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Die Macht der Trommeln

Die kulturelle Bewegung der schwarzen Karnevalsgruppen


aus Salvador/Bahia in Brasilien

Das Beispiel der Grupo Cultural Olodum

Dissertation
zur Erlangung des akademischen Grades der Doktorin der Philosophie
am Fachbereich Erziehungswissenschaften
der Freien Universität Berlin

Vorgelegt von

Petra Schaeber

Berlin, im Mai 2003

Am Milchberg 22
D-21640 Horneburg
Tel/Fax: 04163/2233
Erstgutachter: Prof. Dr. Jürgen Zimmer

Zweitgutachter: Prof. Dr. Christoph Wulf

Datum der mündlichen Prüfung: 14.07.2003

2
Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig verfasst
und die benutzten Hilfsmittel und Quellen kenntlich gemacht habe.

Berlin, den 15 Mai 2003

3
Haiti

Quando você for convidado pra subir no adro


Da Fundação Casa de Jorge Amado
Pra ver do alto a fila de soldados, quase todos pretos
Dando porada na nuca de malandros pretos
De ladrões mulatos e outros quase brancos
Tratados como pretos
Só pra mostrar os outros quasi pretos
(Que são quase todos pretos)
Como é que pretos, pobres e mulatos
E quase brancos, quase pretos de tão pobres são tratados
E não importa se olhos do mundo inteiro
Possam estar por um momento voltados para o largo
Onde os escravos eram castigados
E hoje um batuque, um batuque
Com a pureza de meninos uniformizados de escola secundária em dia de parada
E a grandezza épica de um povo em formação
Nós atrai, nos deslumbra e estimula
Não importa nada : nem o traço do sobrado
Nem a lente do Fantástico, nem o disco de Paul Simon
Ninguém, ninguém é cidadão
Se você for ver a festa do Pelo, e se você não for
Pense no Haiti, reze pelo Haiti
O Haiti é aqui, o Haiti não é aqui
E na TV se você vir um deputado em pânico mal dissimulado
Diante de qualquer, mas qualquer mesmo, qualquer, qualquer
Plano de educação que pareça fácil
Que pareça fácil e rápido
E vá representar uma amaça de democratização
Do ensino de primeiro rau
E se esse mesmo deputado defender a adoção da pena capital
E o venerável cardeal disser que vê tanto espírito no feto
E nenhum no marginal
E se, ao furar o sinal, o velho sinal vermelho habitual
Notar um homen mijando na esquina da rua sobre um
Saco brilhante de lixo do Leblon
E ao ouvir o silênzio sorridente de Sao Paulo
Diante da chacina
111 presos indefesso, mas presos são quase todos pretos
Ou quase pretos, ou quase brancos, quase pretos de tão pobres
E pobres são como podres e todos sabem como se tratam os pretos
E quando você for dar uma volta no Caribe
E quando for trepar sem camisinha
E apresentar sua participação intelligente no bloqueio a Cuba
Pense no Haiti, reze pelo Haiti
O Haiti é aqui, o Haiti não é aqui

Gilberto Gil/ Caetano Veloso

4
Wenn Du eingeladen wirst auf den Balkon
Der Stiftung Casa Jorge Amado
Um von oben die Reihe der Soldaten zu sehen, fast alle schwarz
Die den schwarzen Gaunern Prügel in den Nacken verpassen
Den mulatten-farbenen Dieben und anderen fast Weißen
Die wie die Schwarze behandelt werden
Nur um den anderen fast Schwarzen zu zeigen
(Die fast alle Schwarze sind)
Wie es so ist, wie Schwarze, Arme und Mulattos
Und fast Weiße, fast schwarz vor lauter Armut, so behandelt werden
Und es ist egal ob die Augen der ganzen Welt
Für einen Moment auf diesen Platz gerichtet sind
Auf dem die Sklaven ausgepeitscht wurden
Und heute ein Trommeln, ein Trommeln
Mit der Reinheit von uniformierten Kindern der weiterführenden Schulen am Paradetag
Und die epische Größe eines sich bildenden Volkes
Zieht uns an, wickelt uns ein und regt uns an
Es ist überhaupt nicht wichtig: Nicht die Silhouette der Kolonialhäuser
Nicht die Linse des Fantástico, nicht die Platte von Paul Simon
Niemand, niemand ist Bürger
Wenn Du gehst das Fest auf dem Pelô zu sehen, und wenn Du nicht gehst
Denke an Haiti, bete für Haiti
Das Haiti ist hier, das Haiti ist nicht hier.
Und im Fernsehen, wenn Du einen Abgeordneten in schlecht überspielter Panik siehst
Gegenüber irgendeines, aber wirklich irgendeines, irgendeines
Bildungsplanes, der leicht erscheint
Der leicht und schnell erscheint
Und eine Bedrohung durch seine Demokratie darstellt
Der Grundschulbildung
Und wenn dieser selbe Abgeordnete die Todesstrafe befürwortet
Und der erhabene Kardinal sagt, er sehe soviel religiösen Geist im Fötus
Und keinen im Kriminellen
Und wenn beim Überfahren der roten Ampel, die alte gewohnte rote Ampel
Du einen Mann bemerkst, der an der Straßenecke pinkelt auf einen
Leuchtenden Müllsack in Leblon
Und wenn Du das lächelnde Schweigen São Paulos hörst
Gegenüber des Abschlachtens von
111 wehrlosen Gefangenen, aber die Gefangenen sind fast alles Schwarze
Oder fast schwarz, oder fast weiß, fast schwarz vor lauter Armut
Und Arme sind wie Faulige, und alle wissen, wie man die Schwarzen behandelt
Und wenn Du eine Runde drehst in der Karibik
Und wenn Du ohne Kondom vögelst
Und deine kluge Teilnahme an der Blockade gegen Kuba vertrittst
Denke an Haiti, bete für Haiti
Haiti ist hier, Haiti ist nicht hier

5
INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort und Danksagung 10

Teil I

1. Einleitung 15
1.1 „Do you have blacks, too?“ – Problemstellung 15
1.2 Forschungsstand 22
1.3 Konzeption und Struktur 25

2. Rassismus und „schwarze“ Kultur -


Theoretische Überlegungen 28
2.1 Rassismus 28
2.1.1 Der naturwissenschaftliche Rassismus 29
2.1.2 Die moderne Rassismusdiskussion 33
2.2 („Schwarze“) Kultur und Identität 36
2.2.1 Kultur und Kulturelle Identität - auf den Spuren von
Pierre Bourdieu und Clifford Geertz 37
2.2.2 Schwarze Kultur und Identität 40

3. Afro-brasilianische Kultur – seit 100 Jahren im Blick der Wissenschaft 46


3.1 Afrikaner in Brasilien – ein Problem für die Elite 46
3.2. Das afrikanische Erbe – Zeichen für Toleranz 47
3.3 Der Fall aus dem Paradies – die Studien der UNESCO 49
3.4 Rassismus – ein Tabu, afro-brasilianische Kultur geduldet 52
3.5 Rassenbeziehungen aus neuen Perspektiven 53
3.6 Der brasilianische Karneval als Forschungsthema 56

4. Der Weg der Forschung – Fragestellungen und Methoden 60


4.1 Hypothesen und zentrale Forschungsfragen 60
4.2 Zwischen Konzepten und Emotionen – Instrumente 63
4.3 Schwierigkeiten und Besonderheiten der Feldforschung 68

Teil II

5. Über 350 Jahre Sklaverei brasilianische Geschichte der Rassenbeziehungen 73


5.1 Sklaverei – Rückgrat der Kolonialgesellschaft 73
5.2 Schwarzer Widerstand zwischen Verhandlung und Konflikt 78
5.2.1 Zumbi und die Quilombos von Palmares 79
5.2.2 „Tod den Weißen“ – Revolten und Aufstände 83
5.2.3 Trommeln im Kirchhof- die katholischen Bruderschaften 87
5.3 Der lange Weg zum goldenen Gesetz 90

6- Die drei „C“ afro-brasilianischer Kultur – Carnaval, Capoeira, Candomblé 95


6.1 Land des Karnevals 95
6.1.1 Die wilden Sitten des Entrudo 96
6.1.2 Der Große und der Kleine Karneval 97
6.1.3 Afrikanisierung des Karneval 98
6.1.4 „Glanz und Gloria“ – der moderne Karneval
der Samba-Schulen 102

6
6.1.5 “Hinter dem Trio Elétrico”- Karneval in Salvador da Bahia 105
Die Blocos de Indio
6.2 Capoeira – Tanz der Kämpfer 108
6.3 Candomblé – die Religion der afrikanischen Götter 113
„Kao Kabicilê“- „Kommt den König zu sehen“- das Fest

7. Brasilianische Schwarzenbewegung - zwischen Anpassung und Abgrenzung 119


7.1 Die Nation wird aufgehellt 120
7.2 Assimilierung zur Überwindung der Rassenschranken 122
7.3 Frente Negra Brasileira - die erste politische schwarze Vereinigung 125
7.4 Kurze Blüte zwischen den Diktaturen: Teatro do Negro 127
7.5 Die politische Vertretung: Movimento Negro Unificado (MNU) 130

8. Racismo Cordial – höflicher Rassismus 134


8.1 Lass Deine Farbe nicht unbemerkt durchgehen – Schwierigkeiten bei der
Statistik 135
8.1.1 Geschichte des Zensus 137
8.1.2 Eigen- und Fremdeinschätzung 138
8.1.3 Braun („morena“) ist die Farbe Brasiliens 139
8.2 Die soziale und wirtschaftliche Situation der Afro-Brasilianer 142
8.2.1 Brasilien 142
8.2.2 Arbeitsmarkt und Einkommen 144
Exkurs:
Integration der Afro-Brasilianer ins Wirtschaftsleben -„Empregada
doméstica“- die Hausangestellte
8.2.3 Bildung – eines der zentralen Probleme der Afro-Brasilianer 149
8.2.4 Gewalt 154
8.3 „mit gepflegtem Auftreten“ - verdeckter Rassismus 156
8.3.1 Das europäische Ideal 156
8.3.2 Die Scham des Vorurteils 158
8.3.3 Die wichtigen Zwischentöne 159
8.3.4 Zwischen Recht und Ordnung 160
8.3.5 In nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen 162
8.4 Auf der Suche nach einem Weg für Brasilien 164

Teil III

9. „Bahia ist zu Jamaika geworden“ – die kulturelle Bewegung der Blocos Afros 165
9.1 Bahia-schwarzes Herz Brasiliens 165
9.2 Musik als Waffe - Re-Afrikanisierung des Karnevals 170
9.2.1 Der Bezug zu Afrika und die Konstruktion der Identität 171
9.2.2 Das Karnevalsthema 172
9.2.3 Die Musik- und Schönheits-Festivals 173
9.2.4 Die Rhythmen 174

7
9.3. Die verschiedenen Stämme 177
9.3.1 „Der Schönste der Schönen“ - Ilê Aiyê 178
Der Auszug aus Curuzu am Samstagabend
9.3.2 Die Fischer von der Lagune - Malê Debalê 185
9.3.3 Olodum do Pelô 187
9.3.4 Ara Ketu – „Mehr als gut“ 191
9.3.5 Bahia- Jamaika: „Muzenza, der Rastafari-Kämpfer“ 195

10. Olodum vom Pelourinho 199


10.1 Der Pelourinho, wie er früher war – persönliche Geschichten 199
10.2 Die Benção am Dienstag 202
10.3 Der Pelourinho ein schwarzer Platz 204
Die Sonntagsprobe auf dem Pelourinho
10.4 Die Afrikan Bar – der Auftritt am Dienstag 208
In der Afrikan Bar
10.5 Die Restaurierung des Pelourinho-Viertels 212

11. Die Musik der Blocos Afros – schwarze transatlantische Musik 217
11.1 Brasilien – Land der Musik 217
11. 2 Analyse der musikalischen Entwicklung Olodums 219
11.2.1 Starke schwarze Musik – die ersten Platten 220
11.2.2 Vom Kämpfer zum Romantiker 228
11.3 Die Faszination des Ruhms 241

12. Olodum im Karneval 245


12.1 Karneval – das Straßenfest der Superlative 245
12.2 Bahia hat gewonnen – der Karneval 1993 247
12.3 Olodum im Karneval 248
Die Schätze Tut-Ench-Amuns
12.4 „Eu sou Olodum – quem tu és?“ – Karnevalsteilnehmer 252

13. Die Bildung , die von den Trommeln kommmt –


Escola Criativa Olodum 260
13.1 Das Raunen der Trommeln 260
13.2 Niemand wird als Rassist geboren – die interethnische Pädagogik 262
13.3 Die Escola Criativa Olodum 266

14. Musik, Theater, Literatur – die kultur-politische Arbeit Olodums 271


14.1 Schwarzes Theater - Bando de Teatro Olodum 272

15. „Freiheit für Mandela“ – Olodum als Teil der Schwarzenbewegung 281
15.1 Malcolm X und Nelson Mandela – die politischen Idole . 281
15.2 “They don´t care about us“- Video-Clip mit Michael Jackson 288

16. Olodum – ein schwarzes Kultur-Unternehmen 292


16.1 Das Kultur-Unternehmen 292
16.1.1 Die Boutique Olodum 293
16.1.2 Die Fábrica de Carnaval Olodum 294
16.1.3 Die Marke Olodum - unverkennbar und leicht identifizierbar 296

8
16.2 Ein „schwarzes“ Unternehmen? 298
16.2.1 Die Direktoren-Runde 298
16.2.2 Die Dimensionen des Kultur-Unternehmens 300

17. Vom Karneval zur Quoten-Diskussion 305


17.1 Afro-brasilianische Kultur im Zeichen des Black Atlantic 305
17.2 Olodums Weg zum Erfolg 308
17.3 Brasilien – Land einer besseren Zukunft für Afro-Brasilianer 311

18. Literaturverzeichnis 316

19. Discographie 333

20. Anhang 334


20.1 Verzeichnis der Interviews und Fragebögen 334
20.2 Ausgewählte Gesetze und Feierlichkeiten 341
20.3 Lebenslauf 344
20.4 Abbildungsverzeichnis 346

9
Vorwort

Wie bist Du überhaupt auf dieses Thema gekommen? wurde ich oft gefragt -und fand nur
schwer eine kurze, den Fragenden zufriedenstellende Antwort:
Zum ersten Mal kam ich im August 1987 nach Bahia. Damals studierte ich für ein Jahr an der
katholischen Universität (Pontifícia Universidade Católica, abgekürzt PUC) in Rio de Janeiro.
Salvador, so hatte ich in Rio gehört, sei das „schwarze Brasilien“, geprägt von der
afrikanischen Kultur der Nachfahren der Sklaven. Dort gäbe es ein Stadtviertel, in welches
sich kein Weißer wage, mit Bars, in denen Reggae und Soul-Musik gespielt würden. Auch
einer der Hits des letzten Sommers kam aus Bahia: Das Lied „Faraó“, in dem die Pyramiden
Ägyptens und eben jenes Viertel Pelourinho besungen wurden. Das alles klang, selbst in Rio,
sehr exotisch. Nie vergessen werde ich die ersten Tage in Salvador: der Blick aus dem
heruntergekommenen Hotelzimmer an der Praça Anchieta in der historischen Altstadt auf die
schräg gegenüber liegende Barockkirche São Francisco mit ihrem prächtigen goldbelegten
Altar, die verfallenden Häuser der Altstadt mit ihrem abschüssigen Kopfsteinpflaster, die
bettelnden Kinder, die ausgezehrten Prostituierten und traurigen Gestalten, den Klang des
berimbaus, des Musikbogens beim Kampf-Tanz capoeira1, und das mulmige Gefühl nach
Einbruch der Dunkelheit auf den Straßen. Wann immer wir uns über das Terreiro de Jesus
hinauswagen wollten, warnte jemand: „Geht da nicht hin, das ist zu gefährlich.“ Zu dieser
Zeit war das gesamte Gebiet außer dem Terreiro de Jesus, der Rua Alfredo Brito und dem
Pelourinho für Außenstehende tabu - und auch hier hieß es: aufpassen. Als sich unser
bahianischer Begleiter endlich einmal bereit erklärte, mit uns zum Pelourinho zu gehen,
mußten wir die Ringe ablegen und er nahm die Wertsachen an sich. Und dann sahen wir sie:
Schon auf der Hälfte der ladeira, der steilen Gasse, hatten wir ein Rumoren gehört, das
schrille Quietschen der Lautsprecheranlage. Am Kopf des Platzes stand eine Handvoll von
Jugendlichen mit vielen großen und einigen kleineren Trommeln angeführt von einem
energiegeladenen Schwarzen mit Rasta-Haaren. Das tiefe Wummern der Trommeln ging in
den Bauch. Den Sänger, der auf einem wackligen Gerüst balancierte, konnte man wegen der
schlechten Anlage kaum verstehen. Wir blieben ein Weilchen, während unser Begleiter
besorgt das andere Publikum musterte - viele Zuschauer aus dem Viertel. Dann spielte die
Gruppe ein Lied, das wir bereits kannten: „Faraó“. Das Lied, so erklärte uns unser Begleiter,
sei von dieser Gruppe komponiert worden und im vergangenen Karneval wäre es der größte

1
Zur Bedeutung des Kampf-Tanzes Capoeira, s. Kapitel 6.

10
Erfolg gewesen. Die Handvoll Trommler sei ein bloco afro, ein Afro-Block, namens
„Olodum“, aber da es bereits dunkel werde, sollten wir besser gehen...

Zum Ende meines Aufenthalts bei dem ich Material für meine Diplomarbeit über Favelas
gesammelt hatte, jährte sich im Mai 1988 der 300. Jahrestag des „Lei Aúrea“, des „Goldenen
Gesetzes“ mit dem die Sklaverei offiziell abgeschafft wurde. Die Tageszeitungen und
Magazine berichteten anläßlich dieses Datums in großen Reportagen über die Situation der
schwarzen2 Brasilianer. Nicht eine versäumte es, ein Kapitel Salvador und der „neuen
schwarzen Musikbewegung“ zu widmen. Das Lied „Faraó“ hatte die Aufmerksamkeit auf
das, was sich in Salvador tat, gelenkt. Stolze, schöne schwarze Menschen waren in den Fotos,
welche die Berichte begleiteten, abgebildet. Mit Rasta-Haaren, bunten, afrikanisch-
anmutenden Kleidern und kämpferischen Statements gegen den Rassismus. Im Mittelpunkt
vieler Reportagen tauchte immer wieder ein Name auf: Olodum.

Rassismus in Brasilien? Hatte nicht gerade das harmonische Zusammenleben der Rassen
Stefan Zweig zu seiner wunderbaren, emotionalen Beschreibung Brasiliens bewogen? Und
war nicht auch in allen Reisebeschreibungen, die ich über das Land gelesen hatte, immer
wieder die Rede gewesen vom Rassenparadies Brasilien?

„Dieses Zentralproblem, das sich jeder Generation ... aufzwingt, ist die Beantwortung der
allereinfachsten und doch notwendigsten Frage: wie ist auf dieser Erde ein friedliches
Zusammenleben der Menschen trotz aller disparaten Rassen, Klassen, Farben, Religionen und
Überzeugungen zu erreichen? ... Keinem Lande hat es sich durch eine besonders komplizierte
Konstellation gefährlicher gestellt als Brasilien, und keines hat es - und dies dankbar zu
bezeugen, schreibe ich dieses Buch - in so glücklicher und vorbildlicher Weise gelöst wie
Brasilien“ (Zweig, 1989, 12).

Auch ich war hierher gekommen und zunächst dem Schein des harmonischen Miteinander der
Rassen erlegen, gab es doch auf den ersten Blick keine offensichtlichen Schranken, keine
Gesetze zu Segregation und Apartheid wie in den USA oder Südafrika: Menschen aller
Hautfarben beim Bier an der Theke des boteco, der typischen Bar an der Ecke, Kinder mit den
unterschiedlichsten Hautschattierungen Hand in Hand auf dem Schulweg in der gleichen
Schuluniform, keine Schilder, die Parkbanken oder Restaurants nur für Weiße markieren. Erst
nach einer Weile schärfte sich mein Blick für die unterschiedliche soziale Struktur der
brasilianischen Gesellschaft und die viel feineren Unterschiede und Codexe, die Menschen

2
Zur Benutzung der Begriffe „schwarz“, „Afro-Brasilianer“ etc. s. im Kapitel 1.

11
unterschiedlicher Hautfarbe diese ganz unterschiedliche sozialen Plätze in der brasilianischen
Gesellschaft zuordnen. Die überwiegende Mehrheit der städtischen Müllabfuhr hat eine
ebenso dunkle Hautfarbe, wie die Hausmädchen und Dienstboten, während fast alle Ärzte,
Juristen oder Politiker offensichtlich europäischer Abstammung sind. In manchen Restaurants
und Clubs werden schwarze Brasilianer einfach nicht bedient, weil sie nicht „Mitglied“ sind
und in den feinen Hochhäusern der Mittel- und Oberschicht werden sie vom - oft ebenfalls
dunkelhäutigen - Portier zur Benutzung des Dienstbotenaufzugs angewiesen.
Mich faszinierte dieser Widerspruch, diese vielfältigen Ebenen von Realität, die sich einem
einfachen Erklärungsmuster entzogen. Dazu kam die Neugier das Unbekannte, diese fremde
Kultur Bahias, kennenzulernen. Was ich gesehen, gehört, geschmeckt und gefühlt hatte, hatte
mich begeistert und bereits in seinen Bann gezogen. Die Trommeln auf dem Platz mitten in
der verfallenen Altstadt Salvadors gingen mir nicht mehr aus dem Kopf.
Mit dieser Arbeit möchte ich einen Beitrag zum Verständnis der vielfältigen Problematiken
einer von einem verdeckten Rassismus geprägten Gesellschaftsstruktur leisten. Dabei spielt
die Nutzung der lange Zeit unterschätzten Möglichkeiten von Kultur als Überlebensstrategie
und Integrationsform gesellschaftlich marginalisierter Gruppen in modernen, urbanen
Zusammenhängen eine herausragende Rolle. Die kulturellen Manifestationen in Bahia sind
entscheidend für die Veränderungen in der Rassismusdiskussion in Brasilien. Welche
Schlüsse können wir in Deutschland aus diesen Erfahrungen ziehen? Rassismus,
Ghettoisierung, Subkulturen, immer größere soziale Gegensätze und Ausschluss ganzer
Bevölkerungsteile sind Themen, die uns die nächsten Jahre beschäftigen werden.

Es gibt viele Wege, die zum Ziel führen und dies gilt im besonderen für den Abschluss dieser
Arbeit. Ich möchte an dieser Stelle all denen danken, die mir Vertrauen entgegen gebracht
haben und mich bei meinem Vorhaben bestärkt haben, allen voran meinen Doktorvätern
Herrn Prof. Dr. Jürgen Zimmer und Herrn Prof. Dr. Christoph Wulf. Dank auch den
Mitarbeiterinnen des Lehrstuhls, insbesondere Stefanie Holyst, und des Promotionsbüros der
Freien Universität Berlin, die mir über die bürokratischen Hürden hinweghalfen.
Die Durchführung der Feldforschungen für diese Arbeit wäre ohne die großzügige Förderung
des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), der mir in Kooperation mit der
brasilianischen Partnerorganisation Coordenação de Aperfeiçoamento de Pessoal de Nível
Superior (CAPES) ein 18-monatiges Stipendium gewährte, nicht möglich gewesen. Beiden
Institutionen möchte ich an dieser Stelle für das in mich gesetzte Vertrauen danken. Dank

12
auch an Herrn Dr. Johannes Augel und seine Frau Moema für die Unterstützung in der
Anfangsphase meines Vorhabens.

In Salvador wurde ich von dem der bundesstaatlichen Universität (Universidade Federal da
Bahia UFBA) Centro de Estudos Afro-Orientais (CEAO) aufgenommen und konnte bei allen
Problemen mit der Unterstützung der jeweiligen Leiter, Dr. Júlio Braga und Jeferson Bacelar,
rechnen. Ohne die fruchtbaren Diskussionen und anregenden Kritiken meiner
Forschungskollegen und -freunde des Projeto S.A.M.BA (Sócio-Antropologia da Música na
Bahia), insbesondere Dr. Livio Sansone und Dr. Angela Lühning, sowie Milton Moura,
Antônio Godi, Dr. Goli Guerreiro, Ari Lima und Suylan Midley wäre diese Arbeit sicherlich
weniger spannend gewesen.

Ich danke den Mitgliedern Olodums, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre, denn
sie haben mir einen Einblick gegeben, nicht nur in eine mir fremde Kultur und Problematik,
sondern auch in ihr Leben, ihre Schwierigkeiten und Widersprüche, ihre Freuden und Ängste.
Herzlichen Dank stellvertretend für alle anderen an João Jorge Rodrigues und Cristina
Rodrigues, sowie an Neguinho do Samba für das, was sie mit ihren Träumen und Trommeln
für viele Jugendliche in Gang gesetzt haben. Auch den vielen anderen Angehörigen der
bahianischen „schwarzen Szene“ - der schwarzen Kulturvereinigungen, der Blocos Afros und
afoxés3, den Capoeira-Meistern und - Schülern, den Mitgliedern der politischen
Schwarzenbewegung des Movimento Negro Unificado und insbesondere den Anhängern der
afro-brasilianischen Religion des candomblé4, - möchte ich für alle Gespräche und
Informationen danken.

Bei meinen Freunden, Martin Wilke und Jan Stüdemann in Berlin, die mir mit Rat und Tat
zur Seite standen, möchte ich mich herzlich bedanken.
Denen, die immer an mich geglaubt und mich auf alle erdenklichen Arten unterstützt haben,
gilt mein besonderer Dank: Meinem Mann Alexander Busch, meinen Eltern und meiner
Tante.
Ohne sie alle hätte ich die Arbeit nicht zu Ende gebracht.

3
Afoxé ist eine Karnevalsvereinigung von Afro-Brasilianern, mehr dazu s. im Kapitel 6.
4
Zur Bedeutung der afro-brasilianischen Religionen s. im Kapitel 6.

13
“A contribuição brasileira para a civilização será a de cordialidade. Daremos ao mundo o
´homen cordial´. A llhaneza no trato, a hospitalidade, a generosidade, virtudes tão gabadas
por estrangeiros que nos visitam, representam, com efeito, um traço definido do caráter
brasileiro... “

„Der brasilianische Beitrag zur Zivilisation wird die Herzlichkeit sein. Wir werden der Welt
den herzlichen Menschen geben. Die Feinheit im Umgang, die Gastfreundschaft, die
Großzügigkeit, Qualitäten, die von den Ausländern die uns besuchen, so bewundert werden.
Sie sind tatsächlich Teil des brasilianischen Charakters...“

Sérgio Buarque de Holanda (1902-1982)

aus: Raizes do Brasil, 1994, 26. Aufl., Rio de Janeiro, S. 106, José Olympio.

Für Luan Max und Moritz Pablo


Und die Kinder Brasiliens

14
1. Einleitung

1.1 „Do you have blacks, too?“ - Problemstellung

Im Juli 2002 überraschte der amerikanische Präsident George W. Bush seinen damaligen
brasilianischen Amtskollegen Fernando Henrique Cardoso mit der Frage „Do you have
blacks, too?“. Die farbige Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice rettete die peinliche
Situation, indem sie Bush aufklärte, dass Brasilien mehr Schwarze5 als die USA habe und das
Land mit den meisten Schwarzen außerhalb Afrikas sei (Der Spiegel, 2002, Nr.21, S. 218-
219). Der kleine Zwischenfall scheint mir symptomatisch für drei Aspekte, die auch im
Verlauf dieser Arbeit zur Sprache kommen: Erstens, das Erscheinungsbild Brasiliens im
Ausland als Land ohne rassische Minderheiten bzw. Konflikte; zweitens, die weitreichenden
Kenntnisse der Repräsentantin der „African-Americans“ über die Situation der schwarzen
Brüder und Schwestern in anderen Teilen der Diaspora; drittens, die Nichtbeachtung dieser
Episode in den brasilianischen Medien und der Politik.

In dieser Arbeit geht es um die Art und Weise der Rassenverhältnisse in Brasilien und die
Bedeutung kultureller Manifestationen bei Prozessen gesellschaftlicher Veränderung. Die ab
Mitte der 70er Jahre in Bahia, im Nordosten des Landes, gegründeten schwarzen
Karnevalsvereine, blocos afros genannt, mit ihren kulturellen, sozialen und politischen
Implikationen waren entscheidend für den Aufbau eines neuen6 schwarzen
Selbstbewusstseins (Morales, 1990, M.Moura, 1987) - nicht nur in Bahia, sondern in ganz
Brasilien. Die Blocos Afros verbinden edukative Praktiken mit strategischem Verhalten und

5
Die deutsche Bezeichnung Afro-Brasilianer halte ich für den wertfreiesten Begriff für Brasilianer mit
afrikanischen Vorfahren. Um den im Deutschen abwertenden Ausdruck Neger zu umgehen, benutze ich die
neutralere Bezeichnung „Schwarzer“ bzw. „schwarz“, insbesondere um die brasilianischen Begriffe negro und
preto zu übersetzen. Die Bezeichnung negro bzw. ihre umgangssprachlichen Abwandlungen negao verwende
ich dort, wo sie entweder von den Sprechern bzw. Autoren benutzt wurden. Sie sind nicht abwertend, sondern im
Gegenteil Ausdruck des neuen schwarzen Selbstbewusstseins. Im Brasilianischen halte ich die Begriff negro-
mestiço für eine der wertfreiesten und zutreffendsten Bezeichnungen. In der brasilianischen Statistik wird
überwiegend der Begriff pardo benutzt für Menschen mit einer dunkleren Hautfarbe. Die Bezeichnungen
„schwarz“ bzw. „Schwarze“ beziehen sich nicht nur auf Afro-Brasilianer, sondern allgemein auf Menschen mit
dunkler Hautfarbe und afrikanischer Abstammung. Gelegentlich werden auch die Begriffe „farbig“ bzw.
„dunkelhäutig“ von mir benutzt.
Zu den terminologischen Unterschieden im Sprachgebrauch der USA und in Brasilien s. Andrews, 1998, S. 379-
392.
.
6
Ich klassifiziere diese Schwarzenbewegung als neu, um sie einerseits von den traditionellen Formen kulturellen
Widerstands wie er beispielsweise in der afro-brasilianischen Religion des Candomblé lebendig ist, anderseits
von den moderneren Formen politischen Widerstands der Schwarzenbewegung dieses Jahrhunderts zu
unterscheiden, s. dazu Kapitel 7.

15
unternehmerischem Handeln. Sie agieren auf mehreren Ebenen gleichzeitig und sind ein
ebenso typisches Beispiel für das Lernen in komplexer Wirklichkeit wie es vom deutschen
Pädagogik-Professor Jürgen Zimmer immer wieder beschrieben wird, wie für seine mit
Günter Faltin entwickelten Ideen zum entrepreneurship (Faltin und Zimmer, 1995). Ich sehe
die von der kulturellen Bewegung der Blocos Afros ausgegangenen Impulse als Wegbereiter
der aktuellen Rassismusdebatte in Brasilien heute, in der es um die Festlegung von Quoten an
den Universitäten und andere Formen der sogen. affirmative action geht. Für die
herausragende Bedeutung der kulturellen Bewegung der Blocos Afros und ihren Einfluss auf
die vielschichtigen und komplexen Formen der Rassenbeziehungen gibt es mehrere
Erklärungsansätze, die im Verlauf der Arbeit dargestellt werden: von den historischen
Voraussetzungen der „typisch“ brasilianischen Rassenmischung, über die regionalen
Besonderheiten bis zur Bedeutung besonderer brasilianischer Äußerungen wie Karneval.
Kulturelle Manifestationen allein mögen nicht ausreichen für Prozesse sozialer
Transformation, aber sie erfüllen - insbesondere im Falle „schwarzer Musik“ - vielfältige
Funktionen, die über die Aspekte Unterhaltung und Freizeitvergnügen hinausgehen. Sie
können in stark gespaltenen Gesellschaften vielversprechende Wege der Integration im
Spannungsfeld von Moderne und Tradition ermöglichen. Im folgenden Text wird ein kurzer
Einstieg in das Thema gegeben.

Brasilien – eine rassisch gemischte Gesellschaft


Brasilien besitzt heute nach Nigeria die zweitgrößte schwarze Bevölkerung der Welt in
absoluten Zahlen. Im Jahr 2000 sind von den fast 170 Millionen Brasilianern 76,5 Millionen
Afro-Brasilianer. Damit leben in Brasilien mehr als doppelt so viel Menschen afrikanischer
Abstammung wie in den USA. Die rund 34 Millionen Schwarzen stellen mit 12,3% die
größte rassische Minderheit der USA (United States Bureau of the Census 2001
www.census.gov , 18.03.2003). Fast die Hälfte der Brasilianer (45%) gaben ihre Hautfarbe
beim Zensus 2000 als „schwarz“ (preta) oder „dunkel“ (parda) an, der Anteil der weißen
Bevölkerung liegt bei knapp 53%, die verbleibenden 2% teilen sich auf Menschen asiatischer
und indianischer Herkunft 7 (www.ibge.gov.br , 18.03.2003). Die brasilianischen Schwarzen
sind weder in ihrer Selbsteinschätzung eine ethnische Minderheit, noch werden sie von den
weißen Brasilianern so gesehen (Sansone, 1992). Die Sklaverei - offensichtlichster Ausdruck
rassischer Hierarchie - ist bis heute entscheidende Determinante der rassischen Situation in
Brasilien: Nach Brasilien wurden neun- bis zwölfmal so viel Sklaven wie nach Nordamerika

7
Zur Problematik bei Erhebung des Zensus und der Hautfarbe siehe bitte Kapitel 8.

16
gebracht (Andrews, 1998, S.26) und in keinem Land konnte sich die Sklaverei über einen so
langen Zeitraum fast 350 Jahre(!)halten. 150 Jahre bevor die Sklaverei in den Vereinigten
Staaten Bedeutung hatte und noch 25 Jahre nach der Abolition in den USA prägte sie die
brasilianische Gesellschaft.

Doch obwohl Brasilien mehr Sklaven als jedes andere amerikanische Land hatte und als
letztes die Sklaverei abschaffte, verband sich mit Brasilien das Bild des harmonischen
Miteinanders von Sklaven und Sklavenherren. Bis vor kurzem noch wurde mit Erfolg das
Bild der ersten Rassendemokratie aufrecht erhalten. Die Rassenvorurteile gegenüber Afro-
Brasilianern gingen Hand in Hand mit dem Mythos Brasiliens als Rassendemokratie, der in
der Ideologie der langsamen Aufhellung (ideologia de branqueamento) und ihrer politischen
Umsetzung das Selbstbild Brasiliens beim Aufbau der Nation formten.
Erstmalig wurde der Mythos der Rassendemokratie durch die von der UNESCO initiierten
Forschungen in der 50er Jahren in Frage gestellt. Unter der rund zwanzig Jahre andauernden
Militärdiktatur in Brasilien zwischen 1964 und 1985 wurde das Thema Rassismus kurzerhand
verboten.
Erst die in den letzten zwanzig Jahren durchgeführten Forschungen zeichnen ein anderes Bild
und lenken die Aufmerksamkeit auf die großen Ungleichheiten zwischen den Rassen.
Der entscheidende Unterschied sowohl zu Südafrika als auch zu den Südstaaten der USA ist,
dass die ungleiche Behandlung der Rassen nicht in Gesetzen verankert wurde. Die rassische
Diskriminierung8 funktioniert nach subtilen, oft individuellen Gesichtspunkten. Sie ist nicht
immer direkt identifizierbar, inkonsistent und nur begrenzt vorhersehbar. Bei Abwesenheit
gesetzlich manifestierten Rassismus wird es, wie im Fall Brasiliens, oft schwieriger die
rassische Diskriminierung zu bekämpfen. Die offensichtliche Ungerechtigkeit einer
Rassengesetzgebung ist die Achillesferse des Rassismus und macht ihn leichter
identifizierbar. Vertreter der Schwarzenbewegung gehen sogar soweit Brasilien mit dem
früheren Apartheids-System Südafrikas auf eine Stufe zu stellen.
Häufig werden die eklatanten sozialen Unterschiede zwischen weißen und Afro-Brasilianern
damit begründet, dass Afro-Brasilianer aufgrund mangelnder individueller Voraussetzungen
wie zum Beispiel schlechterem Bildungsniveau sozial schlechter abschneiden. Die neueren

8
Rassische Diskriminierung ist eine gemeinsame Verhaltensweise, die beobachtbar, sogar
messbar ist, die mit bestimmten Formen sozialen Funktionierens zu tun hat und die sich zeigt,
wenn sich bei gegebenen sozialen Verhältnissen, eine Bevorzugung einer bestimmten Gruppe
in sozialer, bildungsmäßiger und beruflicher Hinsicht zeigt, die vermeintliche Gleichheit
zwischen den Gruppen sich also als Illusion erweist.

17
Forschungen zeigen jedoch, dass die strukturellen Faktoren nicht ausreichen, die Unterschiede
zu begründen und die rassische Diskriminierung eine große Rolle spielt beim Zugang zu Job,
Einkommen, Bildung, Wohnung etc.

