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Das evangelische Heimatmagazin Ihres Kirchenkreises | Erntedank 2010

Glaubensbrüder Einzelkämpfer Lebensgefährten


Luther und Melanchthon: Die Deutschen essen heute Was bleibt von der Liebe, wenn ein
die Gesichter der Reformation schnell und einsam Partner an Demenz erkrankt?
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bei uns in Düsseldorf


Liebe Leserin, lieber Leser, „Respekt und Mut“
der evangelische Festkalender kennt in wohl-
Interkulturelle Initiative feiert zehnjähriges Bestehen
tuender Unterscheidung zu einer event- und jah-
restagversessenen Öffentlichkeit vom Sonntag
nach Pfingsten bis zum Reformationstag eine
echt protestantisch-nüchterne Periode. Die min-
destens 22 Sonntage und Wochen lange Zeit
nach Trinitatis verfügt über keine großen kirch-
lichen Feste oder Events! Das farbige Erntedank-
fest bildet eine Ausnahme. Erntedank bezieht
sich als einziges kirchliches Fest nicht auf die
Abfolge des Christusjahres, sondern auf den na-
türlichen Wechsel der Jahreszeiten, den Wech-
sel von Säen, Wachsen, Blühen, Ernten und Ver-
blühen und Neuwachsen. Ich mag dieses Fest.
FOTO: MICHÉL SCHIER

Es riecht nach reifen Äpfeln auf dem Markt


und die Natur gibt farblich noch einmal ihr Bes-
tes. Selbst eingefleischten Stadtmenschen wird
in dieser Zeit bewusst, was für ein Geschenk der
Himmel uns mit dem Wechsel von „Saat und
Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Eine Open-Air-Ausstellung zur Geschichte des polnischen Films (Foto), ein
Tag und Nacht“ (1. Mose 8,22) macht. Auch auf Theaterprojekt mit Jugendlichen über Vorurteile und Feindbilder, Informati-
diesem Gebiet Unmusikalische stimmt der An- onen über das Leben von Muslimen in Düsseldorf, eine Ausstellung über die
blick von überquellenden Marktständen und Lebenswege jüdischer Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, dazu
das farbenprächtige Laub nachdenklich und Konzerte und auch eine Kabarettnacht mit „gemischt-deutschen Künstlern“
dankbar – nicht nur für die Früchte des Feldes, – das sind Themen aus dem neuen Programm von „Respekt und Mut“. Die Ini-
sondern auch für Lebensfrüchte, Früchte erfolg- tiative zum interkulturellen Zusammenleben in der Landeshauptstadt feiert in
reicher Arbeit und durch bestandene Krisen diesem Jahr ihr zehnjähriges Jubiläum. Eben ist das neue Programmheft er-
gereifte Erkenntnisse. schienen. Darin gibt es Angebote von rund 60 Veranstaltern und Kooperati-
Für mich verbindet sich die Erntedankzeit onspartnern. Mit dabei sind die Kirchen, Moscheevereine, Migranteninitiati-
in diesem Jahr mit einer persönlichen Verände- ven, die Polizei, der Düsseldorfer Appell und nun auch Fortuna Düsseldorf,
rung. Auf der Herbstsynode wird eine neue denn gerade der Fußball spielt eine wichtige Rolle im Zusammenleben von
Superintendentin oder ein neuer Superintendent Menschen, die aus verschiedenen Ländern nach Düsseldorf gekommen sind
gewählt werden, weil ich eine neue Aufgabe als und hier nun ihren Lebensmittelpunkt haben.
Theologischer Vorstand der Graf-Recke-Stiftung www.respekt-und-mut.de
wahrnehmen werde. Ich danke herzlich für die
aufmerksame und konstruktiv-kritische Beglei-
tung beim Aufbau und Umbau des Evangeli-
Musik gegen Armut
schen Kirchenkreises Düsseldorf in den letzten Straßenmusikanten spielen in der Bergerkirche
dreieinhalb Jahren und wünsche mir, unserer
Kirche und Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, Sie heißen John Spendelow, El Rubito oder
dass diese spannende Zeit auch Früchte tragen Radio Lukas, sie klingen mal wie Paul Simon,
wird. Ihnen und Ihren Lieben wünsche ich Bob Dylan oder wie ein Streichquartett – Stra-
Gottes Geleit für alle Ihre persönlichen Vorhaben, ßenmusiker in Düsseldorf. Die Straßen und Fuß-
Wünsche und Wagnisse! gängerzonen der Landeshauptstadt sind ihre
Bühnen und Konzerthallen. Im Oktober machen
Herzlich grüßt Sie Ihr Düsseldorfer Straßenmusikanten gemeinsam
Musik gegen Armut und Ausgrenzung beim
Pfarrer Ulrich Lilie, Straßenmusiker-Festival in der Bergerkirche.
FOTO: GERALD BIEBERSDORF

FOTO: SERGEJ LEPKE

Superintendent Das Festival ist ungewöhnlicher Programm-


des Evangelischen punkt im Rahmen einer Initiative von Kirche
Kirchenkreises Düsseldorf und Diakonie gegen Armut und soziale Aus-
grenzung. Unter dem biblischen Motto: „Gutes
zu tun und mit anderen zu teilen, vergesst
nicht“ laden Kirchen und die Diakonie in Düssel-
dorf stadtweit zu einer Reihe von Gottesdiensten
ein. Und eben auch zum Musikfestival.
„Straßenmusiker-Festival“, 23.10., 18 Uhr, Berger-
kirche, Berger Straße 18 b, Altstadt

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heimatkirche

bei uns: Danken

FOTO: BILDERBOX/ERWIN WODICKA


Dankbarkeit lässt sich fröhlichen Herzens zeigen, wie bei Mutter und Tochter, die sich miteinander freuen

„Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin“


Das Danken gehört zum menschlichen Leben dazu. Manchmal bricht der Dank aus einem heraus

Elterliche Geduld und kindliche Ausdauer sind bestau- Außerdem gibt es ja auch Dinge, für die wir uns nun
nenswerte Eigenschaften. Während meines Urlaubs wirklich nicht bedanken möchten, wie zum Beispiel für
beobachtete ich mit Spannung, wie eine Mutter mit ein lieblos ausgesuchtes Geschenk oder für ein dummes
ihrer etwa einjährigen Tochter am Strand saß und sie Kompliment.
sich Sandförmchen hin und her reichten. Die Mutter Dann kennen wir noch den doppelbödigen Dank.
bedankte sich ausdrücklich für alle roten, gelben und Der Evangelist Lukas erzählt von einem Mann, der sein
blauen Förmchen, die ihre Tochter ihr gab. Und wäh- Gebet mit den Worten beginnt: „Ich danke dir, Gott, dass
rend nach einer Viertelstunde bei der Mutter erste ich nicht bin wie andere Leute.“ Vom Dank für mein
Ermüdungserscheinungen hörbar wurden, fand ihre persönliches Leben zur Abwertung anderer Personen ist
Tochter dieses Spiel unendlich unterhaltsam und wurde es manchmal nicht weit.
unwirsch bei allen Versuchen, diese Übung frühkind- Angemessen zu danken scheint manchmal eine recht
licher Erziehung zu beenden. komplizierte Angelegenheit zu sein, ganz anders als in
Seit der Hofadel im späten Mittelalter Umgangs- dem frühkindlichen Spiel zwischen Mutter und Tochter.
regeln festlegte, gehört „etwas zu verdanken“ zu den Den Impuls zu danken tragen wir aber schon als Kind in
Höflichkeitsregeln unserer Gesellschaft. Anderen in an- uns. Und manchmal bricht der Dank einfach aus uns
gemessener Form zu danken hilft uns, gut miteinander heraus, so wie beim Beter von Psalm 139: „Ich danke dir
auszukommen und weniger anzuecken. Neudeutsch dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind
könnten wir sagen, zu danken gehört zu den „social deine Werke; das erkennt meine Seele.“
skills“, den sozialen Fähigkeiten, die uns das Leben
erleichtern. Schon in ihren frühesten Ursprüngen gab
es keine menschliche Gemeinschaft, in der es nicht auch
Gesten oder Mittel des Dankens gab. Das Bedürfnis
FOTO: SERGEJ LEPKE

zu danken gehört anscheinend zum menschlichen


Pfarrerin Henrike Tetz,
Leben dazu. Leiterin der Abteilung
Einen Haken bekommt die Sache, wenn wir uns Seelsorge des Kirchen-
zum Dank verpflichtet fühlen. Dann wird Danken schnell kreises Düsseldorf
zu einer lästigen Pflichtübung oder sogar zum Zwang.

