein Sein haben kann”
(Totaitét und Unendlichkeit $. 341). In dieser
Furcht meldet sich ein instinkrives Wissen um
den Tod, das der Erfahrung vom Tod des Ande-
ren vorausgeht, das sozusagen urspriinglicher ist.
‘An Camus erinnern Aussagen, die das Absurde,
Gewalesame des Todes hervorheben: "Tm Tod bin
ich der absoluten Gewalt ansgesetzt, dem Mord in
der Nacht" (Toralitat und Unendlichkeit S. 341),
Dann aber gib: es eine Wende, einen Bruch mit
diesem traditionell _gewordenen Denken des
Todes, zumindest aber einen 2weicen, neuen
Einsatz: "Der Tod ist Tod von jemandem, und das
Geweien-Sein von jemandem wird nicht vom
Sterbenden, sondern vom Uberlebenden getragen"
(Gow, der Tod und die Zeit, zit. in: Michael
Mayer, Der Tod des Anderen ist der erste Tod,
FR vom 1.3.1997).
Damit taucht nun auch im Nachdenken
liber den Tod das uns schon vertraute Motiv der
Uberlebensschuld auf. Dass es ein Leben nach
dem Tode gibt, ein Uberleben nach dem Tod des
Anderen ~ damit benennt Lévinas ein Problem,
das so in der abendlindischen Philosophie kaum
je Beachtung fand. Wahrend bisher der Vorrang
des je eigenen Todes vor dem des Anderen wie
selbstverstindlich vorausgesetat_ wurde, steht
sun nicht linger mehr ‘mein’ Tod, sondern der
Tod und das Sterben des Anderen im Mitcel-
punkt. Und wie der Vorrang des Anderen die
Ethik als Erste Philosophie begrindet, so kann esjetzx heiflen: "Der Tod des Andeven ise der Erste
Tod’.
Durch diesen radikalen Perspektivwechsel
wird das Bild des Todes nicht freundlicher. "Der
Tod, s0 wie er sich im Tod des Anderen ankiindigt
sand betrofjen macht und Scbrecken erregt wd
‘Angst einflii, ist eine Vernichtung, die ihren Place
niche m2 der Logik des Seins und des Nichts finders
eine Vernichtung, die einen Skandal darstell..”
(Gort, der Tod und die Zeit).
Nicht das Bild des Todes macht also das
Wesentliche dieses Perspektivenwechsels aus.
Das liege vielmehr in meinem Betroffensein vor
Andlitz des Anderen in seinem Sterben. Schon
von jeher war das Antlitz des Anderen durch
seine Sterblichkeit gezeichner. "Als ob der Tod,
den der Andere 2war noch nicht kent, der ibn
aber in der Nacksheit seines Antliczes bereits be-
iff, mich anblickwe und anginge, noch bevor ich
sells mit ibm konfrontiert werd.”
Der Tod verscharft dieses "von jeher"
noch einmal: “Der Tod des anderen Menschen
stellt mich vor Gericht und in Frage, als ob ich
diesen Tod des Andeven zx verantworten bitte und
ich den Anderen in seiner todlichen Einsamkeit
riche allein lassen difie".
Fur Lévinas hat diese Verantwortung for
den Tod des Anderen eine solche elementare
Bedeutung, dass "der Sinn des Todes eben von
daber verstanden werden muss" (Wenn Gott ins
Denken einflle, $. 252). Bs ist ein sehr konkre-
ter, mitmenschlicher Sinn: er verbieter mir, den
Anderen an seine Einsamkeit preiszugeben.
Was wi Perspektivwechsel_genannt ha-
ben, schlieBe fir Lévinas auch cine Transformati-
con der Furcht ein: "Der Wille ist unter dem Urteil
Gottes, wenn seine Furcht vor dem Tode sich wm-
kebre in die Furckt, einen Mord zu begeben" (Lo-
talitit und Unendlichkeit S. 359).