Karneval – offensichtlichster Ausdruck der afro-brasilianischen Kultur


Karneval wird in ganz Brasilien gefeiert, doch bis heute sind Rio de Janeiro und Salvador
Hochburgen des Karnevalstreibens. Der Karneval konsolidierte sich als Bereich der ständigen
Aushandlung zum Erhalt des afro-brasilianischen Erbes. Karneval und sein Vorläufer, das
Entrudo, sind europäische Festtraditionen, die von den Portugiesen nach Brasilien gebracht
wurden. Beides waren Vergnügen, die zunächst nur der hellhäutigen Elite vorbehalten waren.
Im Lauf der Zeit eroberten die afrikanischstämmigen Sklaven und ihre Nachfahren den
Karneval als Raum für eigene Musik- und Tanztraditionen, teilweise in Symbiose mit den
europäischen Formen. Die Ästhetik schwarzer Musik und Tänze im Karneval wurde zum
wichtigsten Element bei der Konstruktion und Legitimation der afro-brasilianischen Kultur.
Gleichzeitig waren es die ursprünglich afrikanischen Elemente, die zunehmend von der
herrschenden Kultur inkorporiert und zu nationalen Merkmalen der brasildade, einer
brasilianischen Identität, wurden. Der Samba ist das beste Beispiel dafür, denn die
verschiedenen Formen des Samba entwickelten sich zur brasilianischen Musik par
excellence. Die Umzüge der Samba-Schulen Rio de Janeiros werden in alle Welt ausgestrahlt
und gehören zum Brasilienbild im Ausland ebenso wie der Fußball oder der Amazonas.
Der Karneval bietet in Brasilien einen außergewöhnlichen Moment gesellschaftlicher Realität
und eignet sich wie kaum ein anderes Ereignis zum Verständnis der brasilianischen
Gesellschaft und der Diskussion bestimmter Aspekte der Definition brasilianischer Identität.
Die Einschätzung, Karneval sei ein „schwarzes“ Fest, an dem sich die sonst herrschenden
rassischen Grenzen auflösen, teile ich nicht. Bis heute lässt sich auch im Karneval eine
deutliche Trennung der Rassen beobachten. Für die Teilnahme am Karneval in den besseren
Blocos de Trios des Straßenkarnevals in Salvador ist ein „gutes Erscheinungsbild“ (boa
aparência9) ebenso erforderlich, wie viele der destaques genannten Attraktionen der Samba-
Schulen Rio de Janeiros, oft Models und Schauspielerinnen aus Film und Fernsehen sind, die
sich mit ihrer hellen Hautfarbe von der Mehrheit der dunkelhäutigen Mitglieder abheben.

9
Der Ausdruck boa aparência, wie er z.B. in Stellanangeboten ist zu finden, bezieht sich auf ein eher
europäisches Erscheinungsbild, also möglichst helle Haut und glatte Haare.

18
Bahia – Zentrum afro-brasilianischer Kultur
Salvador, Hauptstadt des Bundesstaates Bahia, ist mit seinen rund 2,5 Millionen Einwohnern
nicht nur die drittgrößte Stadt Brasiliens, sondern auch die Stadt mit dem höchsten Anteil von
Afro-Brasilianern (rund 80%). Salvador, die erste Hauptstadt der portugiesischen Kolonie,
war über drei Jahrhunderte Zentrum des transatlantischen Sklavenhandels. Das Leben in der
Stadt ist bis heute durch die afro-brasilianische Kultur geprägt. Kultur als Überlebensstrategie
für Brasilianer afrikanischer Abstammung hat eine lange Tradition in Brasilien, in Musik und
Tanz, beim Kampftanz Capoeira und besonders in der afrikanischen Religion des Candomblé.
In keiner Region des Landes – mit Ausnahme des noch weiter nördlich gelegenen
Bundesstaates Maranhão - sind diese kulturellen Traditionen so stark erhalten und im Alltag
spürbar wie in Bahia, insbesondere in Salvador und dem Recôncavo.

Die „Re-Afrikanisierung“ (Risério 1980) des bahianischen Karnevals ab Mitte der 70er Jahre
leitete eine neue Phase kultureller Identitätsfindung der schwarzen Brasilianer ein. Rund
hundert Jahre nach Abschaffung der Sklaverei noch während der Militärdiktatur nutzen die
schwarzen Bahianer den Karneval als Freiraum, ihren Protest gegen die
Rassendiskriminierung zu artikulieren. Der erste Bloco Afro mit dem Namen Ilê Aiyê10 wurde
1974 gegründet mit Bezug zur „Heimat“ Afrika und unter dem Eindruck von Soul-Musik und
Black Power aus den USA. Bis heute sind in diesem Karnevalsverein nur Schwarze als
Mitglieder zugelassen und wie kein anderer Afro-Block verkörpert Ilê eine eigene schwarze
Ästhetik mit afrikanisch inspirierten Kostümen und aufwendigen Flechtfrisuren. Die
körperliche Inszenierung im Fest leitete einen Identitätsfindungsprozess ein, der sich später
auch außerhalb dieses Raumes fortsetzen konnte.
Auf den ersten Bloco Afro Ilê Aiyê folgten zahlreiche andere. Zu den wichtigsten heute noch
existierenden gehören Olodum, Ara Ketu, Muzenza und Malê Debalê11. Die historische
Beziehung zu Afrika, die sich bereits in der Wahl der Namen zeigt, wurde zur Referenz bei
der Konstruktion einer schwarzen Identität in einer Stadt, die vom Mythos der
Rassendemokratie geprägt ist. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, an dem grundlegende
wirtschaftliche Veränderungen zum Entstehen einer schwarzen Industriearbeiterschaft geführt

10
Der Name kommt aus der westafrikanischen Sprache Yoruba, deren Gebrauch im bahianischen Candomblé der
Ketu-Nationen üblich ist, und bedeutet übersetzt etwa „das Haus der anderen Welt“. Gemeint ist damit die
„schwarze“, afrikanische Welt, welche die Gruppe im Karneval repräsentieren will.
11
Die Namen dieser Gruppen stammen aus afrikanischen Sprachen, hauptsächlich dem Yorubá und Kikongo.

19
hatten12 und die politische Öffnung der seit 1964 herrschenden Militärdiktatur ab 1985
allmählich in demokratische Strukturen überging.
Die Musik der Blocos Afros spielte eine fundamentale Rolle für die Entwicklung einer neuen
Identität der afro-bahianischen Jugendlichen. In den Texten ihrer Lieder thematisieren sie die
offiziell lange verschwiegene Geschichte des schwarzen Widerstands in Brasilien und tragen
damit zum kulturellen und politischen Emanzipationsprozess der Afro-Brasilianer bei. Mit
ihren Rhythmen, insbesondere dem Samba-Reggae, wie er von der Gruppe Olodum gespielt
wird, kreieren sie eine eigene Musikrichtung, die von Moden, Haltungen,
Lebensauffassungen und Stylings begleitet wird.

Die im Karneval von Salvador gespielte Musik wurde ab Ende der 80er Jahre national und
international erfolgreich. Die ursprünglich nur von den Blocos Afros im Karneval gespielten
Rhythmen wurden zur Basis einer Musikrichtung, die von den Medien den Namen Axé-
Music13 bekam. Keine andere Musikrichtung hat in den letzten Jahren die brasilianische
populäre Musik so beeinflusst, wie diese „neue“ Musik aus Bahia14, deren Geschichte und
Gegenwart untrennbar mit dem Karneval15 und seinen Entwicklungen verbunden sind.
Der Erfolg der perkussiven Musik aus Bahia vollzieht sich parallel zu den globalen
Entwicklungen in den Medien, der Kommunikations- und Freizeitindustrie. Der internationale
Musikmarkt war Anfang der 90er Jahre auf der Suche nach „Authentischem“. Der
amerikanische Musiker Paul Simon nahm in der ersten Hälfte der 90er Jahre mit Olodum eine
Platte auf, die den Titel „Rhythm of the Saints“ erhielt. Der Begriff World-Music wurde
geprägt und alles, was an moderner Unterhaltungsmusik außerhalb der Achse USA -

12
Nachdem sich das wirtschaftliche und politische Geschehen ab Ende des 18. Jahrhunderts aus dem Nordosten
in den Südosten, nach Rio de Janeiro und später São Paulo, verlagert hatte, verfiel Salvador in einem fast
hundertjährigen Dornröschenschlaf. Erst mit Ansiedlung der Industriekomplexe in Aratu und besonders
Camaçari unter den Militärs, die auch Brasiliens Provinzen industrialisieren wollten, begann ab Ende der 60er
Jahre eine neue Entwicklungsphase. Zum ersten Mal wurden Afro-Brasilianer in Bahia in größerem Maßstab zu
Industriearbeitern im größten Chemiekomplex Lateinamerikas, die über stabile, höhere Einkommen verfügten,
an Prestige und Status gewannen und sich sogar gewerkschaftlich organisierten. Die Industrialisierung der
Wirtschaft wirkte sich auch auf die anderen gesellschaftlichen Bereiche aus. (s. dazu Agier, 1992 u.a.)
13
Das Wort Axé kommt aus dem Yoruba und bedeutet so viel wie „positive Energie“, im Candomblé ist damit
die spirituelle Kraft gemeint. Bei der Bezeichnung Axé-Music handelt es sich um einen Oberbegriff für eine
Vielzahl von Musikern, Sängern/innen und Gruppen unterschiedlichster Qualität und Charakters, deren Musik
im Umfeld des bahianischen Karnevals gespielt wird. Das Spektrum reicht von den Größen der Axé-Music, die
in ganz Brasilien erfolgreich und auch im Ausland bekannt wurden, wie Daniela Mercury oder Chiclete com
Banana, über die Blocos Afros, insbesondere Olodum und Ara Ketu, bis hin zu einer Vielzahl kleiner,
unbekannter Gruppen oder Einzelpersonen, die mit dem Etikett Axé auftreten. Der Name ist bei den
bahianischen Künstlern wegen seiner klischeehaften Anwendung unbeliebt.
14
Bahia ist neben Rio de Janeiro die musikalisch bedeutendste Region des Landes. Zahlreiche brasilianische
Musikstars kamen und kommen aus Bahia, von Carmen Miranda, die Brasilien in den USA berühmt machte,
über den poetischen Samba-Sänger Dorival Caymmi zum Bossa Nova Gitaristen João Gilberto und den aus der
Tropicalismo-Bewegung hervorgegangenen Superstars Caetano Veloso und Gilberto Gil.
15
Dem Karneval gehört das Kap.5.

20
Mitteleuropa auf den Markt kam, ging fortan unter dieser Bezeichnung über die Ladentische
Europas und der USA .
Der Karneval in Salvador, noch in den 80er Jahren ein eher spontanes Straßenfest, hat sich in
den letzten zehn Jahren zu einem Ereignis der Superlative entwickelt. Die Karnevalsindustrie
wird dominiert von den sogenannten blocos de trio, Karnevalsgruppen, die mit auf riesigen
Trucks montierten fahrbaren Bühnen und leistungsstarken Lautsprecheranlagen
Musikattraktionen bieten. Oft haben diese Gruppen bis zu 5000 Teilnehmer, die dafür
bezahlen, in dem durch Seile ( cordas) abgegrenzten Raum durch die Straßen zu tanzen. Von
den Unternehmen der Tourismusindustrie wird der bahianische Karneval im In- und Ausland
vermarktet. Bahia ist inzwischen zum Tourismusziel Nr. 1 Brasiliens avanciert.

Olodum - vom Karnevalsverein zum schwarzen Kultur-Unternehmen


Die Grupo Cultural Olodum verband von Anfang an Musik mit politischem Engagement im
Kampf gegen den Rassismus. Als Musikgruppe verstehen sie sich als Erben des Reggaes und
Repräsentanten schwarzer Musik aus der Dritten Welt. In der Tradition der Rassenkämpfe der
Amerikas fühlen sie sich als Teil der internationalen Schwarzenbewegung. Der musikalische
Erfolg Olodums unterstützt die Denunzierung dem von weiten Teilen der Gesellschaft
negierten Rassismus in zweierlei Hinsicht: Nach innen als Identifikationsmuster für Afro-
Brasilianer, nach außen als Botschafter ihres Anliegens. Der internationale Erfolg ist der
Auslöser für die Popularitätswelle im Inland.
Bei der Bewegung der Blocos Afros, und insbesondere im Fall Olodums, handelt es sich um
das Zusammenspiel von Musik und Karneval, Rassenprotesten und Identitätsmanagement,
modernen Verwaltungsstrategien und Clan-Denken. Diese Vielschichtigkeit entspricht der
immer komplexer werdenden Realität einer postmodernen Gesellschaft gegen Ende des
Jahrtausends.
Olodum hat sich in den 90er Jahren zu einem „schwarzen“ Kulturunternehmen entwickelt.
Aus dem Karnevalsverein mit einigen wenigen Mitgliedern wurde ein komplexes Gebilde, an
dessen Aktivitäten mehrere hundert Personen beteiligt sind. Unter dem Dach Olodum
existierten der Bloco de Carneval, der an drei Tagen im Karneval auf den Straßen ist, die
Banda(s) de Show, die teilweise zeitgleich auf Konzertreisen gehen und Platten aufnehmen,
die Kindergruppe Banda Mirim, die Kreativ-Schule Escola Criatíva (ECO) mit zeitweise bis
zu 200 Schülern, die eigene Bekleidungs-Produktion Fábrica de Carneval, die Theatergruppe
Bando de Teatro, die Companhia de Dança, sowie der Verlag Editora Olodum. Das bedeutet
auch einen erheblichen Verwaltungsaufwand. Die Gruppe muss sich zunehmend

21
unternehmerisch verhalten, gleichzeitig jedoch Rücksicht auf alte Seilschaften, politische
Konstellationen und interne Entscheidungsprozesse nehmen.

Schon frühzeitig betrieb die Grupo Cultural Olodum ein Identitätsmanagement, das
insbesondere in der stark traditionell dominierten Gesellschaft Bahias beispiellos ist in seinem
Umgang mit den Möglichkeiten der modernen Gesellschaft, die bisher von den Afro-
Brasilianern kaum für ähnliche Zwecke genutzt wurden. Aus dem Freizeit-Club
marginalisierter schwarzer Jugendlicher eines typischen Altstadt-Ghettos ist ein
selbstbewusster gesellschaftlicher Akteur geworden, der Rassismus denunziert und sich
selbst vermarktet. Auffallend ist das unternehmerische Geschick, welches die Gruppe beim
Marketing des eigenen Namens an den Tag legt. So gelang es Olodum als erstem Bloco Afro
langfristige Verträge mit einer internationalen Plattenfirma und Werbeverträge mit einem
internationalen Telefonhersteller und einer der größten Banken Brasiliens, der Bradesco-Bank
abzuschließen. Für die Kreativschule werden Gelder der Europäischen Union und aus
Deutschland aufgebracht. 1996 nimmt Michael Jackson ein Video-Clip („They don´t care
about us“) unter der Regie des schwarzen Filmemachers Spike Lee mit den Trommlern
Olodums auf.
Keiner der Blocos Afros ist über die Grenzen Bahias und Brasiliens hinaus so bekannt
geworden wie die Grupo Cultural Olodum. Olodum ist zeitweilig Symbol des bahianischen
Karnevals und kraftvoller Repräsentant der neuen bahianischen Musik, gleichzeitig
Aushängeschild der gelungenen Restaurierung Pelourinhos und Bahias als Tourismusziel,
wie auch Leitfigur der neuen kulturellen schwarzen Widerstandsbewegung. Und fast ein
nationales Symbol: Bei der Weltmeisterschaft 2002 waren es die Trommler Olodums, die vor,
während und nach den wichtigen Spielen vom größten brasilianischen Sender eingeblendet
wurden, die Nationalhymne im Samba-Reggae- Rhythmus trommelnd auf dem Pelourinho.

1.2 Forschungsstand

Seit rund 100 Jahren gibt es Forschungen über die afro-brasilianische Kultur und die
Rassenbeziehungen in Brasilien16. Gerichtsmediziner (!) und Psychologen, Anthropologen

16
Zu den praktischen Aspekten der Literaturrecherche: In Brasilien sind Literaturrecherchen nicht mit denen in
Deutschland oder den USA zu vergleichen. Der Buchbestand der meisten Bibliotheken, auch in São Paulo und
Rio de Janeiro, war zum Zeitpunkt meiner Recherchen nicht über die elektronische Datenverarbeitung erfasst.
Das bedeutet langwierige Recherchen nach dem Karteikasten-System vor Ort. Darüber hinaus sind viele

22
und Historiker, Soziologen, Politikwissenschaftler und Pädagogen haben sich aus den
unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Thematik beschäftigt. Die brasilianischen
Forschungen zur afro-brasilianischen Kultur und den Rassenbeziehungen stehen in engem
Zusammenhang mit der Entwicklung Brasiliens zu einer Nation und dem Selbstbild des
Landes. Aus diesem Grunde soll ihnen ein eigenes Kapitel im Anschluss an die theoretischen
Überlegungen gewidmet werden.
Die Forschungen über die afro-brasilianische Kultur und die Rassenbeziehungen wurden ab
Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Franzose Arthur Comte de Gobineu auch Brasilien
besuchte und seine Rassentheorien formulierte, in einen internationalen Kontext eingebettet.
Für die Entwicklung der Studien der Rassenbeziehungen in den Vereinigten Staaten und die
„African American Studies“ hat Brasilien eine bedeutende Rolle als Forschungsgebiet und
Ideen-Labor gespielt. Die ethischen und humanistischen Befürchtungen der amerikanischen
Anthropologie nach dem Zweiten Weltkrieg spiegelten sich im (Wunsch)Bild Brasiliens als
Rassendemokratie (Hasenbalg, 1996). Die Publikationen zur afro-brasilianischen Kultur und
den Rassenbeziehungen lassen sich fünf Perioden und Richtungen zuordnen, die hier nur kurz
erwähnt und auf die in Kap.3 näher eingegangen wird:
1. Die ersten Arbeiten um die Jahrhundertwende des Gerichtsmediziners Nina Rodrigues und
seiner Nachfolger wie Artur Ramos, Edison Carneiro und Manuel Querino. Ihr Lebens- und
Forschungsschwerpunkt ist Bahia und ihnen ist gemeinsam das Bemühen den afrikanischen
Beitrag an der brasilianischen Kultur hervorzuheben.
2. Die anthropologischen und soziologischen Forschungen ab Mitte der 30er Jahre,
insbesondere Gilberto Freyres, die mit ihrer positiven Einschätzung der Rassenbeziehungen
zur (theoretischen) Begründung des Mythos der Rassendemokratie beigetragen haben.
3. Die von der UNESCO angeregten Studien der 50er Jahre zum Stand der
Rassenbeziehungen in Brasilien, die - entgegen der positiven Erwartungen eines
„Rassenparadieses“ - zu widersprüchlichen Ergebnissen kamen. Die brasilianischen Autoren
der Studien, insbesondere Florestan Fernandes und Roger Bastides sowie Thales de Azevedo,
verfassten in den folgenden Jahren einige grundlegende Arbeiten über die
Rassenbeziehungen in Brasilien.
4. Die anthropologischen und historischen Forschungsarbeiten, die in den 70er und 80er
Jahren insbesondere über Candomblé und den Sklavenhandel erscheinen, wie zum Beispiel
die Schriften Pierre Vergers oder der bahianischen Forscher Vivaldo da Costa Lima, Júlio
Braga, Ubiratan Castro de Araújo oder Waldeloir Rego.

Bibliotheken reine Präsenzbibliotheken, aus denen die Bücher nicht ausgeliehen werden können. Viele Arbeiten,
auch brasilianischer Forscher, habe ich erst in den USA zu Gesicht bekommen.

23
5. Die neueren Arbeiten, die sich mit der Problematik der Rassenbeziehungen unter modernen
Aspekten in urbanen Zusammenhängen beschäftigen. Sie füllen eine Lücke, denn die meisten
Forschungen zu Fragen schwarzer Ethnizität und Kultur gegen Ende des 20. Jahrhunderts
haben sich fast ausschließlich auf die USA bzw. Westeuropa beschränkt. Aus den USA, und
in geringerem Umfang aus Großbritannien, gibt es umfassende Forschungen über
zeitgenössische schwarze Kultur in den Städten (Dent, 1992, u.a.) besonders Ghetto-Kultur
(Hannerz, 1969 u.a.), Jugend- und Musikkultur (Gilroy, 1993, Mercer, 1994), sowie
zahlreiche Arbeiten über schwarze Musik vom Blues und Jazz (Hobsbawm, 1994, Keil, 1991
u.a.) bis zu Rap (Rose, 1994 u.a.). Lateinamerika wurde in diesem Zusammenhang bis
Anfang der 90er Jahre wenig berücksichtigt. So wurde noch anläßlich des International
Seminar on Racism and Race-Relations 1992 in Rio de Janeiro festgestellt: "Most books and
readers on ethnic and race relations from a world perspective are now relatively old and
practically none of them has a specific focus on the areas of the African diaspora". Erst in der
zweiten Hälfte der 90er Jahre zeichnet sich eine Trendwende mit der Publikation von
Arbeiten einer neuen Generation nordamerikanischer „Brasilianisten“17 ab (FSP 06.06.1999,
mais!, S. 4-8).
Im deutschsprachigen Raum gibt es keine den „Brasilianisten“ vergleichbare Tradition der
Brasilien-Forschung. Die Arbeiten zur afro-brasilianischen Kultur stellen in ihren jeweiligen
Fachbereichen (mit Ausnahme der Musikethnologie) interessante, aber eher isoliert
dastehende Beiträge dar. In dieser Arbeit wird jetzt der Versuch unternommen eine
disziplinenübergreifende Darstellung der Rassenbeziehungen und der Rolle der afro-
brasilianischen Kultur in Form der blocos afros auf die gesellschaftliche Dynamik
vorzustellen. Damit soll nicht nur der Komplexität der untersuchten Wirklichkeit Rechnung
getragen werden, sondern auch das Verständnis anderer Realitäten erleichtert werden.

17
Als Brasilianisten werden in Brasilien nordamerikanische Wissenschaftler bezeichnet, die sich mit Brasilien
beschäftigen. Die Bezeichnung geht auf die während des Kalten Krieges von der US-Regierung geförderten
Studien in den 60er Jahren zurück, die durch die Sorge um die Ausweitung der Kubanischen Revolution auf dem
südamerikanischen Kontinent motiviert wurden. Zu dieser ersten Generation gehören die Historiker und
Soziologen Robert Levine, Stuart Schwartz, Kenneth Maxwell und Thomas Skidmore.

24
1.3 Konzeption und Struktur

Brasilien, Rassismus, Karneval, Musik, Blocos Afros, Olodum – wir stehen einer
vielschichtigen und komplexen Realität gegenüber, die sich auch in der Struktur dieser Arbeit
spiegelt. Die Arbeit gliedert sich in drei unabhängige, jedoch aufeinander bezogene Teile: Im
ersten Teil (Kap.1 bis Kap.4) werden die leitenden Fragestellungen, das methodologische
Vorgehen, sowie der Stand der Literatur zum Themenbereich und den zentralen Begriffen
dargestellt. Im zweiten Teil (Kap. 5 bis Kap. 8) geht es um die Entwicklung der
Rassenbeziehungen in Brasilien seit der Sklaverei und die schwarze Kultur, insbesondere den
Karneval. Im dritten Teil (Kap.9 bis Kap. 18) wird die Bewegung der Blocos Afros in Bahia
und die Gruppe Olodum unter den verschiedenen, bereits beschriebenen Zusammenhängen
betrachtet.

Der erste Teil führt den Leser in die Thematik ein, stellt Zusammenhänge und Hintergründe
dar und erläutert die theoretischen Fragestellungen. Nach dem einleitenden Kapitel werden im
Kapitel 2 theoretische Überlegungen zu den beiden zentralen Begriffen Rassismus und
Kultur, insbesondere schwarze Kultur dargelegt. Dazu wird die Wandlung des Rassismus
vom naturwissenschaftlichen Konzept des letzten Jahrhunderts zum kulturell geprägten der
Neuzeit gezeigt und knapp auf die Überlegungen Bourdieus zur Beschäftigung mit Kultur
eingegangen, sowie die Rolle schwarzer Kultur bei der Identitätsfindung in der Diaspora.
Anschließend wird verfolgt, wie die afro-brasilianische Kultur und die Rassenbeziehungen in
Brasilien bisher in den Wissenschaften behandelt wurden (Kapitel 3). Im Kapitel 4 werden die
leitenden Fragestellungen und Methoden sowie die Umsetzung bei der Feldforschung
beschrieben.

Der zweite Teil beginnt mit einem Kapitel (Kapitel 5) über die drei Jahrhunderte anhaltende
Sklaverei, welche die Entwicklung der brasilianischen Gesellschaft entscheidend prägte. Von
besonderem Interesse sind hierbei die unterschiedlichen Mittel und Wege, derer sich der
schwarze Widerstand bediente, dem Sklavendasein zu entkommen. Dazu gehören die direkten
Widerstandsformen, die Sklavenfluchtburgen und Aufstände, wie die indirekten Formen
kulturellen Widerstands. Das Kapitel 6 beschäftigt sich mit den verschiedenen Formen
afrobrasilianischer Kultur in Religion, Musik und Tanz. Im Vordergrund steht dabei der
Beitrag der afrikanischen Sklaven und ihrer Nachfahren in der Geschichte des Karnevals. Im
Kapitel 7 wird der Weg der brasilianischen Schwarzenbewegung zwischen Anpassungs- und

25
Abgrenzungs-Tendenzen verfolgt. Zu Beginn wird gezeigt, wie der Asymmetrie der
sozioökonomischen Bedingungen nach dem Verbot der Sklaverei 1888 mit einer Politik der
nationalen Integration begegnet wurde: der von einer gezielten Einwanderungspolitik
begleiteten Ideologie der allmählichen Aufhellung und der Weiterentwicklung zur Idee der
Rassendemokratie mit der Vereinnahmung von Teilen der schwarzen Kultur als
Integrationsfaktor.
Das Kapitel 8 beschäftigt sich mit der vielschichtigen und widersprüchlichen Situation der
Afro-Brasilianer. Dazu werden zunächst die komplexen methodologischen und
psychologischen Schwierigkeiten bei der Erhebung von Daten, die charakteristisch für die
spezielle brasilianische Situation sind, vorgestellt. Anschließend wird die sozioökonomische
Situation der Afro-Brasilianer beschrieben, die deutlich die großen sozialen Unterschiede
zwischen weißen und schwarzen Brasilianern zeigt. Die Besonderheiten des brasilianischen
Rassismus, der sich häufig nicht offen, sondern versteckt präsentiert, schließen das Thema ab.

Der dritte Teil beginnt mit einem Kapitel über die Bewegung der Blocos Afros. Dazu wird
zunächst das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umfeld in Salvador beschrieben,
der das Aufleben der kulturellen Bewegung der Blocos Afros ermöglichte. Die fünf
wichtigsten Blocos Afros werden mit ihren Charakteristiken und Besonderheiten vorgestellt,
aber auch die allen gemeinsame Benutzung bestimmter Symbole, Bezüge und Instrumente.
Die folgenden Kapitel des dritten Teils der Arbeit beschäftigen sich mit Olodum als
Karnevalsverein und Musikgruppe (Kap.10-12), Olodum als sozial- und kulturpolitischer
Einrichtung (Kap.13-14) und Olodum als schwarzem Unternehmen (Kap.16).
Im Kapitel 11 geht es um das für die Gruppe wichtigste Ereignis, die Sonntags-Probe auf dem
Pelourinho, die eingangs in Form einer „dichten Beschreibung“ (Geertz 1994) geschildert
wird. Zu keinem anderen Anlass wird die Anzugskraft Olodums auf die schwarzen
Jugendlichen deutlicher als bei diesem sich wöchentlich wiederholendem Ereignis. Das
Kapitel 12 beschäftigt sich mit der Musik Olodums, die ich als Teil der „Schwarzen
Transatlantischen Musik“ im Sinne Gilroy´s Konzept des „Black Atlantik“ verstehe (Gilroy
1993). Dazu werden die Plattenaufnahmen, insbesondere der Entwicklung der Liedtexte,
aber auch der Perkussion analysiert. Im Kapitel 13 beobachte ich die Gruppe im Karneval,
zunächst beim ersten Auszug am Freitagabend. Die Karnevalsthemen zeigen das Universum
aus dem die Identifikationsmuster geschöpft werden können. Die Auswertung der Fragebögen
von 250 Karnevalsteilnehmern 1993 gibt Auskunft, welche Menschen sich mit Olodum
identifizieren und wie die Gruppe von außen gesehen wird.

26
Olodum als sozial- und kulturpolitisch aktiver Einheit ist Thema der folgenden drei Kapitel.
Im Kapitel 13 wird die Escola Criativa als Beispiel für den in die Praxis umgesetzten Anti-
Rassismus-Diskurs vorgestellt. Die Schule, die sich von einer „Freizeit“-Schule mit
musikalisch-künstlerischem Angebot zu einer staatlich anerkannten Schule entwickelt hat, ist
der pädagogische Versuch einer interethnischen Erziehung. Das Kapitel 14 befasst sich mit
der Theatergruppe Olodums, die ganz im Sinne Augusto Boal´s, eine eigene Theatersprache
für marginalisierte Afro-Brasilianer gefunden hat. Im Kapitel 15 geht es um die
kulturpolitische Arbeit Olodums, die sich im Aufbau eines Diskurses und in verschiedenen
anderen Bereichen zeigt, wie der Veranstaltung des jährlichen Musikfestivals, den
Publikationen und den Seminaren. Während des Musikfestivals wird auch eine Frau Olodum
gewählt, anders als bei den anderen Gruppen geht es dabei jedoch um mehr als eine
Schönheitskönigin. Wie keine andere Gruppe hat es Olodum verstanden, sich als
Repräsentant der Schwarzenbewegung zu positionieren und im öffentlichen Raum Einfluss zu
nehmen: in den Medien, dem Kulturleben und der Politik.

Das Kapitel 16 beschäftigt sich mit Olodum als „schwarzem“ Unternehmen. Mit der
Diversifizierung unter dem eigenen Dach - zunächst mit der Karnevalsfabrik und der
Boutique - geht der Karnevalsverein neue Wege. Es wird versucht das Etikett Olodum zu
vermarkten - egal, ob es sich um T-Shirts, Shampoo oder Telefone wie bei der Kooperation
mit der Firma Nokia handelt. Dabei spielt auch die sozialpolitische Komponente eine
wichtige Rolle - etwas worauf insbesondere die Partnerschaft mit der Bradesco-Bank abzielt,
die personalisierte Kreditkarten auf den Markt bringt, an deren Umsatz Olodum beteiligt wird.
Das unternehmerische Engagement Olodums steht in einem Spannungsverhältnis zum
Charakter der Gruppe als Karnevalsverein oder als soziale und politische
Interessengemeinschaft. Die Fragebogenauswertung gibt Auskunft, ob es sich tatsächlich um
ein schwarzes Unternehmen handelt.

In der abschließenden Zusammenfassung wird der Bogen von der kulturellen Bewegung der
Blocos Afros zur politischen Umsetzung der Quoten geschlagen. Olodum hat schwarze
Geschichte in Brasilien geschrieben. Welche Komponenten haben zum Erfolg geführt?
Anschließend wird die Entwicklung Olodums in Beziehung gesetzt zu anderen Beispielen
schwarzer Kultur und der Art der Rassenbeziehungen der afrikanischen Diaspora.

27
2. Rassismus und schwarze Kultur – theoretische Überlegungen

Im Mittelpunkt der theoretischen Überlegungen dieser Arbeit stehen zwei große


Themenkomplexe: zum einen die Frage der Art der Rassenbeziehungen (was ist Rassismus?),
zum anderen die Überlegungen zu Formen und Funktionen von Kultur (was ist schwarze
Kultur?). Die beiden Thematiken treffen sich u.a. dort, wo die kulturellen Ausdrucksformen
zur Formulierung von Identitäten beitragen und die gestärkte „neue schwarze Identität“ den
latent vorhandenen Rassismus denunziert und auf die Veränderung der gesellschaftlichen
Verhältnisse abzielt. Im folgenden sollen die zentralen Überlegungen zu diesen beiden
Thematiken vorgestellt werden.

2.1 Rassismus

„Pure races - in the sense of genetically homogenous populations - do not exist in the human
species“ UNESCO Stellungnahme On Race, Moskau 1964.

Rasse, Rassismus, Rassenbeziehungen, rassische Diskriminierung – im folgenden soll über


diese Begriffe, deren Gebrauch alltäglich ist, reflektiert werden. Lassen sich denn überhaupt
„Rassen“ identifizieren, wenn die moderne Humangenetik bestätigt, dass 99,9% ihrer Gene
alle Menschen miteinander teilen18? Dennoch gibt es bis heute Studien, welche die rassische
Herkunft als entscheidend für biologische und soziale Unterschiede halten19. Ist Rasse nicht
vielmehr eine soziale Kategorie, ein mögliches Ordnungsprinzip einer Gesellschaft? „Rassen
sind sozial imaginierte, keine biologischen Realitäten“ schreibt Miles (Miles, 1989, S.355).

Das Wort Rasse wird im allgemeinen aus dem Lateinischen abgeleitet. Ratio läßt sich
übersetzen mit Ordnung, Vernunft, Art (Memmi, 1987). Mit Blick auf das portugiesische raça
und das spanische raza ist jedoch auch ein anderer Ansatz für die Herleitung denkbar. Im
Arabischen bedeutet ras soviel wie Kopf, Oberhaupt eines Clans und unter den Beduinen gibt
„ras“ Auskunft über die Abstammung einer Person und damit über ihre gesellschaftliche

18
Der Humangenetiker Luca Cavalli Sforza setzte 1993 das Human Genome Diversity Project in Gang, um
einen Weltatlas der Genvielfalt zu erstellen und den Stammbaum der Menschen zu rekonstruieren (Cavalli-
Sforza, 1994).
19
Im umstrittenen Buch „The Bell Curve“, das 1994 in den USA erschien, vertreten Psychologe Richard
Herrnstein und der Soziologe Charles Murray die These, dass auf der Intelligenzskala der Menschheit Asiaten
und Juden obenan stünden, Schwarze dagegen am Ende (Herrnstein & Murray, 1994).

28
Rolle. So könnte dies Wort auch über die iberisch-arabischen Kulturkontakte ins Spanische
und Portugiesische gekommen sein (Geiss, 1988, S.16; nach Hofbauer, 1995).

2.1.1 Der naturwissenschaftliche Rassismus

Die rassischen Klassifikationssysteme tauchten im 18. Jahrhundert auf, als Europa sich nach
der Aufklärung zunehmend in einer Phase der Unsicherheit und Umorientierung befand. Die
göttliche Ordnung war in Frage gestellt, der Adel verunsichert, das Bürgertum im Aufwind.
Während für Jean Jacques Rousseau die Menschen in den primitiven Gesellschaften einem
glücklichen menschlichen Naturstadium nahe waren und auch der Reisende Alexander von
Humboldt alle Menschen als Teil einer großen Familie mit einem gemeinsamen Ziel
betrachtete, sahen die meisten Wissenschaftler die Notwendigkeit rassischer Klassifikation
und Wertung.

Als erster Forscher, der die Menschen im 18. Jahrhundert in sechs Gruppen unterteilte, gilt
der schwedische Biologe Carl von Linné. Unter den Menschen unterscheidet er zwischen 1.)
dem europäischen Typ mit weißer Haut, den er als ideenreich und erfinderisch charakterisiert,
2.) dem amerikanischen Typ mit rotbrauner Haut, den er für zufrieden und freiheitsliebend
hält, 3.) dem asiatischen Typ gelblicher Haut, den er als stolz und habsüchtig einschätzt, 4.)
dem afrikanischen Typ mit schwarzer Haut, den er als faul, falsch und phlegmatisch
beschreibt, sowie 5.) den Wilden und 6.) den Missgebildeten. In seinem Werk „Systema
Naturae“ von 1735 strebte er eine umfassende Katalogisierung der Natur an. Die Spezie
Mensch („homo sapiens“) wurde darin ins Tierreich neben den Affen gestellt (Poliakov,
1992: 78f.).
Der französische Naturforscher George Buffon, ein Zeitgenosse Linnés, entwickelte eine
Theorie, nach der die menschlichen Gesellschaften unterschiedliche Grade an Soziabilität und
Rationalität erreicht hätten. Am oberen Ende der Skala mit einem hohen Maß an Gesetzen
und Ordnung läge die civilisation, die er in den nordeuropäischen Nationen beobachtet haben
will. Am unteren Ende die Regionen der barbarie ohne jegliche Organisation, die er unter den
Australiern, Hottentotten und Lappen vermutete, an den „Rändern“ der Welt. Das Entstehen
unterschiedlicher Menschenrassen erklärte Buffon aus den klimatischen Bedingungen, die
auch auf den Zivilisationsgrad wirkten Wichtige Unterscheidungsmerkmale waren für ihn die
Hautfarbe, Körperform und das Naturell der einzelnen Menschengruppen. Die günstigste

29
Klimazone für die Entwicklung harmonischer Menschen liege zwischen dem 40. und 50.
Breitengrad. Eine dunkle Haut dagegen sei Zeichen für das Fehlen von Zivilisation.

Was Linné und Buffon theoretisch formuliert hatten, versuchten einige ihrer Forscherkollegen
naturwissenschaftlich am Objekt zu belegen. Zahlreiche anatomische Studien wurden
gemacht, Schädel vermessen, Haut präpariert, Körper ausgestopft20. Als Begründer der
physischen Anthropologie gilt Johann Friedrich Blumenbach, der den Begriff der
„kaukasischen Rasse“ einführte. Er untersuchte insbesondere Schädelformen und
diagnostizierte, daß die Georgier die harmonischsten Köpfe, die Afrikaner die häßlichsten
Köpfe besäßen.21

Zu diesem Zeitpunkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konsolidierte sich die
wissenschaftliche Meinung, daß bestimmte äußerliche Merkmale Rückschlüsse auf
moralische und intellektuelle Qualitäten zuließen und damit also auch auf den
Entwicklungsstand einer Nation. Was für Blumenbach an der Schädelform ablesbar sein
sollte, meinte der holländische Anatom Pieter Camper an der Stellung des Kiefers und der
Stirn zu erkennen, dem sogen. „Gesichtswinkel“. Er war der Auffassung, daß je steiler dieser
Winkel, desto fortgeschrittener sei der Entwicklungsstand der Nation.
Ausgehend von Campers Ansatz untersuchte Samuel Thomas Sömmering das
Gehirnvolumen. Er meinte festgestellt zu haben, daß bei Schwarzen die gehirnfassende Höhle
kleiner sei, als bei Weißen (Martin, 1993, S. 269ff.). Eine wissenschaftliche „Entdeckung“,
die sich trotz ihrer Fragwürdigkeit bis heute in den Köpfen vieler hält 22.
Der Mediziner Franz Joseph Gall war es, der eine besonders gewölbte Stirn als Indiz für
kriminelle Neigungen erkannt haben wollte. Obwohl er Spekulationen über den
Zusammenhang einer gewölbten Stirn und den Entwicklungsstand einer Nation ablehnte,
wurden phrenologische Studien23 in Folge immer häufiger zur rassischen Klassifizierung
herangezogen.