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Den Reformatoren aufs Maul geschaut
Glaubensgerechtigkeit, Freiheit, Bildung. Was bedeutet es, im Jahr 2010 protestantisch zu sein?

FOTO: EPD-BILD/PETER WIENERROITHER


„Der mündige Christ, der reflektiert, kann dies nicht ohne Bildung.“ – Studenten im Lesesaal einer Universität

Auf dem Internet-Videoportal „You Tube“ kann man alles geschenkte, die es ermöglicht, Bindungen einzugehen – nicht
sehen. Sogar Statements zu der Frage, was es heißt, evange- aus Pflicht, mit Mühe und zur Last, sondern aus der Liebe
lisch zu sein. Eine wichtige Frage! Gerade in Zeiten, in denen zum Mitgeschöpf, mit Leidenschaft und zu seinem Besten.
eine religiöse Indifferenz zu beobachten ist, die Sorgen Und die es ermöglicht, systemkritisch-konstruktiv mit der
bereiten muss. Will man sich nicht auf „You Tube“ allein Weltwirklichkeit umzugehen.
verlassen, ist es nützlich, wie einst die Reformatoren dem 3. Öffentlichkeit. Mit der Weltwirklichkeit umzugehen
Volk, nun umgekehrt den Reformatoren aufs Maul zu bedeutet, in ihr zu handeln, mit ihr und, wo nötig, gegen sie.
schauen und nachzufragen, wofür sie im 16. Jahrhundert Protestantisches Christentum, das nicht in diesem Sinne
gekämpft haben und was als bleibend Wichtiges am Protes- politisch ist, ist kein protestantisches Christentum. Kirche
tantisch-Sein zu bewahren ist. muss wissen, dass sie mehr ist als Gemeinde und Synode
1. Glaubensgerechtigkeit. Die zentrale reformatorische und sie muss dorthin gehen, wo sie gebraucht wird.
Botschaft von der Rechtfertigung des Gottlosen ist auch 4. Bildung. Der mündige Christ, der das alles versteht,
500 Jahre nach ihrer Entdeckung aktuell, weil sie gegen jede reflektiert und konstruktiv umsetzt, kann dies nicht ohne
Weltwirklichkeit, Erfahrung und jeden menschlichen Un- Bildung. Es bedarf sowohl der Kenntnisse als auch der
willen von der Treue und Zuverlässigkeit Gottes kündet. In Einübung vor allem in Sprache, Geschichte und Religion.
einer an Leistung und Wirtschaftlichkeit orientierten Gesell- Die Reformatoren wussten: Eine Gesellschaft, die Bildung
schaft wird dadurch Raum gegeben für eine Wahrheit, die vernachlässigt, hat ihren Auftrag verfehlt. Daher ist das
diese Wirklichkeit nicht nichtig, sondern erträglich und in Verhältnis von Kirche und Schule auf allen Ebenen neu zu
kritischer Distanz handhabbar macht. Dass die Würde des durchdenken und zu reformieren.
Menschen in seiner Geschöpflichkeit liegt und nicht in Protestantisch 2010 – das ist ein Auftrag. Aber keiner, vor
seinem Funktionieren, ist eine Erkenntnis, die alles immer dem man Angst haben müsste, sondern einer, der Mut macht
wieder revolutioniert. zur Zukunft!
2. Freiheit. Diese Einsichten schaffen, anders als
alle Weltdeutungssysteme, Gewissheit, Trost und Freiheit. DR. ATHINA LEXUTT, Professorin für Evangelische Theologie
Christliche Freiheit ist eine aus Glauben und im Glauben an der Universität Gießen

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heimatkirche

Von Melanchthon lernen


Wer war der Mitstreiter Luthers, der vor 450 Jahren starb? Luther über Melanchthon
Gegensätzliche Gemüter
Ein Star der reformatorischen Bewegung ist er nicht gewesen, jener hoch-
intelligente, aber unscheinbare Griechischprofessor aus Wittenberg. Martin Martin Luther hat von Philipp Melanch-
Luther nannte ihn liebevoll „den kleinen Griechen“. In ihm erkannte er thon mindestens ebenso profitiert, wie
einen verwandten Geist, der um das rechte Bibelverständnis rang; der dieser von ihm. In Luthers Urteil liest
nicht das Althergebrachte rechtfertigen, sondern zu dessen Quellen vor- sich das so: „Mein Geist, weil er unerfah-
dringen wollte. „Wenn wir unseren Geist auf die Quellen lenken“, erklärte ren ist in feinen Künsten und unpoliert,
Philipp Melanchthon (1497-1560) als 21-Jähriger in seiner Antrittsvor- tut nichts, denn dass er einen großen
lesung an der eben gegründeten Wittenberger Universität, „werden wir Wald und Haufen von Worten ausspeit;
anfangen, Christus zu verstehen. Sein Gebot wird uns zur Leuchte werden, so hat er auch das Schicksal, dass er
und wir werden mit dem beglückenden Nektar göttlicher Weisheit erfüllt“. rumorisch und stürmisch ist ... Aber
Luther hatte in Melanchthon einen kongenialen Partner gefunden. Magister Philipp fährt säuberlich stille
Für die Reformation war ihre Freundschaft ein Glücksfall: hier der charis- daher, sät und begießt mit Lust, wie ihm
matische, oft impulsive und polarisierende Streiter, dort der vernünftige, Gott seine Gaben reichlich gegeben hat.“
besonnene und kompromissbereite Wissenschaftler, der stets das Ganze
im Blick hatte und dem die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen, die
die Bewegung mit sich brachte, ein Gräuel waren. Während Luther die
reformatorische Sache vorantrieb, verlieh Melanchthon ihr Nachhaltigkeit,
unter anderem mit den 1521 erstmals veröffentlichten „Loci communes“,
Podiumsdiskussion
der ersten Zusammenfassung reformatorischer Theologie, und der berühm- „Leben als fröhliche Schule?“
ten und bis heute grundlegenden „Confessio Augustana“ von 1530.
Was können wir von diesem stillen Gelehrten lernen, der im Übrigen Neben Luther steht Melanchthon im
nie ein theologisches Amt innehatte (und vor 450 Jahren auf dem Sterbe- Brennpunkt der Reformation. Das wür-
bett die Gewissheit, „von der Wut der Theologen befreit zu werden“, zu digt der Kirchenkreis Düsseldorf bei der
den Gründen zählte, warum man den Tod nicht zu fürchten braucht)? Reformationsfeier in diesem Jahr. „Leben
Vor allem, dass jeder Aufbruch Renaissance, Wiedergeburt ist. Der Geist als fröhliche Schule?“, fragt am Reforma-
der reformatorischen Kirchen entspringt der Wissen suchenden und tionstag ein Podium zum Melanchthon-
Wissen schaffenden Rückbesinnung auf die alten Quellen. Aus diesem jahr, dem Jahr des 450. Todestages des
Grund sind Kirche und Gesellschaft ohne Bildung, die genau darin schult, Reformators. Unter der Moderation von
unvorstellbar. Und deshalb brauchen wir Gemeinden, Schulen, Akade- Superintendent Ulrich Lilie diskutieren
mien, Universitäten, in denen Menschen sich den Geist der Quellen an- Arnd Brummer, Chefredakteur der evan-
eignen, aus denen wir schöpfen. Wenn das geschieht, so Melanchthon, gelischen Monatszeitschrift „chrismon“,
spiegelt sich in ihnen das Leben, wie Gott es gemeint hat: „als eine fröhliche die Theologieprofessorin Athina Lexutt
Schule“. Und die Schulen werden zum Tor in das Leben. von der Universität Gießen und der Ge-
schäftsführer des Deutschen Kulturrates
PFARRER DR. MARTIN FRICKE, Leiter der Abteilung Bildung des Kirchen- Olaf Zimmermann. Es geht um die Refor-
kreises Düsseldorf mation und um den Beitrag der Bildung
zu mündigem Christentum. Zuvor beginnt
der Reformationstag in Düsseldorf mit
einem Gottesdienst. Die Predigt hält
Dr. Gabriela Köster. Die Pfarrerin ist
Studienleiterin bei der Evangelischen
Stadtakademie.

