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Hans-Peter Büttner
Marx revisted. Geschichte und immanente
Probleme der neoklassischen bzw.
neoricardianischen Marx-Interpretation
Die Diskussion um das Marxsche „Kapital“ war hat die Diskussion der neunziger Jahre im deutsch-
von Anbeginn an sehr kontrovers, spitzte sich dann sprachigen Raum gezeigt, dass aber selbst die neori-
aber in den siebziger Jahren im Gefolge der neori- cardianische Kritik nicht hinreichend war zur
cardianischen Kritik der Marxschen Wert-Preis- Falsifizierung der Marxschen Werttheorie – es exi-
Rechnung derart zu, dass selbst kritische stieren selbst bei Akzeptanz dieser Kritik konsi-
ÖkonomInnen sich veranlasst sahen, die Marxsche stente Lösungsverfahren – und, dass Modelle, die
Werttheorie aufzugeben. Im Folgenden werde ich Produktionspreise ohne Rekurs auf Werte berech-
aufzeigen, wie diese Diskussion entstand und auf nen nicht nur erkenntnistheoretisch fragwürdig
welchen methodischen Prämissen ihre Inter- sind, sondern auch selbst über große, immanente
pretation der Marxschen Werttheorie basiert. Dabei Probleme verfügen.
ist diese Interpretation längst selbst aufgrund ihrer
vollkommen undialektischen und dualistischen 1. Als sich Friedrich Engels in den achtziger
Interpretation der Marxschen Werttheorie Gegen- Jahren des 19. Jahrhunderts an die Herausgabe des
stand marxistischer Kritik geworden. Die Diskus- dritten Bandes des „Kapital“ von Karl Marx machte,
sion im Anschluss an das Verdikt der „Redundanz ging es neben der ungeheuren editorischen Arbeit
der Werttheorie“ hat hierbei zunächst im Ansatz des vor allem um die endgültige Beantwortung der zen-
„Temporal Single Systems“ (TSS) der angloamerika- tralen Frage, wie sich die Marxsche Arbeitswert-
nischen „International Working Group on Value theorie mit der Existenz einer Durchschnitts-
Theory“ (IWGVT) eine Alternative zur neoricardi- profitrate aller Kapitalien vereinbaren ließe. Im er-
anischen Marx-Interpretation hervorgebracht, die sten Band hatte Marx nämlich noch herausgestellt,
sich vom neoklassischen Referenz-System der dass der Mehrwert dadurch entsteht, dass der
Allgemeinen Gleichgewichtstheorie gelöst hat. Es Kapitalist dem Arbeiter den am Markt üblichen
wird somit durch die IWGVT eine Rekonstruktion Lohnsatz bezahlt für sein Recht, die Arbeitskraft
der Marxschen Werttheorie vorgelegt, die Marx des Arbeiters nutzbringend anzuwenden. Am Ende
nicht in die Kategorien der bürgerlichen Gleich- dieser Anwendung steht bekanntlich eine Ware, die
gewichtslehre hineinpresst. Dieser Ansatz ist leider durch Arbeit im Wert gesteigert wurde. Diese
hierzulande noch weitgehend unbekannt. Zuletzt Wertsteigerung übertrifft aber jene Summe, welche
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1 Die Mehrwertrate wird auch „Ausbeutungsrate“ bzw. entwickelten Sraffa-Modell und Bortkiewicz’ positiver
„Exploitationsrate“ genannt. Besprechung der frühen neoricardianischen Arbeiten des rus-
2 Nach Marx können wir deshalb von „einer Konkurrenz unter sischen Nationalökonomen Dimitrieff (Bortkiewicz 1974a, S.
5 den Arbeitern (...) und Ausgleichung durch ihre beständige 100 ff.) gilt er als einer der „Urväter“ des Neoricardianismus.
Auswanderung aus einer Produktionssphäre in die andere“ 12 Ladislaus v. Bortkiewicz (1976a) und (1976b).
(„Das Kapital“ Band III, MEW 25, S. 100) sprechen. Über die 13 Paul M. Sweezy (1971): Theorie der kapitalistischen
Durchschnittsprofitrate und die einheitliche Mehrwertrate Entwicklung. Die Erstausgabe dieses Buches erschien 1942.
wird somit der mikroökonomischen Rationalität der 14 Dieses Gleichungssystem ist somit ein zu Ende gedachtes,
Marktsubjekte unter den Bedingungen der Konkurrenz komplett disaggregiertes Bortkiewicz-System, welches eine
Rechnung getragen. Durchschnittsprofitrate auf jede einzelne Ware berechnet und
3 Der absolute Mehrwert wird also dann erhöht, wenn direkt nicht auf zusammengefasste Produktionssektoren.
unentgeltlich die absolute Mehrarbeit ausgeweitet wird, wäh- 15 Ladislaus von Bortkiewicz (1976a), S. 146.