20
Dabei führte die Erwartungshaltung oftmals zu biologisch nicht erklärbaren Fehlschlüssen. So will zum Beispiel der Chirurg Friedrich des
II., Johann Meckel, nach Öffnung afrikanischer Körper festgestellt haben, daß sowohl Gehirn als auch Blut der Afrikaner schwarz seien
(Poliakov, 1974 zitiert nach Hofbauer, 1995, S.46).
21
Auch an der Universität Berlin wurden solche Studien durchgeführt. 1833 erhielt das Museum der Universität Berlin in Spiritus eingelegte
Köpfe von „Schwarzen“ aus Bahia. Es wird vermutet, daß sie bei einer der Revolten ums Leben gekommen waren (Martin, 1993, S.469)
22
Mir sind im Verlauf dieser Arbeit immer wieder Personen begegnet, Brasilianer und Europäer, die sich noch heute darauf, berufen, daß die
Schwarzen ja weniger Gehirnmasse und infolgedessen weniger Entwicklung hätten.
23
Auch die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelnde Kriminalanthropologie bezog sich auf die Schädelforschung. Vor diesem
wissenschaftlichen Hintergrund sind auch die Forschungen des brasilianischen Gerichtsmediziners Nina Rodrigues zu sehen. Seine Studien
lieferten in Konsequenz jedoch reiches Material über die afro-brasilianische Kultur um die Jahrhundertwende (s. dazu in der Einleitung 1.3)

30
Nicht nur die Naturwissenschaftler, auch die bedeutendsten europäischen Philosophen des 18.
Jahrhunderts wie Voltaire, Kant oder Hegel fällten über die Afrikaner und deren
Entwicklungsmöglichkeiten ein negatives Urteil. „Der Neger stellt den natürlichen Menschen
in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar: von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von
dem, was Gefühl heißt, muß man abstrahieren ... es ist nichts an das Menschliche
Anklingende in diesem Charakter zu finden“ urteilte Hegel (zitiert nach Hofbauer, 1995,
S.51). Trotz der negativen Einschätzung der Afrikaner sprach sich beispielsweise Voltaire
gegen die Sklaverei in den Kolonien aus.

Als „Vater“ der Rassentheorien gilt jedoch der Franzose Arthur Comte de Gobineau, der
Mitte des 19. Jahrhunderts ein umfassendes Erklärungsmodell der Weltgeschichte aufgrund
seiner Rassentheorien entwickelte („Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“).
Anders als seine naturwissenschaftlichen Vorläufer, die Schädel und Knochen vermaßen,
entwickelte Gobineau Mitte ein theoretisches auf seinen Erfahrungen und Reisen fußendes
Konzept. Ihn beschäftigte insbesondere die Frage nach den Ursachen für den Untergang der
Großreiche, die er in deren Tendenzen zur Homogenisierung ausmachte. Europa sah er als
den „Adel der Menschheit“, während sich die Afrikaner mit ihrem tierähnlichen Charakter auf
der untersten Entwicklungsstufe befänden.
Auch Gobineaus Zeitgenosse Ernest Renan zählte die Schwarzen zu den niedrigsten Rassen,
die von Natur aus zur Arbeit auf dem Land bestimmt seien, um die Werke der Weißen
durchzuführen. Insofern trügen die Eroberungen der Weißen und die Kolonialkriege zur
Weiterentwicklung der Menschheit bei.

Gobineaus zweijähriger Aufenthalt als Botschafter in Brasilien 1868-1870 bestätigte ihn in


seinen pessimistischen Prognosen über das zivilisatorische Potential der „Neger“ und die
Dekadenzerscheinungen der Zivilisationen durch Blutvermischung. „Alle hier sind häßlich,
undenkbar häßlich: wie Affen“ soll er geschrieben haben (zitiert nach Skidmore, 1989, S. 45).
Er beklagte, daß kein einziger Brasilianer reines Blut habe, wie die unzähligen Farbnuancen
zeigten. Nach seinem Aufenthalt in Brasilien sagte er das Aussterben der Brasilianer für das
Jahr 2134 voraus, da er der Meinung war, daß die Mischlingsbevölkerung nach einigen
Generationen unfruchtbar werde.

Eine der Problematiken, welche die Naturwissenschaftler im 18. und 19. Jahrhundert
besonders beschäftigte, war die Frage, ob es bei der Verbindung von Menschen

31
unterschiedlicher Rassen zu Unfruchtbarkeit käme, so wie im Tierreich bei Kreuzungen von
Pferden und Eseln zu Maultieren. Als eines der Kriterien zur Bestimmung einer
eigenständigen Spezies galt damals die (Un-)Fruchtbarkeit der Kreuzungsprodukte. Bei
Unfruchtbarkeit läge der Beweis für eine polygenetische Abstammung vor, also eine gänzlich
andere genetische Zusammensetzung der einzelnen Rassen. Mit der Situation in den Kolonien
konfrontiert, argumentierten besonders die Reisenden wie Gobineau und zuvor der britische
Arzt Long (Jamaica) - offensichtlich entgegen ihrer tatsächlichen Beobachtungen -, daß die
Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Rassen tatsächlich zu Unfruchtbarkeit
und letztendlich zum Aussterben führe. Hofbauer verweist darauf, daß sich der Terminus
„Mulatte“ sicherlich auch deshalb durchsetzen konnte, weil er in Zusammenhang mit der
These der Unkreuzbarkeit stehe: sowie im Spanischen als auch im Portugiesischen bezeichnet
„mula“ das Maultier (Hofbauer, 1995, S.43).

Die Situation in den Kolonien beschäftigte auch einige bedeutende Naturforscher wie zum
Beispiel Charles Darwin. Während seiner Beagle-Weltreise machte er auch in Brasilien
Station und war entsetzt über die Auswüchse der Sklaverei, die er hier beobachten konnte.
Der Begründer der Evolutionstheorie, nach der die natürliche Auslese durch den
Überlebenskampf und die Anpassung an die Umwelt bewirkt werde, äußerte sich vermutlich
bewußt kaum zur Evolution des Menschen. Sein Cousin, Francis Galton, nahm einige seiner
Argumentationslinien auf und entwickelte daraus die Eugenik, die Erbgesundheitslehre, mit
der es möglich werden sollte, Fehlentwicklungen der Menschheit zu korrigieren.

Gegen Ende des 19 Jahrhunderts wurde die Trennlinie zwischen biologisch-genetischen und
sozial-kulturellen Ansätzen durch die Biologisierung des Rassenkonzepts immer deutlicher.
Bis dahin waren zum Beispiel die Begriffe Ethnie und Rasse weitgehend synonym verwendet
worden. Die Ethnologie war das Studium der Rassen.
Die Kategorie Rasse erlebte im 20. Jahrhundert eine Transformation von einer biologischen
Einteilung zu einer sozialen. Das Forschungsinteresse wandte sich den „Rassen-
Beziehungen“ zu. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch konnte sich die kulturalistische
Anthropologie durchsetzen. Als „Erbsünde der Anthropologie“ bezeichnete Claude Levi-
Strauss (Levi-Strauss, 1972, S.8) die Verwendung des rein biologischen Rassebegriffs.

32
2.1.2 Die moderne Rassismusdiskussion

Die meisten Sozialwissenschaftler gingen auch im 20. Jahrhundert weiterhin von der
Ungleichheit der Rassen und Kulturen aus, auch wenn sie sich von rein
naturwissenschaftlichen Sichtweisen abgrenzten. Die Kategorie Rasse wurde zu einem
spezifischen Profil biologischer und kultureller Eigenschaften: allen, die gleiche
phänotypische Merkmale besaßen, wurden auch die kulturellen Charakteristika unterstellt.
Der Rasse-Diskurs wurde so durch die Sozialwissenschaften weiterhin legitimiert. In den 70er
Jahren wurde das Studium der Rassenbeziehungen auf ethnische Beziehungen ausgedehnt
(Banton, 1987) „Auf diese Weise haben Sozialwissenschaftler ... perverserweise das Leben
einer Idee verlängert, die ausdrücklich und endgültig auf den Müllhaufen analytisch nutzloser
Ausdrücke geworfen werden sollte“ (Miles, 1989, S.355).

Auch die ersten „schwarzen“ Ankläger des weißen Rassismus Frantz Fanon und der
Begründer der Negritude-Bewegung Léopold Senghor stellten nicht grundsätzlich die
Existenz von Rassen in Frage, auch wenn sie das Rassenkonzept kritisierten. Frantz Fanon,
dessen Texte unter dem Eindruck des sich in Dekadenz befindenden Kolonialsystems
geschrieben wurden, verweist auf den Zusammenhang zwischen Rassismus und Ausbeutung.
Den Unterdrückten bliebe nur eine Alternative: die Imitation der Unterdrücker und das
Ablegen der rassischen Eigenart (Fanon, 1986).

Nach heutigen Forschungen gibt es keine wissenschaftlich überzeugende Grundlage für die
Aufteilung der Menschheit in biologisch unterscheidbare Rassen. Genetisch sind Rassen nicht
eindeutig feststellbar.24 Das heißt nicht, daß es nicht physiologische und phänotypische
Unterschiede, unterschiedliche Hautfarben und Körpermerkmale gebe. Für die Gesamtheit
phänotypischer Unterschiede sind weniger als 0,1% der Gene verantwortlich - aber die
Unterschiede einer genetisch gleich definierten Gruppe sind genauso groß, wie die genetisch
unterschiedlich definierter Gruppen (Cavalli-Sforza, 1994). Dennoch wurde der Begriff Rasse
nicht abgeschafft. Er ist nicht nur nach wie vor sozial relevant, in den letzten Jahren hat er
einen regelrechten Boom erfahren.
Körperliche Unterschiede sind nicht per se Vorbedingung für Rassismus. Sie können es aber
unter bestimmten Umständen werden. Dann nämlich, wenn die Stigmatisierung der Anderen

24
Dennoch gibt es immer wieder Versuche, insbesondere in den USA, rassische Unterschiede naturwissenschaftlich zu belegen. Zu den
neuesten Forschungstendenzen gehört es beispielweise auch soziales Verhalten mit biologischen Grundlagen zu erklären, die sogen.
Soziobiologie.

33
soziale, politische und wirtschaftliche Maßnahmen rechtfertigt, welche die Anderen von den
materiellen oder symbolischen Ressourcen ausschließen. „Rassistische Ideologien entstehen
also immer dann, wenn die Produktion von Bedeutungen mit Machtstrategien verknüpft sind
und diese dazu dienen, bestimmte Gruppen vom Zugang zu kulturellen und symbolischen
Ressourcen auszuschließen“ (Hall 1989:913)

Beim Rassismus25 handelt es sich um eine Ausschließungspraxis, bei der eine bestimmte
Gruppe bei der Verteilung von Ressourcen und Dienstleistungen benachteiligt oder in der
gesellschaftlichen Hierarchie über- bzw. unterrepräsentiert werde. Rassismus bezieht sich
nicht nur auf konkrete Handlungen, sondern auch auf deren vorsätzliche oder ungewollte
Folgen. Immer handelt es sich um ein dialektisches Verhältnis von Ein- und Ausschließung.
Rassismus funktioniere sozusagen als Spiegel, in dem die negativen Merkmale des anderen
als positive Merkmale des Selbst zurückgeworfen werden. Seine Existenz werde dadurch
begünstigt, dass er relativ kohärent und praktisch adäquat sei, d.h. er reproduziere im Denken
bestimmte beobachtbare Regularitäten und liefere kausale Erklärungen dafür (Miles, 1989).
Rassismus ist also keine einmalige, statische Ideologie und nicht historisch zufällig.
Empirisch „hat es viele Rassismen gegeben, wobei jeder historisch spezifisch und in
unterschiedlicher Weise mit den Gesellschaften verknüpft war“ (Hall, 1978, S.26; zitiert nach
Miles, 1989, S. 361) Rassismen unterscheiden sich beispielsweise nach der Gruppe, die
Objekt des Rassismus ist, nach den natürlichen Merkmalen, denen Bedeutung beigemessen
werde, nach den zugeschriebenen Charakteristika. Immer aber werde die Welt in zwei Pole
des „wir“ und „die Anderen“ gespalten. Die Anderen werden aus der Familie der Nation
ausgeschlossen. Als „institutionellen Rassismus“ bezeichnet Miles Ausschließungspraxen,
die aufgrund eines rassistischen Diskurses stattfänden, aber dennoch nicht mehr ausdrücklich
damit gerechtfertigt würden oder, zweitens, bei der Veränderung eines explizit rassistischen
Diskurses in einen verdeckten, so dass die ursprüngliche Bedeutung erhalten bleibe, aber
sprachlich anders verpackt werde. „Will man also das Vorhandensein von institutionellem
Rassismus erfassen, muss man auf die Geschichte des Diskurses rekurrieren und zeigen, dass
vor dem Schweigen ein rassistischer Diskurs existierte“ (Miles, 1989, S.362).

25
Miles unterscheidet drei Vorgänge in Zusammenhang mit Rassismus: Bedeutungskonstitution (signification), Rassenkonstruktion
(racialisation), Rassismus (racism).Zunächst werde eine Auswahl von biologischen oder somatischen Merkmalen zur Klassifizierung
vorgenommen, um daraus die auszuwählen, die angenommene Unterschiede bezeichnen. Um Rassenkonstruktion - ein Begriff, der zuerst
von Fanon benutzt wurde - handele es sich, „wenn soziale Beziehungen dadurch strukturiert werden, dass biologische Merkmale die
Bedeutung bekommen, unterschiedliche soziale Gruppen zu konstruieren“ (Miles, 1989, S. 356).

34
Das Vorurteil ist ein wichtiges Element für den Erhalt rassischer Diskriminierung. Das
Vorurteil ist ein Unterprodukt des Rassismus. Eine ablehnende Haltung bei den
zwischenmenschlichen Beziehungen, eine negative Bewertung, die von vornherein da ist Sie
wird aufrecht erhalten, auch wenn die Fakten dagegen sprechen, weil es sich nicht auf eine
konkrete Basis stützt (Crochik, 1995). Vorurteile beziehen emotionale und kognitive Aspekte
mit ein. Rassische Vorurteile entwickeln sich aufgrund einer Überlegenheitsidee einer Gruppe
über eine andere und haben das Ziel der Stigmatisierung dieser Gruppe. Ihnen werden ebenso
negative wie vermeintlich positive Haltungen und Verhaltensweisen zugeschrieben. Rassische
Vorurteile sind überall in der Gesellschaft präsent, im Alltag des Individuums, den sozialen
Beziehungen und den Medien.

Die Stereotypen sind die Leitfäden für die Verbreitung der Vorurteile. Sie sollen das Problem,
vereinfachen. Sie verhindern, das über die Auswirkungen der sozialen Bedingungen
nachgedacht wird. Ihre Inhalte sollen den Status Quo erhalten. Die Stereotypen bringen das
Stigma hervor, das dem anderen aufgedrückt wird. Sie erschweren seinen sozialen Aufstieg,
machen ihn unglaubwürdig. „Die Rasse als soziales Attribut ist historisch gewachsen und
funktioniert als eines der wichtigsten Kriterien bei der Verteilung sozialer Hierarchien.... Die
Rasse ist einer der fundamentalen Aspekte der Reproduktion der sozialen Klassen“ schrieb
der langjährige Leiter des Centro de Estudos Afro-Asiáticos in Rio de Janeiro (Hasenbalg,
1979, S.90).

Auch der brasilianische Wirtschaftswissenschaftler Hélio Santos unterscheidet Rassismus von


rassischen Vorurteilen und Diskriminierung. Von Rassismus spricht er, wenn einer Gruppe
bestimmte negative Aspekte aufgrund ihrer körperlichen oder kulturellen Aspekte
zugeschrieben werden, während individueller oder persönlicher Rassismus in enger
Verbindung zu rassischen Vorurteilen steht, sich also jemand aufgrund seiner Herkunft
überlegen fühlt. Rassismus und Vorurteile sind Haltungen, Diskriminierung ist die praktische
Umsetzung (H.Santos, 2001, S.109f.)
In seinem Land unterscheidet Santos drei Formen rassischer Diskriminierung auf dem
Arbeitsmarkt: Die „beschäftigungsmäßige Diskriminierung“ (discriminação ocupacional)
stelle die Fähigkeit der Afro-Brasilianer in Frage bestimmte Aufgaben erfüllen zu können.
Bei der „lohnabhängigen Diskriminierung“ (discriminação salarial) erhielten Afrobrasilianer
weniger Geld für gleiche Arbeit. Als „Diskriminierung durch das Erscheinungsbild“
(discriminação pela imagem) bezeichnet er den Sachverhalt, dass Afro-Brasilianer angesichts

35
des europäischen Ideals für bestimmte Tätigkeiten nur ungern angestellt werden26 (H.Santos,
2001, S.90)

Alkemeyer & Bröskamp lenken die Aufmerksamkeit auf den ambivalenten Charakter der
Rassenkonstruktion. Nicht die negative Bewertung der anderen sei konstituierend für
Rassismus, Rassismus kann auch in gutgemeinten Handlungen oder Paternalismus gegenüber
diesen Gruppen versteckt sein. Deshalb sei es sowohl analytisch, als auch politisch wichtig
zwischen Xenophobie, Rassenhass und Idealisierung zu unterscheiden (Alkemeyer &
Bröskamp, 1996). In Brasilien kommen solchen gutgemeinten Handlungen und
paternalistischen Attitüden gegenüber den Afro-Brasilianern besondere Bedeutung zu.
Xenophobie und Rassenhass sind dagegen Sachverhalte, die nicht typisch für die
brasilianische Gesellschaft sind.

Das alte Konzept der Rasse wird gegen Ende des 20 Jahrhunderts zunehmend ersetzt durch
das Konzept der Kultur. „Wir versuchen den Diskurs des Rassismus rational zu analysieren,
während er seine Macht und Dynamik gerade aufgrund der mythischen und psychischen
Energien gewinnt, die in die Kultur investiert werden“ (Hall, 1989, S.921). Es geht nicht mehr
darum, Rassenreinheit zu bewahren, sondern kulturelle Identität. Über kulturelle Identität
verfügt jemand, kann sie erwerben oder den anderen damit identifizieren. Kulturelle Identität
ist ein eher positiv besetzter Begriff. Hinter ihm kann aber auch die Vorstellung stehen, dass
die kulturellen Grenzen nicht überwindbar und die Kulturen unvereinbar miteinander sind.
Jede Kultur soll existieren, aber innerhalb ihrer Grenzen. „The model propagated here is one
of a heterogenous world of homogenous people, each group with its own living space“
(Alkemeyer & Bröskamp, 1996, S.43). Balibar spricht in diesem Zusammenhang von
„Rassismus ohne Rassen“ (Balibar, 1990).

2.2 („Schwarze“) Kultur und Identität

Was ist Kultur? Vom Lateinischen „Bebauung“, „Pflege“ (des Körpers und Geistes),
„Ausbildung“ kommend ist Kultur, laut Lexikon, die „Gesamtheit der typischen

26
Noch in den 80er Jahren stellte der sogen. „código 4“ die verklausulierte Bezeichnung der
Hautfarbe des Kandidaten im Nationalen Beschäftigungs System (Sistema Nacional de
Emprego) Santos, 2001, S.91.

36
Lebensformen größerer Gruppen einschließlich ihrer geistigen Aktivitäten, besonders der
Werteinstellungen. ... Kultur im engeren Sinne bezeichnet alle Bereiche der menschlichen
Bildung im Umkreis von Erkenntnis, Wissensvermittlung, ethischen und ästhetischen
Bedürfnissen“ (Meyer, 1998, S. 234). Kultur ist also der Kontext bzw. ein Rahmen, in dem
gesellschaftliche Verhaltensweisen, Institutionen und Ereignisse verständlich werden.

2.2.1 Kultur und kulturelle Identität – auf den Spuren von Clifford Geertz und Pierre
Bourdieu

Den phänomenologischen Herangehensweisen, die positivistisch Ab-straktionen mit


Sinngehalten zu verbinden suchen, stehen seit den 70er Jahren kulturalistische oder
interpretative Verhaltensweisen gegenüber. Zu den wichtigsten Beiträgen zum Verständnis
kultureller Systeme gehören die Arbeiten des amerikanischen Anthropologen Clifford Geertz.
Er vertritt einen semiotischen Kulturbegriff und versteht Kultur als das selbstgesponnene
Bedeutungsgewebe, in welches der Mensch verstrickt sei. Kultur sei ein „geschichtlich
übermittelter Komplex von Bedeutungen und Vorstellungen, die in symbolischer Form zutage
treten und es den Menschen ermöglichen, ihr Wissen über das Leben und ihre Einstellung zur
Welt einander mitzuteilen, zu erhalten und weiterzuentwickeln“ (Geertz, 1994, S.2) Kultur sei
also ein System sozialer Symbole oder - anders formuliert - artikulieren sich kulturelle
Formen in den sozialen Handlungen der Menschen. Durch ihre „dichte“ Beschreibung,
welche die komplexen Vorstellungswelten herausarbeite, eröffne sich eine Möglichkeit des
Verstehens von Kultur. Zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kultur gehöre das
Erkennen und Deuten dessen, „was man wissen oder glauben muss, um in einer von den
Mitgliedern dieser Gesellschaft akzeptierten Weise zu funktionieren“ (Goodenough zitiert
nach Geertz, 1994, S. 17).
Für diese Arbeit lieferten die Überlegungen Clifford Geertz´ den Ausgangspunkt für die
Beschäftigung mit den kulturellen Manifestationen der Afro-Brasilianer, insbesondere die von
ihm geforderte „dichte Beschreibung“, welche die teilweise übereinander gelagerten und
ineinander verwobenen Gedankenwelten der zu untersuchenden Individuen darzustellen
versucht.

Zu den wichtigsten Arbeiten über die Funktionen von Kultur in den 90er Jahren gehören die
Arbeiten des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. In den heutigen westlichen

37
Gesellschaften identifiziert er nicht nur eine ökonomische und soziale Machtverteilung,
sondern auch eine kulturelle. Die soziale Praxis werde symbolisch und ästhetisch organisiert.
Gesellschaftliche Macht werde über die Zustimmung zu Geschmack und Symbolen ausgeübt.
Kulturelle Formen haben eine soziale Herkunft und werden bei Bourdieu in einem vom
Habitus geprägten sozialen Handeln erworben. Er unterscheidet die einfache Kultur von der
Kultur der Klassengesellschaft, wobei letztere als Herrschaftsprodukt funktioniere. Neben
dem ökonomischen gebe es also ein kulturelles Herrschaftsprodukt in der bürgerlichen
westlichen Klassengesellschaft (Bourdieu, 1984, S.16).

Der Geschmack ist der kulturelle Code, der ungleich verteilt sei. Auf der Ebene der
symbolischen Auseinandersetzung entfalte er differenzierende Wirkung. Bei Bourdieu gibt es
eine Konkurrenz auf der Ebene des Symbolischen, um die Definition des legitimen
Lebensstils. Kulturelles Wissen und intime Vertrautheit mit der legitimen Kultur stellen das
„kulturelle Kapital“ dar. Kulturelles Kapital könne drei Formen annehmen: Es könne
verinnerlicht, also inkorporiert sein, es könne objektiviert werden in Form von kulturellen
Gütern und sogar institutionalisiert werden (Bourdieu, 1984, S.13). Der Geschmack
verwandele die soziale, dingliche Welt, Personen und Sachen, in eine mit Bedeutung
ausgestattete symbolische Welt. Dabei handele es sich um ein verinnerlichtes System von
Klassifikationsschemata, zur Ordnung der Welt, zur Entschlüsselung und Orientierung. Der
Geschmack ist der praktische Orientierungssinn, der „sense of one´s place“, der soziale
Differenzen, die in den Habitus-Formen verkörpert sind, bemerkt.

Als „Habitus“ bezeichnet Bourdieu ein „subjektives, aber nicht individuelles System
verinnerlichter Strukturen, gemeinsamer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“
(Bourdieu1987, S.112). Die kulturellen Abgrenzungen („distinctions“) seien die wesentliche
Grundlage kulturellen Wandels, insbesondere der verschiedenen schichtspezifischen
Lebensstile und Formen des kulturellen Konsums. Es bestehe eine Tendenz, das System der
sozialen Stratifikation zu verstärken. Die sozialen Verhaltensweisen werden über das
Bildungssystem kulturell reproduziert (Bourdieu, 1984).

Die Kulturtheorie Bourdieus verbindet Ästhetik mit Praxis. Für ihn handeln die Menschen
nicht nach Theorien, sondern gemäß einer spezifischen Praxis, verfolgen bestimmte
Strategien und wenden erworbenes Wissen an. Innerhalb ihres sozialen Umfeldes entwerfen
die Menschen ihre Antworten auf die Anforderungen der Situation, indem sie handeln.

38
Bourdieus Kulturstudie bezieht sich auf Frankreich, ein europäisches Land mit einer
bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Sie liefert jedoch auch einige wertvolle Denkansätze für
die Beschäftigung mit der Kultur in Brasilien, deren grundlegender Unterschied zu Frankreich
das Zusammentreffen europäischer, afrikanischer und indianischer Kulturelemente ist. Die
europäisch geprägte Kultur, die sich von der einfachen Volkskultur unterscheidet, ist
dominierend, wenn auch nicht dominant. Sie ist die Kultur, die den Geschmack prägt, nach
deren Codes bewertet wird. Die afrikanische Kultur ist die am weitesten verbreitete, deren
einzelne Elemente (Samba!) zum Aufbau einer nationalen Identität von den herrschenden
europäischen Schichten übernommen wurden. Die Beziehungen der Kulturen sind nicht
statisch, sondern in einem permanenten Austausch und Wandel begriffen. Zu einem der
wichtigsten Faktoren bei der Beschäftigung mit der brasilianischen Kultur, gehört die
Beachtung einer weiteren Komponente: Geschmacksurteilen aufgrund von bewussten oder
unbewussten rassischen Vorurteilen und Diskriminierung.

Auf die Bedeutung des Körpers als Gegenstand von Geschmacksurteilen verweist Gebauer
(Gebauer, 1982, S. 313-329). Die Formen körperlicher Präsentationen, die eigenen und die
der Anderen, werden wahrgenommen und bewertet. Jede noch so flüchtige oder intensive
Wahrnehmung sei immer auch ein Akt der Dechiffrierung auf der Basis eines inkorporierten
kulturellen Codes. Geschmacksurteile drücken Empfindungen, Bilder, Normen etc aus. Wo
die Geschmacksnormen auseinanderstreben, äußere sich der Geschmack häufig negativ als
Ablehnung, im extremsten Fall als Diskriminierung aufgrund körperlicher Unterschiede. Der
Geschmack sei das ästhetische Prinzip, das die Darstellung der sozialen (bzw. ethnisch-
kulturellen) und personalen Identität auf der Ebene des Körperlichen einrichtet (Gebauer,
1982, S. 313-329).

Kulturelle Identität hängt eng mit dem Begriff der ethnischen Identität zusammen. Ethnizität
ist ein seit den 70er Jahren viel diskutiertes Konzept, das ausgehend von der Definition
Barths, die Existenz ethnischer Gruppen von der Herausbildung und Bewahrung ethnischer
Grenzen abhängig macht (Barth, 1969). Dabei handelt es sich nicht, wie zunächst
angenommen, um objektive Klassifikationssysteme, sondern um subjektive in der alltäglichen
Praxis eingesetzte Klassifikationssysteme der handelnden Individuen, auf deren Grundlage

39
Eigen- und Fremddefinitionen vorgenommen werden27. Ethnische Grenzen sind soziale
Konstrukte, Vorgänge der Ein- und Ausschließung der anderen. „Ethnische Gruppen
tendieren dazu, sich weniger durch den Bezug auf ihre eigenen Charakteristika zu definieren,
als vielmehr durch den Ausschluss anderer“ (Bröskamp, 1993, S.188). So verstanden liefert
die Ethnizitäts-Diskussion wertvolle Anregungen für die Beschäftigung mit dem Rassismus
und der Frage nach der kulturellen Identität der Afro-Brasilianer. Bleibt die Frage nach den
Entwicklungsbedingungen für die Ausformulierung von kultureller Identität: Ist kulturelle
Identität quasi naturgegeben oder entwickelt sie sich nicht vielmehr aus der Krise heraus,
insbesondere im Übergang traditioneller zu modernen Gesellschaften (Dittrich & Radtke,
1991, S.24).

Bröskamp lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass das Habituskonzept eine innovative
Perspektive einer „praxeologischen Ethnizitätsforschung“ ermögliche. Ethnische Identität
unterscheide sich nicht von anderen Formen kollektiver Identität und solle in Zusammenhang
mit anderen sozio-strukturellen Kategorien betrachtet werden. „In dem vom Habitus
erzeugten Reproduktions- und Distinktionsstrategien (Heirats-, Freundschafts-,
Fortpflanzungs-, Bildungs-, Konsumstrategien etc.) ist das affektive Bedürfnis nach
Gruppenzugehörigkeit immer mit einem uneingestandenen, weil gesellschaftlich
verschleiertem ökonomischen Kalkül untrennbar verschmolzen, das allen Formen kultureller
Praxis und kulturellen Konsums zugrunde liegt“ (Bröskamp, 1992)

2.2.2 Schwarze Kultur und Identität

Schwarze Kultur ist für viele eine besondere Form von Kultur, nicht nur für den britischen
Soziologen Stuart Hall „ein widersprüchlicher Raum per Definition“ (Hall, 1992, S.26). Was
ist „schwarze Kultur“? Nur von „Schwarzen“ gemachte Kultur, nur „Schwarzen“
verständlich?
“In its expressivity, its musicality, its orality, in its rich, deep and varied attention to speech,
in its inflections toward the vernacular and the local, in its rich production of

27
Die primordialistischen Ansätze gehen davon aus, dass ethnische Gruppen sich dauerhaft
durch das affektive Potential primordialer Bindungen halten, während die
instrumentalistischen Ansätze ethnische Identitäten eher als instrumentell eingesetzte
Gruppenstrategien von Interessengruppen verstehen.

40
counternarratives, and above all, in its metaphorical use of the musical vocabulary, black
popular culture has enabled the surfacing, inside by the mixed and contradictory modes even
of some mainstream popular culture, of elements of discourse that is different other forms of
life, other traditions of representation” (Hall, 1992,S.27).

Ausdrucksstärke, Musikalität, Oralität, Sprachgewandtheit, Betonung des Lokalen, Schaffung


von Gegenwelten und der metaphorische Gebrauch des musikalischen Vokabulars sind die
Aspekte, mit denen Stuart Hall die moderne schwarze populäre Kultur charakterisiert. Auch
er betont die Bedeutung der Musik als wichtigster Ausdrucksform und nennt als weiteres
Element die Inszenierung des Körpers „Style …has become itself the subject of what is going
on“ (Hall, 1992, S.27)

Es waren die Begründer der Négritude-Bewegung, schwarze Intellektuelle aus den


französischen Kolonien der Karibik und Afrikas, die in den 30er Jahren in Paris eine
kulturphilosophisch und literarische Bewegung in Gang setzten, die sich erstmals
kontinentumfassend Gedanken über „schwarze Kultur“ machten. Zwar gebe es keine „reinen
Neger“, aber es gebe die „Negerkultur“, die durch den Rhythmus charakterisiert werde
schrieb der Senegalese Léopold S. Senghor (Senghor, 1967, S.23). „Das heißt, dass die
Negermusik wie die Skulptur, wie der Tanz im nährenden Boden verwurzelt ist, dass sie
beladen ist mit Rhythmen, mit Lauten, und Geräuschen der Erde. ... Auch sie vermittelt
Gefühle - keine Sentimentalitäten allerdings. Sie vermittelt der verarmten, okzidentalen
Musik, die sich immer auf die gleichen zufälligen, vor allem zu engen Regeln stützte, den
nötigen Saft....Der fleischgewordene Rhythmus“ (Senghor, 1967, S.26).

Die „schwarze“ Musik stellt nicht erst seit den 60er Jahren einen Bereich dar, der als
„typisch“ für Menschen mit dunkler Haut angesehen wird. Seit sich Blues und Jazz als
Musikformen ab Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten durchsetzten,
gibt es die Diskussion um die typisch „schwarze Musik“. „Ohne Unterdrückung und ohne
Rassismus gibt es keinen Blues“ schrieb Senghors karibischer Zeitgenosse Frantz Fanon und
trifft damit einen zentralen Aspekt, wenn von schwarzer Musik die Rede ist (Fanon, 1986,
S.141). Sie gilt als die Musik der Sklaven und ihrer Nachfahren auf den Plantagen, als die
Musik der ausgebeuteten und entwurzelten Industriearbeiter, als die Musik der Underdogs
und Marginalisierten in den Städten. Mit Bob Marley erlangte der jamaikanische Reggae in
den 70er Jahren seinen weltweiten Durchbruch. Anfang der 80er Jahre haben jugendliche

41
Schwarze in New York den Rap und die HipHop-Kultur erfunden, die heute überall in der
Welt zu finden sind. Die Verbreitung afrikanischer Musik begann ab Mitte der 80er Jahre
zunächst noch stark über den Bezug zu den alten Kolonialmächten. Bis heute ist „black
music“ also ein fester Begriff für bestimmte Musikrichtungen, die anfänglich oder
vorwiegend von Afro-Amerikanern gemacht wurden, inzwischen aber viel weiter gefasst
werden muss.

Der englische Soziologe Paul Gilroy prägte den Begriff des Black Atlantic, der die kulturelle
Dynamik der schwarzen Diaspora aus einem neuen Blickwinkel betrachtet. Es geht nicht
mehr darum, die afrikanischen Wurzeln der kulturellen Praktiken in den schwarzen
Gemeinschaften zu erkennen und deren Authentizität im Vergleich zum „Original“ zu
bewerten, wie es lange Zeit Praxis von Anthropologen und Soziologen war. Der Begriff des
Black Atlantic steht für die Dynamik des interkontinentalen Austausches. Auf die schwarze
bzw. afro-amerikanische Musik übertragen bedeutet dies, dass sie nicht aus einer einzigen
Wurzel gespeist wird, sondern aus einem weit verzweigten Netz miteinander in Beziehung
stehender Traditionen schöpfen kann. Teilweise sei es heute nicht mehr möglich zu erkennen,
ob eine bestimmte Musikrichtung wie sie heute in Afrika oder der Diaspora gespielt wird, auf
dem schwarzen Kontinent oder in den Amerikas erfunden wurde (Gilroy, 1993)
Zur Internationalisierung schwarzer Kultur trägt, so der italienische Anthropologe Lívio
Sansone, die Konvergenz bestimmter struktureller Faktoren bei, wie ökonomische Situation,
Stellung im Arbeitsmarkt, Position in der Gesellschaft etc., aber auch der von den Schwarzen
selbst gesuchte Austausch (Sansone, 1994). Für ihn nehmen in diesem Gefüge die USA und
die ‘African Americans’ die zentrale Rolle ein. Von hier kämen die meisten Impulse, während
Afrika und zunehmend Brasilien als Quelle der Inspiration gelten.
Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen soll die schwarze Kultur als „eine spezifische
Sub-Kultur der afrikanisch-amerikanischen Bevölkerung innerhalb eines sozialen Systems,
das die Hautfarbe oder die Herkunft der Hautfarbe als wichtiges Kriterium annimmt, um
Menschen zu unterscheiden und zu trennen“ (Sansone, 1995, S.66) definiert werden.

Die Bedeutung der Kultur zur Ausbildung einer kulturellen Identität klang bereits vorher
schon an, dies gilt jedoch in besonderem Maße für die schwarze Kultur und Identität. Überall
in Lateinamerika, aber ganz besonders in Brasilien, wird schwarze Identität mit Rückgriff auf
die lokalen schwarzen Traditionen formuliert, aber auch unter Bezug auf Objekte, Symbole
und Musikstile, die es in der internationalen schwarzen Jugendkultur gibt. Die Art und Weise,

42
wie neue Musik- und Lebensstile von schwarzen Jugendlichen kreiert werden, und ihre
Bedeutung ähneln sich: Die linguistische Innovation bei der rhetorischen Stilisierung des
Körpers, die Haarmoden, die Arten zu gehen, zu stehen, zu reden und Zusammengehörigkeit
auszudrücken, aber auch die erhöhten Erwartungen und die Art und Weise einen fremden
sozialen Raum zu erobern.

Bei der Kreierung der neuen Stile sind die mimetischen Prozesse besonders wichtig. Als
Mimesis bezeichnet der Erziehungswissenschaftler Christoph Wulf „Prozesse produktiver
Nachahmung“ (Wulf, 2003), die Identifikation einer Person mit einer anderen. Sie enthalten
eine Handlungs- und eine Wissenskomponente. Für Wulf und seinen Forschungskollegen
Gebauer ist Mimesis ein „verbales Etikett für vielfältige soziale Prozesse“ (Gebauer u. Wulf,
1992, S.14). „Mimesis ist nicht an die Grenzziehungen zwischen Kunst, Wissenschaft und
Leben gebunden. .... Mimetische Prozesse sind nicht eindeutig; vielmehr sind sie ambivalent.
... die sich mimetisch zu angenommenen Wirklichkeiten verhaltenden Bilder der
Massenmedien fördern die Ästhetisierung der Welt. Sie schaffen vorgebliche oder
konstruierte Wirklichkeiten, verändern sie, saugen sie auf“ (Gebauer u. Wulf, 1992, S.10).
Bezogen auf die afro-brasilianische Kultur haben die mimetischen Prozesse m.E. eine
herausragende Bedeutung: In der Musik, im Tanz, beim Capoeira und ganz besonders bei den
rituellen Handlungen des Candomblé wird Wissen fast ausschließlich durch Nachahmung,
Zuschauen, Wiederholen erworben. Auch in Zusammenhang mit der Entwicklung der Blocos
Afros lassen sich die mimetischen Prozesse zur Konstruktion einer neuen schwarzen Identität
beobachten.
Über die Mimesis kommt es zur „Produktion einer symbolischen Welt, die praktische und
theoretische Bestandteile einbezieht. ... Während das moderne rationale Denken auf das
einzelne isolierte Erkenntnissubjekt bezogen ist, ist Mimesis immer eine Angelegenheit eines
Beziehungsgeflechts von Personen: Die mimetische Erzeugung einer symbolischen Welt
nimmt Bezug auf andere Welten und ihre Schöpfer und schließt andere Personen in die eigene
Welt ein“ (Gebauer u. Wulf, 1992, S.11). Schwarze Kultur kann also auch als Prozess
verstanden werden, durch den die Afro-Brasilianer ihre Handlungen innerhalb der
Gesellschaft orientierten und ihnen Bedeutungen gaben über die Manipulation der Symbole
(Morales, 1990, S.19).

