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Begonnen wurde es vor dem Hintergrund eines diffusen Gefühls in der in diesem
Fall besonders demonstrationsfreudigen Bevölkerung, der
Entscheidungsfindungsprozess zu S21 sei intransparent abgelaufen, der Plan zu
S21 sei nicht das Ergebnis einer sorgfältigen Kosten-Nutzen-Analyse gewesen
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Parteiengesetzgebung „allein ihrem Gewissen“ unterworfen sein – somit findet
sich hier die erste Sollbruchstelle der Konstruktion, da Gewissensfragen höchst
individuell und einzelfallbezogen sind und kaum objektivierbar in einen
Wahlkampf oder eine Abstimmung über bestimmte Sachverhalte einbezogen
werden können. Die repräsentative Demokratie vertraut nun also darauf, dass
die gewählten Vertreter zum einen dem Willen des Wahlvolkes zur
Durchsetzung verhelfen und dabei zum zweiten stets ihr Gewissen als
regulierendes Element betrachten. Im Fall von S21 muss hier nun
augenscheinlich etwas passiert sein, das dem Wahlvolk den Eindruck vermittelt
hat, sein Wille spiele überhaupt keine Rolle und seine Vertreter würden
eigenmächtig und ohne Auftrag durch die Wähler entscheiden. Das „Experiment“
der Schlichtung und der gleichzeitigen Übertragung im Fernsehen sollte also
dazu dienen, diese Eindrücke zu korrigieren. Dazu sollten sich Befürworter und
Gegner von S21 vor laufenden Kameras konstruktiv im Dialog über die „beste
Lösung“ unterhalten sowie den Wählern verdeutlichen, auf welchen Grundlagen
ihre Argumentationen beruhen, um eine Art von gesellschaftlichem Konsens
über die weitere Vorgehensweise im Bahnhofsbauverfahren herzustellen.
© mark 2010
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An erster Stelle ist hier die politische Naivität des Wählers zu nennen, die sich
in mehreren Erscheinungsformen manifestiert.
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ohne Grund sind daher viele Politiker Spezialisten für bestimmte
Politikbereiche wie z.B. Finanzen, Umwelt, Sicherheit oder auch Verkehr,
da kaum in allen Politikfeldern umfassende Kenntnisse vorhanden sein
können. Bedauerlicherweise jedoch neigen die meisten Wähler dazu,
diesen Umstand zu ignorieren, und sie verhalten sich auch
dementsprechend, wie besonders in Wahlkämpfen festzustellen ist. Nicht
zufällig arbeiten sämtliche Parteien hier mit einfach zu verstehenden
Slogans á la „Steuern senken!“, „Raus aus Afghanistan!“, „Mehr
Gerechtigkeit!“ oder ähnlichem, da nur auf diese Weise der Bürger als
Wähler gewonnen werden kann. Selbstverständlich gibt es auch politisch
höchst interessierte Bürger, doch wie viele sind das? Wer liest sich denn
vor Wahlen die Programme der beteiligten Parteien sorgfältig durch und
bildet sich hierdurch eine Meinung? Richtig: Kaum jemand. Und
dennoch verfügt jedermann über etwas, das er als politische „Meinung“
bezeichnet und geht gleichzeitig davon aus, diese sei nicht nur eine
lediglich subjektiv wahrgenommene Kompetenz in politischen Fragen,
sondern Ausdruck von Ahnung, Wissen und fundierter Kenntnis, ggf.
sogar Resultat sorgfältiger, rational erfolgter Abwägung – und daher in
ihrer Plausibilität über jeden Zweifel erhaben. Leider muss jedoch
festgestellt werden, dass diese „Meinung“ häufig nur ein diffuses Gebilde
subjektiver und nicht begründbarer Ansichten ist und daher dem
Anspruch an Komplexität nicht gerecht werden kann. Vereinfacht gesagt:
der Bürger ignoriert die meisten politischen Faktoren und sonstigen
Rahmenbedingungen, macht sich auf die Suche nach einfach zu
verstehenden Slogans, denen er zustimmen oder widersprechen kann,
übernimmt diese und bezeichnet sie abschließend als seine „Meinung“.
