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1926 531
Dok. 159
Erklärung von 700 KPD-Mitgliedern zur russischen Frage und
gegen die Verfolgung der Linken Opposition in der Sowjetunion
(„Brief der 700“)
[Berlin], 1.9.1926
Flugblatt/Plakat, 4 S., deutsch. Bundesarchiv, Berlin. Links oben Stempel: „Oberkommissar für
Überwachung der öffentlichen Ordnung“. Erstmals vollständig publiziert in: Georg Jungclas: Von der
proletarischen Freidenkerjugend im Ersten Weltkrieg zur Linken der siebziger Jahre. Eine politische
Dokumentation. 1902–1975, Hamburg, 1980, S. 39–47. Später als Erklärung der KPD-Linken zur
russischen Frage in: Helmut Dahmer, Wolfgang Feikert, Horst Lauscher u.a. (Hrsg.): Leo Trotzki:
Schriften, 3 Bde., Hamburg, Rasch und Röhring, 1997, Bd. 3.1, Linke Opposition und IV. Internationale
(1923–1926), S. 671–680.
121 Unterzeichner des Dokuments, das als Solidaritätserklärung mit der Leningrader Opposition
konzipiert war und eine Grundlage für die Vereinigung der Linksopposition in Deutschland war,
waren neben bekannten Repräsentanten der Parteilinken wie Urbahns und Hans Weber als ZK-
Mitglieder sowie Scholem eine Vielzahl mittlerer und unterer Funktionäre. Nachdem vorher bereits
Korsch, Katz, Maslow und Fischer verdrängt wurden, erfolgte als Reaktion der Parteiführung, die
den Ruf „Zurück zu Lenin!“ und den Widerstand gegen die Stalinisierung als Provokation und „anti-
bolschewistische Schmähschrift“ abqualifizierte, der Ausschluss weiterer bekannterer Mitglieder wie
Urbahns, Scholem, und Grylewicz und bis zum Essener Parteitag 1927 der Ausschluss ganzer Orts-
gruppen mit insgesamt ca. 1300 Funktionären (Weber: Die Wandlung, I, S. 178–185).
122 Aus Moskau sandte der Parteiapparat unter der Leitung von M.N. Rjutin starke Kräfte zu den Par-
teiversammlungen und Zellen, um die Arbeiter einzuschüchtern und von einer Stellungsnahme abzu-
halten. Sinowjew selbst wurde so auf der großen Versammlung der Putilov-Arbeiter in Leningrad eine
Niederlage beigebracht. Aufgrund der massierten Interventionen des Apparats wurde am 16.10.1926
ein prekäres Friedensabkommen mit dem Führungsapparat der Partei abgeschlossen. Es kam zwar
weiterhin zu Parteiausschlüssen, jedoch auch zu Wiederaufnahmen, darunter auch Unterwerfungs-
erklärungen wie seitens Krupskajas, Šljapnikov und Klavdija Nikolaeva aus Leningrad. Siehe: Broué:
Histoire de l’Internationale, S. 456f.
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und die Revolution läßt sich nicht durch künstlich herbeigeführte „Mehrheitsbe-
schlüsse“ betrügen!
Erklärung.
An die Exekutive der Komintern! An das ZK der KPdSU! An das ZK der KPD!
Werte Genossen!
Mit den letzen Beschlüssen des ZK und der ZKK der KPdSU sind die Streifragen des 14.
Parteitages der KPdSU123 mit unerhörter Schärfe erneut vor den Kommunisten aller
Länder aufgerollt.
Die neuen organisatorischen Maßnahmen gegen die verschiedenen Oppositi-
onsführer, die die bedeutendste Sektion der Komintern, die KPdSU, an den Rand der
Spaltung gebracht haben, müssen auch dem letzten Genossen die ungeheure Verant-
wortung zum Bewusstsein bringen, die auf ihm lastet, wenn er gezwungen ist, sein
Urteil in der russischen Frage zu fällen.
Es stehen sich in Rußland zwei Meinungen gegenüber. Die Leningrader Opposi-
tion, die schon auf dem 14. Parteitag der KPdSU durch die prominentesten alten Bol-
schewiki wie Sinowjew, Krupskaja, Kamenew usw. vertreten wurde, tritt jetzt erneut
mit einem Programm auf, das der Partei und der Komintern bis heute vorenthalten
wird.