Die Organisation über Symbole ist für den brasilianischen Sozialwissenschaftler Muniz Sodré
das entscheidende Merkmal der schwarzen brasilianischen Kultur gegenüber dem westlichen

43
Denken, das er als ein begriffliches, bestimmendes Denken ansieht.. „Eine Kultur, die sich auf
Symbole gründet, ist offen für Ambivalenz und Flexibilität. Das Symbol organisiert, es
benennt nicht. Der Sinn wird sozial gefüllt“ sagt Sodré im Interview (die tageszeitung,
27.12.1994) In der afro-brasilianischen Kultur, insbesondere in der Religion des Candomblé
gibt es keine einfache Trennung zwischen Materiellem und Symbolischem. Es gibt soziale
Beziehungen zu den Kräften der Natur und den Göttern. Für Sodré ist das Terreiro, die
Candomblé-Kultstätte, das zentrale Element der schwarzen Kultur in Brasilien.
Auch er sieht die Musik als eine der wichtigsten Ausdrucksformen schwarzer Kultur. „Die
Musik ist die Waffe, mit der er ein ihm nicht zugängliches Territorium erobert und dieses mit
den Besonderheiten seiner Mentalität neu konstituiert“ sagt Sodré und gibt zwei Beispiele:
Anfang des Jahrhunderts durften in Rio de Janeiro Schwarze nicht durch den Vordereingang
in die Häuser der weißen Oberschicht. Als die Schwarzen dann anfingen den weißen
Brasilianern Gitarrenunterricht zu geben, durften sie auch den Vordereingang benutzen. Das
zweite Beispiel ist das „Sambahaus“ einer Priesterin Anfang des Jahrhunderts in Rio. „Ihr
Haus war sozusagen eine Metapher für diese Strategien der Eroberung. Im Vorderteil des
Hauses wurden Bälle gegeben, die den Normen der gehobenen Gesellschaft entsprachen. Im
mittleren Teil war ein Restaurant, wo die Gäste essen konnten. Im hinteren Teil des Hauses
wurden jedoch religiöse Kulte praktiziert sowie samba rasgado (wörtlich: zerrissener Samba)
getanzt, ein Tanz der in der Öffentlichkeit als unmoralisch verpönt war. Das Ballhaus
funktionierte, wie eine spanische Wand, wie eine Raummetapher der Widerstandshaltung
schwarzer Kultur. ... Die Struktur dieses Hauses ist wie ein semiotisches Dispositiv der
Übereinkunft und Verhandlung. Das sind die Strategien der schwarzen Kultur. Gekämpft wird
nur als letzter Ausweg“ (die tageszeitung, 27.12.1994).

Schwarze Identitäten in Brasilien sind also keine Naturgegebenheit. Sie werden konstruiert.
Anders als in den USA, wo die ethnische Abstammung entscheidend ist bei der Definition
und Identität als african american, klassifizieren die meisten Brasilianer nach dem
Erscheinungsbild und den sozialen Verhältnissen. Die Frage nach der Hautfarbe ist nicht
allein eine Angabe zur Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes einer Person wie die
Augenfarbe oder das Geburtsdatum. In der brasilianischen Realität (nicht nur in dieser, aber
hier im Besonderen) ist sie ebenso Symbol einer bestimmten als „normal“ empfundenen
sozialen Position, wie Signal für die Art der sozialen Umgangsformen oder Zeichen für den
Zugang zu gesellschaftlichen Räumen. „Die Frage nach der Abgrenzung ist ja nicht bloß eine
akademische Spitzfindigkeit, um das ´Studienobjekt´ besser in den Griff zu bekommen, sie ist

44
vor allem auch Teil der brasilianischen Alltagsdynamik“ beobachtet der österreichische
Anthropologe Hofbauer treffend.
Im Verlauf der Arbeit wird sich zeigen, dass zum Aufbau einer „neuen“ afro-brasilianischen
Identität ebenso auf die traditionelle schwarze Kultur zurückgegriffen wird, wie – begünstigt
durch die zunehmende Globalisierung - Bezug auf ein großes Reservoir moderner,
internationaler schwarzer Kultur genommen wird. Der symbolische Austausch zwischen
Schwarzen auf beiden Seiten des Atlantik ist ein gutes Beispiel für die Beobachtung des
Anthropologen Ulf Hannerz. In dem Maße, wie die Entwicklung von Massenmedien,
elektronischen Konsumgütern, Freizeitindustrie und die Globalisierung der westlichen
urbanen Gesellschaft im allgemeinen einen Homogenisierungsprozess bedeuten, bieten sie
auch die Möglichkeiten für die Schaffung neuer ethnischer Subkulturen und kultureller
Heterogenität (Hannerz, 1989). Das Besondere bei den afro-brasilianischen kulturellen
Manifestationen ist, dass die lokalen schwarzen Traditionen so stark sind, dass etwas Eigenes
entsteht, eine eigene Musikform wie z.B. der Samba-Reggae. Bei den Blocos Afros handelt es
sich also nicht um jugendliche schwarze Musikgruppen, die auch Reggae oder Rap spielen
und sich mit dem dazugehörigen Universum identifizieren, sondern die etwas Neues gemacht
haben. Dadurch werden sie auch zur Quelle der Inspiration für Menschen anderer schwarzer
Kulturen.

45
3.Afro-brasilianische Kultur -
seit über 100 Jahren im Blickpunkt der Wissenschaften

Seit mehr als 100 Jahren beschäftigen die afro-brasilianische Kultur und die
Rassenbeziehungen in Brasilien Sozial- und Geisteswissenschaftler. Die brasilianischen
Forschungen stehen, wie bereits erwähnt, in engem Zusammenhang mit der Entwicklung
Brasiliens zu einer Nation und dem Selbstbild des Landes, während sie andererseits bereits ab
Mitte des 19. Jahrhunderts in einen internationalen Kontext eingebettet sind. Die
Publikationen sollen hier fünf Perioden zugeordnet werden. Anschließend sollen die
wichtigsten Tendenzen der Karnevals-Forschung in Brasilien vorgestellt werden.

3.1 Afrikaner in Brasilien - ein Problem für die Elite

Bei den ausländischen Wissenschaftlern und Besuchern sind die afro-brasilianische Kultur
und das Miteinander der Rassen in Brasilien von Anfang an auf großes Interesse gestoßen.
Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert brachten die Reisenden Jean Baptiste Debret,
Johann Moritz Rugendas und Johann Baptist Spix & Karl Friedrich Philipp von Martius
Szenen vom Leben der afrikanischen Sklaven in Bild und Schriften nach Europa mit 28.

Der Gerichtsmediziner Nina Rodrigues (1862-1906) war der erste brasilianische


Wissenschaftler, der über Afrikaner und ihre Nachfahren in Brasilien geforscht hat. Erst 26
Jahre nach seinem Tod erscheint 1932 das Buch „Os africanos no Brasil“, Ergebnis der
Forschungen zwischen 1890 und 1905. Auf der Basis der herrschenden Rassenideen seiner
Zeit beschäftigte sich der aus dem Bundesstaat Maranhão stammende Naturwissenschaftler
mit dem „Neger-Problem“. Schwarze galten als menschliche Anormalität und Nina Rodrigues
versuchte dies wissenschaftlich zu belegen. Trotz der „dem ranzigen Geruch seiner Zeit“
(A.Santos, 1996, S.42), wie der bahianische Musikforscher Santos es formuliert hat, ist das
Werk Rodrigues reich an Informationen zur schwarzen Kultur um die Jahrhundertwende.
Seinen Spuren folgt der Alagoaner Artur Ramos, ebenfalls Gerichtsmediziner am Instituto
Médico Legal in Salvador, der 1934 „O negro brasileiro“ veröffentlicht. In Ramos Schriften
erscheint die schwarze Kultur folkloristisch und fremdartig.

28
Jean Baptiste Debret „Voyage pittoresque e historique au Brésil“ von 1834, Johann Moritz
Rugendas „Voyage pittoresque dans le Brésil“ von 1835, Johann Baptist Spix & Karl
Friedrich Philipp von Martius „ Reise in Brasilien in den Jahren 1817 bis 1820“
46
Den Ethnografen Manuel Querino dagegen fasziniert die afrikanische Kultur in Brasilien. Das
1938 veröffentlichte Werk „Costumes africanos no Brasil“ ist frei von rassistischen
Prämissen. Wie Querino fühlte sich auch der Anthropologe Edison Carneiro von der
„baianidade negra“ angezogen. Sein 1936 erschienenes Buch „Religiões negras“ und der
von ihm organisierte Zweite Afro-Brasilianische Kongreß in Salvador ein Jahr später, tragen
entscheidend zur Aufwertung der afrikanischen Einflüsse in der brasilianischen
Kulturgeschichte bei. Hier beginnt, was Santos als „Liebes“-Verhältnis zwischen
Intellektuellen und der schwarzen Kultur, insbesondere dem Candomblé bezeichnet
(A.Santos, 1996, S.34). Als „großes Abenteuer“ beschreibt Edison Carneiro auf dem Zweiten
Afro-Brasilianischen Kongreß in Salvador 1937 die „Entdeckung der Psyche des Schwarzen
(Negers) in Brasilien und im besonderen des bahianischen Schwarzen (Neger), unverstanden,
ausgebeutet, unterdrückt durch den Weißen ohne Recht auf einen Platz an der Sonnenseite in
der Gesellschaft“ (Carneiro zitiert nach Santos, 1996, S. 35). Carneiro gehörte - wie der
bahianische Schriftsteller Jorge Amado - zur sogenannten „Academia dos Rebeldes“, einem
Kreis Intellektueller, die von marxistischen Ideen beeinflusst waren und sich für die
Volkskultur interessierten. Das Leben der einfachen Leute in Salvador und auf dem Land in
der Kakaoregion um Ilhéus ist es, das der weltweit erfolgreichsten brasilianischen
Schriftsteller bereits in seinen ersten Romanen aus den 30er Jahren „País do carnaval“ (Land
des Karnevals), „Cacau“ (Kakao), „Suor“ (Schweiß) und „Jubiabá“ beschreibt.

3.2 Brasildade – die Entstehung eines Mythos

Anfang des 20. Jahrhunderts konsolidiert sich Brasilien als Nation unter den Vorzeichen der
Ideologie und Praxis der „Aufhellung“ (embranquecimento ). Die rassische
Zusammensetzung ihres Landes betrachtete die brasilianische Elite zunächst als Hindernis
für Fortschritt und Modernität. Die negative Haltung wich erst langsam einer positiveren
Sichtweise der rassischen Vermischung, welche die rassische Heterogenität nicht mehr als
Hindernis nationaler Integration und Fortschritts ansieht. Die biologische und kulturelle
Vermischung der Menschen wurden als Indiz für Toleranz und Harmonie in den
Rassenbeziehungen gewertet. Der Mythos der Rassendemokratie war geboren.

47
Den Grundstein für diese veränderte Sichtweise hat der Soziologe Gilberto Freyre mit dem
Buch „Casa grande e senzala“ gelegt. Im selben Jahr in dem Hitler in Deutschland die Macht
ergreift, 1933, veröffentlicht der in Recife/Pernambuco geborene Gilberto Freyre das Buch
„Herrenhaus und Sklavenhütte“, eine Absage an die deterministischen und rassistischen
Theorien seiner Vorgänger. Mit ihm verlagert sich der Fokus der afro-brasilianischen Studien
von der medizinisch-biologischen Perspektive zu einer soziologisch-historischen
Herangehensweise. Das Buch Freyres begründet eine neue – und bis heute gültige Sichtweise
Brasiliens, die in ihrer Ausstrahlung mit den Werken Cervantes, Camões, Tolstois oder Sartre
auf Bild und Selbstbild Spaniens, Portugals, Russlands oder Frankreichs vergleichbar ist.
Freyre war davon überzeugt, daß Brasilien durch die fast komplette Abwesenheit rassischer
Vorurteile Modell einer „Neuen Welt in den Tropen“ sei, das dem Rest der Welt ein Beispiel
zur Lösung ihrer Rassenprobleme gäbe. Den Beispielcharakter des Landes sah Freyre in der
kolonialen Vergangenheit und den aus seiner Sicht positiven Erfahrungen des Sklavensystems
begründet. Er argumentierte, daß durch die relativ häufige Rassenvermischung während der
Kolonialzeit eine große gemischte Bevölkerung herangewachsen sei. Damit werde rassischen
Vorurteilen von vornherein der Boden entzogen. Beim Übergang ins 20. Jahrhundert habe
diese harmonische Verbindung von Schwarzen und Weißen die Basis der breiten
Demokratisierung der brasilianischen Gesellschaft geliefert. Die rassische Zusammensetzung
Brasiliens wird nun nicht mehr als Hindernis der Entwicklung gesehen, sondern als eine
positive Besonderheit Brasiliens. Der Mischling wird zum Symbol nationaler Identität, der
brasildade, der Mischung von Portugiesen, Afrikanern und Indianern.

Die teilweise stark romantisierende Darstellung der Sklaverei wird zur Hauptkritik am Werk
Freyres. Die „Vermischung“ der Rassen sei weder vorurteilsfrei noch demokratisch vor sich
gegangen. Die sexuellen Beziehungen zwischen Sklavenhaltern und Sklavinnen waren
bestimmt durch die bestehenden Machtverhältnisse und eher von Gewalt als
rassendemokratischen Gedanken geprägt. Darüber hinaus stand die reaktionäre Haltung
Freyres und seine politische Nähe zur Militärregierung ab 1964 im Konflikt zu den
Sichtweisen vieler seiner Forschungskollegen. Dennoch bestätigt der Anthropologe Darcy
Ribeiro dem Buch „Herrenhaus und Sklavenhütte“ eines der wichtigsten Bücher der
brasilianischen Kultur zu sein. „Er lehrte uns, uns mit unserer lusitanischen und negroiden
Herkunft auszusöhnen, derer wir uns alle ein wenig schämten... Gilberto verdanken wir vor
allem gelernt zu haben, im Gesicht jeden von uns oder unserer Onkel und Neffen – wenn
schon nicht mit Stolz, wenigstens mit Ruhe – fleischige Lippen, gekräuselte Haare oder die

48
breiten Nasen unzweifelhaft afrikanischer Herkunft zu erkennen“ (Mattos, 2000, S.2). Bis
heute wird das Werk Freyres mit seiner romantisch erscheinenden Einschätzung der
Rassenbeziehungen und der rein positiven Sicht der Rassenvermischungen stark kontrovers
diskutiert.

Ab Mitte der 30er Jahre kamen verschiedene ausländische Forscher nach Brasilien, v.a.
Nordamerikaner wie Charles Wagley, Ruth Landes oder der Historiker Stanley Stein. Die
meisten dieser Forscher beschäftigen sich mit den Menschen in Bahia.
Der Franzose Roger Bastide forscht - ebenso wie Ruth Landes (Landes 1947) – über die
kulturellen Äußerungen der „Afrikaner in Brasilien“, insbesondere die afrobrasilianischen
Religionen „Religiões africanas no Brasil“ (Bastide, 1960).
Die Arbeiten Melville Herskovits (Herskovits, 1943) und Franklin Fraziers (Frazier, 1942) in
den 40er Jahren stimmen in der positiven Bewertung der Rassenbeziehungen in Brasilien
überein, wie sie sich auch in der Forschung Ruth Landes über Frauen in den Candomblés
niederschlägt. Eine der wenigen spezifischen Arbeiten zum Stand der Rassenbeziehungen ist
die Forschung Donald Piersons (Pierson, 1942). Piersons Studien bejahen die Existenz von
Vorurteilen. Dabei handele es sich jedoch in erster Linie um „Klassen“- und nicht „Rassen“-
Vorurteile. Die Ergebnisse unterschieden sich insofern von den Ergebnissen der Studien in
den Kleinstädten der Südstaaten der USA und den Arbeiten der Chicago School.

Etwa zur selben Zeit kommt auch der Schriftsteller Stefan Zweig nach Brasilien. Der
Eindruck des harmonischen Miteinander der Menschen verschiedenster Hautfarbe prägte den
schwärmerischen Reisebericht „Brasilien - Land der Zukunft“29. Der Mythos der
Rassendemokratie wird Brasilien die nächsten Jahrzehnte begleiten.

3.3 Der Fall aus dem Paradies - die Studien der UNESCO

Der Vorbildcharakter Brasiliens als Rassendemokratie war es, der die UNESCO in den 50er
Jahren veranlasste ihre Studien über den Stand der Rassenbeziehungen in Auftrag zu geben.
Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die sich verändernden Rassenbeziehungen im Zuge der
sozialen Umwandlungen nach Abschaffung der Sklaverei und werden zu einer
Herausforderung für die etablierte Vorstellung über das harmonische Miteinander der Rassen
29
Um das Buch Zweigs hat sich eine Diskussion über die Hintergründe entwickelt. S. dazu Drekonja- Kornat
1998.

49
dar. Zum ersten Mal konstatieren sozialwissenschaftliche Studien die Existenz von
Vorurteilen und Rassendiskriminierung. Dabei kommen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen
im wirtschaftlich stagnierenden Nordosten mit einer schwarzen Bevölkerungsmehrheit und
dem vom sozialen Wandel geprägten Südosten mit starker europäischer Einwanderung.

Die unter Leitung von Wagley geführten Studien kommen zum Ergebnis, daß sich in
Brasilien anders als in den USA kein kastenartiges Gesellschaftssystem mit rigiden Barrieren
formiert habe, wohl aber eine Klassengesellschaft, bei der die Kategorie Rasse ein Aspekt der
Beziehungen zwischen den Klassen sei (Wagley, 1952). Zwar gebe es eine starke Korrelation
zwischen Hautfarbe und sozialer Stellung, aber dies erkläre sich aus den bis dahin nicht
ausreichend vorhandenen Aufstiegschancen für Schwarze durch Bildung und wirtschaftliche
Verbesserungen. Rassische Vorurteile seien also ein Klassen-Phänomen.
Charles Wagley arbeitete in vier Kleinstädten im Innern Bahias und Parás, Thales de Azevedo
und René Ribeiro untersuchten die Rassenbeziehungen in Salvador und Recife, Städten des
Nordostens. Trotz des scharfen Bewußtseins der physischen Unterschiede, das sich
beispielsweise in den verschiedenen Bezeichnungen der rassischen Typen zeigte, würden
diese von den Betroffenen nicht in Beziehung zu rassischer Diskriminierung gesetzt.
Außerdem würden die Vorurteile zwar verbal ausgedrückt, aber angeblich nicht im Verhalten
bestärkt (Hasenbalg, 1996, S.18). Deutlich ist der Einfluss der Arbeiten Gilberto Freyres und
Donald Piersons bei diesen Studien zu spüren, die immer wieder Vergleiche zur rassischen
Situation in den USA ziehen.
Auch der bahianische Wissenschaftler Thales de Azevedo bestätigt grundsätzlich das Konzept
der Klassengesellschaft, bei der die Rasse ein Aspekt für die Art der sozialen Beziehungen
sei. Gleichzeitig betont er jedoch die Wichtigkeit des angeborenen Status bedingt durch
Familienzugehörigkeit und Hautfarbe. Er geht sogar soweit, sie über den erworbenen Status
(Reichtum und Beschäftigung) zu stellen (Azevedo, 1955)30.

Die Arbeiten Costa Pintos in Rio de Janeiro, sowie Roger Bastides und Florestan Fernandes
in São Paulo kommen zu dem Ergebnis, dass die Veränderung des Status der Schwarzen von
Sklaven zu Bürgern mit ihrem teilweisen Ausschluß aus dem Arbeitsmarkt einhergehe.
Zunächst seien die europäischen Immigranten und die weißen bzw. hellhäutigen Brasilianer in
die neue Klassengesellschaft integriert worden. Erst nach 1930 beginne die langsame

30
Bis heute sind auch nach meinen Erfahrungen in Bahia familiäre Herkunft (Nachname!)
und Hautfarbe zwei entscheidende Faktoren der gesellschaftlichen Zuordnung.

50
Integration der Schwarzen mit der Sozialgesetzgebung Vargas´. Die unterschiedlichen
Bezeichnungen der Phänotypen sei Ausdruck der Ideologie der Aufhellung, die das Stigma
der Negritude internalisiert habe. Biologische Aufhellung werde gleichbedeutend mit sozialer
Aufhellung. Eine dunkle Hautfarbe funktioniere gleichzeitig als Stigma der Rassen, wie als
Symbol einer unteren sozialen Schicht. Die Arbeiten bewegen sich in kritischer Distanz zu
Freyres und Piersons Einschätzungen.

Der Soziologe Florestan Fernandes (1920-1995) wird zu einem der wichtigsten Kritiker
Freyres. Wie Freyre sieht Fernandes die Sklaverei als eine der Determinanten der
Rassenbeziehungen in Brasilien. Aber anders als bei Freyre, ist für Fernandes die Sklaverei
eine der Ursachen der rassischen Vorurteile und des Überlegenheitsgefühls der Weißen. Nach
Abschaffung der Sklaverei habe sich die Position der ehemaligen Sklaven im wirtschaftlichen
System und deren soziale Repräsentation nicht verändert. Ihren Opfern dagegen habe sie die
einfachsten Grundrechte und Freiheiten verweigert und in der Folge die Möglichkeit
genommen mit den Weißen im 20. Jahrhundert um Arbeit, Einkommen und Bildung zu
konkurrieren. Dadurch werde ein círculo vicioso geschlossen: so wie die diskriminierenden
Verhaltensweisen den sozialen Aufstieg verhindern, fehle es in der Klassengesellschaft an
Referenzen für eine neue Bewertung des Faktors Hautfarbe (Fernandes, 1978). Neben den
direkten negativen Auswirkungen der Sklaverei betont Fernandes ihren autoritären Charakter,
der einer tatsächlichen Rassendemokratie im Wege stehe. Wie Freyre blickt auch Fernandes
optimistisch auf die Zukunft der Rassenbeziehungen, allerdings gemäß seines marxistischen
Ansatzes mit gänzlich anderer Perspektive: die Weiterentwicklung des Kapitalismus und der
bürgerlichen Revolution des 20. Jahrhunderts würden nach und nach die Vorherrschaft der
Weißen beenden und durch eine moderne Klassengesellschaft ersetzen, in der die Kategorie
Rasse zugunsten der Kategorie Klasse an Bedeutung verliere (Fernandes, 1978).

In Brasilien wird das Studium der Rassenbeziehungen als eigenständiges Forschungsgebiet in


die sich gerade etablierende brasilianische Soziologie integriert. Einer der ersten schwarzen
Wissenschaftler, der Soziologe Guerreiro Ramos, bestätigt, eine soziale Pathologie der
brasilianischen Gesellschaft gegenüber der Rassenfrage. Bis dahin waren die
Rassenbeziehungen nur in generalisierender Form, vermischt mit anderen Fragen, behandelt
worden. Zu den bekanntesten Schülern Florestan Fernandes an der renommierten
Universidade de São Paulo (USP) gehörten Octávio Ianni und Fernando Henrique Cardoso,
von 1995 bis 2002 Präsident Brasiliens. Beide beschäftigten sich mit den Auswirkungen der

51
Sklaverei auf die Formation der brasilianischen Gesellschaft und dem Mythos der
Rassendemokratie (Cardoso, 1962; Ianni, 1961, 1977, 1978).

Die Militärdiktatur ab 1964 unterdrückte jegliche Diskussion über die rassische


Diskriminierung völlig. 1969 bewertete der Nationale Sicherheitsrat Brasiliens (Conselho de
Segurança Nacional do Brasil) die akademischen Studien, welche die rassische
Diskriminierung dokumentierten, als erstes Beispiel linker Subversion. In der härtesten Phase
der zwanzigjährigen Militärdiktatur Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre wurden zahlreiche
Studenten und Akademiker wegen vermeintlich linker Tendenzen gefangen genommen und
sogar gefoltert. Die Militärregierung entzog Fernandes, Ianni und Cardoso ihre akademischen
Titel. Sie mussten wie viele andere Intellektuelle und Künstler ihr Land verlassen. Erst nach
der politischen Öffnung ab Ende der 70er Jahre kehrten sie aus dem Exil zurück.

3.4 Rassismus - ein Tabu, schwarze Kultur als Studienobjekt geduldet

Die Beschäftigung mit den Rassenbeziehungen wird von der Militärregierung als subversiv
betrachtet. Die afro-brasilianische Kultur und insbesondere der Candomblé beschäftigen
jedoch auch weiterhin in- und ausländische Forscher. In Salvador war bereits 1959 das Centro
de Estudos Afro-Orientais (CEAO) mit dem Ziel gegründet worden, die afro-bahianische
Tradition akademischer Forschung fortzusetzen und eine bibliografische Sammlung
schwarzer Kultur in Brasilien zusammen zustellen. Im zweitausend Kilometer von São Paulo
entfernt gelegenen Bahia entwickelt sich eine feste Beziehung zwischen Wissenschaft und
schwarzer Kultur, insbesondere dem Candomblé. Viele der ausländischen Candomblé-
Forscher entwickeln eine so enge Beziehung zu ihrem Forschungsbereich, daß sie selbst
eingeweiht werden.
Der Franzose Pierre Verger (1902-1996) beschäftigt sich Zeit seines Lebens mit der
afrikanischen und afro-brasilianischen Kultur - sei es als Fotograf, Ethnograph, Biologe oder
Mensch. Seine Arbeit über den transatlantischen Sklavenhandel „ Flux e reflux de la traite
des esclaves entre le golfe de Bénin et Bahia de Todos os Santos, du dix-septième au dix-
neuvième siècle“ dokumentiert die Dreiecks-Beziehung, die sich zwischen Europa, Afrika
und Amerika über die drei Jahrhunderte konsolidiert hatte (Verger, 1968). Seine Fotos
dokumentieren den Candomblé in Brasilien und Afrika. In seinen minutiösen Studien
beschäftigt er sich mit den verschiedensten Aspekten der afro-brasilianischen Kultur und

52
Geschichte (Verger, 1995,1992, 1981). Die Französin Giséle Binon-Cossard schreibt 1970,
ebenfalls an der Sorbonne, Paris, ihre Doktorarbeit über den Candomblé Angola
„Contribution à l´étude des candomblés au Brésil“ und wird selbst Priesterin. Auch die in
Österreich geborene Argentinierin Juana Elbein dos Santos geht nach ihrer Ankunft in Bahia
in den 70er Jahren eine lebenslange Verbindung mit der afro-brasilianischen Kultur und ihren
Menschen ein. Ihre Interpretationen über die theologischen Visionen in den afro-
brasilianischen Religionen „Os nagô e a morte“ (Elbein dos Santos 1977) und die lebhafte
intellektuelle Auseinandersetzung in der von ihr ins Leben gerufenen „Gesellschaft zum
Studium der Kulturen und der Schwarzen Kultur in Brasilien“ (SECNEB) mit den
verschiedensten Aspekten afro-brasilianischer Kultur haben eine Reihe von
Veröffentlichungen hervorgebracht.

Auch viele der bahianischen Wissenschaftler sind eng mit dem Candomblé verbunden wie die
Anthropologen Vivaldo Costa Lima und Júlio Braga, die sich mit den unterschiedlichen
Aspekten der Religion vom Lesen der Wünsche der Orixás aus den Kauri-Muscheln bis zur
Bedeutung des Essens beschäftigen (Braga, u.a. 1988, Lima, 1977) . Zu den anderen
Aspekten schwarzer Kultur gibt es bis auf die Arbeit des Ethnologen Waldeloir Rego über
Capoeira Angola (Rego, 1968) und vereinzelte Beobachtungen der Historiker bis Mitte der
80er Jahre wenig Literatur.
Erst in den letzten Jahren erscheint eine größere Anzahl von Arbeiten zur afro-brasilianischen
Kultur und den Rassenbeziehungen sowohl in Brasilien wie auch den USA und Europa.

3.5 Rassenbeziehungen aus neuen Perspektiven

Die während der Militärzeit (1964-1985) fast gänzlich zum Erliegen gekommene Rassismus-
Diskussion kommt erst in den 80er Jahren wieder in Gang. Mit der Auswertung des Zensus
von 1980 durch das staatliche Statistik-Institut IBGE wurde die sozio-ökonomische Dis-
kriminierung der Afro-Brasilianer mit quantitativen Daten erstmals offiziell belegt (Oliveira,
u.a. 1985 (IBGE). Die neueren Forschungsarbeiten (Hasenbalg & Silva, 1988, Lovell, 1991)
zeigen, daß für die sozio-ökonomischen Ungleichheiten zwischen Afro-Brasilianern und wei-
ßen Brasilianern die Rassenunterschiede eine Rolle spielen. Seitdem sind eine Vielzahl von
wissenschaftlichen Arbeiten zur afro-brasilianischen Kultur erschienen, insbesondere in Bahia

53
(UFBA / CEAO), Rio de Janeiro (UFRJ / CEAA / Museu Nacional) und São Paulo (USP /
PUC / UNICAMP).

Die Universidade Federal da Bahia (UFBA) hat seit 1992 ein eigenes Forschungsprogramm
„A Cor da Bahia“ (wörtlich: Die Farbe Bahias), das Studien zu Rassenbeziehungen,
schwarzer Kultur und Identität in Bahia durchführt. Darüber hinaus sollen insbesondere junge
Afro-Brasilianer zur wissenschaftlichen Forschung angeregt werden. Der langjährige
Koordinator des Projekts, der Anthropologe Jocélio Teles dos Santos, hat zahlreiche Arbeiten
über Sklaverei, afro-brasilianischen Synkretismus und die Auswirkungen politischer
Maßnahmen auf die afro-brasilianische Bevölkerung veröffentlicht (J.Santos, 1999, 1997). An
der UFBA hatten auch die europäischen Anthropologen Michel Agier und Lívio Sansone
Gast-Professuren und veröffentlichten zahlreiche Artikel über Rassenbeziehungen und
schwarze Gegenwartskultur (z.B. Agier, 1992, 1990; Sansone, 1993, 1992).
Neben der UFBA ist es besonders das CEAO, das den intellektuellen Austausch mit der afro-
brasilianischen Kultur fördert. Die jeweiligen Leiter - seit den 90er Jahren Júlio Braga,
Jefferson Bacelar und Ubiratan Castro - haben zahlreiche Arbeiten zu Aspekten afro-
brasilianischer Religion und Kultur veröffentlicht (Bacelar, 1989; Braga, 1992, 1988). Seit
1965 gibt das CEAO eine etwa halbjährlich erscheinende Publikation heraus, in der die
wichtigsten Aufsätze zu afro-brasilianische Themen veröffentlicht werden, die Revista Afro-
Ásia. Die Diskussion über eine „schwarze“ Identität der Afro-Brasilianer ist erst in den
letzten Jahren thematisiert worden (z.B. Bacelar, 1989).
Unter den Historikern ist besonders João José Reis (UFBA) mit seinen Arbeiten über die
Sklavenaufstände und die Beziehungen zwischen Sklaven, freien Afrikanern bzw. Afro-
Brasilianern und Portugiesen hervorzuheben (Reis, 1988, 1987). Den Alltag der Sklaven
beschreibt die Historikerin Kátia de Queirós Mattoso mit vielen Details (Mattoso, 1990). Über
die Rebellionen der Sklaven und insbesondere die Sklavenfluchtburgen „quilombos“ genannt,
haben auch die Historiker Décio Freitas und Clovis Moura gearbeitet (Freitas, 1984, C.Moura,
1988).

In Rio de Janeiro stellt das lange Zeit von Carlos Hasenbalg geleitete Centro de Estudos Afro-
Asiáticos der Universität Candido Mendes eine Referenz für Soziologen, Anthropologen,
Historiker und andere Sozialwissenschaftler dar, die sich mit modernen Aspekten schwarzer
Kultur befassen. Auch an der staatlichen Universität (Universidade Federal do Rio de Janeiro)
und insbesondere am Museu Nacional wird zu diesen Fragen gearbeitet. Der Verlagsbeirat

54
der halbjährlich erscheinenden Zeitschrift „Estudos Afro-Asiáticos“ liest sich wie ein „who is
who“ der einschlägigen Carioca-Forscher, wie u.a. Yvonne Maggie, Nelson do Valle Silva,
Caetana oder Peter Fry (Fry, 1982; Maggie, 1992; Silva, 1996). Das CEAA, u.a. von der
Ford-Foundation gefördert, bemüht sich um den intellektuellen Austausch mit ausländischen,
v.a. nordamerikanischen Brasilianisten. Der Kommunikationswissenschaftler Muniz Sodré
beschäftigt sich mit verschiedenen Fragen der afro-brasilianischen und zeitgenössischen
Kultur (Sodré, u.a.1988, 1983). Selbst Bahianer ist der in Rio lebende Sodré eng mit dem
Candomblé seiner Heimat verbunden.

An den Universitäten São Paulos wird in verschiedenen Fachbereichen zur afro-


brasilianischen Kultur und zum Rassismus gearbeitet: an der USP z.B. der Anthropologe
Kabengele Munanga (Munanga, 1999, 1996), Reginaldo Prandi über Candomblé (Prandi,
1991), sowie die Historikerin Maria Luiza Tucci Carneiro (Carneiro, 1998). Auch an der
katholischen Universität PUC (Pontifícia Universidade Católica) und der angesehenen
UNICAMP im bei São Paulo gelegenen Campinas (Beatriz Dantas über Candomblé, Dantas,
1988) sind in den letzten Jahren zunehmend Mestrado- und Doktorarbeiten zum Thema
erarbeitet worden. Anders als in Rio oder Salvador gibt es jedoch in Sao Paulo kein neben den
Universitäten arbeitendes Institut mit afro-brasilianischem Forschungs-Schwerpunkt. In
geringerem Umfang wird auch anderen Universitäten zur afro-brasilianischen Kultur
geforscht, u.a. an der Universidade de Brasília, in Recife (Fundação Joaquim Nabuco), São
Luis de Maranhão, aber auch der bundesstaatlichen Universität von Porto Alegre in Rio
Grande do Sul.

1995 wurde von der renommierten Tageszeitung Folha de S. Paulo (FSP) eine großangelegte
Untersuchung initiiert, die eine umfassende Analyse der rassischen Vorurteile darstellt und
den signifikanten Titel trägt „Höflicher Rassismus“. Diese Untersuchung ist bezeichnend für
den veränderten Stand der Diskussion der Rassenbeziehungen. Diese Veränderungen
konstatiert auch der amerikanische Historiker Thomas Skidmore, der zur ersten Generation
Brasilianisten gehörte und bereits in den 70er Jahren die Rassenbeziehungen in Brasilien mit
der Situation in den USA verglichen hat (Skidmore, 1976).
Die sich verändernden Rassenbeziehungen und die schwarze Kultur sind
Forschungsgegenstand einer neuen Generation nordamerikanischer Brasilianisten, die oftmals
selbst afro-amerikanischer Herkunft sind (Andrews, 1998; Butler, 1998; Hanchard, 1999,
1994; Lewis, 1992). Die meisten der neuen Studien vergleichen die brasilianische Realität

55
mit der anderer Länder, insbesondere der USA und verweisen auf die Unterschiede zwischen
den von den brasilianischen Schwarzen eingeschlagenen Wege zu sozialem Aufstieg und den
us-amerikanischen Erfahrungen.

In der deutschsprachigen Literatur finden sich zu den spezifisch afro-brasilianischen Themen


nur wenig wissenschaftliche Arbeiten. Die afro-brasilianische Religion des Candomblé ist
Thema mehrere Bücher des Autors Hubert Fichtes (Fichte, 1989, 1985, 1976,). Obwohl oder
gerade weil Fichte kein Akademiker ist, sind es seine Beschreibungen des Candomblé, die
diesen einem größeren Publikum näher bringen. Die Rolle der Frauen im Candomblé ist
Thema der Doktorarbeit der deutschbrasilianischen Anthropologin Erica Jane von Hohenstein
(von Hohenstein, 1991).
Über den Zusammenhang Rassismus - kultureller Widerstand heben sich die Arbeiten des
österreichischen Ethnologen Andreas Hofbauers (1995, 1989) hervor. Mit dem Thema
Karneval als Spiegel politischer Kultur beschäftigt sich die 1994 erschienene Arbeit von
Karin Engell „Dreh dich Baiana, in den Farben meines Herzen“ (Engell, 1994). Neben den
Übersichten zur populären Musik in Brasilien (Schreiner, 1985) beschäftigen sich stärker
musikethnologisch orientierte Arbeiten mit der traditionellen Musikkultur (Pinto, 1986). Über
afro-bahianische Musikkultur veröffentlichte der Brasilianer Tiago Oliveira Pinto31 darüber
hinaus „Capoeira, Samba, Candomblé“ (Pinto, 1991).Der Musik-Ethnologe Gerhard Kubik
gilt als einer der besten Kenner der afrikanischen Musik (Kubik, 1988,1986, 1984). Eine
minutiöse Beschreibung der Candomblé-Rhythmen liefert Angela Lühning in ihrer
Dissertation „Die Musik im Candomblé nagô-ketu“ (Lühning, 1990). Die seit 1988 in
Salvador lebende deutsche Forscherin ist Professorin an der bundesstaatlichen Universität und
führt das Lebenswerk Pierre Verger´s in seiner Stiftung fort. Zum Thema Trance als (Tanz-
Therapie erschienen darüber hinaus verschiedene (nicht-wissenschaftliche) Bücher (Spinu &
Thorau, 1994).

3.6 Der brasilianische Karneval als Forschungsthema

Wie kein anderes Ereignis bietet Karneval die Möglichkeit zum Verständnis der
brasilianischen Gesellschaft. Kein Fest prägt das Bild Brasiliens so nachdrücklich wie der
Karneval – nach außen wie nach innen -eine Vielzahl von unterschiedlichen

31
Tiago de Oliveira Pinto ist Leiter des 1995 in Berlin eingerichteten Brasilianischen Kulturinstituts.

56
sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeiten belegen dies - unabhängig davon, ob sie den
Karneval als Fortsetzung oder Umkehr der existierenden Verhältnisse interpretieren (da
Matta, 1983; Queiroz, 1992).