Reformationsfeier, 31.10., Johannes-


kirche, Martin-Luther-Platz, 10 Uhr
Gottesdienst, 11.45 Uhr Podium zum
Melanchthonjahr: „Leben als fröhliche
Schule?“, Eintritt frei. Anmeldung zum
Podium unter kirchenkreis@evdus.de
FOTO: EPD-BILD/AKG-IMAGES

oder per Post: Reformation 2010,


Postfach 20 03 68, 40101 Düsseldorf.

Martin Luther (links) und Philipp Melanchthon, die beiden Gesichter der Reformation

Erntedank 2010 | bei uns in Düsseldorf 5


Alle zu Tisch!
Im Oktober feiern viele Menschen Erntedank
mit einer gemeinsamen Mahlzeit. Der Alltag
sieht oft anders aus: Schnell und einsam
essen die Deutschen heute – und werden zu
Einzelkämpfern, sagt Gunther Hirschfelder,
Bonner Volkskundler und Mitglied der Deut-
schen Akademie für Kulinaristik. Er fordert:
Esst wieder mehr gemeinsam!

Käme Jesus erst heute, dann wäre es zumindest mit dem Abend- Abendmahlsbrot symbolisch aufgeladen, Ergebnisse eines langen
mahl schwierig für ihn. Nicht, dass Jesus keine Jünger finden Entwicklungsprozesses. Sonst könnte man ja auch jeden Tag
würde. Aber mit denen würde er überwiegend virtuell verkehren. einen synthetischen Nährbrei essen. Doch das will niemand.
E-Mail vom Gottessohn oder „Telefon – Jesus ist dran!“. Doch wäh- Neben der Symbolik wohnt dem Essen eine weitere Dimen-
rend man durchaus noch jemanden zum gemeinsamen Umtrunk sion inne: Essen ist ein sozialer Akt. Gemeinschaft entsteht durch
findet, ist es mit einem gemeinsamen Essen schon schwieriger. gemeinsames Essen – mit allen Konsequenzen. Genau wie das
War es für Jesus noch selbstverständlich, den Pessachabend ge- Essen kann auch die Gemeinschaft schrecklich sein und schön.
meinsam mit seinen Getreuen zu verbringen, so ist die Bedeu- Spätestens der Satz „Solange Du die Füße unter meinen Tisch
tung des gemeinsamen Essens bei uns kaum mehr wahrnehmbar. streckst“ offenbart die Ambivalenz des Gemeinschaftlichen. Wer
Auf der anderen Seite ist beinahe ein Tanz ums Kalb auszuma- meint, in der vorindustriellen, ländlichen Gesellschaft von „frü-
chen. Nicht um das goldene, sondern um das gebratene. Kochsen- her“ sei alles besser gewesen, irrt. So sind kaum Beispiele überlie-
dungen und Gastro-Führer berichten von prunkvollen Diners, bei fert, dass an einer Bauerntafel alle das gleiche Recht hatten –
denen es gar nicht edel genug sein kann. Wer in den Gazetten sprich: das Gleiche und gleich viel zu essen bekamen. Stattdessen
blättert, den Fernseher einschaltet oder die zahlreichen Ernäh- war es meist üblich, dass der Bauer eher und mehr aß als der
rungsratgeber studiert, dem drängt sich leicht der Eindruck auf, Knecht, und immer gab es jemanden, der ganz unten stand, nicht
dass unsere Esskultur dem Niedergang geweiht ist. selten die Witwen. Solcher Gemeinsinn begegnet auch im alten
Wer genauer hinschaut, sieht dagegen ein vielschichtigeres Wirtshaus. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war es nicht üblich,
Bild. Zunächst ist ein Gebet erhört worden: „Unser tägliches Brot sich alleine an einen freien Tisch zu setzen, sondern ganz selbst-
gib uns heute.“ Dieses Brot erreicht zwar nicht alle – immer noch verständlich ging man zu Fremden an den Tisch, um eine
hungern etwa 800 Millionen Menschen weltweit –, aber in Europa Gemeinschaft zu bilden.
ist der alte Traum vom Schlaraffenland in Erfüllung gegangen. Bis ins 18. Jahrhundert spielte das gemeinsame Essen eine he-
Für viele sogar so sehr, dass aus dem Segen ein Fluch geworden rausragende Rolle. Dann aber drehte sich der gesellschaftliche
ist. Vor allem einkommensarme und bildungsferne Schichten Wind. Zunächst setzte die Aufklärung der Tischgemeinschaft zu.
sind vom Übergewicht bedroht. Kalorien, Aromen, Fettsäuren – Sie beförderte auf breiter Linie Ansätze zu einer Individuali-
wer sich auskennt, sollte das Thema im Griff haben, heißt es. sierung der Gesellschaft. Die von Frankreich ausgehenden Revo-
Doch genau da liegt ein Teil des Problems: Essen wird hierzu- lutionen, die seit 1789 weite Teile des Kontinents erfassten,
lande vor allem naturwissenschaftlich wahrgenommen. Dabei brachten nicht nur Stände-, sondern auch Mahlzeitenordnungen
wird oft vergessen: Nahrungsmittel bestehen aus Inhaltsstoffen, ins Wanken. Die zeitgleich einsetzende Industrialisierung sprengte
Lebensmittel sind mehr. Sie sind wie Abendmahlswein und das System der Dorfgemeinschaft und schuf den städtischen

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FOTO: FOTOLIA.COM
Fabrikarbeiter, der auf eigene Rechnung arbeitete und auch beim diese Veränderungen. Viel schlimmer sind die Auswirkungen auf
Essen als Einzelkämpfer auftrat. Kinder. Hier zeigt sich am stärksten, dass es keine Struktur des
Gleichwohl hielt sich die Wertschätzung für das gemeinsame Alltags und der sozialen Gruppe ohne eine Struktur des gemein-
Essen noch lange. Das liegt daran, dass – so formulierte es der samen Essens geben kann. Umgekehrt bergen die Zubereitung
Kulturwissenschaftler Wilhelm Heinrich Riehl in der Mitte des des Essens und die Mahlzeit selbst ein riesiges pädagogisches
19. Jahrhunderts – der Mensch nirgends konservativer ist als da, Potenzial: Wie sonst kann man auf so konkrete Weise in Kontakt
wo es ums Essen geht. Das in der Kindheit gelernte Grundmuster mit seiner Umgebung, mit der Umwelt und mit der Natur treten?
ändere der Mensch nicht so schnell, das Essen stehe in enger Welche bessere Art gibt es, eine fremde Kultur zu verstehen, als
Wechselwirkung mit Persönlichkeit und Identität. mit ihren Trägern zu kochen und zu essen?
Heute wird nur noch in jedem zehnten Haushalt regelmäßig Schaut man entlang der Zeitachse zurück, offenbart sich der
gekocht. Die Quote des Außer-Haus-Verzehrs steigt beständig. Wendezeitcharakter unserer Tage nirgendwo so deutlich wie
Zum Teil ist dieser Zustand auch eine Folge des technischen und bei Tisch. Auf der einen Seite gibt es diese mobile, hoch techni-
wirtschaftlichen Fortschritts: Wenn nicht mehr 90, sondern nur sierte Gesellschaft, die neben der Familie auch andere Formen
noch knapp drei Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft des Lebens kennt, mit mehr Individualität und größerem
beschäftigt sind und wenn der Discounter den Marktstand abge- Einsamkeitsrisiko. Eine solche Gesellschaft braucht nicht einem
löst hat, dann hat sich der Mensch von den Landprodukten ent- keinesfalls immer romantischen Gemeinschaftsmahl am
fremdet. Aus der geringeren Wertschätzung resultiert ein fahr- Familientisch nachzutrauern. Sie bietet mit der großen Vielfalt
lässiger Umgang mit dem Essen. Der Trend zum Singlehaushalt, an heimischen Kocherlebnissen und boomender Gastronomie
die zunehmende Mobilisierung und die vordergründig wunder- viele Gelegenheiten, Kochen, Essen und Gemeinsinn zu ver-
baren Fertigprodukte beschleunigten den Prozess des schnellen knüpfen. Immer mehr Menschen nutzen in ihrer Freizeit diese
und einsamen Essens, das oft als Zeitverschwendung wahrge- Chancen. Wohnzimmer ade, es lebe die Wohnküche, es lebe
nommen wird. So gewann Ende des letzten Jahrhunderts ein Auf- der Grill.
lösungsprozess an Tempo, der das gemeinsame Essen als Zentrum Wendet sich der Januskopf unserer Esskultur aber, dann tritt
sozialen Lebens und die Mahlzeit als wichtigsten Taktgeber des eine Grimasse zutage, die kaum aus den verquollenen Augen zu
Zeitgefühls massiv zu bedrohen begann. schauen vermag. Nicht nur der Pfunde wegen verdient sie unser
Die Folgen sind tief greifend. Denn Gemeinschaft bei Tisch ist Mitleid, sondern auch, weil diese im einsamen Frust angefressen
für eine Gesellschaft, die sich als Solidargesellschaft begreift, sind, mit schlechtem Gewissen und ohne Spaß. Weightwatchers
unverzichtbar. Die Art, wie man isst, zeugt von den Werten, die aufgepasst: Nicht „Be light“ oder „Friss die Hälfte“ muss die
eine Gesellschaft zusammenhalten. Nicht nur Erwachsene spüren Parole lauten, sondern: „Alle zu Tisch!“