123 Auf dem XIV. Parteitag der VKP(b) (18.–31.12.1925) wurde der Kurs auf die Industrialisierung
der Sowjetunion aufgenommen. Scharfe Auseinandersetzungen mit der geschlossen auftretenden,
jedoch abgeschmetterten „Vereinigten Opposition“ betrafen das diesem Kurs zugrunde liegende Kon-
zept des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande, die Notwendigkeit der Beschleunigung der Indu-
strialisierung bei gleichzeitiger Unterstützung der Bauern durch den Aufbau von Genossenschaften,
sowie den Kampf gegen Bürokratisierung.
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Dok. 159: [Berlin], 1.9.1926 533
Schon nach dem 14. Parteitag der KPdSU erklärte sich die deutsche Linke mit den
Leningrader Arbeitern solidarisch und forderte die Aufhebung des Diskussionsverbo-
tes. Wir lassen auch heute keinen Zweifel daran, daß wir den politischen Standpunkt
der Opposition in der KPdSU teilen.
Infolgedessen hat auch heute die deutsche Linke ihren Standpunkt nochmals in
folgender Resolution dargelegt, die sie in der B[ezirks-] L[eitung]-Berlin-Brandenburg
am 1.8.26. und im ZK der KPD am 6.8.26. eingebracht hat:
124 Weddinger Opposition: Eine der stärksten Oppositionsgruppen der KPD mit Hochburgen in der
Pfalz und im Berliner Stadtteil Wedding, entstanden 1924 und seit Anfang 1926 als Fraktion gegen die
Stalinisierung aktiv (Max Frenzel, Max Weber), mit starker Verankerung in der Arbeiterschaft im Un-
terschied zur ultralinken Opposition (Korsch, Schwarz, Katz), die sich anfangs gleichwohl ebenfalls
zu ihr zählte. Im Unterschied zu anderen Strömungen hielt sie sich bis 1927/1928 in der Partei und
besaß mit Adolf Betz und Max Gerbig zwei ZK-Mitglieder. Politisch näherte sie sich der Linken Op-
position Trotzkis an und bildete später (1930) gemeinsam mit dem Leninbund (Anton Grylewicz) die
„Vereinigte Linke Opposition der KPD (Bolschewiki-Leninisten)“ (VLO). Siehe: Weber: Die Wandlung,
I, S. 149–184; Rüdiger Zimmermann: Der Leninbund. Linke Kommunisten in der Weimarer Republik.
Düsseldorf, Droste, 1978, S. 62–102 u.a.; Marcel Bois: Vergessene Kommunisten. Weddinger Oppositi-
on der KPD. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2008, S. 58–67.
125 Bucharin hatte im Juni 1925 in der Zunahme der dörflichen Nachfrage die Grundlage für eine
erfolgreiche Industrialisierung gesehen und dazu die von Guizot entlehnte Losung „Bereichert Euch,
akkumuliert, entwickelt Eure Wirtschaft“ aufgestellt, was von der Vereinigten Opposition scharf als
Rechtskurs kritisiert wurde (siehe: Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Ent-
stehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München, Beck, 1998, S. 247).
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In diesem Kampfe wendet sich die Leningrader Opposition gegen die Bejahung
der Möglichkeit des Sozialismus in einem Lande,126 für die unverminderte Vorwärts-
treibung der revolutionären Bewegung in den übrigen Ländern, in engster Verbin-
dung mit dem sozialistischen Aufbau in Rußland bis zum Triumph des Sozialismus
durch den Sieg der Weltrevolution,
gegen die Idealisierung des gegenwärtigen Zustandes der russischen Staatsindus-
trie als konsequente sozialistische Industrie,
für eine illusionsfreie Charakterisierung der russischen Staatsindustrie als zwar
konsequent sozialistischen Typus (Art), aber noch nicht rein sozialistisch,
gegen die Uebertreibung der Nep,127 wie sie besonders kraß durch das geflügelte
Wort „Bereichert Euch!“ signalisiert wurde und in der Praxis z. B. durch die neue
Landgesetzgebung, im Warenaustausch und Freihandel usw. ihren Ausdruck findet,
für die Beschränkung der Nep auf die ihr von Lenin gestellten Aufgaben,
gegen jegliche Lockerung der Diktatur des Proletariats gegenüber der Stadt- und
Dorfbourgeoisie durch Ausdehnung der Sowjetdemokratie usw.,
für die Aufrechterhaltung bzw. Ausbau der privilegierten Stellung des Industrie-
Proletariats und der Dorfarmut im proletarischen Staat,
gegen die Ueberwucherung nichtproletarischer Elemente in der KPdSU,
für die schleunigste Auffüllung der russischen Parteikaders mit Industrie-Arbei-
tern und Dorfarmen als die natürlichen Feinde der kapitalistischen Offensivkräfte in
Stadt und Land,
gegen den falschen innerparteilichen Kurs, durch Anwendung mechanischer
Unterdrückungsmaßnahmen (Beschränkung der Diskussionsfreiheit, Maßregelun-
gen usw.)
für die Ausgestaltung der innerparteilichen Demokratie und die Heranziehung
aller Genossen ohne Unterschied ihrer parteitaktischen Stellung zur verantwortli-
chen Mitarbeit,
für die Aufhebung aller Diskussionsverbote, usw.