Erst in den letzten drei Jahrzehnten ist der brasilianische Karneval jedoch zum
Forschungsthema der Sozialwissenschaften avanciert. Wohl gab es bereits um die
Jahrhundertwende Aufzeichnungen von Anthropologen und Notizen in Zeitungen und
Zeitschriften zu den Karnevalspraktiken, aber systematische, theoretische Arbeiten zum
Thema sind eine Neuheit. Die Mehrheit der Literatur zum brasilianischen Karneval, sowohl
der inländischen wie ausländischen, beschäftigt sich mit dem Karneval in Rio de Janeiro.
Bereits die ersten europäischen Reisenden, die im 19. Jahrhundert nach Brasilien kamen (Jean
Baptiste Debret, 1834 und Johann Moritz Rugendas, 1835), beschäftigten sich mit dem
Karneval, bzw. seinem Vorläufer, dem Entrudo.
Als erster Soziologe, der eine Theorie über Karneval formulierte, gilt Roger Caillois.
Ausgehend von den Prinzipien Mauss´ und Durkheims stellt er den Gegensatz des täglichen
Lebens mit seinen festen Ordnungsprinzipien, den Überschwang des Festes mit seiner
Regellosigkeit gegenüber. Bei einer Reise nach Lateinamerika 1949 glaubt er insbesondere im
Karneval von Rio de Janeiro eine Bestätigung seiner Theorie gefunden zu haben (Queiroz,
1992; S.207).
Die erste Studie über die Karnevalstraditionen in Rio de Janeiro auf Grundlage des Materials
der National-Bibliothek (Biblioteca Nacional) wird 1957 von Eneida Morães veröffentlicht.
Sambistas und Mitglieder der Escolas de Samba wie Hiram Araújo & Amaury Jorio
publizieren erstmals ihre Erfahrungen in den 70er Jahren (Araújo & Jório 1969).
Mikhail Bachtin erweitert die Karnevals-Debatte Ende der 60er Jahre um den für die heutige
Diskussion richtungweisenden Ansatz, Karneval als Moment der Befreiung von der
herrschenden Ordnung zu interpretieren. Aus der Beschäftigung mit dem Karneval des
Mittelalters sieht er in den „Tollen Tagen“ die Möglichkeit zur Aufhebung aller
hierarchischer Strukturen und die Installation einer egalitären alternativen Gesellschaft.
„Karneval ist ein Schauspiel ohne Rampe, ohne Polarisierung der Teilnehmer in Akteure und
Zuschauer...Der Karneval wird gelebt – nach besonderen Gesetzen und solange diese Gesetze
in Kraft bleiben. Das karnevalistische Leben ist ein Leben, das aus der Bahn des
Gewöhnlichen herausgetreten ist. Der Karneval ist die umgestülpte Welt... Jegliche Distanz
zwischen den Menschen wird aufgehoben... Die Menschen, sonst durch die unüberwindbaren
Schranken der Hierarchie getrennt, kommen auf dem öffentlichen Karnevalsplatz in familiäre

57
Berührung miteinander“ (Bachtin, 1969, S.49f.). Bachtins Überlegungen werden zum
Ausgangspunkt für die Interpretation des brasilianischen Karnevals durch Roberto da Matta,
einem der ersten brasilianischen Anthropologen, die sich ausführlich mit dem Thema
beschäftigt haben.
Roberto da Matta legte mit dem Werk „Carnavais, Malandros e Herois“ den Grundstein einer
lang anhaltenden Diskussion über die Bedeutung des Karnevals und Aspekte der
„brasildade“, der Brasilianität. Ausgehend von Bachtin argumentiert er, dass es während des
Festes zu einer Umkehrung der gesellschaftlichen Werte komme. Insofern habe der Karneval
eine Ventilfunktion und ermögliche den Abbau von gesellschaftlichen Spannungen und
Druck. Dadurch werde das Vertrauen in die soziale Ordnung gestärkt (da Matta, 1983). Seit
da Matta die Funktion des Karnevals als Ventil des gesellschaftlichen Drucks herausstellte, ist
die Diskussion um die Funktion und Auswirkungen des Festes nicht abgebrochen.

Zu einer gänzlich anderen Einschätzung des Karnevals kommt Maria Isaura Pereira Queiroz
in ihrer Analyse der Karnevalstraditionen. Die Autorin zeigt, wie die Eliten ihre Vorstellung
der sozialen Ordnung auch auf den Karneval übertragen. „Der Überschwang des Benehmens
annulliert weder das Gefüge noch die Werte und Vorurteile der Gesellschaft, im Gegenteil“
(Queiroz, 1992, S. 151). Der Karnevals-Mythos der Umkehrung der Verhältnisse sei
sozusagen als „trompe-l´oeil“ konstruiert, welcher die Illusion als Realität vorführt. „Der
Ritus annuliert nicht das soziale Gefüge, dessen Verschwinden nur in den Gedanken derer,
die das Fest erleben, existiert. Der Ritus erweckt in ihnen das Gefühl, welches das Fest durch
eine andere Realität als die tägliche Realität ersetzt hat, die jedoch weiterhin alles Handeln
bestimmt“ (Queiroz, 1992, S.195).

An diese Diskussion knüpfen viele der folgenden Arbeiten an. Die Mehrheit der Literatur
beschäftigt sich mit dem Karneval in Rio de Janeiro, aber auch die Entwicklungen des
bahianischen Karnevals - von den Blocos Afros zu den Karnevalsunternehmen der Blocos de
Trio - ziehen zunehmend Forscher an. Das entscheidende Charakteristikum des Karnevals
scheint seine Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit zu sein. Im Karneval scheint manchmal
alles möglich, alte Werte werden durch neue ersetzt, es scheint zu einer Umkehrung des
Alltags zu kommen – während gleichzeitig die Beziehung der unterschiedlichen
gesellschaftlichen Kräfte durchscheint. Der Karneval ist dynamisch und abhängig von den
gesellschaftlichen Prozessen. Die Karnevalsgruppen sind auch Ausdruck der

58
Lebensbedingungen ihrer Mitglieder. Sie können zu Trägern von Protesten und Forderungen
werden, die ihren Widerstand gegen die aufgezwungenen Bedingungen zeigen.

In Bahia sind die Arbeiten der in der Forschungsgruppe S.A.M.BA zusammentreffenden


Wissenschaftler hervorzuheben, die sich mit den Entwicklungen des bahianischen Karneval
beschäftigen (Guerreiro, 2000; M. Moura, z.B.1996, 1987; Santos, 1996). Das Entstehen der
Blocos Afros beschreibt Antonio Risério in seinem Buch „Carnaval ijexá“ (Risério,1981).

59
4. Der Weg der Forschung – Fragestellungen und Methoden

Die Einleitung gab einen Überblick über das Thema dieser Arbeit, die Bedeutung kultureller
Manifestationen bei Prozessen gesellschaftlicher Veränderungen, konkret den Beitrag der
Bewegung der Blocos Afros zu den Veränderungen der Rassismus-Diskussion in Brasilien.
Einige der wichtigsten Aspekte, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, wurden
kurz vorgestellt: die besondere rassische Zusammensetzung der Bevölkerung; die Sklaverei;
der Mythos der Rassendemokratie; der Karneval als besonderer gesellschaftlicher Moment;
Salvador, Hauptstadt Bahias, der Ort des Geschehens; die Einbettung in einen größeren
Zusammenhang schwarzer Kultur und schließlich die Akteure. Die anschließenden
theoretischen Überlegungen widmeten sich den zwei grundlegenden Fragen: Was ist
Rassismus? Was ist schwarze Kultur? Dabei zeigte sich, dass die brasilianische Situation bei
der Theoriebildung immer eine Rolle gespielt hat: für die Entwicklung der Rassentheorie
Gobineaus ebenso wie später als Ideenlabor für die Art des Zusammenlebens der Rassen. Die
kulturellen Äußerungen der Afro-Brasilianer haben sich seit der Sklaverei in einem
transatlantischen Austausch befunden und die Aufmerksamkeit der Reisenden und
Wissenschaftler auf sich gezogen. Das darauf folgende Kapitel über die brasilianischen
Forschungen zur afro-brasilianischen Kultur ergänzt die theoretischen Überlegungen insofern,
als es den engen Zusammenhang zwischen Forschung und gesellschaftlichen Kontext
verdeutlicht. Für die Forschungen über die Rassenbeziehungen und die afro-brasilianische
Kultur war die Entwicklung Brasiliens zu einer Nation und das Selbstbild des Landes von
großer Bedeutung, während sie gleichzeitig bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts in einen
internationalen Kontext eingebettet waren. Das wissenschaftliche Denken ist also Teil eines
gesellschaftlichen Zusammenhangs und die gesellschaftlichen Gegebenheiten reflektieren sich
im Stand der Wissenschaften.

4.1 Hypothesen und zentrale Forschungsfragen


Ab Ende der 70er Jahre, vor allem aber Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre, wurde die
brasilianische Öffentlichkeit zunächst entsetzter, später begeisterter Zeuge von Vorgängen,
welche die Rassismus-Diskussion verändern werden: Schwarze Karnevalsgruppen
demonstrieren gegen die rassische Diskriminierung und bieten neue, zunächst nur ästhetische
Identifikationsmuster. Damit machen sie erstmals einer breiteren Öffentlichkeit das

60
Unsichtbare sichtbar: Den latent in der brasilianischen Gesellschaft vorhandenen Rassismus
und seine Konsequenzen.
Die ästhetische Identifikation wird bei einigen Gruppen jedoch auch von einem explizit
politischen Diskurs und konkreten in die Praxis umgesetzten Aktionen wie Maßnahmen zur
Bewusstseinsbildung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen begleitet. Die dieser
Arbeit zugrundeliegende These sieht die Bedeutung der kulturellen Bewegung der Blocos
Afros darin, Vorläufer der heutigen politischen Forderungen (und erster Umsetzungen) nach
gezielten Maßnahmen zur Integration von Afro-Brasilianern in die brasilianische Gesellschaft
zu sein, wie sie zum Beispiel in den Quotenregelungen einiger Universitäten und auf
Regierungsebene zum Ausdruck kommen. Zugespitzt: Ohne die kulturelle Bewegung aus
Bahia, allein mit politischen Formen des Widerstands, wäre die heutige Diskussion nicht
denkbar.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen ist es die spezielle Art der Rassenverhältnisse,
deren typische Charakteristika der hohe Anteil der Afro-Brasilianer, die starke Vermischung
und die besondere Form der Diskriminierung sind. Rassismus verurteilen die meisten
Brasilianer, dennoch ist rassische Diskriminierung an der Tagesordnung (s. Kapitel 8). Rassen
sind – wie in Kapitel 2 beschrieben – nicht eindeutig feststellbar, rassische Diskriminierung
erfolgt anhand bestimmter körperlicher Merkmale (zum Beispiel Hautfarbe, Haare etc), die
bewertet werden. Dem Körper als Gegenstand von Geschmacksurteilen kommt im
brasilianischen Kontext also eine besondere Bedeutung zu, da die rassische Diskriminierung
nicht gesetzlich fixiert ist, oft nicht eindeutig und insbesondere im persönlichen Bereich eine
besondere Rolle spielt.
Im Karneval erreicht der „Rassenprotest“ im Auftreten und die Denunzierung des Rassismus
in den Liedtexten weite Kreise der Bevölkerung - mehr als es über rein politische Bewegung
möglich wäre.

Zum anderen ist es die besondere Bedeutung der afro-brasilianischen Kultur im


brasilianischen Kontext, einer Volkskultur, einer „schwarzen Kultur“, aus der immer wieder
Elemente zum Aufbau einer brasilianischen Identität stammen. Bourdieu hat die
Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass kulturelle Formen einen sozialen Hintergrund haben.
Die dominierende Kultur in Brasilien ist die europäische Kultur, welche die Portugiesen,
später vor allem die Deutschen, Italiener und Spanier mit in die Neue Welt brachten. Das
europäische Ideal dominiert den Geschmack, während es gleichzeitig die Elemente der

61
schwarzen Kultur sind, insbesondere der Samba, die das besondere Brasilianische, die
Brasildade, ausmachen. Die Stärke und Bedeutung der afro-brasilianischen Kultur nehmen
dabei eine Sonderrolle in Vergleich zu anderen Ländern der schwarzen Diaspora ein.
Der Geschmack, so Bourdieu, ist ein kultureller Code, der auf der Ebene des Symbolischen
seine differenzierende Wirkung entfaltet. Die kulturelle Bewegung der Blocos Afros schafft –
zunächst im Karneval - neue ästhetische Modelle für den schwarzen Körper, welche die
Umkehrung des herrschenden Geschmacks bedeuten. So überwinden sie auch die negative
Stigmatisierung, die damit einher geht. Im Verlauf der Zeit bewirkt die Identitätsfindung im
Karneval auch Veränderungen im „normalen“ gesellschaftlichen Umfeld. Eine neue kulturelle
Identität bildet sich heraus. Dabei handelt es sich um keine klar definierte ethnische Identität
(das verbietet sich allein schon aus der speziellen brasilianischen Situation), sondern eher um
die Identität einer Gruppe mit gemeinsamen Interessen.
Für die Verbreitung der neuen schwarzen Ästhetik sind die mimetischen Prozesse von
entscheidender Bedeutung. Das liegt auch daran, dass die afro-brasilianische Kultur eine
lange orale Tradition hat, über Jahrhunderte im Verborgenen gepflegt wurde und ein starkes
Widerstandspotential hat.

Es sind aber auch die historischen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in


Brasilien und insbesondere die zunehmende Globalisierung, die auf die Art der
Rassenverhältnisse und die afro-brasilianische Kultur gewirkt haben. Die Blocos Afros sind
Teil eines größeren Zusammenhangs, einer die Kontinente übergreifenden schwarzen Kultur
wie sie von Gilroy (1993) Sansone (1995) u.a. beschrieben werden. Diese Menschen eine das
Gefühl der gemeinsamen Vergangenheit, wobei ein imaginäres oder reales Afrika als eine
Bank der Symbole funktioniere. Die Entwicklungen in der Kommunikationstechnologie und
der Freizeitindustrie bilden den Rahmen für die Entwicklung.

Im Verlauf der Arbeit wird verfolgt, wie sich aus einem Karnevalsverein marginalisierter
schwarzer Jugendlicher eines Altstadt-Ghettos ein komplexes schwarzes Kultur-Unternehmen
entwickelt hat, dessen Charakteristika perkussive Musik und der Protest gegen Rassismus
sind: die Grupo Cultural Olodum aus Salvador da Bahia im Nordosten Brasiliens. Olodum
verbindet edukative Praktiken mit strategischem networking und unternehmerischem
Handeln, ohne das politische Kalkül außer Acht zu lassen. Die unterschiedlichen Ebenen
sollen dabei nicht isoliert betrachtet werden , sondern in einen Zusammenhang gestellt
werden.

62
Zu den die Arbeit leitenden Fragen gehörten:
Sind die Blocos Afros Organisationen, die zur Schaffung einer kulturellen oder ethnischen
Identität beitragen oder inwieweit sind sie Ausdruck eben dieser Identität? Wie entsteht eine
schwarze Identität? Wie wird sie vermittelt? Welche Rolle kommt der Musik als Teil der
Jugendkultur dabei zu?
Warum tauchte die Bewegung zu eben jenem Zeitpunkt auf? Welche ökonomischen und
politischen Faktoren waren auf nationaler und lokaler Ebene für das Entstehen dieser neuen
schwarzen Bewegung entscheidend?
In welchem größeren internationalen Zusammenhang lässt sich die Bewegung der Blocos
Afros einordnen?
Was unterscheidet die Schwarzenbewegung in Bahia von anderen vergleichbaren
Bewegungen?
Was sind die Charakteristika der Grupo Cultural Olodum? Wie entwickeln sie ihren Diskurs?
An welchen Vorbildern orientieren sie sich? Wie versuchen sie in der Realität zu agieren?
Was bedeutet die Identitfikation mit der Gruppe auf individueller Ebene? Welche
Motivationen spielen eine Rolle sich der Gruppe anzuschließen?
Welche Komponenten haben zum Erfolg geführt?
Inwieweit haben die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen das
Handeln Olodums begünstigt oder gar erst ermöglicht? Welche Faktoren innerhalb der
Gruppe waren entscheidend für Ihren Erfolg?
Wie muss die Bedeutung der Blocos Afros heute eingeschätzt werden?

4.2 Zwischen Konzepten und Emotionen - die Instrumente

In dieser Arbeit wird ein qualitativer Ansatz der Sozialforschung verfolgt. Besonderer Wert
wurde auf eine induktive Vorgehensweise gelegt. Der von mir gewählte Weg der Forschung
hat sich stark in Zusammenhang mit der untersuchten Realität entwickelt. Es ging mir darum,
nicht mit wissenschaftlichen Determinismen an gesellschaftliche Zusammenhänge
heranzugehen, sondern die Realität, noch dazu in einer fremden Kultur, schrittweise zu
erschließen und, in einem zweiten Schritt, verständlich zu machen. Der französische
Soziologe Michel Maffesoli kritisiert die deterministische Anwendung
sozialwissenschaftlicher Methodik und gibt intuitiven, sensiblen Herangehensweisen den

63
Vorzug (Maffesoli 1987). Zunächst bin ich von einer relativ offenen Fragestellung
ausgegangen: Welche Bedeutung haben die „neuen“ kulturellen Äußerungen der Afro-
Brasilianer vor dem Hintergrund der sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen
weißen und schwarzen Brasilianern? Erst mit Bezug auf die erhobenen Daten und die
gemachten Erfahrungen und nicht „ex ante“ wurden die die Arbeit leitenden Hypothesen
generiert und wichtigsten Fragestellungen formuliert (Dieckmann, 2000, S.444).

In dieser Arbeit wird die Grupo Cultural Olodum unter drei verschiedenen Aspekten
betrachtet. Die Gliederung folgt dabei zwar einer gewissen chronologischen Ordnung
entsprechend der Bedeutung der einzelnen Bereiche, die jedoch bereits von Anfang an
nebeneinander existiert haben: Olodum als Karnevalsverein und Musikgruppe (Kapitel 10-
12), Olodum als sozial und kulturpolitische Einrichtung (Kapitel13-15), Olodum als
schwarzes Unternehmen (Kapitel 16). Dabei wird die Entwicklung einer schwarzen Identität
und eines Anti-Rassismus-Diskurses vor dem Hintergrund (schwarzer) Jugend- und
Musikkultur am Beispiel Olodums verfolgt. Die Umsetzung dieser Ideen in konkrete sozial-
politische Formen zeigen sich am deutlichsten in dem von den Gedanken Paulo Freires
beeinflussten Modell der interethnischen Erziehung in der Escola Cirativa Olodum (Freire,
1991). Das geschickte Identitäts- und Kulturmanagement zeugen vom unternehmerischen
Potential und Verhalten der Gruppe, „Entrepreneurship“ (Faltin & Zimmer, 1995).

Zu den während des Forschungsprozess berücksichtigten Richtlinien gehörte das Prinzip der
Offenheit gegenüber Personen und Methoden sowie das Prinzip der Flexibilität, also der
Anpassung an neue Konstellationen (z.B. Lameck, 1995a). Diesen Prinzipien kommt in einer
so dynamischen, sich schnell verändernden gesellschaftlichen Realität Brasiliens besondere
Bedeutung zu. Der Untersuchungsgegenstand ist ja keine unabänderliche Größe, sondern wird
durch Handlungs- und Deutungsmuster reproduziert und modifiziert. So gesehen kann die
Arbeit „prozesshafte Ausschnitte der Produktion und Konstruktion sozialer Realität“
(Lameck, 1995a, S.25) wiedergeben. Die Arbeit vor Ort ermöglichte es, aktuelle
Veränderungen und den sozialen Wandel mit einzubeziehen. Der Forschungsprozess wird
geprägt durch die Kommunikation zwischen dem Forscher und den untersuchten Personen.
Dabei handelt es sich immer um ein dynamisches Verhältnis. Die untersuchten Personen
sollten nicht Objekte des Forschers sein, sondern als Subjekte wahrgenommen werden Die
kommunikativen Fähigkeiten des Forschers sind ausschlaggebend für den Forschungsprozess.
In den Lehrbüchern wird vom Forscher bei interessierter Zurückhaltung Neutralität erwartet,

64
in der Praxis kann aber auch Loyalität erwartet werden (s.dazu 4.3). Die methodischen
Instrumente wurden gemäß der Untersuchungssituation ausgewählt.

Im Vorfeld der eigentlichen Feldforschung lernte ich die vier wichtigsten Blocos Afros in
Salvador kennen. Ich nahm an ihren Proben teil, besuchte Informationsveranstaltungen, ging
zu ihren Festen, beobachtete sie in der Vorkarnevalszeit und im Karneval 1992. Mit jedem der
vier Präsidenten bzw. der leitenden Gruppe von Direktoren machte ich Interviews. Die relativ
offen gehaltenen Interviews folgten einem Leitfaden, der jedoch flexibel gehandhabt werden
mußte. Sie lieferten die ersten Informationen über die Bewegung der Blocos Afros. Deutlich
wurden darin die Ziele der Gruppen, ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten, ihre
Charakteristiken. Zu diesem Zeitpunkt, Anfang der 90er Jahre, wurden auch vier weitere
Personen aus der bahianischen Kulturszene und der Schwarzenbewegung interviewt. Darüber
hinaus besuchte ich eine Vielzahl von kulturellen Veranstaltungen, traf Journalisten und
Forscher, sprach mit vielen Menschen, sammelte Material in Archiven und Bibliotheken –
kurz: tauchte ein in die schwarze Welt Bahias. Die acht mehrstündigen Interviews wurden
transkribiert und lieferten die Basis für mein Wissen über die Blocos Afros (insbesondere
Kap. 9)

Der überwiegende Teil der Feldforschung wurde 1993/1994 durch ein 18monatiges
Stipendium des DAAD/CAPES ermöglicht. Die Feldforschung konzentrierte sich auf die
Gruppe Olodum. In 20 ausführlichen Interviews kommen Personen Olodums zu Wort über
Rassismus, ihre Ziele, Wünsche, Vorstellungen bei der Arbeit mit der Gruppe. Dabei handelte
es sich um halbstandardisierte Leitfragen-Interviews mit offenen und geschlossenen Fragen.
Die offene Gesprächsführung bei Orientierung am Leitfaden sichert, dass die
forschungsrelevanten Fragen angesprochen werden und die Interviews vergleichbar werden.
Die Reihenfolge der Fragen ist ebenso veränderbar, wie ad-hoc Fragen gestellt werden
können so soll der natürliche Interaktionsfluss erhalten bleiben. Die permanente spontane
Operationalisierung stellt eine hohe Anforderung an den Interviewer. Es handelt sich um eine
asymmetrische Interaktion zwischen Menschen, bei der die Distanz sich ebenso als Vorteil
wie als Nachteil erweisen kann (s. dazu 4.3).
Die 20 Interviewpartner wurden aus dem engeren Kreis der Gruppe Olodum ausgewählt.
Sechs von ihnen gehörten zur Diretoria Executiva, dem ranghöchsten Gremium Olodums.
Die meisten von ihnen waren seit den Gründungszeiten dabei und von ihnen erhoffte ich mir
vor allem Informationen über die Motive der Gruppe. Sechs weitere gehörten zum Kreis der

65
Diretoria Administrativa, der Verwaltungsebene der Gruppe. Drei Interviewpartner kamen
aus der Gruppe der Trommler und Musiker, drei weitere aus der Gruppe der Angestellten
Olodums. Dazu kamen noch zwei Vertreter der Theatergruppe Olodums.
Die 20 Interviews wurden aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Die Interviews
übersetzte ich dann aus dem Portugiesisch ins Deutsch. Das reichhaltige Material (alle
zwischen 60 und 120 Minuten Länge) wurde einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen, um
die inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Die Zitate werden als
Ankerbeispiele in die Arbeit aufgenommen. Die Interviews liefern die wichtigsten
Informationen über die Ziele, persönliche Motivationen und konkrete Arbeit Olodums.

Neben den Interviews war die teilnehmende Beobachtung eines der wichtigsten
Forschungsinstrumente. Die teilnehmende Beobachtung kann den alltäglichen
Bedeutungshorizont erschließen (Friedrichs, 1990, S.226). Sie kann den Blickwinkel
erweitern und stellt den Versuch der Optimierung dar. Die Leitfaden-Interviews erwiesen sich
als ein aufwendiges und nur für bestimmte Personengruppen geeignetes
Forschungsinstrument. Die Interviewtermine müssen vereinbart und eingehalten werden, die
Interviewsituation ist eine formellere und kann deshalb u.U. als unangenehm empfunden
werden. Ein informelles Gespräch am Rande einer Veranstaltung, das Beobachten und
Miterleben können ohne in die eigentliche Handlung einzugreifen, unverfälschte
Informationen zu einzelnen Aspekten geben. So waren die zahlreichen Gespräche bei den
verschiedensten Veranstaltungen der Gruppe, bei Seminaren und Diskussionsveranstaltungen
ebenso wie im Café oder der Bar mit einer großen Zahl junger Afro-Brasilianer, politischen
Militanten ebenso wie Kulturschaffenden oder „einfachen“ Besuchern eine der wichtigsten
Informationsquellen. Sie lieferten die vielen Mosaiksteinchen, die hier zu einem
Gesamtpanorama zusammengesetzt wurden.
An einigen Stellen dieser Arbeit werden die wahrgenommenen Sachverhalte als „dichte
Beschreibung“ im Sinne von Geertz´ dargestellt. Damit soll der Komplexität der
gesellschaftlichen Realität Rechnung getragen und dem Leser die Möglichkeit eigener
Visualisierung gegeben werden.
Die Textstücke habe ich in einen Kasten gestellt.

Die Musik ist das wichtigste Mittel zur Formulierung und Verbreitung des Universums
Olodum. Deshalb soll in dieser Arbeit auch eine qualitative Analyse der Musik Olodums,
insbesondere der Liedtexte, hinsichtlich der Symbole zur Konstruktion einer eigenen

66
schwarzen Identität, sowie der Entwicklung der Perkussion vorgenommen werden. Dazu
wurden die ersten acht Platten hinsichtlich Klangeindrucks, Präsentation und Rhythmus
verglichen, vor allem aber eine Inhaltsanalyse der Musiktexte gemacht. An einigen Liedtexten
wird beispielhaft das Gesagte erläutert. In Verbindung mit der Musikanalyse werden auch die
wechselnden Karnevalsthemen vorgestellt, welche die Inspiration zur Entwicklung der
Liedtexte gaben.

Von mir entwickelte Fragebögen kamen während der Feldforschung zweimal zum Einsatz,
erwisen sich aber als ein nur eingeschränkt angemessenes Instrument der Forschung: während
des Karnevals 1994, um Informationen von einer größeren Zahl von Menschen zu bekommen
und unter den bei Olodum beschäftigten Menschen zur Erfassung von statistischen Daten.
Die von mir entwickelte Fragebögen wurden bei der Ausgabe der Karnevalskostüme im
Februar 1994 eingesetzt. Neben den Angaben zur Person waren sieben offene Fragen zu
Olodum, Karneval, Rassismus und Pelourinho zu beantworten. Trotz der mit dem Einsatz der
Fragebögen verbundenen Probleme, auf die in im Kapitel 12 eingehen werde, lassen sich
einige Aussagen zu den Karnevalsteilnehmern machen.
50 derbei Olodum beschäftigten Arbeitskräfte füllten einen von mir konzipierten Fragebogen
aus, der neben den Angaben zur Person sechs Fragen zur Arbeit bei Olodum beinhaltete. Die
Fragebögen wurden im Dezember 1994 über die Finanz-Abteilung verteilt und nach ca. zwei
Wochen an mich zurückgegeben. Sie liefern Informationen zu den Angestellten und ihre
Beziehung zu Olodum (Kapitel 16).

Auf vorhandenes Material konnte ich zurück greifen bei der Auswertung der 30 von den
Kandidatinnen zur Mulher Olodum ausgefüllten Fragebögen. Die von der Gruppe
entwickelten Fragen geben Aufschluss über die Art und Weise des Rassismus-Diskurses und
seine Umsetzung in die Praxis.

Bei einer Arbeit, in der es um Rassismus in einer Gesellschaft geht, die diesen weitestgehend
zu negieren sucht, ihn dort wo er auftaucht gesellschaftlich verurteilt, und deren nationale
Identität auf einer Ideologie der Rassenvermischung aufbaut, stellt sich ein Problem der
ethnographischen Beobachtung besonders: die Aussagen, denen wir gegenüberstehen, stellen
keinen unbearbeiteten sozialen Diskurs dar. Das bedeutet, dass immer wieder nach den nicht
artikulierten Hintergründen gefragt werden muss, um die Realität zu entschlüsseln. Es muß
sozusagen um die Ecke gedacht werden, was übrigens charakteristisch für das soziale

67
Verhalten vieler Bahianer ist. Das Beispiel des Zwinkerers, das Geertz in Anlehnung an
Gilbert Ryle benutzt, läßt sich auf mein Forschungsgebiet besonders gut anwenden: Wer
zuckt mit dem Augenlied, wer zwinkert oder wer parodiert den Zwinkernden - u.U. ohne
verstanden zu werden? Was bedeutet zum Beispiel die Existenz von zwei Fahrstühlen - einem
für die Bewohner und deren Gäste, einem für das Dienstpersonal - in den meisten
Appartmenthäusern? Wie erklärt sich das Verhalten des Portiers, der „automatisch“ den
offensichtlich gut gekleideten dunkelhäutigen Besuchern den Dienstbotenaufzug zuweist,
während die europäisch aussehenden Bekannten selbst in Badehose zum „elevador social“
geschickt werden? Wie ist der Protest des Europäers bei der Wohnungsgesellschaft zu
interpretieren, es handele sich um Rassismus, daß seine dunkelhäutigen Freunde - vom ebenso
dunkelhäutigen Portier - an den Dienstbotenaufzug verwiesen werden, wenn diese
möglicherweise bisher immer eben diesen benutzt haben? Es kommt bei der vorliegenden
Thematik besonders darauf an, „Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese
Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen“
(Geertz, 1994, S. 30). Das Risiko der Fehlinterpretationen läßt sich dabei leider nicht ganz
ausschalten.

4.3 Schwierigkeiten und Besonderheiten bei der Feldforschung

Die Beschäftigung mit Rassismus ist sicherlich in allen Gesellschaften nicht nur eine sehr
komplexe, sondern auch äußerst sensible Fragestellung, die sich bei einer starren, stark
schematisierten Herangehensweise nur wenig erschließt. Dies gilt um so mehr, je
verborgener, subtiler sich die rassische Diskriminierung im Alltagsleben präsentiert. Es geht
ja nicht um eine einfache Verifizierung oder Falsifizierung der These, ob es Rassismus gibt,
sondern um eine Darstellung seiner Ausprägung, seiner Besonderheiten. Die Beschäftigung
mit Rassismus in einer fremden Kultur setzt neben der Analyse der sozioökonomischen
Eckdaten die genaue Kenntnis der allgemeinen gesellschaftlichen Organisation und
Spielregeln, sowie - insbesondere in Brasilien - die Fähigkeit zur Entschlüsselung der
sprachlichen Nuancen und subtilen Verhaltensweisen der verschiedenen gesellschaftlichen
Gruppen voraus. Das bedeutet für die Forschung nicht nur einen großen zeitlichen Aufwand
bei der Beobachtung und Recherche des Zusammenspiels der gesellschaftlichen Kräfte,
sondern erfordert auch ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Bereitschaft zum
Eintauchen in diese fremde Kultur.

68
Das Schwergewicht meiner Feldforschungen liegt zeitlich zwischen den Jahren 1993 und
1995. In diesen Zeitraum fallen die Mehrzahl der Interviews, die Fragebogenerhebungen, die
teilnehmende Beobachtung etc. Dieser Zeitpunkt ist auch der Höhepunkt der Bahia-Welle,
des Erfolgs Olodums, der öffentlichen Thematisierung des Rassismus. Doch auch die
Entwicklungen der letzten Jahre gehen zwangsläufig in diese Arbeit mit ein. Olodum hat
musikalisch an Erfolg eingebüßt, den Anti-Rassismus-Diskurs konsolidiert und die
Vermarktung einer neuen schwarzen Kultur perfektioniert.

Die Art und der Einsatz der Forschungsinstrumente ergaben sich aus der spezifischen
Problematik und den daraus resultierenden Schwierigkeiten damit. Wie bereits erwähnt, ist
die Diskussion des Rassismus ein sensibles Thema und in Brasilien in besonderer Weise
tabuisiert. So stehen sich der offizielle und von der breiten Mehrheit der hellhäutigen
dominierenden Klasse geführte Diskurs, der das Vorhandensein rassischer Diskriminierung
negiert und der immer lauter werdende Protest der Afro-Brasilianer gegenüber. Die Blocos
Afros sind die modernen Ausdrucksformen einer tief verwurzelten, auf afrikanische
Ursprünge zurück gehenden Kultur, die sich ihre Eigenheiten im Widerstand gegen Sklaverei
und Unterdrückung bewahrt hat. Das Mißtrauen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen hat
eine lange Vorgeschichte.
Für die Forschung bedeutete dies einen besonderen Balance-Akt, denn zunächst wird die
europäische Forscherin der weißen, brasilianischen Mittel- oder Oberschicht zugeordnet. Es
ging also darum Grenzen und Abgrenzungen zu überwinden, Vorurteile zu entkräften,
Eifersüchteleien zu umgehen. In dem besonderen Umfeld der Blocos Afros und des
Pelourinho wird sie - mit zunehmender Bedeutung des ausländischen Tourismus - als Gringa
identifiziert, die, vom Zauber des Exotischen betört, Freundschaften schließt und schon bald
wieder entschwunden ist, oder von der man sich handfeste Vorteile erhofft.
Die Forschungssituation als Frau ist zudem ambivalent, weil einerseits öffnen sich manchmal
leichter Türen, andererseits ist gerade die Beziehung zu den anderen Frauen durch das
„Gringa-Phänomen“ erschwert und die Glaubwürdigkeit abhängig davon, eben diesen
Klischees nicht zu entsprechen.
Während der gesamten Forschung wurde der Handlungsspielraum immer wieder neu
ausgehandelt. Dabei ging es um Vertrauensbildung auf verschiedenen Ebenen, denn zwischen
Trommlern, Direktoren und Angestellten, zwischen individuellen und kollektiven Meinungen,
Haltungen, und Urteilen einer stark heterogenen Gruppe können sich Abgründe auftun. Einige

69
Forschungsinstrumente wie zum Beispiel der Einsatz von Fragebögen innerhalb der Gruppe
wurde erst möglich, nachdem ich von den entscheidenden Personen des Direktoriums
akzeptiert wurde. Dabei wiederum kam mir zugute, dass ich in den letzten Monaten der
Forschungszeit die Durchführung des Habitat-Projektes mit der Escola Criativa Olodum in
Salvador betreut hatte. Langfristig war auch auf anderen Ebenen wichtig, das ein gewisses
Verhältnis des gegenseitigen Entgegenkommens entstand, also beispielsweise Begleitung
beim Besuch ausländischer Gäste Olodums.

Das Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz, Idealisierung und Ablehnung muß ständig
neu definiert werden. Es dauert lange, eine stärker auf Vertrauen basierende Ebene zu den
Mitgliedern der Schwarzenbewegung herzustellen. Für die Forschung folgt daraus, daß zum
Beispiel für ein längeres Interview, womöglich noch mit Aufnahmegerät, erst einmal ein
Minimum an Vertrauensbeziehung hergestellt werden mußte - sonst sind die Interviewpartner
eben einfach nicht erschienen. So waren zu Beginn der Forschung innerhalb der Gruppe
Olodum vor allem die teilnehmende Beobachtung und die vielen informellen Gespräche
wichtig. Der größte Feind: der Faktor Zeit, die größte Hilfe: Präsenz bei allen möglichen
Veranstaltungen über die Jahre hinweg und Ausdauer. Als Mitteleuropäerin an einen anderen
Zeitbegriff gewöhnt, ist Geduld eine der wichtigsten Tugenden für die Forschung gewesen.

Ein besonderes Problem stellte auch die Sprache dar. Das in Salvador gesprochene
Portugiesisch ist stark regional eingefärbt und gilt in ganz Brasilien als für Außenstehende
schwer zu verstehen. So gibt es zum Beispiel mehrere Wörterbücher, die den brasilianischen
Touristen das „Baianês“ verständlich machen sollen. Im Umfeld der Blocos Afros unter den
schwarzen Jugendlichen wird zudem noch eine Art Jugendjargon gesprochen, der in seiner
Art mit dem Slang, den die Afro-Amerikaner in den USA sprechen, vergleichbar ist. Gíria
werden die für die einzelnen Gesellschaftsgruppen üblichen umgangssprachlichen
Redewendungen genannt, die typisch für das brasilianische Portugiesisch sind.

Die Auseinandersetzung mit der sozialen Realität Brasiliens stellt eine andere Schwierigkeit
dar. Zum einen sind es die eklatanten Kontraste zwischen Arm und Reich, Schwarz und
Weiß, die ins Auge stechen, an die sich der Blick jedoch gewöhnt. Zum anderen ist es die
Widersprüchlichkeit, Verschwommenheit der sozialen Realität, der die europäische
Forscherin gegenüber steht. Was kurz zuvor noch eindeutig, abgrenzbar erschien, verliert
seine Konturen, weicht einem sich widersprechenden Gesamtbild. Der französische Soziologe

70
Michel Maffesoli bezeichnet Brasilien als ein „Laboratorium der Post-Moderne“ im
Gegensatz zum Rationalismus Europas. „Die Art und Weise, wie die Brasilianer trotz der
eklatanten sozialen Unterschiede vereint sind, widerspricht dem europäischen
Individualismus der Moderne. Die Dimension Laboratorium bezieht sich auf das
Experimentelle, auf „try and error“- Verhalten der brasilianischen Lebensbewältigung. Die
sozialen Beziehungen entsprechen nicht der in Europa üblichen Einteilung in soziale Klassen“
(Maffesoli in: Folha de São Paulo 1999, 20.02. Caderno 4, S. 10).