Dieser Perspektivwechsel fordert mich als
Seelsorger gleich mehrfach heraus. Ich habe ge-
lem: Wenn Kranke im Gesprich mit mir vom
Sterben anderer reden, dann liegt der Verdacht
rahe, dass sie damit vor dem Ernst des eigenen
Sterbenmissens ausweichen, also flichten, ver~
deingen. Es kénnte aber sein, dass wir mit dieser
tiefenpsychologischen Deutungstradition im
19
Hintergrund das ganz urspriingliche Mitbetrof-
fensein vom Tod des anderen tberh6ren.
Wir haben gelernc, starke Schuldgefthle
im Umkreis des S:erbens von nahen Menschen
therapeutisch zu bearbeiten, dh. wirkliche
Schuldanteile cinzugrenzen und jeden Exzess
dabei als vorubergehende Phase in einem Trauer-
proze8 zu deuten. Wenn wir der Sicht von
Lévinas folgen, gibt es dazu eine Alternative: in
diesen Schuldgefahlen das Aufleuchten ciner
tiefen Erkenntnis zu sehen, in der ihn das Antlitz
des Anderen erreicht hat und er seines Geisel-
Scins, seiner Verantwortung inne geworden ist,
dic sich nicht auflésen lisse, die vielmehr gerade
unsere Humanisér ausmacht. Gibt es das: ein
‘Nicht-Loslassen des anderen Menschen in sei-
nem Tod, das doch etwas anderes ist als eine
abnorme Trauerreaktion? Als eine FinbuSe an
cigenen Lebensméglichkeiten?
Endlich verstirken die Worte von Lévinas
fur uns das alte jidische Gebot, Sterbende nicht
allein zu lassen.
DER VORRANG DER
VERANTWORTUNG
Freiheie ist in unserer Gesellschaft weithin
zum héchsten Wert geworden. Aber gerade die
selbstgewiss proklamierte Freiheit, das ungebro-
chen in Anspruch genommene Recht auf Lebens-
raum treffen bei Lévinas auf Miftrauen, auf
grundsitzlichen Widerspruch. In seinem Denken
wird Freiheit verstanden “als erwas, das eine
Rechfercigung verlangt..”.
"Stelle die Gegenwart des Anderen nicht das
naive Recht der Freibeit in Frage? Evscheint sich
die Freiheit nicht selbst als eine Schande fiir sich?
Und als Anmafung, solange sie auf sich selbst za-
niickgefihrt wird? ... Die Freiheit muss sich recht-
‘fertgen" (Tonalitat und Unendlichkeit S. 441)
“Indem ich an den Anderen herantret, stelle
ich meine Freiheit in Frage, meine Spontaneitit als
die Spontaneitat eines Lebendigen, meinen Zugriff
auf die Dinge, diese Freibeit einer Nauurkrafi,
dieses Ungestim, das wie ein Strom ist und dem
alles erlaubt ist, selbst der Mord. Das ‘Du wirst
kkeinen Mord begeben’, das das Antlitz. voraeichnet,
in dem sich der Andere ereignet, unterwirfi meine
Freiheit dem Urtel.Die morelische Rechiferigung der Frei-
eit, besteht darin, an die eigene Freibeit eine
unendliche Forderung 2u stellen, gegeniiber der
eigenen Freibeit radikal unduldsam zs sein. Die
Freibeit rechfertigh sich nicht im Bewustsein der
Gewissheit, sondern in einer unendlichen Forde-
rung gegen sich selbst, darin, dass sie jedes gute
Gewissen hinter sich life" (Totalitat und Unend-
lichkeit S. 441f,).