Die Weddinger Linke wird jede Strömung unterstützen, die auf der Grundlage der
Opposition des 14. Parteitages der KPdSU den Kampf gegen den Stalinismus führt.
Die Weddinger Opposition, die sowohl den Kampf gegen den Opportunismus der
KPD mit aller Heftigkeit führt als auch die absolute Schädlichkeit der künstlichen
und mechanischen Majorisierung durch den Parteiapparat aus eigener Erfahrung zur
Genüge kennt, appelliert an die Gesamtmitgliedschaft der KPdSU, den verhängnisvol-
126 Frühe Formulierungen zum Konzept des „Sozialismus in einem Lande“, in dem die russische
Symbiose von Nationalismus und Sozialismus ihren theoretischen Ausgang nahm, finden sich bei
Stalin Ende 1924. Er entwickelte seit 1925, gestützt auf Bucharin und gegen Trotzkis und Sinowjews
Opposition (seit 1925) die These, dass das sowjetische Volk, durch Lenin „gestählt“, „aus eigener
Kraft“ den Sozialismus meistern könnte, auch ohne „Hilfe aus dem Westen“ (Hildermeier: Geschichte
der Sowjetunion, S. 182ff.).
127 Zur Instrumentalisierung der NEP im Rahmen der erwarteten deutschen Revolution siehe Dok. 90.
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Dok. 159: [Berlin], 1.9.1926 535
len politischen und innerparteilichen Kurs schleunigst zu ändern und so die Gefahr
der Parteispaltung zu bannen.
Die Weddinger Linke der KPD protestiert aufs schärfste gegen das Billigungste-
legramm128 des Polbüros der KPD, das sowohl gegenüber [dem] Plenum des ZK als
auch gegenüber der Gesamtmitgliedschaft eine Ueberrumpelung und Bevormundung
darstellt. Die Mitgliedschaft muß endlich diesen Unfug, der mit ihrem Vertrauen und
dem Disziplinbegriff getrieben wird, energischen Einhalt gebieten und anstelle des
Meinungsmonopols des Parteiapparates wieder ihr eigenes proletarisches Urteil
treten lassen.
Die Fragen der KPdSU sind für die gesamte Komintern von größter Bedeutung.
Deshalb muß das ZK endlich für eine genau und objektive Information der Mitglied-
schaft sorgen und die gründliche Diskussion über die russischen Probleme (mit Kor-
referaten russischer oppositioneller Genossen) in der KPD sofort eröffnen.
Wir wissen, daß die Nep unvermeidlich ist, aber wir lehnen es ab, sie zu idea-
lisieren. Wir weisen auf die großen Gefahren der Nep hin. Wir vertuschen nicht die
Schwierigkeiten, welche der Kommunistischen Partei aus den eigentümlichen Klas-
senkampfbedingungen unter der Nep entstehen. Wir weisen mit Nachdruck auf die
große Kulakengefahr hin,129 deren Vorhandensein die letzten Wahlen zu den Sowjets
bestätigt haben. Wir halten es für verhängnisvoll, die Gefahren zu vertuschen mit
Redensarten über den Optimismus der Stalinschen Mehrheit und den Pessimismus
der Opposition. So behandelt man die Grundfragen in einer ernsten Situation nicht.
Wir haben das Vertrauen und die Zuversicht, das die russische und die internati-
onale Arbeiterklasse, gerade wenn sie die ungeschminkte Wahrheit kennt, mit ihren
gigantischen Kräften die Schwierigkeiten überwindet. Wenn man dagegen die in
Sowjetrußland vorhandenen Elemente des sozialistischen Aufbaues idealisiert und
schönfärbt, wenn man verschweigt, daß das verlangsamte Tempo der außerrussi-
schen revolutionären Bewegung die Entfaltung des Sozialismus in der Sowjetunion
gehemmt hat, demoralisiert man die Arbeiterklasse der ganzen Welt.
Die Beschlüsse der letzten Sitzung des ZK und ZKK der KPdSU sind so schwerwie-
gender Natur, daß sie uns zum lauten Reden zwingen. Schon die Tatsache der orga-
nisatorischen Maßnahmen allein zwingt jeden ehrlichen kommunistischen Arbeiter
instinktiv zur Ablehnung der organisatorischen Beschlüsse des ZK der KPdSU. Die
Komintern wird durch diese Beschlüsse sch[unleserlich] diskreditiert.