Die Rassenvermischung war und ist eine der wichtigsten Grundlagen für die spezifische
Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen in Brasilien. Bis heute sind die
Rassenbeziehungen in Brasilien bestimmt von ambivalenten Verhaltensweisen, deren
Wurzeln in die Zeiten der Sklaverei zurückreichen. Zu den hervorstechenden Merkmalen
dieser Beziehungen gehören Paternalismus und Personenkult, Nepotismus und der „jeitinho“,
der Dreh, wie man mit einem Abstrich hier und einem Zusatz dort, trotzdem zum Ziel kommt.
Maffesoli bestätigt auch den Niedergang der großen institutionellen Strukturen und Akteure
zugunsten der Entwicklung neuer, direkterer Formen sozialer Organisation. Der Ästhetik
dieser Gruppen komme dabei eine besondere Bedeutung zu (Maffesoli, 1987). Die Blocos
Afros sind die modernen Ausdrucksformen einer Widerstandskultur und Karneval ist eine
typisch brasilianische Überlebensstrategie - was aus europäischen Augen an sich schon
widersprüchlich erscheint.

Den Versuchen rationaler Abstraktion steht eine soziale Vitalität gegenüber, die diese nicht
nur erschweren oder sogar verhindern, sondern auch ebenso typisch für zeitgenössisches
Geschehen, wie den speziellen Fall Brasilien sind. „Brasilien verkörpert das Emotionale und
Gefühlsbetonte wie wenige andere Kulturen der Welt. Dabei beschränke ich mich nicht nur
auf das Fest, auf Karneval und Fußball. Ich beziehe mich auf eine alltägliche Haltung, auf
eine Vorstellungswelt, in der die Emotionen als Widerstand gegen die Schwierigkeiten
herangezogen werden. (...) Gilbert Durand hat mir gezeigt, dass es zwischen dem Rationalen
und Irrationalen das Nicht-Rationale gibt: die Vorstellungswelt, das Emotionale, die Gefühle,
das Sensible, die Fantasien, der Traum, all das, was das seelische Leben der Menschen
ausmacht. Es gibt keine Menschheit ohne diese Vorstellungswelt.“ (Maffesoli in: Folha de
São Paulo 1999, 20.02. Caderno 4, S. 10).

71
Während einerseits das Eintauchen und Kennenlernen zum Verständnis der fremden Realität
notwendig sind, fehlt anderseits plötzlich die Distanz. Daraus ergeben sich auch Fragen nach
den Parametern der Forschung: Betrachte ich die Realität, der ich gegenüberstehe, nach
europäischen Maßstäben oder muß ich nicht viel stärker relativieren und vor dem spezifisch
bahianisch-brasilianischen Hintergrund zu anderen Schlüssen kommen. Um diesem Dilemma
entgegen zu wirken und dem Wunsch der Realität in ihrer Komplexität gerecht zu werden,
werde ich einerseits viele Begebenheiten beschreiben - so hat der Leser mehr Freiheit zu
seinen eigenen Schlüssen zu kommen – andererseits einen breiten Ansatz verfolgen und wo
nötig, bzw. soweit möglich, disziplinenübergreifend arbeiten in den verschiedenen
sozialwissenschaftlichen Bereichen wie Soziologie, Anthropologie, der
Erziehungswissenschaften oder der Musikwissenschaft.

72
5. Über 350 Jahre Sklaverei - brasilianische Geschichte der Rassenbeziehungen

„In diesem Land haben die Neger, die wichtigste Rolle: Ich denke, dass im Grunde mehr sie
die Herren sind als die Sklaven der Brasilianer. Alle Arbeit wird von den Schwarzen gemacht,
aller Reichtum wird durch schwarze Hände erwirtschaftet“ beobachtete die europäische
Reisende Ina von Binzer 1881 (zitiert nach IBASE, 1989, S.16).

Die Rassenbeziehungen in Brasilien können nur vor dem Hintergrund der Sklaverei
verstanden werden. Die Sklaverei prägte die Eigentumsverhältnisse und das Machtsystem, die
menschlichen Beziehungen und die religiösen Äußerungen, den Aufbau der Nation und der
brasilianischen Identität, kurz die gesamte Geschichte und Gegenwart des Landes. Die
Afrikaner waren nicht als freie Menschen nach Brasilien gekommen, sondern wurden
grausam ihrer Heimat entrissen und als unmündige Handelsware von den portugiesischen
Kolonisatoren in die Neue Welt verschleppt. Durch die Intensität des Sklavenhandels waren
die Afrikaner schon bald keine Bevölkerungsminderheit in Brasilien mehr. Dennoch blieb
ihre Integration in die Gesellschaft asymmetrisch, sie stellten die Basis der gesellschaftlichen
Prozesse ohne jedoch direkt auf sie einzuwirken.

Dieses Kapitel widmet sich den Rassenbeziehungen vom Beginn der portugiesischen
Kolonialisierung bis zur Abolition. Zunächst wird ein kurzer Überblick über Ausmaße und
Entwicklung des Sklavenhandels gegeben. Schwerpunkt des Kapitels sind jedoch die
unterschiedlichen Mittel und Wege, derer sich der schwarze Widerstand bediente, dem
Sklavendasein zu entkommen. Dazu gehören die direkten Widerstandsformen, die
Sklavenfluchtburgen, quilombos genannt, und Aufstände ebenso, wie die indirekten Formen
kulturellen Widerstands, die sich in der Religion, Musik und Tanz äußern. Die verschiedenen
Schritte bis zur endgültigen Abschaffung der Sklaverei schließen das Kapitel ab.

5.1 Sklaverei - Rückgrat der Kolonialgesellschaft

Im Jahr 1500 landete Pedro Alvares Cabral in der Nähe des heutigen Porto Seguro im Süden
des Bundesstaates Bahia und „entdeckte“ Brasilien für die portugiesische Krone. Zunächst
war das Land für Portugal nur von geringem Interesse, da man auf keine Reichtümer stieß,

73
wie sie die Spanier in ihren Kolonien vorgefunden hatten. Das für die Färberei genutzte
Brasilholz, pau-do-Brasil, gab dem „Papageienland“ wie die portugiesischen Seeleute den
Landstrich getauft hatten, seinen endgültigen Namen. Erst als der Anbau von Zuckerrohr in
Brasilien gelang, gewann die Kolonie an Bedeutung für die portugiesische Krone. Mit dem
Zucker begann das die brasilianische Geschichte prägende Kapitel der Sklaverei. Ab 1530
teilte der portugiesische König Dom João III. Brasilien auf in 15 erbliche Lehngüter, sogen.
capitanias. Die portugiesischen Lehnsherren durften die Ländereien nach Gutdünken nutzen
und hatten auch die Aufgabe, von der Küste her das Landesinnere zu erschließen. Die
einheimische indianische Bevölkerung setzte dem so gut wie keinen Widerstand entgegen.

Zucker war im Mittelalter zu einem heiß begehrten Luxusartikel in Europa geworden, der
zunächst aus Asien importiert worden war. Bis ins 19. Jahrhundert als die Zuckergewinnung
aus Rüben gelang, blieb der Zucker aus Amerika eines der wichtigsten Handelsgüter. Als die
Portugiesen Brasilien in Besitz nahmen, waren sie bereits führend im weltweiten Handel mit
Zucker. Bis Ende des 16. Jahrhunderts hatten die portugiesischen Kolonisatoren in den
Capitanias Pernambuco und Bahia bereits über 100 Zuckerrohrplantagen mit Mühlen und
Brennereien, engenhos genannt, angelegt. Die sich rasch ausbreitende Plantagenwirtschaft in
Brasilien erforderte Arbeitskräfte, für die die Kolonialherren nicht auf die im Land
anwesenden Indianer zurückgreifen konnten.

Die ersten Afrikaner wurden vermutlich bereits 1531 nach Brasilien gebracht, rund 90 Jahre
bevor die ersten Sklaven in Nordamerika an Land gingen (Prado Júnior, 1994). Sie stellten
für Jahrhunderte das wichtigste Arbeitskräftereservoir nicht nur der Zuckerrohrplantagen,
sondern der gesamten landwirtschaftlichen Produktion Brasiliens. Das Ausmaß des
Sklavenhandels zwischen Afrika und den Amerikas kann nur grob geschätzt werden.
Zwischen 9 und 12 Millionen Menschen wurden in die Neue Welt verschleppt (Conniff M.&
Davis T., 1994, S.47). Brasilien und die Karibik-Inseln nahmen die jeweils größten
Kontingente mit bis zu fünf Millionen Menschen auf - je zehnmal soviel wie die Vereinigten
Staaten von Amerika. Die Zahl der Menschen, die in Afrika verschleppt wurden, lag noch
wesentlich höher. Denn sowohl beim Einfangen, wie auch während der Wartezeit in den
Kerkern vor Antritt der Überfahrt und insbesondere während der mehrwöchigen Schiffsreise
eingepfercht in den Rumpf der Galeeren, kamen unzählige Menschen ums Leben.

74
Den internationalen Sklavenhandel regelten ab 1603 die Ordenações Filipinas. Anders als
England und Frankreich, erlies Portugal keine Richtlinien, welche die Behandlung der
versklavten Bevölkerung in der Kolonie gesetzlich regelten. Nahezu ohne Kontrolle bedeutete
dies, dass die Sklavenherren auf ihren Gütern einen nahezu unbeschränkten Machtbereich
hatten.

Im April 1549 etablierte sich Tomé de Souza in São Salvador da Bahia de Todos os Santos
und übernahm als General-Gouverneur die Kolonialverwaltung vor Ort. Gemeinsam mit ihm
kamen als Vertreter der Kirche die ersten Jesuiten ins Land. Die Kirche nahm eine
ambivalente Position gegenüber der Institution der Sklaverei ein. Bis auf vereinzelte Stimmen
unterstützten sie Sklavenwirtschaft in der Kolonie, lehnten aber die Versklavung der
einheimischen indianischen Bevölkerung ab. Der Jesuit Antônio Vieira (1608-1697) war einer
der vehementesten Befürworter der Versklavung der Afrikaner. Er unterstrich den von Natur
aus sklavischen Charakter des schwarzen Volkes und ging sogar soweit, die Sklavenarbeit als
Möglichkeit zur Rettung ihrer bis dahin in sündigen, schwarzen Körpern hausenden Seelen zu
preisen (Hofbauer, 1995). Die zur Sklavenarbeit „ungeeigneten“ Indios wurden von den
Jesuiten in sogen. Reduktionen vereint. Darin, so hofften sie, könnten sie eine neue göttliche
Gesellschaft gründen. Laut Hofbauer wurde die ambivalente Haltung der Jesuiten gegenüber
der Sklaverei geprägt von den wirtschaftlichen und sozialen Anforderungen des
Kolonialreiches: Erst mit der Etablierung des auf afrikanischen Sklaven basierenden
Kolonialsystems wurden sie zum „beschützenden Vormund“ der Eingeborenen (Hofbauer,
1995).

Mit der Verbrennung der Archive auf Anordnung des damaligen Finanzministers Rui Barbosa
1890, gingen in Brasilien alle Unterlagen, die den Sklavenhandel dokumentierten, verloren.
Barbosa wollte mit der Vernichtung der Auflistungen des Sklavenhandels eventuellen
Regressansprüchen ehemaliger Sklavenhalter nach Abschaffung der Sklaverei zuvorkommen.
Gleichzeitig beraubte er mit seinem Akt jedoch die Millionen von Nachfahren afrikanischer
Sklaven ihrer Geschichte. So kann sich die Geschichtsforschung nur auf die Dokumente in
den Archiven Europas und Afrikas und vereinzelte Aufzeichnungen von Reisenden,
Kaufleuten oder Militär beziehen Auch wenn die Schätzungen der Historiker teilweise weit
auseinanderliegen, scheinen inzwischen die meisten von einer Zahl zwischen 3,5 Millionen
und fünf Millionen Afrikaner auszugehen, die in Brasilien an Land gebracht wurden (z.B.
Conniff, M & Davis, T., 1994; IBASE, 1989; Viana Filho, 1988).

75
Der bahianische Historiker Luis Viana Filho unterscheidet vier Phasen der Geschichte der
„Sklavenimporte“: Die ersten Sklaven im 16. Jahrhundert kamen von der Guinea-Küste,
während im 17. Jahrhundert der Angola-/Kongo-Zyklus folgte. Im 18. Jahrhundert wurden die
meisten Sklaven zunächst von der Mina-Küste und später dem Golf von Benin verschleppt.
Mit der Illegalisierung des Sklavenhandels auf Betreiben der Engländer ist die Herkunft der
Sklaven im 19. Jahrhundert nur schwer belegbar, vermutlich stammten sie ebenfalls aus
Westafrika (Viana Filho, 1988).

Die wirtschaftlichen Bedürfnisse Brasiliens waren entscheidend für die Entwicklung des
Sklavenhandels. Im 17. Jahrhundert wurden rund 560.000 Sklaven an Land gebracht (IBASE,
1989). Die Sklaven wurden zunächst auf den Zuckerrohr-Plantagen des Nordostens
eingesetzt, wo sich Bahia und Pernambuco als das Zentrum der Kolonialisierung
herauskristallisierten. Nach dem Zucker war es vor allem Tabak, der im fruchtbaren
Hinterland der Stadt Salvador, dem Recôncavo, angebaut wurde.
Minuziös beschreibt Pierre Verger die Dreiecks-Beziehung, die sich zwischen Europa, Afrika
und Amerika während drei Jahrhunderten konsolidiert hatte. Die portugiesischen Schiffe
brachten europäische Handelswaren zum Verkauf gegen Sklaven nach Afrika. Dann
überquerten sie den Atlantik und verkauften die Sklaven in Brasilien. Von dort kehrten die
Schiffe mit Kolonialwaren beladen wieder nach Europa zurück (Verger, 1987).

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts stießen aus São Paulo kommende Expeditions-Truppen,
bandeirantes genannt, südlich von Bahia, im Gebiet des heutigen Minas Gerais, auf Gold in
den Flussbetten und leichtzugängliche Goldadern im Gebirge. Kurze Zeit später wurden hier
auch Diamanten und Edelsteine gefunden. Es kam zu einem Goldrausch, der das Gebiet
innerhalb kürzester Zeit zu einer der reichsten Regionen der Erde machte. „Die größte bis
dahin entdeckte Goldmasse wurde mit der geringsten Zeitaufwendung gewonnen“ (Galeano,
1981, S.61) Im Laufe des 18. Jahrhunderts holten die portugiesischen Kolonisatoren mehr
Gold aus brasilianischer Erde, als die Spanier während der vorhergehenden zwei Jahrhunderte
aus ihren Kolonien. Der Bedarf an Sklaven in der Kolonie wurde unersättlich - auf den
Plantagen ebenso wie in den Minen und in den Haushalten der schnell wachsenden Städte. Im
18. Jahrhundert verdreifachte sich die Zahl der Sklavenimporte auf rund 1.600.000 Menschen
(IBASE, 1989) Die Stadt Ouro Preto wurde zu einer der reichsten Städte der südlichen
Hemisphäre. 1763 wurde der Sitz der Kolonialverwaltung aus dem Nordosten (Salvador) nach

76
Rio de Janeiro verlegt. Darin zeigt sich auch die Verschiebung der wirtschaftlichen und
politischen Bedeutung aus dem Nordosten in den Südosten des Landes.

1808 flüchtete der portugiesische Hof vor Napoleon nach Brasilien. Fast 15.000 Menschen
wurden mit Hilfe Englands nach Rio de Janeiro verschifft. Die Stadt am Zuckerhut erlebte
eine Boom-Phase bis dahin unbekannten Ausmaßes. Aus Dankbarkeit gegenüber den
Engländern wurden die brasilianischen Häfen für englische Produkte geöffnet. England und
Portugal, die bereits seit dem Vertrag von Methuen von 1703, enge wirtschaftliche
Beziehungen pflegten, unterbanden die industrielle Entwicklung Brasiliens. Manufakturen,
welche die europäische Produktion hätten schädigen können, wurden verboten (Galeano,
1981). Zwischen 1801 und 185532 wurden noch einmal fast 1,8 Millionen Afrikaner nach
Brasilien gebracht (IBASE, 1989). 1822 rief Dom Pedro die Unabhängigkeit Brasiliens aus
und krönte sich selbst zum Kaiser. Der britische Einfluss blieb dennoch weiterhin spürbar.

Die Größe Brasiliens und die regional unterschiedlichen Interessen wirkten sich auch auf die
Sklaverei und den Prozess zu ihrer Abschaffung aus. Bahia beispielsweise knüpfte
unabhängig von Portugal eigene, direkte Handelsbeziehungen mit der Westküste Afrikas. Der
in Bahia angebaute Tabak, der laut Dekret des portugiesischen Königs nicht nach Portugal
exportiert werden durfte, konnte in Afrika gegen Sklaven getauscht werden. Die kürzeste
Verbindung Brasilien-Afrika verband Salvador mit der Westküste des schwarzen Kontinents.
Ende des 19. Jahrhunderts hatte Portugal seinen Kolonialbesitz weiter ins afrikanische Inland
ausgedehnt. Anders als in Rio de Janeiro gab es dadurch in Bahia im 19. Jahrhundert
wesentlich mehr aus Westafrika stammende sudanesische Sklaven (Nagô, Malê) als Bantu-
Sklaven aus Zentralafrika (Verger, 1987). Die historischen Quellen weisen immer wieder auf
die Unterschiede zwischen Bantu- und sudanesischen Sklaven hin. Es scheint, als seien die
Bantu eher zur Assimilation der luso-brasilianischen Kultur bereit gewesen33 als die stark
durch den Islam beeinflussten westafrikanischen Sklaven, die an den meisten Rebellionen
beteiligt waren, wie z.B. die Malê.

Anfang des 19. Jahrhunderts wandelte sich Großbritannien vom Befürworter zum Anführer
der Kampagnen gegen die Sklaverei. Nachdem als erstes Land Dänemark 1792 den

32
In diesem Jahr wurden offiziell die letzten Sklavenimporte an Land gebracht. Wie viele Sklaven und wie lange
noch Sklaven heimlich nach Brasilien gebracht wurden, ist schwer abschätzbar.
33
So lernten die Bantu schneller die Sprache, andererseits stammen die Wörter afrikanischen Ursprungs des
brasilianischen Portugiesisch fast alle aus dem Bantu-Sprachraum, wie zum Beispiel muamba (Schmuggelware)
oder quicila (Streitigkeit).

77
Sklavenhandel verboten hatte, war es 1807 Großbritannien (Conniff, M. & Davis, T.,1994,
S.163) Auf Druck Großbritanniens, das seine Einnahmen aus dem Zucker schützen wollte,
wurde das erste Gesetz, das die brasilianische Sklaverei verbot 1845 in London verabschiedet
(Galeano, 1981, S.98). Bis zum Erlass des ersten brasilianischen Gesetzes, das den
Sklavenhandel verbot, vergingen jedoch noch einmal fünf Jahre.

5.2 Schwarzer Widerstand zwischen Verhandlung und Konflikt

„Das tägliche Leben eines Sklaven war so etwas wie ein Capoeira-Spiel - Kampf, Musik und
Tanz zur selben Zeit“ (Reis, J.J. & Silva, E., 1989, S.11).

Von Beginn an haben sich die Afrikaner nicht widerstandslos in ihr Schicksal als Sklaven
ergeben. In Afrika wurden sie von Sklavenfängern oder verfeindeten Stämmen eingefangen,
entführt und an die Küste gebracht, wo sie von Sklavenhändlern aufgekauft wurden. Noch
heute sind an der Westküste Afrikas die Festungen zu besichtigen, wo sie vor der Überfahrt
gefangengehalten wurden. Auch bei der Überfahrt auf den Galeeren kam es zu vereinzelten
Unruhen und Selbstmorden. Eine gemeinsame Aktion war jedoch nicht möglich, wurden doch
Menschen unterschiedlichster Herkunft, Sprache, Kultur und Traditionen in den
Schiffsbäuchen zusammengepfercht.
In Brasilien achteten die Händler darauf, Menschen derselben Herkunft an verschiedene
Sklavenherren zuverkaufen, um von vornherein das Widerstandspotential zu vermindern.
Neben dem Suizid war die individuelle oder kollektive Flucht zunächst der einzige Ausweg
dem Sklavendasein zu entgehen. Doch wohin? Im unwirtlichen Hinterland konnten die
Flüchtigen allein nicht überleben, in den besiedelten Gebieten machten sie sich verdächtig.
Dennoch wurden bereits im 16. Jahrhundert Fluchtversuche dokumentiert. Die erste Sklaven-
Fluchtburg, quilombo genannt, in Bahia datiert von 1575 - damit gab es für die Flüchtigen ein
Ziel und eine reelle Chance außerhalb der Plantagen zu überleben. Denn die Sklavenhalter
bemühten sich ihre entlaufenen Sklaven wieder einzufangen, wobei sie auch die Dienste von
professionellen Sklavenjägern, sogen. capitães de mato, in Anspruch nahmen.
Wiedereingefangene Sklaven wurden grausam bestraft und vielen ein „F“ für fugitivo
(Entlaufener) auf die Wange gebrannt. Exemplarisch soll auf den größten und wichtigsten
dieser Quilombos, dessen letzter Anführer zum wichtigsten Idol der brasilianischen
Schwarzenbewegung geworden ist, eingegangen werden.

78
Als eine permanente Situation zwischen Verhandlung und Konflikt wurden die Beziehungen
der Sklaven zu ihren Sklavenhaltern von den verschiedenen Historikern charakterisiert (z.B.
Mattoso, K., 1992 und Reis, J.J. & Silva, E., 1989). Wenn die „Verhandlungen“ fehlschlugen,
blieben den Sklaven zwei Möglichkeiten: entweder die Flucht oder die Rebellion. Welche
Alternative die unzufriedenen Sklaven wählten, hing nicht nur von der indiviuell
unterschiedlichen Situation, sondern auch von den historischen Gegebenheiten ab.
Fluchtversuche und Rebellionen traten dann verstärkt auf, wenn die dominierende Gruppe der
Sklavenhalter durch äußere (z.B. Kolonialkriege) oder innere Unruheherde (Unabhängigkeit)
gespalten war. Auf einen der wichtigsten Aufstände, die Revolta dos Malês, soll unter Punkt
5.2.2 eingegangen werden. Abgesehen von wenigen Ausnahmen stellte die Flucht von
Sklaven keine größere Bedrohung für die Kolonialgesellschaft dar. Wesentlich stärker
bedrohten die besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufflammenden Aufstände
und Revolten die Sklavenhaltergesellschaft. Schon die Ahnung einer Rebellion konnte als
Korrektiv für die Auswüchse der Sklaverei wirken.

5.2.1 Zumbi und die Quilombos von Palmares

Der Begriff Quilombo kommt vermutlich aus dem Quimbundo des angolanischen
Sprachraums und beschreibt eine Ansammlung von Hütten.34 Die Quilombos lagen in
unzugänglichen Gebieten, wo sich die entlaufenen Sklaven, aber auch andere von der
Kolonialgesellschaft an den Rand gedrängte Individuen, von Ackerbau, Jagd und Fischfang
ernährten. Gebrauchsgegenstände, insbesondere Waffen, die in den Quilombos nicht
hergestellt werden konnten, besorgten sich die Quilombolas bei Überfällen auf benachbarte
Dörfer. Verbreitet war wegen des permanenten Frauenmangels in den Quilombos auch der
Raub von Sklavinnen und Indio-Frauen. 35 In den meisten Quilombos entwickelten sich im
Lauf der Zeit Organisationsstrukturen mit einer zentralen Entscheidungsinstanz an der Spitze.
Die Zahl und Größe der Quilombos in Brasilien lassen sich nur schwer schätzen. Waren sie zu
Beginn der Sklaverei die einzigen möglichen Überlebensformen außerhalb des

34
Häufig wurde auch die Bezeichnung mocambo, Strohdachhaus, benutzt. Die Kolonialverwaltung definierte
erst
35
Unter den Sklaven war die geschlechtliche Verteilung von vornherein ungleich: es kamen gemäß der
Nachfrage nach Arbeitskräften viel mehr Sklaven männlichen Geschlechts an Land.

79
Sklavendaseins, kamen mit fortschreitender Entwicklung der Kolonie andere Lebensformen
für Afrikaner, Sklaven und deren Nachkommen dazu.

Im Hinterland des heutigen Bundesstaates Alagoas im Nordosten Brasiliens lagen die


Quilombos von Palmares, die wegen ihrer Größe und Resistenz in die brasilianische
Geschichte eingegangen sind. Ihr letzter Anführer, Zumbi, ist zum wichtigsten Helden der
brasilianischen Schwarzenbewegung geworden. Bis heute läßt sich kein Datum ermitteln,
wann genau der erste Quilombo von Palmares gegründet wurde. Bereits gegen Ende des 16.
Jahrhunderts sollen von einem großen Zucker-Engenho entlaufene Sklaven im Süden der
Capitania Pernambuco in die unwirtliche Hochebene der Serra da Barriga geflüchtet sein. Sie
hatten gegen die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen rebelliert. Der Ausbruch des
portugiesisch-holländischen Krieges an der Nordostküste Brasiliens ab 1624 schuf ein Klima,
das vielen Sklaven die Flucht erleichterte. Immer mehr und immer größere Fluchtburgen
wurden im Hinterland Recifes errichtet.

Die Quilombos von Palmares stellten schon bald eine Herausforderung für die Kolonie dar.
Bereits während der holländischen Besatzungszeit (1630-1654) wurden zwei größere
Expeditionen gegen Palmares geschickt - erfolglos (Freitas, 1984, S.54ff). Immer wieder
wurden Truppen von der Kolonialverwaltung in Recife mit Unterstützung der Fazenda-Herren
zusammengestellt. Palmares konnten sie nichts anhaben. Einerseits war die Motivation dieser
Truppen, die zum großen Teil aus weißen Kriminellen, Indios und befreiten Sklaven
bestanden, nicht besonders groß. Viele von ihnen sollen sogar zu den Gegnern übergelaufen
sein. Andererseits waren die Palmarinos mutige und geschickte Kämpfer, die mit Guerilla-
Taktiken jahrzehntelang den militärischen Expeditionen36 zur Zerstörung der Quilombos
erfolgreich widerstanden.

Palmares hatte sich im Laufe der Zeit zu einem prosperierendem Staat im Staate entwickelt.
Mais, Bohnen, Maniok, Zuckerrohr, Kartoffeln und Bananen wurden auf den urbar
gemachten Böden angebaut. Das Land war Gemeinschaftseigentum und wurde von allen
bestellt. „Tudo era de todos e nada de ninguém“ urteilte ein von den Fazenda-Herren nach
Palmares entsandter Spion (nach Freitas, 1984, S.37). Gegen Mitte des 17. Jahrhunderts am

36
Nicht nur die Portugiesen mußten Niederlagen gegen die Palmarinos einstecken. Während der holländischen
Besetzung des brasilianischen Nordostens (1630-1654) waren bereits zwei holländische Expeditionen nach
Palmares geschickt worden.

80
Höhepunkt seiner Entwicklung sollen zwischen 20.000 und 30.000 Menschen in dem rund
27.000 Quadratkilometer großen Gebiet gelebt haben.
Im Lauf der Zeit entwickelten sich zentrale Organisationsstrukturen in den Quilombos, die
zunächst unabhängig von einander existierten. Die jeweiligen lokalen Anführer bestimmten
den „Großen Chef“, wie die wörtliche Übersetzung von Ganga-Zumba lautet. Er stammte aus
Macaco, das in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit seinen 8.000 Einwohnern zum
größten der Quilombos von Palmares angewachsen war. Der Ganga-Zumba wurde wie ein
König verehrt und behandelt.

Seitdem Palmares vom Conselho Ultramarino in Lissabon gegenüber der Krone als Ursache
für den Rückgang der Zuckerproduktion verantwortlich gemacht worden war, nahmen die
Bestrebungen zu, das „Problem“ Palmares endgültig zu lösen. Nachdem es erstmals unter
Führung von Fernão Carrilho gelungen war, den Palmarinos größere Verluste zuzufügen,
schwenkte der damalige Gouverneur von Pernambuco, Dom Pedro Almeida, 1678 auf den
Verhandlungsweg ein. Eine Art Friedensvertrag wurde geschlossen, nach dem allen in
Palmares Geborenen die Freiheit zugesichert wurde. Die Palmarinos sollten in einem
zugeteilten Gebiet leben, Cucaú, und dort in Frieden Ackerbau und Handel betreiben können.
Ganga-Zumba unterzeichnete den Vertrag und Dom Almeida kehrte nach Portugal zurück mit
der Überzeugung das Problem gelöst zu haben (Freitas, 1984, S.108ff).

Nicht alle Palmarinos zogen mit Ganga-Zumba in das im Vertrag vorgesehene Gebiet. Die
Zurückgebliebenen sammelten sich um einen neuen Anführer, der als Zumbi in die
brasilianische Geschichte eingehen sollte. Zumbi, der 1655 in Palmares geboren war, wurde
als Baby zusammen mit anderen bei einer Attacke Gefangenen nach Recife gebracht. Dort
wuchs er in der Obhut eines Paters auf, der ihn Francisco nannte und ihn in Portugiesisch,
Latein und Religion unterrichtete. Mit 15 Jahren flüchtete Francisco nach Palmares und
nannte sich fortan Zumbi (J.Santos, 1988, S.27f). Schon zwei Jahre später wurde er zum
Anführer seiner Gruppe gewählt, bei der Expedition Carrilhos war er bereits General-
Kommandeur der palmarinischen Truppen.
Während Ganga-Zumba mit seinen Anhängern in Cucaú saß, begann Zumbi den Einfluß
seines Vorgängers zu untergraben. Dabei kam ihm die ungeschickte Politik der Portugiesen
zugute, die immer mehr Menschen veranlaßte von Ganga-Zumbas Seite zu ihm überzulaufen.
Schließlich kam es zu einem blutigen Kampf zwischen den beiden Gruppen, bei dem Ganga-
Zumba und seine Anhänger getötet wurden.

81
Zu Beginn der 90er Jahre des 17. Jahrhunderts verschärfte sich die Stimmung zwischen der
Kolonialmacht und den Palmarinos. Der Zucker war in der Krise und eine Hungersnot
aufgrund einer Dürreperiode kasteite den Nordosten. Als Schuldigen machte man schnell
Palmares aus. Kriegsstimmung breitete sich aus. Die Kolonialverwaltung suchte nach
geeigneten Militärführern, die Priester riefen von den Kanzeln zum Krieg gegen Palmares auf.
Auch Zumbi bereitete Palmares auf die unausweichliche Auseinandersetzung mit der
Kolonialmacht vor.

Im Januar 1694 brach ein 9.000 bis 11.000 Mann starkes Heer unter Führung von Domingos
Jorge Velho zum entscheidenden Schlag gegen die Quilombos auf. Dieser war aus dem 2000
Kilometer südlich gelegenen São Paulo, wo er sich einen Namen als erfolgreicher Heerführer
im Kampf gegen die Eingeborenen gemacht hatte, nach langen Verhandlungen zu dieser
Aktion bereit. Die Palmarinos hatten sich inzwischen auf die Serra da Barriga zurückgezogen
und Macaco zu einer Festung ausgebaut. Holzpalisaden und Gräben schützten die Stadt. 22
Tage lang belagerten die Truppen von Domingos Jorge Velho Palmares bevor sie zum
entscheidenden Schlag ansetzten. Ihnen war es gelungen eine behelfsmäßige
Befestigungsanlage zu errichten, die es ihnen ermöglichte ihre Kanonen in Schußweite der
Holzpalisaden zu bringen. Zumbi, der die Gefahr erkannte, versuchte in der Nacht vom 5. auf
den 6. Februar 1694 den Rückzug seiner Leute. Dabei wurden sie von den portugiesischen
Truppen entdeckt und ein gewaltiges Gemetzel machte Palmares innerhalb kürzester Zeit dem
Erdboden gleich. Nur einige wenige Frauen und Kinder überlebten die Schlacht. Auch Zumbi
hatte überlebt und sich mit rund 2000 Männern in der Serra da Barriga verstecken können.
Einer seiner Vertrauten, der in portugiesische Gefangenschaft geraten war, verriet sein
Versteck. Am 20. November 1695 wurde Zumbi in einen Hinterhalt gelockt und getötet. In
Recife, das bereits den Fall Palmares mit einem sechstägigen Fest und Messen gefeiert hatte,
wurde sein Kopf auf einer Lanze gespießt zur Schau gestellt - oftmals totgesagt mußte sein
Tod aller Welt bewiesen werden (Freitas, 1984, S.160ff).

Viva Zumbi!
Der Todestag Zumbis wurde 1979 von der Vereinigten Schwarzenbewegung, kurz MNU
genannt, zum „Tag des Schwarzen Bewußtseins“ (Dia da Consciência Negra) ausgerufen.
Damit protestierten sie gegen den offiziellen Feiertag der Abschaffung der Sklaverei, den 13.
Mai, den Tag des Goldenen Gesetzes. Heute feiern die verschiedensten Gruppen der

82
brasilianischen Schwarzenbewegung den 20. November mit Protestmärschen,
Diskussionsveranstaltungen, Capoeira- und Tanzveranstaltungen. Der Name Zumbís ist seit
1996 in das Buch der Helden des Vaterlandes (Livro dos Heróis da Pátria) aufgenommen –
eine Initiative, die von der afro-brasilianischen Senatorin Benedita da Silva ausging.

Bis heute gibt es in den unterschiedlichen Regionen Brasiliens Dörfer und Städte mit
überwiegend dunkelhäutiger Bevölkerung, die auf Quilombos zurückgehen. In vielen dieser
Quilombos haben sich sprachliche und kulturelle Eigenheiten besonders erhalten, wie
beispielsweise in Cafundó 140 Kilometer von São Paulo (Revista da Folha de São Paulo,
14.05.1995), den Quilombos des Vale do Ribeira (Folha de São Paulo, 30.03.1997) oder bei
den kalungas im Norden Goiás (Folha de São Paulo, 27.8.1995). Die Verfassung von 1988
garantiert den Quilombolas die Anerkennung ihrer Ansprüche auf das Land. Die Fundação
Palmares wurde ins Leben gerufen, um die Umsetzung in die Wege zu leiten. Unter Präsident
Fernando Henrique Cardoso sind die ersten Quilombos legalisiert worden. Die Bodenrechte
des Quilombo Rio das Rãs im Südwesten des Bundesstaates Bahia, nahe des Rio São
Francisco, sind 1995, im 300. Todesjahr Zumbis, nach langwierigen Prozeduren den dort
lebenden Nachfahren zugesprochen worden (Isto é, N° 1310, 09.11.1994) Die Fundação
Palmares hat inzwischen 724 Quilombo-Gebiete registriert, in denen rund 2 Millionen
Menschen leben. 32 Quilombos wurden davon bereits anerkannt und 18 haben die
endgültigen Landrechte bekommen. (www.palmares.gov.br 24.04.2003)

5.2.2 „Tod den Weißen“ - Aufstände und Revolten

Während des gesamten 19. Jahrhundert vor Abschaffung der Sklaverei kam es zu mehreren
Sklavenaufständen und -revolten, die sich schnell zu einer Bedrohung der
Sklavenhaltergesellschaft auswuchsen. Die gesellschaftlichen Strukturen begannen sich ab
Anfang des 19. Jahrhunderts stark zu verändern. Die Übersiedlung des portugiesischen Hofes
1808 nach Rio de Janeiro spaltete schon nach kurzer Zeit die hellhäutige Elite des Landes in
Brasilianer und Portugiesen. Die Portugiesen beanspruchten, was bisher allein Privileg und
Besitz der einheimischen Elite war. Andererseits machten sie sich über den Provinzialismus
der Brasilianer lustig. Im Nordosten des Landes bestimmten weiterhin die alteingesessenen
Familien das Geschehen. Aber auch hier wurden die Unterschiede zwischen dem Leben auf
dem Land und in der Stadt immer deutlicher spürbar. Besonders in den Städten verloren die

83
klaren gesellschaftlichen Trennlinien zunehmend ihre Kontur zugunsten eines Durcheinanders
von Sklaven, bereits Befreiten (libertos) und Freien , Leihsklaven und Sklaven, die ihre
Dienste anboten, aber ihren Sklavenhaltern eine vorab vereinbarte Summe zu zahlen hatten
(sistema de ganho).

Während auf dem Land die Sklavenbevölkerung weitestgehend abhängig von den
Entscheidungen der Fazenda-Herren blieb, öffneten sich in der Stadt wesentlich grössere
Freiräume. In den Strassen der Stadt bewegte sich also ein buntes Menschengemisch von
Afrikanern, Mischlingen und Europäern, in Brasilien geborenen Sklaven und bereits Befreiten
und Freien, die selbstständig Dienste anbieten, Leihsklaven und Dienstboten. Zu den
häufigsten Arbeiten der männlichen Sklaven gehörte das Tragen von Lasten und Sänften,
sowie die Arbeiten am Hafen und in den Lagern und in den verschiedenen handwerklichen
Berufen. Die Sklavinnen waren im allgemeinen mit den Tätigkeiten im Haushalt oder als
Wäscherin, Köchin oder Schneiderin beschäftigt. Der Grossteil der Bevölkerung lebte in
grosser Armut, während die weisse Elite ihren Reichtum weiterhin ungeniert zur Schau stellte
(Mattoso, 1990). Die bahianische Wirtschaft prosperierte nach einer großen Krise seit ca.
1770 wieder: die Zuckerpreise waren gestiegen, die Baumwolle- und Tabak-Plantagen
wuchsen.

Salvador wächst zwischen 1775 und 1807 um über 30 %. Fast drei Viertel der Bevölkerung
sind Afrikaner oder Afro-Brasilianer (Reis, 1987, S.15). Als Afrikaner werden die in diesem
Zeitraum aus Afrika kommenden Sklaven bezeichnet. Ihrer Herrkunft nach waren die
Bewohner der Stadt also Brasilianer, Afrikaner oder Europäer. Für die in Brasilien geborenen
„Afro-Brasilianer“ kam schon damals die Hautfarbe als weiteres Unterscheidungsmerkmal
dazu: crioulo hießen die Schwarzen, cabra und mulatos die „Mischlinge“. Zu diesem
Zeitpunkt setzte sich die Bevölkerung aus rund 40% Sklaven und rund 30% freien Afro-
Brasilianern (Reis, 1987, S.16) zusammen. Die Europäer waren in der Minderheit. Dennoch
waren sie es, die die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen trafen und die
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vorgaben.