Im Verstindnis der Freiheit entscheidet
sich,
= ob Gore und der Andere, ja die Welt
schlechthin 2uerst und zuleezt Diener meiner
Bedirfnisse sind und sich vor mir auszuweisen
und 2u rechefertigen haben, oder ob ich mich von
‘Anfang an vorfinde in einer Verantworung, die
ich nie hinter mir lassen, qualifiziert durch eine
Daseinsschuld, die ich nie abtragen kann;
= 0b ich von Hause aus autonom bin und
dann gnidig und in dem Ma6, das ich bestimme,
auch Verantwortung fir andere ubernchme, oder
ob ich mich von Anfang an verantwortlich vor-
finde, gastlich empfangen vor gnidigen Nach-
sten, der mich unterweist, Geisel des Nackcen
und Bedirftigen, der mir als Forderung begeg-
net;
= ob survival guilt mur die traumatische
Verarbeitung einer extremen Erfahrung ist, die
therapeutisch aufgelost werden muss, oder ex-
emplarisch fir den Status des Menschen uber-
hhaupt, nimlich Schuldner zu sein;
~ also: ob Freiheit umgriffen wird von ei-
ner wesentlichen Demut und Dankbarkeit, oder
als Besitz in Anspruch genommen und ausge-
beutet wird, wie ein "Raub";
= ob die Menschenrechte in erster Linie
verstanden werden als meine Rechte, oder als die
Lebensrechte des anderen, fiir deren Beachtung
ich verantwortlich bin
"Die Moral beginns, wenn sich die Freiheit,
state sich durch sich selbst 2u reflektieren, als will-
eirlich und gewalttitig empfindet" (Toralitat und
Unendlichkeit S, 116).
Ich sehe Lévinas hier nicht nur in Ausein-
anderseczung mit der Erfahrung des Dritten
Reichs, der Proklamation des Rechtes auf Le-
bensraum, sondern auch mic der Kehrseice unse-
rer westlichen Freiheit, die darin zum Vorschein
kommt, dass wir die Menschenrechte einer Na-
tion verdanken, die nicht nur die Bewohner eines
ganzen Kontinents ausgerortet (vertrieben) hat,
20
sondern durch ihre atomare Rastung bis heute
demonstriert, dass sie im Ernstfall bereie ist, den
Holocaust ganzer Komtinente in Kauf zu neh-
Lévinas sicht durchaus, dass die Men-
schenrechte ihr Entstehen der Rationalicit von
‘Wissenschaft und Technik verdanken. Thre Ver~
teidigung jedoch geschah von Anfang an auch
durch die Berufung auf eine Instanz, die auSer-
halb des Staates lag, vergleichbar der Stimme der
Propheten gegentber der Politik ihrer Zeit. In
zwischen jedoch ist davon nur noch die Berufung
auf die Freiheit der Person abriggeblieben, die
cine Beschrinkung ihrer Freiheitsrechte durch
andere hinnehmen muss. Gerechtigkeit als Kom-
promiss wechselseitiger Freihcitsbeschrankung
(aurek, $. 84).
Dem stellt er sein Verstindnis der Men-
schenrechte entgegen: Menschenrechte sind
“uaspriznglich die Reche des anderen Menschen"
(Biografie S. 365).
“Die ~ mit der niichternen Kalte Kains ge-
dachte ~ biologische Briiderlichkeit der Menschen
ist kein binreichender Grund dafitr, dass ich fir ein
‘von mir getrenntes Wesen verantwortlich bin. Die
nitchterne Kalte Kains - damit meinen wir cin
Denken, welches die Verantwortlichkeit con der
Ereiheit her oder nach Art eines Vertrages denke.
Die Verantwortlichkeit fiir den Anderen kommt
‘20n diesseits meiner Freibeie" (Gott und die Phi-
losophie, in: Got: nennen, S. 110).
‘Mit dieser Neudefinition verliert der
Mensch niche seine Warde. Sie komme ihm nur
nicht von sich selbst her 2u, sondern sie ist gege-
ben in meiner Unersevzlichkeit, in der Herclich-
elt, die 'sich in meinem Sagen verbertlicht, indem
sie mir durch meinen Mund gebiete” (Ethik und
Unendliches,S. 78S. 84).