Erntedank 2010 | bei uns in Düsseldorf 7


Entschleunigung pur
Die „Stockumer Vesper“: Iona-Liturgie und Momente der Ruhe

Es ist der letzte Freitagabend in diesem Monat. Die Arbeitswoche ist


geschafft, und das Wochenende steht vor der Tür. Nur noch wenige
Minuten, dann schlägt die Uhr sechs. Und das heißt, es ist wieder Zeit
für die „Stockumer Vesper“. Im Film-, Funk- und Fernsehzentrum der rhei-
nischen Kirche in Düsseldorf führt eine Treppe hinunter zur Kapelle. Jürgen Hoffmann ist

FOTO: SERGEJ LEPKE


Modern und zugleich persönlich wirkt der Andachtsraum mit den Pfarrer in der Golz-
heimer Tersteegen-
samtigen, roten Sitzbänken und den großformatigen, kargen Ölbildern des Kirchengemeinde. Er
Künstlers Michael Irmer. Es brennen viele Teelichter. lädt regelmäßig zur
Etwa 25 Besucher sind heute hierhergekommen. Sie sitzen leise flüs- „Stockumer Vesper“ ein
ternd beieinander. Der Gong einer Klangschale ertönt drei Mal und leitet
die Andacht in der Kapelle ein.
Dass die Besucher hier kein normaler evangelischer Gottesdienst erwartet, Nachgefragt
sondern eine Vesper mit liturgischen Elementen der schottischen Iona-
Community, wird spätestens dann deutlich, wenn Pfarrer Jürgen Hoffmann
Schottische Klänge
von der Evangelischen Tersteegen-Kirchengemeinde die Vesper mit einer
Lichterliturgie eröffnet. Dabei zündet er drei große Kerzen auf dem Altar an Was ist die Iona-Liturgie?
und lobt im Wechsel mit der Gemeinde Gott als Dreifaltigkeit der Liebe. In der „Stockumer Vesper“ übernehmen
Dieses Ritual stammt von der kleinen schottischen Insel Iona. Im Mittelalter wir Originaltexte aus Schottland. Wir fei-
war sie ein Zentrum keltisch-christlicher Spiritualität. ern die Andacht mit der gleichen schlich-
Alles geschieht mit großer Ruhe. Zwischen den einzelnen gesprochenen ten Liturgie, wie sie auch im Kloster auf
Passagen, der biblischen Lesung, dem frei übertragenen Glaubenszeugnis der schottischen Insel Iona gefeiert wird.
der Iona-Community und der thematischen Predigt setzt Musik eigene Am Anfang steht die trinitarische Lich-
Akzente in der Vesper. Die Cembalo-, Orgel- und Pianoklänge, die die Kan- terliturgie, bei der wir Gott als drei-
torin Ulrike von Weiß einem E-Piano entlockt, fügen sich harmonisch in einigen Gott anrufen. Die Lieder der An-
das Spiel der Flötistin Dagmar Wilgo ein. Die Blicke der Besucher sind auf dacht werden oft in englischer Sprache
den Altar gerichtet. Der helle Klang wirkt eindringlich im Raum. Er erzeugt gesungen, weil es eben Lieder aus
gar Momente der Spannung. Schottland sind. Und dann gibt es noch
Während dieser etwa 45 Minuten dauernden Vesper geschieht genau die Predigt, für die wir immer „Spezia-
das, was Pastor Lorenz Bührmann bei seinen Fahrten auf die Insel Iona listen“ einladen.
schätzen gelernt hat. Der Pastor der Freien evangelischen Gemeinde Düssel- Warum sollte man zur „Stockumer
dorf bildet zusammen mit Pfarrer Hoffmann und vier anderen den Arbeits- Vesper“ kommen?
kreis „Neue Stockumer Kapelle“. Heute ist er nur Andachtsbesucher. Er Weil wir die Vesper an einem ungewöhn-
sagt: „Man entschleunigt sich. Nach Iona kann man nicht einfach mal eben lichen Ort in einer ungewöhnlichen Form
hinfahren. Man muss immer eine Übernachtung auf dem Weg einplanen.“ feiern. Und wir haben ausgezeichnete Mu-
So lange dauert die Anreise zur „Stockumer Vesper“ für Düsseldorfer sik und immer ein interessantes Thema.
Gott sei Dank nicht, aber man hat die Möglichkeit zur Entschleunigung, Für wen ist diese Gottesdienstform
die Chance auf einen Moment der Ruhe. EVA BORKOWSKI interessant?
Für Menschen, die neue spirituelle Im-
pulse mögen und die sich mit Glaubens-
fragen auseinandersetzen wollen. Wenn
man den Gottesdienst nicht einfach nur
an sich vorbeiziehen lassen will, dann ist
man bei der „Stockumer Vesper“ richtig!

Die „Stockumer Vesper“ nach der Li-


turgie der schottischen Iona-Commu-
nity ist an jedem letzten Freitag im
Monat zu erleben. Beginn: 18 Uhr in
der Neuen Stockumer Kapelle, Kaisers -
wer ther Straße 450; www.fffz.de. Wei-
FOTO: SERGEJ LEPKE

tere Gottesdienste unter www.evdus.de.

Bilder, Kerzen und schottische Klänge sorgen im Andachtsraum für Atmosphäre

8 bei uns in Düsseldorf | Erntedank 2010


heimatleben

Die Himmelfahrt – Oratorium in drei Teilen


Samstag, 2. Oktober, 19 Uhr und Sonntag, 3. Oktober, 17 Uhr
Im Rahmen des Altstadtherbst-Kulturfestivals führen Solisten, die Kantorei Ober-
kassel, der Knabenchor Hösel, die Kantorei Saalfeld und das Altstadtherbst-Orchester
unter der Leitung von Thorsten Göbel das biblische Bekenntniswerk „Himmelfahrts-
oratorium“ von Oskar Gottlieb Blarr (Foto) auf. Benannt nach der 100 Jahre alten

FOTO: ALTSTADTHERBST
Himmelfahrtskirche auf dem Jerusalemer Ölberg, werden in der Oberkasseler Auf-
erstehungskirche, Arnulfstraße 33, nicht nur Choräle aus der Reformationszeit zu
hören sein, sondern auch in das Werk eingearbeitete Vogelstimmen sowie arabische
und orientalische Instrumente.
Eintritt zwischen 24 und 28 Euro; Ticket-Hotline 0211 6170617; www.altstadtherbst.de

24-Stunden-Orgel für alle Sinne


Von Freitag, 8. Oktober, 21 Uhr bis Samstag, 9. Oktober, 21 Uhr

Im Rahmen des Ido-Orgelfestivals gibt es in der Friedenskirche, Florastraße 55,


24 Stunden lang ein buntes Programm. Im Mittelpunkt: ein Orgel-Krimi, eine Märchen-
FOTO: SERGEJ LEPKE

Orgel, ein Sunrise-Frühstück, ein Mitmach-Konzert und musikalische Einfälle. Dank


der Fußbodenheizung können es sich Besucherinnen und Besucher mit Schlafsack
und Decken in der Kirche bequem machen.
Eintritt frei; www.ido-festival.de