Die Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal 1822 ist als „Grito de Ipiranga“ in die
Geschichtsbücher eingegangen. Dom Pedro I. hatte auf dem Ipiranga-Hügel in der Nähe von
São Paulo mit dem Ausruf „Unabhängigkeit oder Tod“ das Land als unabhängig erklärt. Im
rund 2000 Kilometer entfernten Nordosten jedoch wurde die Unabhänigkeit von Portugal erst

84
durch einen mehrere Monate andauernden Krieg erkämpft. Besonders in Bahia mit seiner
großen und unruhigen Sklavenbevölkerung verschärfte der Unabhängigkeitskrieg die
unterschiedlichen Positionen in der Bevölkerung. Die Föderalisten und Republikaner
kämpften gegen die portugiesischen Truppen, mit der Abschaffung der Sklaverei hatten sie
jedoch nicht viel im Sinn. Auf der anderen Seite hofften Sklaven, Befreite und Freie die
Gunst der Stunde nutzen zu können und mit der Unabhängigkeit auch einen besseren Platz in
der Gesellschaft zu erkämpfen. Dabei waren sie in unterschiedliche Lager gespalten: Die in
Brasilien geborenen Sklaven wollten sich aus der Sklaverei befreien, die Afrikaner jedoch
sollten davon ausgeschlossen werden. Die Freien und Befreiten waren indes damit
beschäftigt, bessere soziale Bedingungen zu erkämpfen. Der wirtschaftliche Boom der
vorangegangenen Jahrzehnte war abgeflaut und die Wirtschaft in eine tiefe Krise geraten.

Nachdem auch in Bahia die Unabhängigkeit erkämpft war, blieb die Region weiterhin in
Unruhe und immer wieder kam es zu Aufständen unter der Sklavenbevölkerung. An den mehr
als 20 bahianischen Rebellionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts beteiligten sich laut Reis
kaum Mulatten oder Crioulos, sondern hauptsächlich Yoruba-stämmige Afrikaner (Reis,
1987)37. Der wichtigste städtische Sklavenaufstand nach Zahl der Aufständischen und
Organisationsgrad war die sogenannte Revolta dos Malês von 1835. Malês wurden die
Menschen sudanesischer Herkunft mit islamischen Glauben genannt, die besonders gegen
Ende des 18. Jahrhunderts nach Brasilien gebracht wurden (Reis, 1987, S.170). Diese
Afrikaner pflegten die Ausübung und Verbreitung der Lehren Mohammeds auch in Brasilien
und richteten sogar geheime Koranschulen ein, so daß es unter der dunkelhäutigen
Bevölkerung Salvadors zu einer Islamisierungswelle kam. Die Revolta dos Malês war keine
spontane Erhebung, sondern ein von islamischen Sklaven geplanter Aufstand. So wurde zum
Beispiel der Plan für die Eroberung der Stadt in arabischen Schriftzeichen verfaßt. Dieser
Aufstand wird oft auch als Revolta dos Búzios, der Muschel-Aufstand bezeichnet, denn die
Aufständischen hatten als eines der Erkennungszeichen vereinbart Muscheln bei sich zu
tragen.

Der Zeitpunkt für den Aufstand wurde mit Umsicht gewählt: Eine Woche nach dem
wichtigsten Heiligenfest Bahias, dem Bonfim-Fest, im Januar. An diesem Tag pilgerte ein

37
Laut Hofbauer stammen die „Mohrenköpfe“ die 1833 an der Universität Berlin zu
medizinisch-anthropologischen Untersuchungszwecken aus Brasilien eintrafen, von Opfern
einer dieser Revolten (Hofbauer, 1995, S. 238)

85
Großteil der Stadtbevölkerung zu der auf einer Halbinsel gelegenen Bonfim-Kirche. Die
Verschwörer hofften durch den Überraschungseffekt ihre zahlenmäßige Unterlegenheit
auszugleichen. Aber der Aufstand wurde verraten.38

In der Nacht und im Morgengrauen des 25. Januar 1835 waren zwischen 200 und 500
Verschwörer in den Straßen Salvadors unterwegs. An verschiedenen Punkten der Stadt legten
sie Brände und es kam zu Kämpfen mit Toten und Verletzten. Der Versuch, einen ihrer
Anführer aus dem Gefängnis zu befreien, schlug fehl. Als sich ein Teil der Aufständischen
bereits auf dem Weg aus der Stadt hinaus nach Bonfim befand, wurden sie von der Kavallerie
gestellt. Es wurde heftig gekämpft. Schätzungsweise 70 Menschen sind bei der Rebellion ums
Leben gekommen, die meisten unter den Aufständischen. Viele der Aufständischen wurden
gefangengenommen und einigen gelang die Flucht (Reis, 1987, S. 87ff; Verger, 1992,
S.339ff.).

Anders als die meisten Aufstände vorher, zielte die Revolta dos Malês auf soziale
Veränderung. Ziel war es, ein Bahia für Afrikaner zu errichten. Alle Weißen, aber auch
Mulatten sollten getötet werden. Inwieweit die Religion diese Rebellion inspiriert hat, läßt
sich nicht eindeutig bestimmen. Tatsache ist, daß sie zu einem Moment geschah, in dem der
Islam sich unter den Afrikanern Bahias ausbreitete und daß die Anführer der Rebellion auch
religiöse Führungspostionen einnahmen (Reis, 1987, S.137). Dennoch lässt sich nach Reis
nicht von einem „Heiligen Krieg“ moslemischer Prägung sprechen, sondern einem Aufstand
der Afrikaner (moslemischen Glaubens oder nicht).
Nach der Rebellion wurde Bahia von einem Klima der Repression und Hysterie erfasst und
viele Afrikaner fielen der Rache der Gewinner zum Opfer. Über 200 Aufständische wurden
für ihre Teilnahme verurteilt, darunter vier Todesurteile für die Anführer (Reis, 1987,
S.254ff).

Die Revolta dos Malês ist bis heute der wohl kämpferischste Ausdruck schwarzen
Widerstands in Brasilien. Jedes Jahr im Januar ist das Datum Anlass für die verschiedensten

38
Eine befreite Schwarze erzählte ihrem weissen Nachbarn von den Dingen, die ihr zu Ohren
gekommen waren. Von ihrem Mann hatte sie Gerüchte über die Ankunft von Afrikanern aus
dem Recôncavo in der Stadt und einen bevorstehenden Kampf gehört. Der Nachbar
überbrachte das Gehörte dem zuständigen Richter, dieser die Nachrichten in den
Gouverneurspalast (Reis, 1987, S.87ff)

86
Feierlichkeiten der Schwarzenbewegung. Im Pelourinho-Viertel in Salvador ist eine Strasse
nach einem der Anführer der Bewegung, João de Deus, benannt.

5.2.3 Trommeln im Kirchenhof – die katholischen Bruderschaften

Während das System der Sklaverei die gewalttätigen Strukturen des Zusammenlebens vorgab,
wurde das Leben auf den Plantagen und in den Städten bestimmt durch ein Geflecht von
Streitigkeiten, Zugeständnissen und Gefälligkeiten über die Grenzen der sozialen
Beziehungen. Die Sklaven wehrten sich auf unterschiedliche Art und Weise dagegen
unmündiges Objekt der Sklavenhaltergesellschaft zu sein. Neben den Forderungen zur
Verbesserung der wirtschaftlichen Situation, wie zum Beispiel der Wunsch nach einem
eigenen kleinen Stück Land und dem Recht zum Verkauf der dort gezogenen Naturalien,
waren es vor allem die kulturellen und religiösen Freiräume, welche die Sklaven im Alltag zu
erobern versuchten (Reis, J.J. & Silva, E., 1989). Besondere Bedeutung hatten dabei die
religiösen Praktiken des Candomblé, sowie die vielfältigen musikalischen und tänzerischen
Äußerungen, auf die im folgenden Kap. 6 eingegangen wird. Zwischen Verhandlung und
Konflikt, das wurde bereits weiter vorn gesagt, bewegten sich die Afrikaner und Afro-
Brasilianer, immer bemüht Freiräume innerhalb des Systems zu schaffen, die ihnen das Leben
erträglicher machen konnten.

Die wichtigste, legale Organsationsform der Sklaven und Freien waren die unterschiedlichen
katholischen Vereinigungen: die Drittorden und Bruderschaften, die sich bereits seit dem 17.
Jahrhundert entwickelten. Hier konnten sich die Sklaven ungestört und mit Duldung ihrer
Herren treffen, ging es doch vordergründig nur um die Erziehung im katholischen Glauben
und die Heranführung an die europäische Zivilisation. Einige Sklavenherren, wie zum
Beispiel der einflussreiche Conde dos Arcos, hofften durch die Stärkung der Differenzen
unter den Afrikanern das Potential eines Aufstands aller Sklaven zu mindern. Eine Hoffnung,
die nicht durch die Realität bestätigt wurde. In den Bruderschaften fanden sich überwiegend
Sklaven und Freie derselben Ethnie zusammen und tauschten Informationen in ihren
jeweiligen Sprachen aus. So wurde beispielsweise die „Irmandade de Nossa Senhora da Boa
Morte“ von Yorubá-Frauen gegründet, während sich die Männer angolanischer Herkunft im
„Ordem Terceira do Rosário de Nossa Senhora das Portas do Carmo“ in der Kirche Nossa
Senhora do Rosário am Pelourinho-Platz zusammenfanden (Vieira Filho, 1995, S.69). Über

87
die Bruderschaften entwickelten die Sklaven ein System gegenseitiger Hilfe, insbesondere für
die Unterstützung im Alter und bei Invalidität, die Organisation der Beerdigung und den Kauf
des Freibriefs. Nach Auffassung des Anthropologen Bastides waren es gerade die
katholischen Bruderschaften, die zum Überleben des Candomblés beigetragen haben
(Bastide, 1971). Dieselben Personen, die einen bestimmten Candomblé frequentier(t)en,
(waren) sind Mitglieder einer Bruderschaft. Das ist teilweise bis heute in Salvador und dem
Recôncavo zu beobachten, insbesondere bei den beiden bereits erwähnten Bruder- bzw.
Schwesternschaften. Die Irmandade de Nossa Senhora da Boa Morte veranstaltet jedes Jahr
im August ein mehrtägiges Fest, bei dem sich katholische und Candomblé-Elemente
vermischen. Das Fest ist in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Ereignisse der
Schwarzenbewegung geworden und wird von einer wachsenden Zahl von African-Americans
besucht.

In den schwarzen Bruderschaften konnten die Sklaven und ihre Nachfahren neue soziale
Kontakte knüpfen. Ihren Mitgliedern boten sie einen Raum zur Ausübung ihrer kulturellen,
religiösen und profanen Manifestationen. Dadurch konnten die traditionellen Formen von
Musik, Tanz, Sprache etc. erhalten werden (Vieira Filho, 1995, S.70). Die Möglichkeit, die
Erlaubnis für Feste und Umzüge bekommen, war allein durch die Irmandades möglich, die
allmählich den Status von bürgerlichen Gesellschaften bekamen (A.Santos, 1996, S.77). Ab
dem Moment, wo der katholische Glauben durch die Mitgliedschaft in einer Bruderschaft
„bewiesen“ wurde, kam dies in den Augen der Kolonisatoren einem Abschied von der
afrikanischen Vergangenheit gleich.

Während die Eliten die Hegemonie der europäischen Kultur wünschten, lebte die Mehrheit
der Bevölkerung in einem Ambiente mit großer ethnischer und kultureller Vermischung bei
starker afrikanischer Präsenz. Der Begriff batuque wurde von den Portugiesen eher
missbilligend benutzt, um die Tänze der Schwarzen zu bezeichnen. Die Batuques waren an
kein festes Datum gebunden. Sie nutzten die Feiertage der katholischen Kirche für ihre
musikalischen und tänzerischen Veranstaltungen. Traditionell wurden dafür die Atrien der
Kirchen anlässlich der katholischen Festtage genutzt. Es gab keine getrennten Kirchen,
sondern jede Kirche konnte eine schwarze Bruderschaft haben. Da die Bewohner der Kolonie
enge Beziehungen zu den Bruderschaften hatten, waren deren Feierlichkeiten und Kalender
eines der wichtigsten Ordnungsschemata für das soziale Leben in Brasilien. Insofern muss
man davon ausgehen, dass die sozialen Beziehungen viel stärker als bisher angenommen von

88
multikulturellen Elementen geprägt waren. (A. Santos, 1996:81). Auch die Weißen waren
keine einheitliche Gruppe und verfolgten ganz unterschiedliche Interessen. In diesem
pluralen und vielfältigen sozialen Ambiente, dessen kulturelles Leben durch den katholischen
Festkalender bestimmt war, wurden die Prozessionen zu einer Art Refugium für die
Manifestationen schwarzer Musik und Tanzes. Bei den europäischen Beobachtern (Debret,
Rugendas u.a.) dieser Feierlichkeiten erregten insbesondere die afrikanischen Musik- und
Tanzelemente Aufsehen. Für die Schwarzen war der Batuque über den Freizeitspaß hinaus
auch eine Bestätigung ihrer Identität und Herkunft.

Batuque und Samba gehören eng zusammen. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts war ihre
Bedeutung nahezu identisch. Über die Herkunft des Begriffs Samba gibt es unterschiedliche
Auffassungen. Einige bringen ihn mit dem Begriff semba in Verbindung, den ein
portugiesischer Reisender im 19. Jahrhundert aus Luanda mitgebracht hatte. Dort soll er einer
Tanzveranstaltung beigewohnt haben, deren zentrales Element eine „umbigada“ (umbigo ist
der Bauchnabel) oder semba war. (Arthur Ramos, Edison Carneiro zitiert nach Santos, 1996,
S. 67f.) Der von ihm beschriebene Tanz, bei dem Bauchnabel an Bauchnabel bewegt wurde,
erinnert in seiner Beschreibung einer auch heute noch üblichen „Samba de Roda“.39
Die offensichtliche Erotik und die Impertinenz einer afrikanischen Manifestation in den
Senzalas und vor allem im städtischen kolonialen Raum ängstigte die Sklavenherren. Dahinter
stand auch die Befürchtung, dass sie eine latente Gefahr des Aufruhrs und der Revolte in sich
trugen (Santos, 1996, S.65f.). Sie fürchteten das Rebellionspotential und die ethnische
Bestätigung, die sie in den Batuques wahrnahmen. Die Angst, welche die afrikanische Musik
und Tänze hervorriefen, zeigt, dass es sich um einen symbolischen Kampf handelte.

Die Batuques stellten für die bahianischen Autoritäten fast immer ein Ärgernis dar. 1814
wurden in Salvador die Batuques durch den damaligen Gouverneur Conde dos Arcos
verboten. Er selbst schränkte jedoch ein: Das Verbot solle nicht zu streng verstanden werden
und empfahl den Polizisten moderates Vorgehen (Verger, 1987, S.334). Die
Doppeldeutigkeit in den Beziehungen zwischen Sklaven, Freien und den Kolonialherren Elite
sollte seiner Auffassung nach anhalten. Er sah die Notwendigkeit zur Zerstreuung, eventuell,

39
Heute dominiert der Samba in seinen verschiedenen Ausprägungen. Von batucadas ist vor
allem im privaten Bereich die Rede, womit meistens mit für den Samba typischen
Perkussionsinstrumenten ausgestattete Gruppen gemeint sind, die sich zum Musizieren
zusammenfinden.

89
so sein Kalkül, würden die Sklaven unterschiedlicher Kultur und Herkunft sogar Rivalitäten
entdecken, die einen Zusammenschluss verhindern würden.
Erst nach dem Aufstand der Malês wurden diese Zusammenkünfte strenger kontrolliert.
Nach Tinhorão wurden die Batuques ab dem Zeitpunkt verfolgt, als die bahianische Elite den
oftmals religiösen Charakter der Tanzveranstaltungen bemerkte, der unter Umständen zu
gefährlich werdender Einheit werden könnte (Tinhorão, 1998, S.72).
Um den Verboten zu entgehen, nahmen die Batuques Elemente der Kultur der Kolonisatoren
auf. Auch hierbei handelt es sich um kulturellen Relativismus wie Chauí ihn beschreibt, der
typisch für die populären Kulturen in Brasilien ist (Chauí, 1994, S.124). Die Batuques
existierten in einem transkulturellen Kontext und wurden zu den entscheidenden Symbolen
afrikanischer Herkunft und Präsenz, da nur wenige andere plastische Symbole vorhanden
waren.

Die Bruderschaften wurden bekannt für ihre aufwendigen Feiern und Umzüge anlässlich der
verschiedenen katholischen Feste. Zu einem der auffälligsten Anlässe wurden die sogen.
reisados, Krönung der Könige und Königinnen40 der Bruderschaften, die nach der
Krönungsmesse mit einem pompösen Umzug und viel Musik durch die Straßen zogen. Verger
meint sogar, die Eliten hätten, die Sklaven und Ex-Sklaven dazu motiviert, ihre Religiosität
während der pompösen Feste und Prozessionen der katholischen Kirche auszudrücken. Die
Prozessionen der Reis Congos gelten als Beispiel für eine Inversion der gesellschaftlichen
Regeln. Diese Krönungsfeierlichkeiten gelten als Ursprung verschiedener schwarzer
Karnevalsgruppen wie die Afoxés und Maracatus, aber auch die ternos, ranchos und bois.
Die Feierlichkeiten und religiösen Prozessionen der Kolonialzeit gelten, insbesondere wegen
der Teilnahme der Sklavenbevölkerung mit ihren Trommeln und Tänzen als Vorläufer des
Karnevals.
Über den Karneval und seine Eroberung durch die Nachfahren der Sklaven als Raum für
deren kulturelle Äußerungen siehe im Kap.6.

5.3 Der lange Weg zum „Goldenen Gesetz“.

Politisch, wirtschaftlich und sozial nahm Brasilien eine Sonderrolle unter den Ländern der
beiden Amerikas ein: Während die anderen lateinamerikanischen Länder um ihre
40
Die Wahl der Könige und Königinnen fiel meist auf die Männer und Frauen, die innerhalb der Bruderschaft
das beste Ansehen besaßen und auch gegeüber der Obrigkeit über einen perfekten Leumund verfügte.

90
Unabhängigkeit gegen die spanische Krone kämpften, war Brasilien ein unabhängiges
Kaiserreich angeführt von einem portugiesischen Monarchen. Die Wirtschaft basierte auf der
Landwirtschaft und war abhängig von der Sklavenarbeit, auch noch nach Verbot des
Sklavenhandels ab 1850. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen Brasiliens
hatten sich bis ins 19. Jahrhundert kaum verändert. Auf den Zuckerboom im Nordosten des
Landes, folgte der Gold- und Diamantenrausch in Minas Gerais, der von den Kaffeeexporten
im Südosten abgelöst wurde. Nach Umsiedlung der Königsfamilie 1808 begann
Großbritannien verstärkt Druck auf Portugal auszuüben. Einerseits sollten britische Produkte
freien Zugang zum brasilianischen Markt haben, anderseits sollte der Sklavenhandel und als
Folge die Sklavenarbeit verboten werden. 1822 rief Dom Pedro die Unabhängigkeit Brasiliens
von Portugal aus. Mit Kaiser Dom Pedro hatte Brasilien einen Monarchen na der Spitze einer
stark hierarchisch strukturierten Gesellschaft, der liberaler und offener gegenüber den sozialen
Fragen war, als der große Teil der alten politischen Elite. Im Verlauf ndes 19. Jahrhunderts
wurden das geistige Klima im Land und die politische Theorie mehr und mehr beeinflußt
durch die Strömungen aus Frankreich - die Ideen der Aufklärung und die Ideale der
französischen Revolution.

Die politische Debatte über die Abschaffung der Sklaverei in Brasilien zog sich fast durch das
gesamte 19. Jahrhundert. Ausgangspunkt war der politische Druck des britischen Imperiums,
das um seine wirtschaftlichen Interessen zu schützen darum bemüht war, die Sklavenarbeit in
der Neuen Welt einzuschränken. Durch Hilfe Großbritanniens bei der Übersiedelung der
Königsfamilie nach Rio de Janeiro war der portugiesische Hof den Briten verpflichtet. So
wurde Dom João VI. 1810 genötigt, ein Abkommen zu unterzeichnen, in dem er sich zur
schrittweisen Abschaffung der Sklaverei verpflichtete. Auf dem Wiener Kongreß 1815
besiegelten Portugal und Großbritannien das Ende des internationalen Sklavenhandels
nördlich des Äquators. Auch die diplomatische Anerkennung der Unabhängigkeit Brasiliens
1822 verbindet Großbritannien mit der Forderung nach Abschaffung der Sklaverei. 15 Jahre
später verpflichtet sich das inzwischen unabhängige Brasilien den internationalen
Sklavenhandel zu unterbinden - auch wenn die konkrete Umsetzung noch auf sich warten läßt
(Verger, 1987, S.304,321ff.)

In Brasilien war die Abschaffung der Sklaverei noch lange nicht durchzusetzen. Erst das nach
dem damaligen Justiz-Minister benannte Gesetz Lei Eusébio Queiroz von 1850 bedeutet den
entscheidenden Schritt zum Verbot des Sklavenhandels. Der Anteil Sklaven an der

91
Gesamtbevölkerung hatte sich seit Beginn der Diskussion ganz erheblich reduziert: Während
1810 noch über die Hälfte (53%) der Bevölkerung aus Sklaven besteht, sind es 1850 nur noch
18%. Kurz vor dem Verbot der Sklaverei (1884) stellen die Sklaven nur noch einen Anteil
von 9% (nach Freitas, 1983, S.139). Inzwischen war auch ein Teil der brasilianischen Elite
zum Umdenken gekommen. Die Sklaverei wurde zwar noch als ökonomische Notwendigkeit
betrachtet, aber immer seltener mit moralisch-ethischen Argumenten verteidigt. Die Mehrheit
der Sklavenbesitzer jedoch verteidigte die alten Privilegien. Während zu Beginn der
Kolonialisierung der Großteil der Sklaven auf den Zuckerrohr- und Tabakplantagen des
Nordostens oder in den Gold- und Diamantenminen Minas Gerais schuftete, lebten in den
beiden Dekaden vor Abschaffung der Sklaverei rund drei Viertel der brasilianischen Sklaven
in der Kaffee-Region im Südosten Brasiliens.

Brasilien stürzte sich von 1865 bis 1870 zusammen mit Argentinien und Uruguay in einen
blutigen Krieg gegen Paraguay. Auch viele Sklaven nahmen freiwillig oder
gezwungenermaßen an den Kämpfen teil. Denen, die lebend zurückkehrten, stellt ein
kaiserliches Dekret 1866 die Freiheit, alforria, in Aussicht. Der Paraguay-Krieg machte
deutlich, daß es zu wenig freie Männer für den Militrädienst gab. Es wird geschätzt, daß rund
vier Fünftel der brasilianischen Truppen von Sklaven und freien Afro-Brasilianern gestellt
wurden. Auf 60.000 bis 100.000 Menschen dunkler Hautfarbe belaufen sich die Schätzungen,
der im Paraguay-Krieg Gefallenen (Chiavenato, 1987, S.204).

Das 1871 erlassene „Gesetz des freien Bauches“, Lei do Ventre Livre, war der nächste
entscheidende Schritt zur endgültigen Abschaffung der Sklaverei. Es sah die Befreiung der
Sklavenkinder bis zum achten Lebensjahr vor. Zwei Jahre zuvor war bereits verboten worden,
Sklaven auf Auktionen unter öffentlicher Zurschaustellung zu verkaufen, sowie Ehepaare
bzw. Eltern von ihren Kindern zu trennen. Das neue Gesetz garantierte den Sklavenbesitzern
eine Entschädigungszahlung für die Verluste durch die Befreiung der Sklavenkinder. Die
Mehrheit von ihnen nutzte jedoch die ebenfalls im Gesetz vorgesehene Alternative, die
Kinder und Jugendlichen noch bis zum 21. Lebensjahr für sich arbeiten zu lassen. Zu diesem
Zeitpunkt setzte sich die brasilianische Bevölkerung zu fast zwei Dritteln aus Menschen
dunkler Hautfarbe (42,18 % pardos, 19,68% negros) zusammen, gegenüber den 38,14%
weißer Bevölkerung,. Die Sklaven hatten (1874) einen Anteil von 15% an der
Gesamtbevölkerung (nach Freitas, 1983).

92
In den letzten zwei Jahrzehnten vor dem endgültigen Verbot der Sklaverei wurde die
Abolition in verschiedenen Kreisen diskutiert. Die ideengeschichtlichen Strömungen Europas
vom Darwinismus bis zum Liberalismus hatten auch unter der brasilianischen Elite
Verbreitung gefunden. Radikale Positionen gab es selten, nur der Jurist und ehemalige Sklave
Luiz Gama schockierte die brasilianische Gesellschaft mit seinem öffentlichen Ausspruch
„Jeder Sklave, der seinen Herrn tötet, egal unter welchen Umständen tut dies in legitimer
Selbstverteidigung“ (zitiert nach Hofbauer, 1995, S.198).
Die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei wurde im wesentlichen von Denkern der
hellhäutigen Elite angeführt. Zum Anführer der Abolitionisten-Bewegung wurde Joaquim
Nabuco, der 1880 die „Brasilianische Gesellschaft gegen die Sklaverei“ gründete. Nabuco
stammte aus einer Familie von Großgrundbesitzern und lebte zwischenzeitlich auch in
London. Die Abolitionisten um Nabuco strebten die Bildung eines liberalen, modernen
Staates an, in dem ein harmonisches Zusammenleben von Schwarz und Weiß möglich werden
sollte. Der Ausfall der Sklavenarbeit sollte durch die Immigration von Arbeitswilligen aus
Europa, deren Effizienz für wesentlich größer gehalten wurde, kompensiert werden. Das Buch
„O Abolicionismo“ von 1833 wurde zu einem Klassiker der Bewegung. Die Sklaverei hielt
er wohl für moralisch verwerflich, vor allem aber für ein Hindernis auf dem Weg zu einem
liberalen und kapitalistischen Brasilien „Die Immigration wird verhindert, die körperliche
Arbeit entwertet, das Aufkommen von Industrien verzögert, der Verfall gefördert, das Kapital
von seinem natürlichen Kurs abgebracht, die Maschinen ferngehalten und der Haß zwischen
den Klassen hervorgerufen“ (Nabuco zitiert nach Skidmore, 1976, S.35). Auch Nabucos Ideal
war ein weißes Brasilien.

Eine der wenigen Gruppierungen, die bereits im letzten Jahrhundert radikalere Positionen
vertrat, war die „Caifazes“ – Gruppe aus São Paulo, die auch eine Zeitschrift herausgab.
Darin setzte sich die „Caifazes“-Gruppe zunächst für eine schrittweise Abschaffung der
Sklaverei und eine Förderung der europäischen Integration ein. Doch mit den sich
überstürzenden Ereignissen kurz vor Abschaffung der Sklaverei, gingen auch die Artikel in
eine andere Richtung: die europäische Immigration wurde kritisiert und sogar
Repatriationsforderungen für die ehemaligen Sklaven gestellt. Damit machte sich die
Organisation „bis zu einem gewissen Grad zum ideengeschichtlichen Vorläufer“ (Hofbauer,
1995, S.199) jener schwarzen Gruppierungen, die sich ab den 20er Jahren dieses
Jahrhunderts in São Paulo zusammenfanden.

93
Sklaverei und Rassismus waren auch für die brasilianischen Abolitionisten zwei deutlich von
einander verschiedene Fragen. Sie gingen zum großen Teil davon aus, daß es in Brasilien
keine rassischen Vorurteile gäbe. „Die Sklaverei hat zu unserem großen Glück, niemals die
Seele der Sklaven gegen seinen Herrn eingenommen und auch nicht zwischen den beiden
Rassen den gegenseitigen Haß geschürt, der natürlicherweise zwischen Unterdrückten und
Unterdrückern existiert“ schrieb Nabuco (zitiert nach Skidmore, 1976, S.39). Selbst die
Befürworter der Sklaverei hätten niemals auf Theorien der Minderwertigkeit der schwarzen
Rassen „per se“ bei ihrer Argumentation zurückgegriffen.

Das Gesetz Lei Saraíva-Cotegipe von 1885 sah die Befreiung der Sklaven über 65 vor. Ein
Jahr später wurde das Auspeitschen verboten - der symbolträchtige Schandpfahl, der
pelourinho, verlor seine Bedeutung. Zu diesem Zeitpunkt flüchteten immer mehr Sklaven von
den Fazendas in São Paulo. Das Militär (Marschall Deodora da Fonseca) weigerte sich die
entflohenen Sklaven zu verfolgen, auch die Kirche setzte sich nun für die Abschaffung der
Sklaverei ein. Am 13. Mai 1888 schließlich unterzeichnete Prinzessin Isabel das „Goldene
Gesetz“, Lei Auréa, das die Sklaverei abschaffte. Betroffen davon waren noch rund eine
halbe Million Sklaven, ein Anteil von 5,6% der Gesamtbevölkerung. „Der kürzeste
Gesetzestext der brasilianischen Geschichte, der keinerlei Maßnahmen für die Integration der
zu befreienden Bevölkerung vorsah“ schreibt Hofbauer (Hofbauer, 1995, S.125). Während
den ehemaligen Sklavenbesitzern ein Zuschuss für die Lohnkosten freiwilliger Arbeiter
gewährt wurde, bedeutete der Schritt in die Freiheit für viele die Entwicklung „vom
arbeitenden Sklaven zum sklavischen Arbeiter“ wie der brasilianische
Wirtschaftswissenschaftler Hélio Santos schreibt (Santos, 2001, S.77).

1889 wird Brasilien Republik. Ein Jahr später lässt der damalige Finanzminister Rui Barbosa
aus Angst vor Regressansprüchen der Sklavenhalter alle Dokumente, die die Sklaverei
betreffen verbrennen.

94
6. Die drei „C“ afro-brasilianischer Kultur –
Carnaval, Capoeira, Candomblé

Der von Muniz Sodré verwendete Begriff des território negro, wörtlich: Schwarzes
Territorium, bezieht sich auf diese Konstruktion einer speziellen Lebensweise (Sodré, 1988).
Die Afro-Brasilianer entwickelten während der Sklaverei eigene Formen sich zu
organisieren, zu schlafen, zu arbeiten, ihre Religion auszuüben41. Typisch bei diesen
Organisationsformen sei die Inkorporation europäischer Werte zum afrikanischen Erbe und
die mündliche Weitergabe von Erfahrungen und Meinungen. Afro-Brasilianer haben also
autonome und einzigartige Räume geschaffen des Miteinanderlebens, der Religion und
Arbeit, in denen sie traditionelle Elemente der afrikanischen Zivilisationen bewahrten oder,
bzw. und, sie auch mit europäischen Elementen vereinten. In diesen Gruppen wurden neben
religiösen, vor allem musikalische und tänzerische Ausdrucksformen geschaffen, erhalten und
gepflegt, die als afro-brasilianische oder schwarze (brasilianische) Kultur bezeichnet werden
sollen. Dazu gehören insbesondere die Religion des Candomblé, der Kampftanz Capoeira und
der Karneval, sowie die bereits zuvor beschriebenen katholischen Bruderschaften.

6.1 Land des Karnevals

Seit der Kolonialzeit wird in Brasilien in den Karnevalstagen42 gefeiert, wobei sich der
Charakter des Festes den sich verändernden Lebensbe-dingungen angepasst hat.
Brasilianische Forscher unterscheiden häufig drei Phasen (nach von Simson in: Vieira Filho,
1995, S. 9): Erstens, vom Beginn der Kolonialzeit bis etwa 1850, als das Entrudo mit
lusitanischem Charakter in Brasilien während der Karnevalstage gefeiert wurde. Die zweite
Phase zwischen 1850 und 1920 des als „venezianisch“ oder „bürgerlich“ bezeichneten
Karnevals, mit Maskenbällen und den Umzügen der großen Karnevalsgesellschaften, bei
denen sich die unteren Schichten vor allem als Zuschauer vergnügten. Drittens, der moderne

41
Ein wichtiger Treffpunkt der Freien und der Sklaven, die Dienstleistungen anboten, in den Städten waren die
sogen. Cantos (wörtlich: Ecken) und lojas (Kollektivunterkünfte). Die Cantos befanden sich in der Nähe ihrer
Aufgabenbereiche und waren wie die Bruderschaften ethnisch orientiert.
42
Über die Ursprünge des Karnevals gibt es unterschiedliche Auffassungen: Einige sehen ihn auf die Dionysos-
Feste der Griechen zurückgehen, andere berufen sich auf die römische Tradition der Saturnalien-Feiern, während
der die gesellschaftlichen Zusammenhänge umgekehrt und die Sklaven wie die Herren bedient wurden.
Charakteristisch für diese Feiern waren die reichen Festgelage, die sexuellen Freiheiten und die vorübergehende
Aufhebung bzw. ritualisierte Umkehrung der sozialen Ordnung. Übereinstimmung herrscht, dass ein wichtiger
Faktor für die Entwicklung des Karnevals die Auseinandersetzung des Christentums mit derartig ausgelassenen
Festtraditionen war (Hofbauer, 1995, S.165).

95
Karneval, der sich seit 1920 als größte festa popular des Landes bestätigt hat und als dessen
wichtigstes Charakteristikum die Escolas de Samba in Rio de Janeiro gelten. Bis heute ist im
Karneval von Rio de Janeiro (und São Paulo) der Umzug der Sambaschulen das wichtigste
Ereignis, während Salvador und Recife/Olinda Zentren des Straßenkarnevals sind43. Diese
Einteilung ist hilfreich, aber vernachlässigt einen wichtigen Aspekt: die Beteiligung der
afrikanischen Sklaven und ihrer Nachfahren am Fest. Der Karneval, das wurde bereits gesagt,
etablierte sich seit der Kolonialzeit als ein Spannungsfeld zur Aushandlung
unterschiedlichster gesellschaftlicher Interessen und Bedürfnisse. Im folgenden soll deshalb
insbesondere der Beitrag der Afro-Brasilianer am Karneval berücksichtigt werden.

6.1.1 Die wilden Sitten des Entrudo

Die Portugiesen brachten die Sitte in den Karnevalstagen das entrudo44 zu feiern mit in die
Neue Welt. Dort hatte sich bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts diese Art des Feiern vor
Beginn der Fastenzeit etabliert. Beim Entrudo ging es darum, die anderen Menschen auf der
Straße mit Wasser oder anderen, weniger angenehmen Flüssigkeiten voll zuspritzen und mit
Mehl, Schlamm, Bohnen oder Mais zu bewerfen. Nach Augenzeugenberichten soll es in den
Tagen des Entrudo auf den Straßen zu regelrechten Mehl- und Schlammschlachten zwischen
teilweise auch maskierten Gruppen gekommen sein.

Die gesellschaftliche Position bestimmte auch die Hierarchie des Entrudo-Spiels: So durften
beispielsweise die reichen Weißen alle bewerfen, während freie Schwarze nur ihresgleichen
oder Sklaven bewerfen durften. Die Sklaven wurden zu Helfern bei der Ausstattung und
Organisation des Entrudos. Sie wurden eingesetzt zur Produktion der aus Wachs hergestellten
laranjinhas, Orangen, die mit Flüssigkeiten gefüllt wurden. Die Sklaven trugen ganze
Tabletts mit Laranjinhas durch die Straßen, die die Herren als Wurfgeschosse benutzten. Zum
Entrudo-Spiel blieb den Sklaven nur die Zeit während der Morgendämmerung, bevor die
Herrschaften auf die öffentlichen Plätze kamen. Der Eindruck, den Reisende wie Debret oder
Darwin gewannen, dass es sich beim Entrudo um ein demokratisches Spiel gehandelt habe,
entsprach nicht der brasilianischen Realität45. Die ethnischen und sozio-ökonomischen

43
Zur Entwicklung des Karnevals in Salvador seit der Erfindung des Trio Elétricos zum größten Straßenfest der
Welt, s. Kapitel 12.
44
Zur Wortetymologie: Ursprünglich bedeutete entrudo wahrscheinlich einziehen oder eindringen.
45
Vielleicht bezieht sich die deutsche Forscherin K. Engell auf diese Schilderungen, wenn sie in ihrem Buch
über Karneval in Brasilien zu dem Schluss kommt, dass beim Entrudo alle Schichten gleichermaßen profitiert

96
Grenzen wurden beim Entrudo trotz des Durcheinanders nicht überschritten (Queiroz, 1992,
S.47).

6.1.2 Der Große und der Kleine Karneval

Seit der Ankunft des portugiesischen Königshauses in Rio de Janeiro gab es Bestrebungen die
neuen Karnevalsmoden aus Europa in Brasilien einzuführen. 1840 wurde erstmals in einem
Hotel in Rio ein mondäner Maskenball veranstaltet. Auf der Straße herrschten weiterhin die
wilden Gebräuche des Entrudo. Bei dem turbulenten Festgebaren kam es immer wieder zu
Ausschreitungen und Auseinandersetzungen, die man mit gesetzlichen Verordnungen in den
Griff zu bekommen hoffte.1853 schließlich wurde das Entrudo verboten. Zu diesem Zeitpunkt
begann sich der sogen. „Venezianische Karneval“, auch „Großer Karneval“ genannt, mit
seinen europäischen Musiktraditionen wie Walzer, Polka und Märschen, mehr und mehr zu
etablieren. Beim ersten Karnevalsumzug 1855 in Rio de Janeiro war sogar die Königsfamilie
anwesend. Die Bälle und Feierlichkeiten blieben der hellhäutigen Elite vorbehalten, die sich
nach der öffentlichen Präsentation in ihre Salons zurückzog.

Die Moden aus der Hauptstadt Rio de Janeiro wurden mit etwas zeitlicher Verzögerung auch
im fast 2000 Kilometer entfernten Salvador eingeführt. Ab Anfang der 40er Jahre des 19.
Jahrhunderts begann die hellhäutige Elite im Nordosten die ersten Karnevalsbälle mit
Maskierungen und prächtiger Kleidung zu veranstalten. 1859 wurde den Sklaven auch in
Bahia die Teilnahme am Entrudo bei Androhung körperlicher Strafen verboten (Vieira, 1995,
S. 177). Dies stellte die erste Normatisierung der Teilnahme der Afro-Brasilianer am
Karneval dar. Ab Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts wurden in Salvador die ersten
Karnevalsgesellschaften gegründet, deren Mitglieder uniformiert an den Bällen teilnahmen.
Die Autoritäten stimulierten öffentliche Bälle in den Strassen, die zu diesem Zweck
geschmückt wurden. 1884 brachte der Karnevals-Club Cruz Vermelha erstmals einen
Karnevalswagen, carro de idéia (wörtlich Idee-Wagen) auf die Strasse, der von nun an fester
Bestandteil der Umzüge wurde (Vieira Filho, 1995, S.93ff). 1887/88 wurden die Bemühungen
das Entrudo einzudämmen und durch den zivilisierten venezianischen Karneval zu ersetzen,
auch in Bahia immer stärker.

hätten, denn aus dem zitierten Werk von M.I. Pereira de Queiroz kann sie diesen Schluss nicht hergeleitet haben
– im Gegenteil (Engell, 1994, S.284).