In diesem Versuch, vom Vorrang der Ver-
ancwortung her zu denken, steckt eine auerst
radikale Herausforderung an Theologie und Seel-
sorge:
In der ‘narzisstischen Gesellschaft’, die
corientiert ist am "Idea! des befriedigten Menschen,
dem alles erlaubs ist, oas méglich ist" (Wenn Gott
ins Denken einfille, S. 241), finden Kirche und
Seelsorge anscheinend nur dann eine Nische,
wenn sie etwas beitragen zur Bedirfnisbefriedi-
gung. Auch das immer beliebter werdende Seg-nen kommt diesem Trend entgegen. Die Theodi-
zeefrage ist weithin der entsetzte Aufschrei, dass
in dieser Bedtrfaisbefriedigung eine Storung
cingetreten ist. "Wie kann Gott das zulassen?”
Seelsorge kommt nur dann aus dieser Falle
der Bediirfnisbefriedigung heraus, wenn sie mit
diesem Denken radikal bricht, das vom Recht auf
geht, vor dem alle anderen sich zu verantworten
haben: Familie, Staat, Seelsorger, Gott.
Das wird nicht méglich sein, ohne die
tiefen Krankungen hinzunehmen, die das Den-
ken von Lévinas uns zumutet: den Vorrang des
anderen, das Anwachsen der Schuld, die Aus-
zeichnung der Passion und der Geduld.
Leben, Wohistand, Gesundheit und Glitck aus-
ZITIERTE LITERATUR
WERKE VON EMMANUEL LEVINAS
(Die erste Ziffer kennzeichnet das Erscheinungsjahr in Frankreich, die zweite das Erscheinungsjahr der
zitierten deutschen Ausgabe)
= Toralitat und Unendlichkeit. Versuch aber die Exterioritat (1961/1987)
= Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1978/1998)
- Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phinomenologie und Sozialphilosophie (—-/1987)
= Gott und die Philosophie, in: Gott nennen. Phinomenologische Zuginge (1975/1981)
- Wenn Gort ins Denken einfalls. Diskurse aber Betroffenheit von Transzendenz (1982/1988)
~ _ Ethik und Unendliches. Gespriche mit Philippe Nemo (1982/1986)
~ Gout, der Tod und die Zeit (1995/1996)
LITERATUR AUS DEM UMKREIS VON LEVINAS
- Der Talmud. Ausgewahl, abersetzt und erklirt von Reinhold Mayer. Goldmann 1989
= Marie-Anne Lescourret: Emmanuel Lévinas, Flammarion 1994
= Bernhard Taurek: Lévinas zur Finfthrung, Hamburg 1991
~ Peter Prechtk Husserl zur Finfhrung, Hamburg 1991
- Bermhard Waldenfels: Einfithrung in die Phinomenologie, Minchen 1992
- Bernhard Waldenfels: Phinomenclogie in Frankreich, Frankfurt 1998
= Heinz J-Kersting: Im Antlitz des Anderen. Die Ethik der Verantwortung nach Emmanuel Lévinas,
Vorabdruck
- Hilarion G.Petzold: Der "Andere" - der Fremde und das Selbst. Tentative, grundsétzliche und person-
liche Uberlegungen for die Psychotherapie anlalich des Todes von Emmanuel Lévinas (1906-1995),
in: Integrative Therapie 2-2/1996
- Michael Mayer: "Der Tod des Anderen ist der erste Tod", FR 1.3.1997
= Karl Barch: Kirchliche Dogmatik 1,2, Zollikon 1938
- Amold Mindell: Den Pfad des Herzens gehen, Petersberg 1996
= Wybe Zijlstra: Klinisch Pastorale Vorming, Assen 1969
a4Zu diesem Heft und zum Autor:
‘Am 29, April 2000 hielt die Gesellschaft fir Taterkulvurelle Seelsorge und Beratung (Society for Intereultu~
sal Pastoral Care and Counselling - SIPC) ihre 5. Konsultation in Dusseldorf ab. Konsultationen sollen
anregen, aber Themen, die mit interkuleureller Seelsorge und Beratung in Verbindung stehen, nachzuden-
keen.