Klavierabend
Freitag, 19. November, 19 Uhr
Der Pianist Maciej Pikulski (Foto) spielt in der Johanneskirche, Martin-Luther-Platz 39,
Werke von Frédéric Chopin, Ludwig van Beethoven, Franz Liszt und Franz Schubert.
FOTO: MAPIK/HP

Das Konzert findet in Kooperation mit dem Institut Français und dem Polnischen
Institut statt.
Eintritt frei

Festliches Adventskonzert mit Chor und Orchester


Samstag, 4. Dezember, 18 Uhr

Die Kaiserswerther Camerata, die Kantorei Kaiserswerth sowie die Solisten Christian
Dietz (Tenor) und Clementine Jesdinsky (Sopran) gestalten unter der Leitung von
Susanne Hiekel einen adventlich-musikalischen Abend in der Mutterhauskirche,
Zeppenheimer Weg 12. Auf dem Programm stehen Werke von Heinrich Schütz („Weih-
nachtshistorie für Chor und Orchester“), Benjamin Britten („A Ceremony of Carols“)
FOTO: EVDUS

und John Rutter („Gloria für Chor, Blechbläser und Pauken“).


Eintritt zwischen 10 und 20 Euro, ermäßigt zwischen 7 und 18 Euro. Karten sind erhältlich
bei der Buchhandlung der Kaiserswerther Diakonie, Alte Landstraße 179, Kaiserswerth

Mehr evangelische Kirchenmusik in Düsseldorf unter www.evdus.de, Programmheft unter Tel. 0800 0818283

Erntedank 2010 | bei uns in Düsseldorf 9


Auf einmal
wurde Klara
wunderlich
 Text: Sabine Eisenhauer Fotos: Dominik Asbach
Paare verbringen ihr ganzes Leben miteinander,
teilen Tisch und Bett. Dann wird ein Partner dement
und taucht ab in seine eigene Welt. Was bleibt da von der Liebe?
Walter Wagenscheidt und Elisabeth Kramer haben ihre eigenen
Wege gefunden, mit ihren dementen Partnern
respektvoll zusammenzuleben

lara Wagenscheidt* macht sich schick. Sie steigt in Klara Wagenscheidt leidet an Demenz. Das Wort stammt aus
den hellen Rock, zieht die leuchtend gelbe Bluse an, darüber der lateinischen Sprache. Es bedeutet so viel wie „Der Geist
noch der leichte Mantel – fertig. Die 83-Jährige öffnet die ist weg“. Das Gehirn zollt dem Alter Tribut: Das Gedächtnis
Wohnungstür, geht langsam die Treppenstufen im Flur des lässt nach, das Sprachvermögen sinkt. Logisch und abstrakt
Duisburger Mehrfamilienhauses hinab. zu denken, fällt immer schwerer. In Deutschland sind etwa
Wenn sie ins Freie tritt, steht ihr Mann Walter schon auf 1,2 Millionen Menschen über 60 Jahre betroffen. Ihre Zahl
dem Balkon. Er sieht dann, wie Klara ein paar Schritte geht wird sich Expertenschätzungen zufolge bis zum Jahr 2040
und stehen bleibt. Sie wartet auf die Straßenbahn. Denn sie verdoppeln.
will zur Arbeit, nach Düsseldorf. Doch die Haltestelle der Bei Klara machte sich die Demenz erstmals vor 13 Jah-
Straßenbahn existiert nicht mehr: Seit zehn Jahren fährt die ren bemerkbar. „Sie wurde am Magen operiert, danach
Linie 79 nicht mehr durch die Straße vor Klaras Haus. Und hat sie sich wunderlich verhalten“, erinnert sich Walter
auch ihren Schreibtisch in Düsseldorf gibt es nicht mehr. Wagenscheidt. Klara war damals 70 Jahre alt. „Je älter
Als Sekretärin hat sie dort in den Fünfzigerjahren Sitzungs- der Mensch wird, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit
protokolle geschrieben, Briefe formuliert. Sie denkt, es wäre einer Demenzerkrankung“, sagt Ralf Kraemer, Referent
gestern gewesen. für Altenhilfe der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe.
„Ach Klara“, sagt Walter leise. Der 83-Jährige zieht sich Er ist sich sicher: „In Zukunft wird fast jeder einen Er-
eine Jacke über und geht zu seiner Frau hinunter. „Komm, krankten in seiner Familie, in der Nachbarschaft oder im
wir gehen ein Stück spazieren“, fordert er sie auf. Er hält ihr Freundeskreis haben.“ Umso wichtiger sei es zu lernen,
den Arm hin, lächelt sie an. Klara hakt sich ein. Dann dreht mit der Krankheit und ihren Symptomen zu leben. Das
das Paar eine Runde durch den angrenzenden Park. Sie tref- heißt für Kraemer vor allem zu akzeptieren, „dass sich
fen Nachbarn, halten Schwätzchen, tauschen sich über das Menschen in unserer Mitte nicht mehr ordentlich anzie-
Wetter aus. Dann kehren sie zurück in ihre Wohnung. Bis hen, dass sie das Essen mit Messer und Gabel verlernen
dahin weiß Klara Wagenscheidt nicht mehr, dass sie nach oder plötzlich über Dinge reden, deren Zusammenhang
Düsseldorf wollte. wir nicht nachvollziehen“.
* Namen von der Redaktion geändert

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Die Erinnerungen sind erloschen: Von gemeinsamen Erlebnissen kann nur noch der eine Partner schwärmen

Das auszuhalten, fällt schon Kindern schwer, die sich um Kindes schaut sie in die Runde. „Alles Quatsch, das hör’ ich
ihre dementen Eltern kümmern. Wie aber geht es Frauen und mir nicht länger an!“, ruft sie aus und verlässt das Zimmer.
Männern, deren Partner nach 30, 40 Ehejahren zu Fremden Walter Wagenscheidt bleibt sitzen. Ganz ruhig bleibt er.
im eigenen Bett werden? Was wird dann aus der Liebe? Ihren Ausbruch nimmt er nicht persönlich. Warum sollte
er sie dafür tadeln? „Sie ist doch krank, kann nichts dafür.“
An diesem Nachmittag sitzt Walter Wagenscheidt mit sei- In der Küche klappert es, dann kommt Klara Wagenscheidt
ner Frau am Wohnzimmertisch. „Was ist in der Kanne?“ wieder. Sie setzt sich auf das Sofa, ihre Hände mit den gol-
fragt sie. „Schwarzer Tee“, erklärt er. Und dabei hatte sie denen Ringen faltet sie im Schoß. Sie hat eben ihren eigenen
ihm noch geholfen, den Tisch für den Besuch herzurichten. Willen. Den hatte sie schon immer – und genau das hatte
Hatte die zarten, weißen Teetassen platziert, die Schale mit ihm von Anfang an so an ihr gefallen.
dem braunen Kandis geholt, die Servietten mit den blauen
Blümchen neben die Teller gelegt. Jetzt sitzt sie auf dem Sofa Zum ersten Rendezvous trafen sich Klara und Walter vor
und schlägt die Hände vors Gesicht. „Alles Unsinn, alles Un- mehr als 40 Jahren in einem Düsseldorfer Restaurant. Sie
sinn“, murmelt sie. Sie kann den Gesprächen der Gäste nicht hatten durch eine Zeitungsannonce zueinandergefunden.
folgen, ahnt vielleicht, dass auch sie Inhalt der nachmittäg- „Es gefiel mir, dass sie so lebendig war“, sagt Walter. „Sie
lichen Plauderei ist. „Du hast deine schönen Ringe an“, sagt wusste viel und man konnte mit ihr über alles Mögliche
Walter Wagenscheidt. Immer wieder bezieht er seine Frau reden.“ Er wollte eine selbstständige Frau, eine gleichbe-
in das Gespräch mit ein, schaut sie an und richtet das Wort rechtigte Partnerin. An diesem Abend im Zollhaus spürte er,
an sie. „Du warst ja auch immer berufstätig. Konntest dir dass Klara die Richtige ist: „Sie war eine Frau, die wusste, was
den schönen Schmuck leisten.“ Seine Frau nimmt die Hände sie wollte.“
vom Gesicht, goldene Ringe trägt sie, verziert mit kleinen, Das weiß sie bis heute. Und er findet das gut. Walter
funkelnden Steinen und Ornamenten. „Ach, das geht doch Wagenscheidt redet seiner Frau nichts aus, widerspricht
keinen was an“, schnaubt sie und schüttelt den weiß- ihr nicht. Konfrontiert sie auch nicht mit grausamen Wahr-
haarigen Kopf. Mit dem trotzigen Blick eines eigensinnigen heiten. Zum Beispiel der, dass ihre Eltern schon vor Jahren