Besonders in Krisenzeiten oder bei kontrovers empfundenen Themen
neigt so der Wahlbürger dazu, sich besonders einfach strukturiert zu © mark 2010
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organisiert sind, dass der Bürger im Großen und Ganzen damit zufrieden
bzw. nicht zu unzufrieden ist, sieht er auch keinen Anlass, etwas zum
Fortbestand dieser Umstände beizutragen. Erst in dem Fall, in dem
etwas „umorganisiert“ wurde, wird oder werden soll, regt sich aktiver
Widerstand – wohlgemerkt Widerstand, deutlich seltener findet aktive
Zustimmung statt. Die Entwicklung der Mitgliederzahlen von Parteien
belegt diese Tendenz eindrucksvoll, sinken diese Zahlen doch stets
dann, wenn die Klientel der Partei verärgert wird und sich damit zum
Austritt gedrängt fühlt. Im Umkehrschluss führt zunehmende
Zufriedenheit mit einer politischen Partei nur in sehr seltenen Fällen zu
einem Eintritt. Interessant hierbei ist jedoch, dass gerade die
austretenden Mitglieder ja aufgrund ihrer Mitgliedschaft lange genug und
auch strukturell legitimiert die Möglichkeit gehabt hätten, an der
Neuausrichtung ihrer Partei teilzuhaben und diese in ihrem Sinne zu
beeinflussen. Doch auch hier zeigt sich die Neigung des Bürgers, sich
eher passiv und reaktiv als aktiv einzubringen.
Weshalb ist an dieser Stelle nun lediglich von einem Rückzug aus der
Protestbewegung die Rede, während die Unterstützerseite nicht angesprochen
wird? Dies hängt direkt mit dem zweiten Punkt zusammen, der für das Scheitern
der Schlichtung verantwortlich ist. Dieser ist das strukturelle Defizit der
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Schlichtungskonstruktion.
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möglichkeiten ausgeschöpft worden sind. Gerade ein Land wie
Deutschland und damit auch seine Bevölkerung sollten sich aufgrund
einer unglückseligen Vergangenheit der Gefahr bewusst sein, die in einer
Negation demokratischer und gerichtlicher Legitimation durch einen wie
auch immer gearteten öffentlichen Protest liegen kann.
Als letzten, jedoch nicht minder wichtigen Punkt möchte ich anführen, dass die
Schlichtung das unausgesprochene, jedoch nicht widerlegbare Ziel hatte, die
erodierende Akzeptanz der Regierungs- und Volksparteien in Baden-
Württemberg aufzuhalten, um ein Desaster bei den anstehenden
Landtagswahlen zu verhindern. Aufgrund der geschilderten Naivität des
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Zusammenhängen eine derartige Eskalation verhindern kann und für eine
gedeihliche Fortentwicklung der Gesellschaft unerlässlich ist.
Es ist zu betonen, dass sich dieses Interesse und Engagement nicht nur auf
Großprojekte und die „große Politik“ beschränken darf, sondern sich auch und
gerade auf den (vermeintlich) kleinen individuellen gesellschaftlichen bzw.
sozialen Rahmen beziehen muss. Ob in der Nachbarschaft, in Kita bzw. Schule,
im Betrieb oder Verein: hier bestehen die Möglichkeiten der aktiven Gestaltung
der unmittelbaren Lebensumstände. Und so muss es eine stetige Forderung der
Aktiven in Mieterinitiative, Elternbeirat, Betriebsrat oder Vorstand an die „Bürger“
sein: „Bringt Euch ein!“, oder, um es mit den Worten eines genervten
Klassenlehrers zu sagen: „Wer seinen Hintern nicht bewegt, verliert die
Lizenz zum Motzen!“
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Rahmens zeitlich vor gerichtlichen Entscheidungen erfolgen und
sinnvollerweise auch bindenden Charakter haben sollten.
© mark 2010
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