Schon seie einiger Zeit war in der Gesellschaft das Thema der Ethik diskutiert worden und im interkultu-
rellen Zusammenhang das Thema des Fremden und des Anderen
So kam es den Organisatoren sehr gelegen, dass Ingo Neumann sich auf Anfrage hin bercic erklarte, zu
Emmanuel Lévinas 2u referieren.
INGO NEUMANN ist Landespfarrer fir Seclsorgefortbildung und Supervision in der Evangelischen Kir-
che im Rheinland. Aber nicht nur in Seclsorge, sondern auch in der Philosophie - und hier gerade in der
franzésischen - kennt er sich gut aus. Er hat die Werke Lévinas in der Originalsprache gelesen und studiert
und sich damit intensiv auseinander gesetzt. Wie seine Einleitung erzahlt, ist dies far ihn nicht eine akade-
mische Angelegenheit, sondern sehr existentiell. Es ist der Lektire abzuspiiren und wurde im Vortrag of-
fensichtlich, wie anragend dieses Denken far ihn ist und mit welcher Begeisterung er deriber reden kann.
Nach den Vortrigen beschaftigte sich die Teilnehmenden in kleinen Gruppen mit Texten von Lévinas.
Danach wurde im Plenum dartiber diskutiert, was dieses Denken far Seclsorge und Beratung austrag:,
Zwei Diskussionsstrange méchte ich hier erwahnen, um deutlich 2u machen, wie fruchtbar es fur Seelsorge
und Beratung ist, Lévinas zu lesen und zu reflektieren:
Die Satze Lévinas, die nach erstem Lesen abstrakt Klingen mogen, gewinnen volles Leben, wenn sie mit
persénlichen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden. Sie sind ja auch entstanden aus tiefen und
schmerzhaften personlichen Erfahrungen. Was also auf den ersten Blick abstrakt erscheinen mag, kann
lebendig werden. Dies erinnert daran, wie wichtig ¢s in Seelsorge und Beratung ist, Sitze von Betroffenen
und von Horenden immer wieder in Erfahrungen und Geschichten umzusetzen. Gerade in interkultureller
Seelsorge und Beratung hat diese einen hohen Stellenwert: Menschen erzalilen von sich in Geschichten. In
Geschichten werden Beziehungen, Prozesse und Prigungen horbar. Das Gegeniiber muss sich durch Ge-
schichten nicht eingeengt oder manipuliert fuhlen, es bleibt frei, die cigene Geschichte hinzuzusetzen. Der
Andere bekommt Vorrang, der Andere wird zum Meister.
‘Verantwortung ist ein wichtiges Thema der Seelsorge und Beratung. Der Andere bekommt Vorrang, indem
Seelsorgerinnen und Berater bei ihren Gegentber einsewzen, dort anknipfen, wo die sind, zuhéren. Sie
lassen sich “einnehmen" - um nicht das Wort "Geisel” zu gebrauchen, das vielen in der Diskussion zu miss-
verstindlich war. Aber dann antworten sie, suchen eine Nahe mit Sprache und aber Sprache hinaus, und
setzen sich dafitr ein, dass der Sinn des Menschlichen aufleuchtet,
Far SIPCC ist Ethik eine wichtige Frage. Gerade ein Verein mit Mitglieder aus etwa 30 Lander mit un-
terschiedlichen Sprachen, Kulturen, Glaubensauffassungen, politischen und sozialen Systemen und auch
wirtschaftlichen Verhaltnissen muss sich dariber verstandigen, welches seine “ethical codes’ sind, In einem
umfassenden Diskussionsprozess hat SIPC sich ein "mission statement’ gegeben, dessen deutschen Text
wir auf den letzten Seiten des Heftes abdrucken.
SIPCC ist Ingo Neumann dankbar fir seine Impulse. Wir alle durfen Emmanuel Lévinas dankbar sein for
cin Denken, das durchdrungen ist von den schmerzlichsten Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und doch
leuchtet und dem Antlitz des Menschen eine géctliche Wurde gibt.
Helmut Wei