Wenn der Vorsitzende des Präsidiums des EKKI als „Spalter“ der bedeutendsten
Sektion der Komintern beschuldigt wird, wenn derselbe Sinowjew, der von der Grün-
128 Vermutlich die Einverständniserklärung der KPD-Führung mit der Absetzung Sinowjews und der
Leningrader Parteiführer.
129 Anfang 1928 griff Stalin seinerseits diese Forderung der Opposition auf, indem er auf seine Weise
repressiv gegen Großbauern („Kulaken“) vorgehen ließ, um die Getreideversorgung zu gewährleisten.
Dies mündete in der Zwangskollektivierung (siehe: Moshe Lewin: Who was the Soviet Kulak? In: So-
viet Studies 18 (1966/67), No. 2, S. 189–212).
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dung der Komintern an ihr Präsident ist, angeblich an der Spitze einer illegalen Frak-
tion stehen soll, so müssen diesen Anschuldigungen Dinge von weittragender Bedeu-
tung vorausgegangen sein. Wenn der Präsident der Komintern und eine Reihe anderer
alter und bewährter Bolschewicken aus dem Politbüro bezw. ZK usw. der wichtigsten
Partei der Komintern gejagt, vor den Augen einer entzückten Bourgeoisie unter dem
Jubelgeheul aller Menschewisten in und außerhalb der Komintern durch die Gosse
geschleift und durch die Presse sämtlicher kommunistischer Parteien mit Schmutz
kübeln überschüttet werden, dann kann das nicht ohne die ernstesten Folgen für die
Kommunisten sein.
Wir unterzeichneten Parteiarbeiter sind der Meinung daß Vorgänge von solch
weltgeschichtlicher Bedeutung nicht mit formalen Methoden und Vorwänden erle-
digt werden können.
Wenn in der KPdSU eine Opposition, die durch Genossen, wie Sinowjew, Krups-
kaja, Kamenew, Laschewitsch usw. vertreten wird, gegen die offizielle Linie der Partei
auftritt und deren Plattform sich ein Genosse wie Trotzki anschließt, der erst vor
kurzer Zeit noch von Gen. Sinowjew scharf bekämpft wurde und den zu gewinnen,
sich die von Stalin geführte Gruppe die erdenklichste Mühe gab, und wenn dabei alte,
erfahrene, der Revolution treu ergebene, in den Schlachten der Revolution erprobte
Genossen angeblich zu konspirativen Methoden greifen, so ist es unwürdig und ver-
hängnisvoll, die hinter einem solchen Auftreten stehenden politischen Fragen durch
mechanische Anwendung der Formel von Disziplinbruch erledigen zu wollen.
Wir alle und jeder denkende Arbeiter versteht, wie verderblich es ist, wenn den
kommunistischen Parteien einfach alles vorenthalten wird, was die Opposition
in unserer russischen Bruderpartei zu sagen hat, während gleichzeitig die ZKs der
Sektionen der Komintern wie auch das ZK der KPD vorbehaltslos den Beschlüssen
des Stalinschen ZK der KPdSU zustimmen und behaupten, die Mitglieder täten das
Gleiche. Wir halten es nach wie vor für unerträglich, daß man die ernste und sachliche
Diskussion der russischen Fragen d. h. der Grundfragen der Revolution verbot und
daß man jeden als Antibolschewisten, Verräter, Sozialfaschisten usw. beschimpft,
wenn er Meinungen äußert, die sich mit den Ansichten der russischen Opposition
mehr oder weniger decken.
Wir sind der Meinung, daß die Atmosphäre in der Komintern vergiftet ist. Man
verurteilt politische Richtungen, Gruppen und Genossen ohne ihre politischen
Anschauungen bekannt zu geben. Man gibt deren politische Auffassungen falsch
und entstellt wieder und hütet sich, die von der Opposition gehaltenen Reden, vor-
gelegten Resolutionen, Artikel und Plattformen der Mitgliederschaft zur objektiven
Beurteilung zugänglich zu machen.
Man betreibt im Gegenteil eine unverantwortliche Geheimdiplomatie und bedient
sich zur „Erledigung“ der führenden Genossen der Opposition der schmutzigsten
Mittel und Methoden, die uns bis jetzt als die Methoden der deutschen Gewerkschafts-
bürokratie zur Bekämpfung ihrer kommunistischen Todfeinde nur allzubekannt sind.