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gestorben sind. Dabei will sie doch ganz oft zu ihnen, wird Dann ist Geduld gefragt – und etwas, das Wissenschaftler als
nervös, läuft herum und möchte heimkehren in das kleine „Validation“ bezeichnen. Der Begriff stammt vom englischen
Dorf im Brandenburgischen, in dem sie aufgewachsen ist. Verb „validate“: „als gültig erklären“. Gemeint ist: Wer einen
„Schau doch mal raus“, sagt er dann, „es regnet in Strömen.“ Demenzkranken betreut, sollte versuchen, sich in dessen
Dass sie bei diesem Wetter nicht verreisen können, sieht individuelle Lebenswelt hineinzuversetzen und die hinter
Klara ein. dem verwirrten Verhalten liegenden Gefühle zu verstehen.
Elisabeth Kramer hat darin einige Übung.
„Unsere Beziehung war immer von einer großen Toleranz Ihr Mann Ludwig ist Oberstudienrat. An einem Gymna-
geprägt“, sagt Walter Wagenscheidt. „Nie brauchte sich einer sium im Bergischen Land unterrichtete er Latein und Ge-
von uns beim anderen für seine Wünsche oder sein Ver- schichte. Jetzt sagt er das „Vaterunser“ auf Altgriechisch auf.
halten zu entschuldigen.“ Walter Wagenscheidt liebt seine Immer wieder. „Pater hämon ho en tois uranois, hagiasthäto
Frau. Auch wenn ihre Beziehung in den letzten Jahren mit to onoma su.“ Elisabeth Kramer, 77 Jahre alt, berührt ihn
vielen Abschieden verbunden war. Oft erkennt sie ihren sacht, umfasst mit ihren Händen die schmalen, langen Fin-
Mann nicht einmal mehr. Dann sitzt sie im Nachthemd auf ger des 89-Jährigen. „Dass du das weißt! Aber ich verstehe
der Bettkante und fürchtet sich. „Wollen Sie etwa hier ne- das gar nicht, ich kann doch kein Griechisch“, sagt sie zu ihm.
ben mir schlafen?“, fragt sie besorgt. „Mal sehen“, antwortet „Die Worte sind schön“, entgegnet er. „Ach, dann gefällt dir
er und beginnt ihr etwas zu erzählen. In ruhigem Tonfall also der Klang“, folgert sie.
spricht er über das Abendessen, lässt den gemeinsamen Tag Elisabeth Kramer geht mit seinen Gedanken mit, wenn
Revue passieren. Bis sie Vertrauen fasst und ihn neben sich sie sich auf die Reise machen, wenn sie zurückkehren zu
einschlafen lässt. „Sie sind doch ein guter Mensch“, sagt sie seiner Kindheit in Ostpreußen, zu den Stränden Masurens
dann zu ihm. und dem kleinen See bei Berlin. Immer wieder greift sie den
Wie Walter Wagenscheidt mit seiner Frau umgeht, im- Faden auf. „Dein Bruder hat sogar eine Jolle selbst gebaut,
poniert Hildegard Hartmann-Preis. Die Sozialarbeiterin vom weißt du noch? Ganz aus Holz.“ Ludwig hängt an ihren
Demenz-Servicezentrum „Westliches Ruhrgebiet“ des Evan- Lippen. „Stimmt, stimmt“, sagt er dauernd und dann strahlt er.
gelischen Christopheruswerks in Duisburg hat ihn unter-
stützt, in dem sie Kontakte zu medizinischen, sozialen oder
ambulanten Einrichtungen vermittelte. „Walter Wagenscheidt
gehört zu den Menschen, die ihrem Partner schon immer
eine grundsätzliche Wertschätzung entgegengebracht haben“,
sagt die Demenzberaterin. „Sie meistern daher den Umgang
mit dem erkrankten Gegenüber sehr einfühlsam und
verständnisvoll.“
Hildegard Hartmann-Preis kennt auch andere Fälle: „Wer
mit seinem Leben und seiner Ehe immer schon unzufrieden
war, der wird mit der Betreuung eines demenzkranken Part-
ners kaum fertig“, sagt sie. Wurde eine Ehe allein geschlos-
sen, weil die Partnerin schwanger wurde, oder steckte ein
Partner seine Bedürfnisse jahrzehntelang zurück, sind das
schlechte Voraussetzungen. „Denn eine Demenzerkrankung
bringt eine große Abhängigkeit mit sich“, sagt Hildegard
Hartmann-Preis. „Plötzlich ist ein Partner vollkommen auf
den anderen angewiesen.“

Das Gehirn zollt dem Alter Tribut: Demente reden über


Dinge, die andere nicht nachvollziehen können

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Natürlich habe sich das Rollenspiel in ihrer Beziehung verän-
dert, sagt Elisabeth Kramer. „Die Ebene als Paar gibt es nicht
mehr. Irgendwie ist unser Verhältnis wie das zwischen einer
Mutter und ihrem Kind.“ Aber ein Kind, sagt sie, ein Kind
liebe man doch auch. Sie ist gelernte Krankensschwester, hat
ihre Eltern und Schwiegereltern gepflegt. Als sie ihren Mann
vor 52 Jahren heiratete, war er Witwer und hatte zwei kleine
Kinder. Die zog sie zusammen mit ihm groß, bekam mit ihm
einen weiteren Sohn. „Ich bin eben der Typ Frau, die sich
gern kümmert.“
Was ihr hilft, ist Ludwigs freundliches Naturell. „Er war im-
mer ein gemütlicher Charakter“, erzählt sie. Schon als Kind
prügelte er sich nie, schlichtete lieber den Streit zwischen den
Mitschülern. Auch dass ihr Mann eine Tagespflege besucht,
erleichtert Elisabeth Kramer das Leben mit seiner Demenz:
„Wenn er vom Fahrdienst abgeholt worden ist, kann ich in
Ruhe einkaufen oder den Tag ruhig angehen lassen.“ Manch-
mal fährt sie dann nach Köln, besucht ein Museum, trifft
sich mit Freundinnen. Oder sie legt sich einfach ein wenig
hin. Weil sie nachts nicht geschlafen, sondern aufgepasst hat,
wenn er mal wieder aufgestanden ist. „Manchmal gibt es eben
Momente, da ist man einfach fertig“, sagt Elisabeth Kramer.
„Wenn ich nicht die Zeit für mich hätte, würde ich erstarren.“