rend der relative Mehrwert bei konstanter Arbeitszeit über 16 Auch in der DDR wurde Sraffas Hauptwerk zunächst eupho-
die inverse Verlängerung der Mehrarbeit erreicht wird. risch begrüßt. Auf deutsch erschien 1968 eine Übersetzung
4 Selbst Marxens großer, neoklassischer Kontrahent Eugen v. von Kohlmey und Behr von der Akademie der
Böhm-Bawerk (1973, S. 38) konstatierte, dass „sich die wirk- Wissenschaften der DDR. Im Vorwort erklärten Kohlmey
liche Welt (...) auf das deutlichste von dem Gesetz beherrscht und Behr, Sraffa sei „eine markante Persönlichkeit in dem
zeigt, dass Kapitale von gleicher Größe ohne Rücksicht auf großen internationalen Kreis marxistischer Wissenschaftler“
ihre etwaige verschiedene organische Zusammensetzung, (S. 11), welcher „das berühmt gewordene
gleichen Profit abwerfen“. Transformationsproblem“ (S. 12) behandle und es „mit der
5 Nach Michael Heinrich (2004, S. 148) kommt folglich im ka- von ihm so bezeichneten Standardware“ (S. 13) lösen wolle.
pitalistischen Warentausch zum Ausdruck, „dass es beim Als dann in den siebziger Jahren die große Kontroverse zwi-
Tausch nicht allein um die Vergesellschaftung von schen NeoricardianerInnen und MarxistInnen begann, war
Warenproduzenten geht, sondern um die Vergesellschaftung die Euphorie schnell verflogen. Zur Kritik des
von kapitalistischen Warenproduzenten“. Neoricardianismus aus Sicht des DDR-Marxismus sh. zu-
6 MEW 25, S. 175. sammenfassend Hilmar Sachse (1979).
7 Ebd. Ich werde die Bedeutung dieser Unterscheidung noch 17 Für Morishima sollten Walras und Marx sogar gemeinsam(!!!)
unter Punkt 7 erörtern. geehrt werden als Eltern der modernen, dynamischen Theorie
8 Weitere „Invarianzpostulate“ wurden im Verlauf der weiteren des allgemeinen ökonomischen Gleichgewichts“ Morishima
Debatte aufgestellt mit den Forderungen, dass (a) das Schema (1973), S. 2. Hervorh. von mir. (Alle verwendeten Zitate eng-
in Werten reproduktiv sein muss (d.h., alle im lischer Originaltexte wurden vom Autor ins Deutsche über-
Produktionsprozess verbrauchten Kapitalgüter und setzt)
Lohngüter (Inputs) müssen mit den Produktionsergebnissen 18 „Marx’s Economics in the Light of Modern Economic
(Outputs) so übereinstimmen, dass mit dem Output der ver- Theory“ (1974 veröffentlicht in der Zeitschrift
brauchte Input komplett ersetzt wird), (b) in Preisen repro- „Econometrica“) war der Titel eines der Aufsätze von
duktiv sein muss und dass eben (c) eine (wenn möglich in Morishima aus den siebziger Jahren.
Wert- und Preisausdrücken identische) einheitliche Profitrate 19 Die erste Formulierung des MFT fand Anfang der sechziger
vorliegen muss (sh. dazu Hans-Jörg Schimmel (2000), S. 97). durch Morishima und Seton (1961) und unabhängig davon
9 Zur genauen Analyse des Mühlpfordtschen Algorithmus sh. durch Nobuo Okishio (1963) statt (sh.
Friedrun Quaas (1992), S. 67 ff. Morishima/Cataphores (1978), S. 30, Fußn. 15). Raúl Rojas
10 Wolfgang Mühlpfordt (1895), S. 95. Fast gleichzeitig (1897) (1989, S. 229, Fußnote 103) verweist darauf, dass der Begriff
formulierte der Grenznutzentheoretiker Johann von „Fundamentaltheorem“ darauf verweist, dass Mathematiker
Komorzynski (1974, S. 258 ff.) den gleichen Vorwurf, er- dieses Theorem aufgestellt haben, denn auch in der
weitert um die an Böhm-Bawerk angelehnte Bemerkung, dass Arithmetik, der Algebra usw. gibt es
mit der Kategorie des Produktionspreises „der auf den „Fundamentaltheoreme“, aus denen grundlegende
Arbeitsinhalt der Produkte gestützte Tauschwert die reale Schlussfolgerungen abgeleitet werden können.
Geltung eingebüßt hat. Er kann nur in der Phantasie ein 20 Morishima (1973), S. 6.
Scheindasein fortfristen“ (ebd., S. 260). Komorzynski ist also 21 Sh. Ian Steedman (1977), S. 150ff. Aus neoricardianischer
noch ganz der Idee verhaftet, dass es einen logischen Sicht hat Eberhard Feess-Dörr (1989, S. 87 ff.) Steedmans
Widerspruch zwischen Werten und Produktionspreisen gibt. Kritik zustimmend besprochen.
Im Gegensatz zu Mühlpfordt und Bortkiewicz interessieren 22 Den Versuch einer ökonomietheoretisch sinnvollen
ihn folglich nicht alternative Transformations-Verfahren. Interpretation negativer Werte aus Sicht der
11 Wegen der formalen Ähnlichkeit seines Ansatzes mit dem Arbeitswerttheorie – und somit einer Verteidigung der