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Dok. 159: [Berlin], 1.9.1926 537
Durch derartige Methoden kann man die Komintern nur ruinieren! Die Bedeu-
tung dieser Vorgänge für die Komintern liegt auf der Hand. Die Hetze, die bis jetzt
gegen die Sinowjew usw. entfaltet wird, versteht jeder politisch denkende Arbeiter
als den Versuch, die Komintern als revolutionäre Organisation des Weltproletariats
zu liquidieren. Es ist kein Zufall, daß nach 14. Parteitag der KPdSU und auch heute
wieder die Weltbourgeoisie mitsamt den Menschewisten und russischen Weißgardis-
ten die Niederlage der russischen Opposition und den Sieg Stalins als den Sieg einer
„national beschränkten“, „gemäßigten“, „vernünftigen“ und „realpolitischen“ Rich-
tung über die „agitatorische“ Richtung bewerten und begrüßen.
Man redet über Prinzipienlosigkeit der russischen Opposition, weil unter gänz-
lich neuen Umständen verschiedene frühere oppositionelle Gruppierungen sich
gegen die Linie der Stalinschen Mehrheit zusammengeschlossen haben. Gleichzeitig
aber betreibt man den Zusammenschluß der rechtesten Gruppierungen in der Kom-
intern mit pseudolinken Gruppen, die das gegenwärtige ZK unterstützen. Besonders
katastrophal muß sich diese Methode in unserer Partei, der KPD, auswirken.
Man darf nicht vergessen, daß der EKKI-Brief vor einem Jahre angeblich die Partei
„normalisieren“ sollte. Seine Folgen waren eine vollkommene Desorganisation und
Atomisierung der KPD und eine restlose Restaurierung der Rechten.
Das gegenwärtige ZK der KPD, welches sich als „Sinowjewsches“ ZK gegen die
sogenannten Ultralinken einsetzte, besteht z. T. aus Leuten, die bis 1923 bedingungs-
los mit Brandler gingen, ihn 1924 skrupellos verrieten, dann bedingungslos mit den
Linken gingen, die damalige Führung aus Anlaß des Offenen Briefes ebenso skrupel-
los im Stiche ließen und sich selbst als eine Art verführter Kinder darzustellen belieb-
ten. Sie lassen jetzt den Genossen Sinowjew ebenso schmählich im Stich. In Wirk-
lichkeit aber wird die politische Arbeit des ZK geleitet von Menschen vom Schlage
eines Heinz Neumann, Leuten, die bei jedem Konjunkturwechsel auf die Seite der
ertragreichen jeweiligen Mehrheit fallen.130
Und diese Leute wagen es von Prinzipienlosigkeit zu reden!
Wir können auf Grund solcher Tatsachen nicht schweigen. Wir fordern, daß die
Diskussion auf ein politisches Geleise gerückt wird.
Wir fordern die sofortige Veröffentlichung des stenographischen Protokolls der
letzten Sitzung des ZK und ZKK der KPdSU sowie des 14. Parteitages.
Wir wissen sehr wohl, daß die Opposition dort gesprochen hat, daß sie Resoluti-
onen vorgelegt, Vorschläge gemacht hat. Wir wollen uns nicht mit Märchenerzählun-
gen über die Opposition abspeisen lassen. Wir wollen wissen, was diese oppositionel-
len Genossen selber sagen. Darum: heraus mit allen von der Opposition vorgelegten
Resolutionen, Plattformen, Artikeln usw.
Wir fordern, daß das vom ZK eingenommene Monopol der einseitigen Berichter-
stattung gebrochen wird.
130 Neumanns Rolle als Denunziant seiner Genossen bei Stalin wird in einigen hier veröffentlichten
Dokumenten deutlich (siehe u.a.: Dok. 160 und 161).
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131 Aus Opposition gegen Lenin trat Bucharin 1917 auch als Herausgeber der Pravda zurück und
bildete die „Linken Kommunisten“. Seine Theorie der Notwendigkeit einer „Elektrisierung“ des euro-
päischen Proletariats bezeichnete Trotzki als „scholastische Karikatur von der marxistischen Auffas-
sung (von) der Revolution in Permanenz“ (Leo Trotzki: Die Dritte Internationale nach Lenin, Essen,
Mehring Verlag, 1997, S. 100).
132 Auf dem Parteitag von Halle 1921 erfolgte nach einer fulminanten Rede von Sinowjew die Spal-
tung der USPD, deren linker Flügel sich mit der KPD vereinigte und damit die Grundlage für eine
kommunistische deutsche Massenpartei schuf (siehe auch Dok. 64).
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