Ohne Hilfe von außen geht es nicht. Das betont auch Demenz-
beraterin Hildegard Hartmann-Preis: „Jeder Angehörige
sollte unbedingt die Möglichkeiten ausschöpfen, die es mit
Blick auf gesetzliche, ambulante und medizinische Hilfe gibt.“
Auch Walter Wagenscheidt nimmt das in Anspruch.Seine
Frau wird von einer Krankenschwester ambulant versorgt,
eine gesetzliche Betreuerin kümmert sich um die Anträge
bei der Pflegekasse, um Behördengänge und Finanzen, eine
Friseurin und ein Arzt kommen regelmäßig in die Wohnung
des Ehepaars.
Walter Wagenscheidt besucht eine Angehörigengruppe,
die Hildegard Hartmann-Preis ehrenamtlich leitet. „Ich
wäre sonst vielleicht manchmal niedergeschlagen, aber in
der Gruppe erfährt man, dass man nicht alleine ist.“ Dort
findet er Menschen, die ihn verstehen. Die auch wissen, Die Beziehung ändert sich: Das Paar gibt es nicht mehr,
wie das ist, wenn sich mit der Demenz das Vergessen in das Verhältnis ist wie zwischen Mutter und Kind
einst lebendigen Beziehungen ausbreitet. Klara und Walter
Wagenscheidt haben zusammen viele Weltreisen unternom-
men. Doch vom Sonnenaufgang über dem Meer vor Sydney,
der Blütenpracht in Japan oder der farbenprächtigen Klei-
dung der Brasilianer kann nur noch Walter schwärmen. „Die
Pyramiden in Alexandria, die fandest du so schön, Klara“, Eine Beratungsstelle für Demenz bietet die
sagt er. „Du warst es auch, die immer die Prospekte mit- Diakonie in Düsseldorf auf Anfrage im Dorothee-
gebracht hatte. Du wolltest alles sehen.“ Doch die Erinne- Sölle-Haus, Hansaallee 112, in Oberkassel an.
rungen daran sind bei ihr verloschen. Die vielen Fotos dieser Kontakt: Theodora Düchting, Tel. 0211 58677102.
Reisen schaut er sich daher schon lange nicht mehr mit ihr Betreuungsangebote für Demenzkranke der Dia-
an. Sie sagen ihr nichts. „Das ist schade“, sagt er leise. konie gibt es in mehreren Stadtteilen an jeweils
Doch dann legt er eine Videokassette mit alten Volks- einem Vor- oder Nachmittag in der Woche.
liedern ein. Klara Wagenscheidt kennt sie noch, hatte sie Informationen unter Tel. 0211 7353370 oder
als Mädchen in der Volksschule gelernt. „Hab mein’ Wagen www.diakonie-duesseldorf.de.
vollgeladen, voll mit jungen Mädchen“ und „Geh’ aus mein
Herz und suche Freud’ “ singt das Ehepaar zusammen
mit den Fischer-Chören. Stundenlang machen sie das
manchmal. Gemeinsam.

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ILLUSTRATION: MICHÉL SCHIER
Loslassen Die alleinerziehende Mutter ist besorgt und traurig: Ihr Sohn möchte
plötzlich zum Vater ziehen. Soll sie es erlauben?

» Mein Sohn Tom möchte zu seinem Vater ziehen. wollen), auch weiterzugehen. Das ist das Erste, was Sie Tom
Er ist 15 Jahre alt und stammt aus einer Beziehung, signalisieren sollten: Sie wollen sein Bestes, auch wenn das
die zu Ende ging, als er anderthalb war. Seit fünf bedeuten kann, dass er zum Vater zieht. Als nächstes sollten
Jahren bin ich nun glücklich verheiratet. Tom hatte Sie sich professionelle Hilfe suchen und das auch Tom „zumu-
von Beginn an regelmäßigen Kontakt zu seinem ten“ (15-Jährige sind davon in der Regel nicht begeistert), um
Vater, an Wochenenden, in den Ferien, bei Fa- die Möglichkeit eines Umzugs in aller Offenheit zu prüfen. Die
milienfesten. In den vergangenen Monaten habe ich Jugendämter mit ihren Einrichtungen der Jugendhilfe bera-
mit Tom immer wieder erhebliche Auseinander- ten und helfen kostenlos (auch bei Fragen des Sorgerechts).
setzungen, besonders wenn er bei seinem Vater Schließlich sollten Sie sich klarmachen, dass es in diesem
war. Nun kam er plötzlich mit dem Wunsch an, zu Alter normal und für die Entwicklung wichtig ist, dass sich
seinem Vater zu ziehen. Mir ist es wichtig, dass mein Jungs ihren Vätern zuwenden, und diese umgekehrt mehr
Sohn Kontakt zum Vater hat. Aber ich kann mir nicht Erziehungsverantwortung übernehmen müssen. Pubertie-
vorstellen, dass er gar nicht mehr bei mir lebt. « rende Jungen brauchen besonders den Vater! Konflikte mit
den Müttern können ein Indiz dafür sein, dass solch ein Orien-
tierungswechsel jetzt an der Zeit ist. Das gilt für alle Eltern.
Ich kann erahnen, wie es in all den Jahren gewesen sein mag, Die Verbindung zwischen Tom und Ihnen wird nicht ab-
als Sie Ihren Sohn großgezogen haben. Vieles mussten Sie brechen, nur weil er zum Vater zieht, sondern so wird ihm
allein machen, jede Mahlzeit zubereiten, jeden Kummer ein altersgerechter Kontakt zu beiden Eltern ermöglicht.
trösten, sich viele Nächte um die Ohren schlagen, Beruf und Dazu gehört selbstverständlich eine Besuchsregelung und
Kind unter einen Hut bringen, auf Freizeit und persönliche gute Verabredungen, wie der Kontakt zu Ihnen gestaltet wer-
Wünsche verzichten, viele Entscheidungen das Kind betref- den soll. Ich habe sogar die Hoffnung, dass Sie die neue
fend allein fällen. Sie haben Tom von Beginn an durch das Phase in Ihrem Leben, auch mit Ihrem jetzigen Ehemann,
Leben getragen, im wahrsten Sinne des Wortes. genießen können.
Und Sie haben trotz einer vermutlich schmerzhaften In der Bibel findet sich die bekannte Geschichte vom
Trennung von Ihrem Partner dennoch die Entscheidung verlorenen Sohn (Lukas 15,11 ff.). Mich fasziniert an diesem
getroffen, Ihrem Sohn den Vater zu lassen, und dafür ge- Gleichnis die Weitherzigkeit des Vaters, mit der er erst den
sorgt, dass der Kontakt zwischen Sohn und Vater wächst. Sohn gehen lässt (bestimmt trotz erheblicher Bedenken) und
Das finde ich großartig! Vielen Müttern gelingt das nicht, ihn dann mit ebenso weitem Herzen wieder in die Arme
viele Trennungskinder wachsen gänzlich ohne Vater auf. schließt. Der Sohn bestimmt den Zeitpunkt des Gehens und
Und nun möchte Ihr Sohn zu seinem Vater ziehen. Sie des Zurückkommens, er ist selbst verantwortlich für sein
werden sich im Moment viele Fragen stellen: Was ist Leben, auch für die Fehler. Der Vater – es könnte auch eine
passiert, dass Tom nach all den Jahren von mir weg will? Mutter sein – bleibt zurück und ist dem Sohn doch nahe.
Was habe ich falsch gemacht? Ist das nur eine Laune von
Tom? Hat der Vater ihn gegen mich aufgebracht? Hätte ich
etwa doch den Kontakt zum Vater drosseln sollen?
Hinter solchen selbstzweiflerischen Fragen verbirgt sich Jochen Sprengel aus Düsseldorf
FOTO: ANDRE ZELCK

eine große Verletzung und Traurigkeit. Das drücken Sie in ist Krankenhauspfarrer am Helios-
Ihrem letzten Satz auch sehr ehrlich aus. Wer könnte das Klinikum in Wuppertal und neben-
nicht verstehen, nach all den Jahren mit Ihrem Sohn? beruflich psychologischer Berater
Aber jetzt möchte ich Ihnen Mut machen, den Weg, den bei einem Jugendhilfeverein
Sie für Tom gewählt haben (nämlich das Beste für ihn zu

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heimatpflege

Essen Mehr als nur Nahrungsaufnahme


Schon längst geht es beim Essen nicht mehr nur um guten Geschmack oder
gesunde Ernährung. Es geht um die Vielfalt menschlicher Existenz, um Hunger

FOTO: FACKELTRÄGER VERLAG


und Überfluss, Mangelernährung und Essstörungen, Junkfood und Biowelle. Das
Buch „abgeschmeckt und aufgedeckt“ zeigt die kulturellen, politischen und öko-
nomischen Zusammenhänge rund ums Essen auf. Warum manche Menschen mit
Besteck, andere mit Stäbchen essen, wird dabei genauso beantwortet wie die
Frage, warum Zucker für Armut sorgt.
Katja Herzke, Friedemann Schmoll: „abgeschmeckt und aufgedeckt. alles übers essen“,
Fackelträger Verlag, 14,95 Euro

Demenz Erste Hilfe nach der Diagnose


Die ersten Warnungen hat sie in den Wind geschlagen. Doch nach und nach
FOTO: GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS

erkennt Margot Unbescheid an: Ihr Vater leidet an Demenz. „Alzheimer. Das
Erste-Hilfe-Buch“ ist ein Erfahrungsbericht und Ratgeber zugleich. Es zeigt, wie
sich die Autorin mit der Krankheit auseinandersetzt und in die Rolle der Pflegenden
einfindet. Es gibt Ratschläge, wie Angehörige nach der Diagnose den Alltag
organisieren können und wo sie dafür Hilfe finden.
Margot Unbescheid: „Alzheimer. Das Erste-Hilfe-Buch“, Gütersloher Verlagshaus,
14,95 Euro

DDR Flucht aus dem Erziehungsheim


DDR 1988: Als Anjas Mutter einen Ausreiseantrag stellt, wird sie von der Stasi

FOTO: CECILIE DRESSLER VERLAG


verhaftet. Die 14-jährige Anja kommt in einen Jugendwerkhof, eine Einrichtung,
die aus Jugendlichen „vollwertige Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft“
machen will. Geschockt von der Willkür der Erzieher, der Gewalt und dem Drill,
will Anja nur noch fliehen. Der Roman „Weggesperrt“ von Autorin Grit Poppe wurde
mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher 2010
ausgezeichnet.
Grit Poppe: „Weggesperrt“, Cecilie Dressler Verlag, 9,95 Euro

Musik Lieder vom Leben


„Das Gras ist immer grüner – in Nachbars Garten. Das Leben besser – woanders.“
Weisheiten, dahergesagt im Alltag. Sie lassen sich auch singen. Die Zeilen
FOTO: GERTH MEDIEN

stammen von der neuen CD von Sarah Kaiser. Unter dem Titel „Grüner“ besingt
die Sängerin mit der jazzigen Stimme das Leben. Es geht um Liebe, um
Unwegsamkeiten des Alltags und um Visionen, wie etwa im Lied „Guerilla-Gärtner“
mit der Botschaft: „Es wird viel schöner sein.“ Lieder von Liebe, Hoffnung,
Zuversicht. Lieder vom Leben und zum Leben, mit deutschen Texten zum
Nachdenken und zum Einfach-Zuhören.
Sarah Kaiser: „Grüner“, CD, Gerth Medien, 14,99 Euro

IMPRESSUM

bei uns in Düsseldorf ist das evangelische Heimatmagazin des Evangelischen Kirchenkreises Düsseldorf Verlag und Herausgeber Medienverband der Evangelischen
Kirche im Rheinland gGmbH, Kaiserswerther Straße 450, 40474 Düsseldorf Verantwortlich Regionalseiten (2-5, 8-9, 16): Dr. Ulrich Erker-Sonnabend, Leiter Evangelische
Pressestelle Düsseldorf, Bastionstraße 6, 40213 Düsseldorf. Mantelseiten (1, 6-7, 10-15): Volker Göttsche, Chefredakteur Medienverband Redaktion Ulrike Paas, Simone
Rüth Gestaltung Michél Schier Kontakt Evangelische Pressestelle, Tel. 0211 95757-781, E-Mail: presse@evdus.de Druck Industrie- und Werbedruck Westphal GmbH,
Gutenbergweg 4, 40699 Erkrath bei uns in Düsseldorf erscheint vierteljährlich, die nächste Ausgabe im Dezember 2010

Erntedank 2010 | bei uns in Düsseldorf 15


Viele kleine Glücksmomente
Fabian Haupt ist der erste Zivildienstleistende im Hospiz am Evangelischen Krankenhaus

Leben bis zuletzt


Hospizdienst in Düsseldorf
In der Palliativmedizin steht das Wohler-
gehen der Patientinnen und Patienten im
Vordergrund, die an einer fortschreiten-
den Erkrankung mit begrenzter Lebens-

FOTO: SERGEJ LEPKE


erwartung leiden. Palliativpflege umfasst
die körperliche, seelische, soziale und
spirituelle Begleitung von Patientinnen
und Patienten und ihren Angehörigen
Wenn Fabian Haupt Klavier spielt, geht den Sterbenskranken das Herz auf und Freunden. „Für das Wohlergehen
unserer Patienten engagieren wir uns
Er ist jung, 19 Jahre alt, hat gerade sein Abitur in der Tasche und einen 24 Stunden. Wir verstehen uns als Verbün-
Plan für die Zukunft: Fabian Haupt will Filmmusik machen. Erst aber dete der Schwerstkranken und ihrer An-
einmal ist er der erste Zivildienstleistende im Hospiz am Evangelischen gehörigen“, sagt Dr. Susanne Hirsmüller,
Krankenhaus (EVK) Düsseldorf. „Meine Mutter hat mich auf den Gedanken die das Hospiz am Evangelischen Kran-
gebracht, weil eine Freundin von ihr im Hospiz gestorben ist. Am Anfang kenhaus (EVK) seit 2006 mit ihrem Team
hatte ich eine gewisse Angst: Da liegen 13 Menschen, die eine Krankheit leitet.
haben, die tödlich verlaufen wird.“ Aber nach einem Vorstellungsgespräch Das Hospiz am EVK wurde 1994 ge-
mit Hospizleiterin Dr. Susanne Hirsmüller wusste er, dass er offener mit gründet. Das stationäre Hospiz verfügt
dem Tabuthema Tod umgehen lernen wollte, darüber reden können über 13 Betten und einen ambulanten
möchte und sich selbst die Angst davor nehmen will, weil er auch noch Palliativpflegedienst für Schwerstkranke.
Großeltern hat. „Und ich will den Menschen, die hier leben, etwas mit- In der Palliativpflege speziell ausgebil-
geben“, sagt Fabian Haupt. dete Krankenschwestern und -pfleger
Zu geben hat der 19-Jährige viel. Wenn er sich ans Klavier im Dach- betreuen neben Seelsorgerinnen und
zimmer des Hospizes setzt und Improvisationen spielt, geht den schwerst- Seelsorgern, Therapeutinnen und Thera-
kranken Patientinnen und Patienten das Herz auf. „Manchmal bekomme peuten, einem Ärzteteam sowie ehren-
ich Ideen, während mir ein Bewohner erzählt, wie es ihm geht. Dann amtlichen Mitarbeitenden die Menschen
vertone ich die wahrgenommenen Gefühle“, sagt Fabian Haupt. Für ihn ist in ihrer letzten Lebensphase.
Klavierspielen eine Leidenschaft. Das Hospiz ist auf ehrenamtlich Tätige,
Sein Tag im Hospiz beginnt um 8 Uhr mit der Frühstücksvorbereitung. Freunde und Förderer angewiesen.
Wenn ein Patient sich zu schwach zum Aufstehen fühlt, reicht ihm Fabian
Haupt das Essen im Bett an. Hier muss niemand zu einer bestimmten Uhr- Hospiz am Evangelischen Kranken-
zeit frühstücken. Die individuellen Wünsche und Bedürfnisse der Sterbens- haus (EVK) Düsseldorf, Kirchfeld-
kranken und ihrer Angehörigen stehen im Mittelpunkt. „Ein Patient trinkt straße 35, Tel. 0211 919-4901, E-Mail:
gern teure Säfte, die ich für ihn am Kiosk einkaufe. Dann schenkt er mir auch info@hospiz-evk.de; www.hospiz-evk.de.
ein Glas ein, und wir stoßen zusammen an“, sagt Fabian Haupt. Zu solchen
Glücksmomenten der Patienten zählt auch ein Spaziergang mit dem Roll-
stuhl, eine Partie Schach oder ein Stück selbst gebackener Kuchen und eben
Livemusik. Beim Schichtwechsel des Pflegeteams erfährt der Zivildienstleis-
tende viel über den jeweiligen Gesundheitszustand der Patienten, über die
Krankheitsbilder und Medikamentengabe. „Es ist schon erstaunlich, welche
Lebensgeschichte manche haben, was sie durchgemacht haben und dass
einige schon seit 30 Jahren mit ihrer Krankheit kämpfen“, sagt Fabian Haupt.
Nach Dienstende im Hospiz um 16 Uhr zieht es den angehenden Musik-
studenten auf die Bühne. Fabian Haupt ist bis Oktober im Musical „Bat Boy“
als Fledermaus-Junge in Neuss zu sehen. ULRIKE PAAS

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