97
Während der letzten beiden Dekaden ersetzte der Karneval schließlich das Entrudo. Die
Europäisierung des Festes mit den zivilisierteren Gebräuchen des Karneval ersetzte die
Anarchie und Gewalt des Entrudo. Diese Art des Feierns blieb zunächst den hellhäutigen,
besser gestellten Schichten der Gesellschaft vorbehalten. Die Afro-Brasilianer organisierten
sich in eigenen Gruppen zum Karnevalsfest, die meist verallgemeinernd als Afoxés
bezeichnet wurden. Diese Gruppen zeigen den Wunsch, den Karneval als Raum der
öffentlichen Zurschaustellung des eigenen zivilisatorischen Erbes zu nutzen.
Die Trennung zwischen den Clubs der feinen Gesellschaft und dem Volk zeigte sich auch
räumlich: während der Elite das noble Stadtzentrum zwischen Campo Grande und Rua Chile
vorbehalten war, wo Stühle aufgestellt wurden, auf denen man gesittet den Umzügen
beiwohnen konnte, feierte das Volk seinen Karneval zwischen Terreiro de Jesus und Baixa de
Sapateiros, und in den bevölkerungsreichen Stadtvierteln wie Liberdade, Garcia, Tororó oder
Itapagipe.
Der Karneval der Eliten auf der Straße hielt jedoch nur kurze Zeit an und wich schließlich den
Bällen in den geschlossenen Clubs46. „Während die Weißen allein oder als Paar tanzen,
tanzen die Schwarzen in Gruppen, beleben das Gemeinsame“ soll der Franzose Roger Bastide
die zwei Tendenzen des Karnevals beschrieben haben (Bastide zitiert nach Verger, 1981,
S.83). Während sich die Eliten mehr und mehr in ihre Vereinssitze zurückzogen, wurden die
Straßen von den unteren Schichten okkupiert, was Risério als „Afrikanisierung des Karneval“
bezeichnet (Risério, 1981).

6.1.3 Afrikanisierung des Karnevals

Mit der Etablierung des modernen Karnevals festigte sich die Präsenz der Afro-Brasilianer in
den öffentlichen Umzügen. Hierbei zeigte sich die Bereitschaft der Afro-Brasilianer trotz
Stigmatisierung, den öffentlichen und symbolischen Raum des Festes ebenbürtig zu
beanspruchen. Die Feste bildeten den Raum für freie soziale Mischung. „Die Gründer dieser
afro-karnevalistischen Organisationen haben sich sicherlich nicht vorstellen können, dass ihre
Erfindungen sich zu Organisationen entwickeln würden, die zu den repräsentativsten
Ausdrücken bahianischer Kultur würden, die zusammen mit dem Orixá-Kult die Verbreitung
und Legitimation schwarzer Kultur bewirkten“ (A. Santos, 1996, S. 145).

46
Zu Beginn dieses Jahrhunderts stoppte die öffentliche Verwaltung die Investitionen in den Karneval und
überließ die Organisation der Privatinitiative.

98
Raphael Rodrigues Vieira Filho weist auf die Vielfalt der afro-brasilianischen Gruppen in
Salvador in der Zeit von 1836 bis 1930 hin, die bisher oberflächlich allein als Afoxé in die
Geschichte eingegangen waren (Vieira Filho, 1995). Vieira unterscheidet gegen Ende letzten
Jahrhunderts drei unterschiedliche Organisationsformen der Afro-Bahianer: die nach dem
Vorbild der großen Karnevalsvereine uniformierten Clubs wie die „Embaixada Africana“ und
die „Pândegos da África“, die eher spontanen, Samba und Batuque47 tanzenden und singenden
kleineren Vereinigungen und die Afoxés, deren Thematik eng mit den Orixás und dem
Candomblé verbunden ist (Vieira, 1995, S. 100)48. Die schwarzen Karnevalsgruppen, die
großen Vereinigungen ebenso wie die Sambas und Batuques, wurden von Nachbarn eines
Stadtviertels oder Arbeitskollegen gegründet. Bei den Afoxés sind es vor allem die
Angehörigen eines Candomblé-Hauses, die im Karneval mit öffentlichen Ritualen auf den
Straßen feiern.

Bis heute hat sich die Art des Auftretens und Umzugs der Afoxé kaum verändert. Ihr
wichtigstes Charakteristikum ist, dass sie Rhythmen, Gesänge und Tänze aus den öffentlichen
Festen des Candomblé auf die Strasse bringen. Das aus dem Yorubá stammende Wort Afoxé
bezeichnet in Bahia auch das Instrument xequeré, eine Kalabasse, über die ein Netz aus
Muscheln/Perlen gezogen ist, das bei drehenden Bewegungen Rassellaute erzeugt. Das
Xequeré ist ein Instrument, das auch von Orchestern im Candomblé benutzt wird. Neben dem
Xequeré gehören atabaques (Trommlen) und agogôs (Doppelglocken) zu den typischen
Instrumenten der Afoxé-Gruppen. Die Kostüme der Afoxés sind inspiriert in einer
afrikanischen Ästhetik, wie sie im Candomblé präsent ist. Die enge Verbindung zu den
religiösen Praktiken des Candomblés hat sich bis heute erhalten.

Die Auftritte der Afoxés gegen Ende letzten Jahrhunderts stießen in der Presse auf Kritik.
Den „Candomblé auf der Strasse“ wie Bastide diese Gruppen charakterisierte, hielt man für
einen Mangel an Zivilisation. Darüber hinaus war die Ausübung des Candomblé zu diesem
Zeitpunkt verboten. Dennoch hielten diese Gruppen Diskriminierung und Verbot stand.

47
Als Batuque wurden während der gesamten Kolonisation und Kaiserreichs die von Perkussion begleiteten
Gesänge und Tänze der Sklaven und ihrer Nachfahren bezeichnet (s. Kapitel 5.).
48
Die Afoxés in Bahia gehen, wie die Maracatus von Recife, auf die Festtraditionen der Reis Congos zurück, die
prächtigen Umzüge anlässlich katholischer Feiertage (s. dazu Kap.6)

99
Der Karneval war innerhalb kürzester Zeit zu einem Anlass geworden, an dem die Afro-
Brasilianer Elemente ihres symbolischen Erbes auf die Straße brachten. Die Embaixada
Africana wurde 1895 gegründet. Dieser Karnevalsverein nahm mit prächtigen Kleidern und
einem König an der Spitze am Umzug teil. Wie ihr Name bereits andeutete, verstand sich die
Embaixada als eine Vertretung Afrikas und inkorporierte afrikanische Elemente in einen
Umzug, der an den europäischen Vorbildern der großen Karnevalsclubs orientiert war. Mit
Fanfaren und aus Europa importierten Karnevalswagen zog die Embaixada durch die Straßen
Salvadors.
Die Embaixada Africana, wie auch die Pândegos da África, nutzten Elemente, die sie von den
großen Clubs kopierten wie zum Beispiel die Gala-Uniformen, die Allegorie-Wagen oder der
Einsatz von Blasinstrumenten. Die beiden großen schwarzen Karnevalsgesellschaften
versuchten dem europäischen Wissenschafts-Rassismus zu begegnen, indem sie ihre
Fähigkeit der Organisation demonstrierten. Jenseits der traditionellen Formen kultureller
Manifestationen der Schwarzen, suchten sie eine neue, von der Gesellschaft akzeptierte Art
des Ausdrucks ohne jedoch die Dimension der Afrikanität zu verlieren (Vieira, 1995, S.125).
Mit der Nutzung afrikanischer Symbolik, dem Bezug zu afrikanischen Königreichen etc.
versuchten die ehemaligen Sklaven die eigene Kultur aufzuwerten. Darüber hinaus waren sie
dabei eine neue kulturelle Identität als Städter, als schwarze Bürger Salvadors zu
konstruieren.
Die beiden schwarzen Karnevalsvereinigungen konkurrierten erfolgreich mit den großen
Karnevals-Clubs der Weißen um die Gunst des Publikums. In der zeitgenössischen Presse
spiegelt sich die Sympathie wider. Dabei wird besonders hervorgehoben, dass es sich bei
diesen Gruppen, anders als bei anderen schwarzen Karnevalsgruppen, um eine zivilisierte
Form der Teilnahme am großen europäischen Fest handelte. (Zeitung „ A Bahia“, vom
02.03.1897 zitiert nach Vieira, 1995, S.114).

Der Gerichtsmediziner Raimundo Nina Rodrigues, der mit seinen Aufzeichnungen wichtige
Informationen über die Afrikaner und ihre Nachfahren um die Jahrhundertwende in Bahia
lieferte, sieht die unterschiedlichen Organisationsformen der schwarzen Karnevalsgruppen als
Zeichen unterschiedlichen Entwicklungsstandes und zitiert einen Kommentar aus dem Jornal
de Notícias vom 12. Februar 1901, in dem die ungeordnete Beteiligung der Schwarzen am
Fest kritisiert wird (Rodrigues, 1988, S.157):
„ Ich beziehe mich auf das große Fest des Karnevals und den Missbrauch, der mit ihm
getrieben wird ... und der Art wie sich dieses großartige Fest der Zivilisation unter uns

100
afrikanisiert hat. Ich spreche hier nicht von den uniformisierten Clubs wie der Embaixada
Africana, den Pândegos da Africa etc., aber diese Batuques und Candomblés, die ... diesen
enormen Lärm ohne Klang und Töne produzieren, sollten die Autoritäten ebenso verbieten,
wie die den traditionellen Samba anstimmenden Maskierten, da dies mit dem Stand unserer
Zivilisation nicht vereinbar ist“

Die Organisation der Embaixada Africana, die ihre Musiken und Gebräuche auf den
europäischen Geschmack abstimme, sei besser an die Zivilisation angepasst. In den
„ungeordneten“ Gruppen feierten nach Ansicht Rodrigues, die weniger intelligenten
Menschen Karneval (Rodrigues, 1988, S.180). Die öffentliche Kritik an den afro-
brasilianischen Gebräuchen im Karneval lieferte Material zur Untermauerung der Theorien
des Wissenschafts-Rassismus. Zu den größten Sorgen, gehörte offenbar der Eindruck, den die
Stadt auf ausländische Reisende machen könnte (Vieira, 1995, S.162). Es sollte der Eindruck
von Zivilisation und Ordnung erweckt werden, obwohl die tägliche Routine eine andere war.

Die schwarze Musik der Bahia de Todos os Santos führte trotz Verbots und Verfolgung zur
sozialen Mobilisierung der unterdrückten Segmente. (A. Santos, 1997, S.91) Ab 1902 nahm
die Intoleranz der hellhäutigen Schichten gegenüber dem afro-brasilianischen
Karnevalstreiben weiter zu. Die Taktik der Presse war es, diese Gruppen mit dem Entrudo in
Bezug zu bringen. 1905 wurden die afro-brasilianischen Karnevalsvereinigungen verboten.
Viele von ihnen ignorierten das Verbot oder suchen nach Wegen, es zu umgehen. Die
Gruppen erhalten andere Namen bzw. verschleiern ihre Aktivitäten. Bis 1914 werden die
Repressalien durch die Polizei immer stärker. In diesem Zeitraum tauchen vermehrt Gruppen
auf, deren Thematik sich mit den Indianern beschäftigen. Vieira wertet dies als Versuch die
Verbote zu umgehen (Vieira, 1995, S.131).

In der folgenden Dekade wurden Elemente und kulturelle Werte der Afro-Brasilianer
zunehmend von anderen karnevalesken Gruppen übernommen. Auch auf die Heiligen- bzw.
Kirchenfeste der Vor-Karnevalszeit, die sogen. festas de largo, färben die musikalischen und
tänzerischen Formen ab. Der Samba verdrängt auch in Salvador nach und nach den Maxixe
bei den Karnevalsfesten49. Neben den Umzügen der traditionellen Clubs der oberen Schichten
Cruz Vermelha oder Fantoches do Euterpe nahmen verschiedene rassisch gemischte
Karnevalgruppen am Umzug teil.
49
In der Studie „Brancos e Pretos na Bahia“ versucht der amerikanische Soziologe Donald Pierson u.a die
ethnische Komposition des Karnevals von 1936 festzuhalten (Pierson, 1942).

101
6.1.4 „Glanz und Gloria“ - der moderne Karneval der Samba-
Schulen

Noch während der ersten Dekaden dieses Jahrhunderts dominierten die Eliten den Karneval in
der damaligen Hauptstadt Rio de Janeiro. Erst mit Gründung der Samba-Schulen ab Ende
der 20er Jahre sollte sich dies grundlegend ändern. Zwar hatten bereits zu Beginn dieses
Jahrhunderts die einfacheren Leute, überwiegend Afro-Brasilianer, angefangen, an denselben
Tagen, an denen die Oberschicht den „Großen Karneval“ beging, auf der Straße zu feiern. In
sogen. Ranchos oder blocos wurde auf der Straße musiziert und getanzt, was als „Kleiner
Karneval“ bezeichnet wurde. Die Ranchos gingen auf nachbarschaftliche Gruppen zurück, die
ihre Freizeit gemeinsam verbrachten. Durch die wirtschaftlichen Veränderungen war Rio de
Janeiro zu einem Pol der Migranten aus dem verarmten Nordosten geworden. Hier siedelten
sie sich auf den schwer zugänglichen Hügeln, den morros, an. Diese Siedlungen erhielten den
Namen Favelas. Zu einem der wichtigsten Treffpunkte wurden die Häuser der tias, „Tanten“
genannten Frauen, die aus Bahia nach Rio de Janeiro gekommen waren. Viele von ihnen
waren Candomblé-Priesterinnen oder hatten zumindest eine enge Beziehung zum Orixá- Kult,
dessen Praxis zu diesem Zeitpunkt noch streng verboten war. Bei diesen Treffen in den
Häusern der bahianischen Tias saß man zusammen, plauderte, musizierte, sang und tanzte
(Vergleich mit Interview Sodré). Unter den verschiedenen Rhythmen dominierte schon bald
der Samba. „Als der Samba noch von Leuten vom morro gemacht und konsumiert wurde,
wurde er von der Polizei unterdrückt und war gezwungen sich in den Candomblés zu
verstecken“ schreibt Peter Fry (Fry, 1982, S.51) Mit der Zeit war es die wachsende
Bedeutung des Karnevals, welche die Transformation von Repression in Unterstützung mit
sich brachte.

1928 wurde als erste Samba-Schule die Estação Primeira de Mangueira gegründet. In den
folgenden Jahren nahmen immer mehr Escolas de Samba am Karneval teil. Für die besten
Darbietungen gab es Prämierungen, die von einzelnen Zeitungen gestiftet wurden. Nach und
nach fanden die Eliten Gefallen an Musik und Tanz dieser von ihrem Fest Ausgeschlossenen,
die sich immer wieder über die Verbote hinwegsetzten. Zum bürgerlichen Karneval gesellte
sich so allmählich der Karneval der unteren Schichten, in ihrer Mehrheit Afro-Brasilianer.
Der Karneval konsolidierte sich als Fest mit stark afro-brasilianischen Komponenten. Zur
Karnevalsmusik par excellence wurde durch den Einfluss der Entwicklungen Rio de Janeiros

102
der Samba. Die Erfindung von Plattenspieler und die Entwicklung des Radio trugen zur
weiteren Verbreitung des Samba bei.

1936 legalisierte die Präfektur von Rio die Teilnahme der Samba-Schulen am Karneval. Als
Endpunkt der Umzüge wurde die Praça Onze nördlich des Zentrums bestimmt. Thematisch
wurden die Samba-Schulen bei ihren Umzügen und Musiken auf die Geschichte Brasilien
festgelegt, politischer Protest war verboten. Auch für die Struktur gab es Vorschriften: Jede
Schule mußte eine porta-estandarte, eine Fahnenträgerin, und einen mestre-sala,
Tanzmeister, und eine Gruppe von Bahianerinnen, baianas, haben – Elemente, die auch heute
einzeln in die Punktewerte beim Wettkampf der Samba-Schulen eingehen (Queiroz, 1995,
S.92ff). Um 1940 wurde den Sambaschulen dann sogar der Umzug auf den Avenidas im
Zentrum Rio de Janeiros erlaubt.

Der Aufstieg der Samba-Schulen zwischen 1930 und 1950 muss vor dem Hintergrund
gravierender politischer und gesellschaftlicher Veränderungen in Brasilien gesehen werden.
Mit zunehmender Durchsetzung demokratischer Prinzipien waren die herrschenden Eliten
von der Gunst der Wähler abhängig. Durch das Wahlrecht für Frauen und die Senkung des
Wahlalters wuchs das Wahlvolk. Die Industrialisierung im Südosten, also Rio und São Paulo,
vergrößerte die regionalen Unterschiede, der Nordosten verarmte zunehmend. Die
Migrationsströme aus dem Nordosten schwollen an und führten zur Expansion der Favelas.
Die populistische Politik ist auf der Suche nach vereinigenden Symbolen und einem
brasilianischen Diskurs. Der Aufstieg des Samba steht in Beziehung zum Diskurs der
brasilianischen Nation und der Rassendemokratie. Die Inkorporierung des Mestizen wurde
zum typischen Element der brasilianischen Nation. „Der Sieg des Samba war auch der Sieg
des Projekts der Nationalisierung und Modernisierung der brasilianischen Gesellschaft“
schreibt Hermano Vianna in seiner Studie über die Transformation des Samba von einer
Volkskultur zum Ausdruck nationalen Stolzes auch der Eliten (Vianna, 1995, S.127). Warum
suchten sich die Produzenten der nationalen Symbole und der Massenkultur immer wieder
Dinge aus, die ursprünglich von den dominierten Gruppen produziert werden? Fry hat darauf
eine einleuchtende Antwort: „Die Konvergenz ethnischer Symbole in nationale Symbole
verschleiert nicht nur eine Situation rassischer Dominanz, sondern macht es auch viel
schwieriger, sie zu denunzieren“ (Fry, 1982, S.52f). Die Akzeptanz des Samba durch die
Eliten wurde auch durch die Ankunft der europäischen Immigranten beeinflusst, der man
skeptisch gegenüberstand. Nationalistische Ideen standen hoch im Kurs und insgeheim

103
unterstellte man, dass der in der brasilianischen Gesellschaft beobachtete Aufhellungsprozess
auch den Karneval erreichen würde.

Bis heute ist der soziale Hintergrund der Samba-Schulen in den Favelas und armen
Vorstadtgebieten beheimatet. Obwohl zunehmend mehr Angehörige der Mittel- und
Oberschicht am Umzug teilnehmen, rekrutiert sich die Mehrheit der Mitglieder einer Schule
aus diesen Gegenden. Die Mehrzahl der bateria, Perkussionisten, und passistas,
herausragende Samba-Tänzer, ebenso wie die Komponisten der Musiken oder die
Altherrenriege der comissão de frente, kommen aus den Favelas von den Hügeln der Stadt.
Der Alltag des Lebens in den Favelas ist neben wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten
seit den 80er Jahren geprägt durch die Gewalt, die von den Banden des Drogenhandels
ausgeht.

Die enge Verbindung der meisten Samba-Schulen mit den Glücksspielkönigen des verbotenen
„jogo de bicho“, eine Art Tier-Lotto, hat Tradition. 1946 wurde das bereits seit Ende letzten
Jahrhunderts übliche Glücksspiel verboten - zu einem Zeitpunkt, als sich in Rio de Janeiro die
ärmeren Wohnviertel in den Vorstädten und die Favelas ausbreiteten. Um das Glücksspiel
auch nach dem Verbot fortzusetzen, brauchten die bicheiros, die Glücksspielkönige, eine
Gruppe von Leuten ihres Vertrauens. Das konnte ihnen die Samba-Schule bieten. Darüber
hinaus stellten die Mitglieder der Samba-Schulen ein Kontingent von Wählern dar, die den
banqueiros den Rücken bei Verhandlungen mit der Polizei, den Politikern und der Regierung
stärkten. Die Bicheiros dankten die Unterstützung mit großzügigen Spenden. Mit dem Geld
der Bicheiros konnten die Samba-Schulen nicht nur ihre prächtigen Umzüge finanzieren,
sondern auch die administrativen Strukturen entwickeln, die für ihr Wachstum nötig waren.
Der Einflussbereich eines Bicheiro deckt sich in etwa mit dem Einzugsbereich einer Samba-
Schule, deren Präsident oder Ehrenpräsident er in der Regel wird. Ihre Territorien verteidigen
sie mit allen Mitteln gegen die Konkurrenz. Fast alle großen Samba-Schulen werden heute
von einem Bicheiro kontrolliert (Queiroz, 1995, S.97f.).

Ab den 60er Jahren wurden die ersten Tribünen entlang der Avenida Central (heute Av. Rio
Branco) in Rio de Janeiros Zentrum errichtet.
Seit 1984 findet der Wettkampf der Samba-Schulen in dem von Oscar Niemeyer dafür
konzipierten Sambódromo statt. Zwei Nächte lang präsentieren die 14 besten Samba-Schulen
der Grupo Especial ihren das Jahr über vorbereiteten Umzug. Die Vorführungen der bis zu

104
5000 Mitglieder umfassenden Gruppen sind an Prächtigkeit und Überschwang kaum zu
überbieten. Zehn unterschiedliche Kriterien fließen in das Urteil der mehrköpfigen Jury ein,
das am Aschermittwoch vor laufenden Fernsehkameras den Gewinner bestimmt.

6.1.5 „Hinter dem Trio Elétrico“- Karneval in Salvador da Bahia

Der Erfolg der Samba-Schulen Rio de Janeiros färbte auch auf den Karneval in Salvador ab.
Die bahianischen Batucadas haben in den 50er Jahren die Moden der Escolas de Samba aus
Rio de Janeiro übernommen. Auch hier wurden dem Vorbild der Cariocas, der Einwohner Rio
de Janeiros folgend, Escolas de Samba gegründet. Mitte der 60er Jahre gab es 19 Samba-
Schulen in Salvador, die jedoch nicht die Dimensionen und den Glamour der Escolas de
Samba von Rio erreichten (Santos, 1996, S.187). Aus den Reihen der Samba-Schulen sind
eine Vielzahl von bekannten (und unbekannteren) Sambistas hervorgegangen wie Batatinha,
Ederaldo Gentil50, Edil Pacheco, Chocolate da Bahia, Nelson Rufino und anderen, die
Musiken für die verschiedenen afro-karnevalesken Gruppen machen.

Ab Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre wird das Trio Elétrico, eine Art fahrbare Bühne mit
Lautsprecherboxen zum festen Bestandteil und Symbol des bahianischen Karnevals. Als der
Mechaniker Dodô (Adolfo Nascimento) und der Radiotechniker Osmar (Osmar Macedo)
1950 in einem improvisierten Karnevalswagen am Festumzug teilnahmen, ahnten sie nicht,
dass sie damit die Weichen stellten für die Veränderungen des bahianischen Karnevals. Das
Auto, ein alter Ford Baujahr 1929, transportierte die beiden Musiker, die auf ihren
elektrifizierten Gitarren51 (Cavaquinho und Gitarre) pernambucanischen Frevo52 spielten. Im
darauffolgenden Jahr erweiterte sich die „Dupla Elétrica“ um einen Musiker zum „Trio
Elétrico“ und wurde am Boden von einer Gruppe Perkussionisten begleitet. Die
Karnevalsneuheit wurde ein Riesenerfolg: „200 Meter hüpfender und sich amüsierender
Menschen wie nie zuvor in Bahia“ erinnert sich Osmar (nach Goés, 1982, S.19) Damit wurde
die Figur des passiv dem Karneval beiwohnenden Beobachters durch den aktiv tanzenden
ersetzt.

50
Einer der erfolgreichsten Samba-Enredo wurde „Canto de Louvor a uma Raça“ von Ederaldo Gentil von 1971
für die Samba-Schule Filhos do Tororó. Im Jahr zuvor war Brasilien zum dritten Mal Weltmeister geworden.
51
Zu diesem Zeitpunkt gab es noch gar keine elektrischen Gitarren in Brasilien.
52
Der Frevo ist ein für den Karneval in Pernambuco typischer Rhythmus. Seine Elektrifizierung war eine
Neuheit in der brasilianischen Musik.

105
Die kulturelle Bewegung des „Tropicalismo“ steht in enger Beziehung zur Entwicklung des
Trio Elétrico. Zu den bekanntesten Vertretern der Bewegung gehören die bahianischen
Musiker Caetano Veloso, Gilberto Gil, Maria Bethânia und Gal Costa - bis heute beliebte,
national und international erfolgreiche Musikstars. Die Musik von Caetanos Veloso „Atrás do
Trio Elétrico“, in der es heißt: „Hinter dem Trio hinterher, gehen (tanzen) nur die nicht, die
schon gestorben sind“ macht die Musikwagen des bahianischen Karnevals im ganzen Land
bekannt. Zur gleichen Zeit, 1969, erscheint die erste Platte einer Trio-Gruppe, des Trio
Tapajós (Goés, 1982, S.70ff)

Zunächst bewirkte das Trio eine „Demokratisierung“ des bahianischen Karnevals. Hinter den
fahrbaren Musik-LKW´s tanzten die Menschen auf der Straße. So wie die Afrikanisierung der
ersten Karnevals dieses Jahrhunderts die Straße als Schauplatz des Festes erobert hatte, war es
das Trio, das diesen Schauplatz konsolidierte und allen zugänglich machte „Hinter dem Trio
gab es eine Art Freizone, wo alle Unterschiede verschwinden, vor allem die sozialen“,
schreibt der bahianische Forscher António Risério (Risério, 1981, S.113). In dem bis dahin
sozial und rassisch segmentierten Fest schaffte das Trio zunächst einen Freiraum absoluter
Gleichheit.

Zunehmend animierte das Trio auch die Angehörigen der Mittel- und Oberschicht am
Karneval auf der Straße teilzunehmen. Wie bisher nur die einfachen Leute, begann auch die
Mittelklasse Karnevals-Clubs zu gründen. Zu den ersten dieser Clubs gehörten die auch heute
noch existierenden „Internacionais“ (1962) und die „Corujás“ (1963), beides bei Gründung
reine Männer-Vereine. Es waren diese „neuen“ Karnevalsteilnehmer, welche die
Privatisierung des Karnevalsraums auf der Straße um das Trio Elétrico einleiteten. Ab der
ersten Hälfte der 70er Jahre ersetzten die ersten Trio-Wagen die traditionellen
Karnevalsorchester innerhalb der cordas, der Seile eines Bloco. Damit die Karnevalisten in
Ruhe auf der Straße feiern konnten, nahmen die Organisatoren ein Seil mit, das die Grenzen
der Gruppe markierte und das von einigen Helfern getragen wurde. So begann die
Entwicklung der heutigen Blocos de Trio. An den traditionellen Karnevalsclubs
Internacionais und Corujás zeigen sich die Veränderungen der letzten 30 Jahre: Musikalisch
wurden die Blas- und Perkussionsorchester durch die Trio Elétricos ersetzt, die leichten
Abadás, an den Seiten offene T-Shirts, lösen die aufwendigeren Verkleidungen ab, Frauen
werden zugelassen, das Durchschnittsalter sinkt und die Vereinssitze der Karnevalsgruppen
werden in die besseren Viertel der oberen Mittelschicht verlegt. Der Umzug der Blocos mit

106
zunehmendem Erfolg in bessere Stadtviertel ist inzwischen übliche Praxis – nicht nur wegen
des Statusgewinns, sondern auch wegen der Nähe zu den potentiellen Mitgliedern. Heute sind
es nicht mehr nur die Blocos de Trio, sondern fast alle größeren Karnevalsgruppen, die ein
Trio Elétrico zur Präsentation ihrer Musikattraktionen nutzen.

Die Blocos de Indio


Die Blocos de Indios sind historisch betrachtet Bindeglieder zwischen den Afoxés der
Jahrhundertwende und den Blocos Afros. Sie sind entstanden durch Veränderungen in den
Samba-Schulen und einen neuen Freizeitsinn, der durch die Symbole der modernen
Kulturindustrie geprägt war (Santos, 1991, S. 51-70). Sie übernahmen die Rhythmen und die
Art des Umzugs von den Sambaschulen und wählten die nordamerikanischen Indianer, die sie
aus den Kinofilmen kannten, als Vorbilder für die Gestaltung der Kostüme. Die Blocos de
Indio gehörten zu den wichtigsten Karnevalsvereinigungen der 70er Jahre. Einer der größten
Blocos waren die auch heute noch existierenden Apaches do Tororó, die mit bis zu 5000
Teilnehmern auf die Straße gingen. Überwiegend schwarze Jugendliche waren es, die sich im
Karneval als Indianer verkleideten, Samba spielten und tanzten. Einen ethnisch-politischen
Diskurs gab es nicht. De facto aber boten die Blocos de Indios einen Raum der
Zusammenkunft für die schwarzen Bahianer. „Die negros in Bahia hatten in den Apaches das
erste Mal vor Augen, wie es ist, wenn 5000 Menschen singen, zusammen sind. Zu dieser Zeit
gab es Blocos de Trio wie die Internacionais oder Os Corujas, das waren alles Blocos der
Weißen und die Elite liebte das. Es gab keine größere schwarze Gruppe auf der Strasse und
mit einem Gesang, der dazu in der Lage war, den mächtigen Namen der Corujas zum
Schweigen zu bringen. Die Apaches schafften dies. Sie kamen durch die Avenida Sete mit
fünftausend singenden Menschen und das war eine mächtige Musik, ein perkussiver Samba
mit der Stimme der schwarzen Sänger“ erinnert sich João Jorge Rodrigues, langjähriger
Präsident Olodums.
Während Bacelar der Auffassung ist, dass die Blocos de Indios zwar überwiegend von
Schwarzen formiert werden, jedoch keine Bekräftigung der Negritude darstellen (Bacelar
1989:90), sieht Santos sie – obwohl sie Symbole einer anderen Kultur nutzen – als einen
Ausdruck schwarzer Musik, nämlich des Samba. Erstmals 1973/74 wurden von den Blocos de
Indios auch Themen der afro-brasilianischen Kultur aufgegriffen.

Eine der Besonderheiten des bahianischen Karnevals sind neben den lautstarken Blocos de
Trio, die blocos afros und afoxés, die dem Ereignis eine besondere ethnische, schwarze Note

107
geben. Mitte der 70er Jahre beginnt ein Prozess den António Risério treffend als Re-
Afrikanisierung des bahianischen Karnevals beschrieben hat. Ausgangspunkt der
Entwicklungen war die Gründung des ersten Bloco Afro Ilê Aiyê (s. dazu Kap.10)
Anfang der 80er Jahre kommt es zum Wiederaufleben des 1949 von Hafenarbeitern
gegründeten Afoxé „Filhos de Gandhi“, übersetzt die Söhne Gandhis 53. Der nahezu in der
Versenkung verschwundene Afoxé wächst u.a. dank des Engagements des aus seinem
Londoner Exil nach Bahia zurückkehrten Musikers Gilberto Gil, wieder zu einer starken
Gruppe. Heute sind es bis zu 4.000 Söhne Gandhis, die im Karnevalszug einen friedlichen,
weißen Klangteppich mit ihren sanften Ijexá-Rhythmen bilden. Sie tragen weiße Gewänder
und Turbane und versprühen Agua de Alfazema, das „Kölnisch Wasser“ Bahias. Ihre blau-
weißen Ketten sind eine begehrte Trophäe der Mädchen und Frauen und die Filhos de Gandhi
wissen um ihre Attraktivität. Die Filhos de Gandhi sind heute eines der Wahrzeichen des
bahianischen Karnevals.

6.2 Capoeira –Tanz der Kämpfer

Einem Mitteleuropäer zu erklären, was Capoeira ist, stößt immer schnell auf
Verständigungsgrenzen. „Capoeira verbindet so Gegensätzliches wie Kampf und Tanz,
Gewalt und Ästhetik, Spiel und tödlichen Ernst, Ritual und Spontaneität, choreographische
Strenge und Bewegungsimprovisation, Magie und Realitätssinn, Körperschulung und
Lebensphilosophie“ (Onori,1988, S.9). Capoeira ist kreisförmig, widersprüchlich, fließend,
unfassbar – und deshalb so schwer mit nordeuropäischer Rationalität zu verstehen. Capoeira
ist auch einer der Schlüssel zur brasilianischen Realität.

Wer von außen auf eine Capoeira-Roda schaut, der sieht in der Regel eine Gruppe von
Menschen, die einen Kreis (roda) formen, in dessen Mitte sich zwei Personen mit mal
schnellen, mal langsamen Bewegungen aufeinander zu- und voneinander wegbewegen. Sie
teilen Tritte und Stöße aus und weichen ihnen aus, gehen in den Handstand oder schlagen ein
Rad. Dazwischen bewegen sie sich mit federnden, wiegenden Schritte um den Mittelpunkt
des Kreises. Dieser Grundschritt wird ginga genannt. Nicht einen Moment lassen sie sich aus

53
Der Afoxé Filhos de Gandhi ist inspiriert und beeinflusst durch das Bildmaterial, das die Kinoindustrie
hervorgebracht hatte. Einer der Gründungsväter beschreibt, wie eine Gruppe von Arbeitskollegen in einer Pause
im Februar 1949 den Film Filhos de Gandhi über die gewaltfreie Revolution der Inder zur Befreiung ihres
Landes von der britischen Kolonialherrschaft in einem Kino in Salvador sahen, wonach die Idee entstand die
Karnevalsgruppe so zu nennen (Jornal da Bahia, 20.2.1971 zitiert nach A. Santos, 1996, S.198).

108
den Augen. Ihren Rhythmus bestimmt die Musik. Die im Kreis stehenden Menschen singen
Lieder und Refrains und klatschen den Rhythmus dazu. Angeführt werden sie von einer
Gruppe von Musikern, die auf Perkussionsinstrumenten spielen. Den Ton gibt ein Instrument
an, das mit seinem langen Holzbogen an dem eine Kalebasse befestigt ist und der gespannten
Metallsaite an einen Bogen erinnert: das Berimbau, dessen merkwürdige Töne durch
Anschlagen der Saite mit einem Holzstäbchen hervorgerufen werden. Mindestens ein
Berimbau gibt es, komplett jedoch ist eine Capoeira mit drei Berimbaus unterschiedlicher
Sonorität (gunga, média, viola). Zur Musikgruppe gehört außerdem eine mit den Händen
gespielte Faßtrommel (atabaque) und ein Schellen-Tamburin (pandeiro), manchmal auch eine
Doppelglocke (agogô) und ein Ratsche (reco-reco). Die Musiker wechseln sich ebenso ab,
wie die Vorsänger und die im Kreis spielenden Kampftänzer.

Für die Herkunft des Wortes Capoeira gibt es unterschiedliche Erklärungsversuche. Einerseits
bezeichnet capoeira, abgeleitet aus der indianischen Tupi-Sprache, auch heute noch ein
gerodetes Stück Wald, eine Urwaldlichtung. Hier, so die Interpretation, trafen sich die
Sklaven zum Üben und Spielen. Andererseits verweist Waldeloir Rego auf die Nähe des
Begriffs zum Hahnenkampf, der auch heute noch überall in Bahia in geheimen Wettkämpfen
stattfindet. Capão bezeichnet im Portugiesischen den kastrierten Hahn, capoeira wurden die
Hühnerkörbe genannt, in denen die Sklaven das Federvieh transportierten. Der Name sei auf
die Träger übergegangen, die sich in den Straßen Rio de Janeiros im Capoeira-Spiel übten
(Rego, 1968, S.23ff.) Wer einmal eine Capoeira-Roda gesehen hat, dem wird auch sonst die
Assoziation nicht schwer fallen.

Jogar capoeira, Capoeira spielen, sagt man in Brasilien. Aber aus dem Spiel kann von einem
Moment auf den anderen Ernst werden. Dann werden die eben noch angedeuteten Tritte und
Stöße zu einer Waffe, die den Kontrahenten verletzen und sogar töten können. Capoeira ist
also auch eine Kampftechnik, die von den Sklaven entwickelt oder bereits aus Afrika
mitgebracht wurde54. Eine der am häufigsten geäußerten Erklärungen über das Entstehen der
Capoeira ist, dass die Sklaven das Training von Kampftechniken durch die Musik- und
Gesangsbegleitung und die tänzerischen Einlagen decken wollten. Wer Capoeira trainiert, tut

54
An diesem Punkt entzünden sich heftige Diskussionen zwischen den verschiedenen Capoeira-Gruppen. Die
„Angoleiros“ vertreten die Position, dass es Capoeira (unter einer anderen Bezeichnung) bereits in Afrika
gegeben habe, und die Bantu-Sklaven sie nach Brasilien mitgebracht haben. Die Vertreter der Capoeira
Regional sind dagegen der Auffassung, die Capoeira sei erst in Brasilien von den Sklaven entwickelt worden und
insofern eine typisch brasilianische Angelegenheit.

109
dies auch, um eben diese kämpferischen Elemente zu erlernen, und bis heute gelten
Capoeirista als Persönlichkeiten, vor denen man sich ein bisschen in Acht nehmen sollte.

Die Geschichte der Capoeira ist geprägt von der Marginalisierung des Kampf-Tanzes. Im 19.
Jahrhundert wurde die Capoeira mehr und mehr zu einer Kampftechnik, derer sich
insbesondere rivalisierende Straßengangs in den Städten Salvador und Rio de Janeiro
bedienten. Im Straßenkampf benutzten die Capoeirista auch Rasierklingen und speziell
angefertigte Messer, die sie am Körper versteckt bei sich trugen (Rego, 1968, S.297)55. Die
sogen. „maltas de capoeira“ , die Straßengangs, bekämpften sich nicht nur untereinander. Sie
wurden auch von Politikern unter Vertrag genommen, um politische Gegner einzuschüchtern
oder Probleme der Elite zu „bereinigen“.
Aus Angst vor politischen Attentaten und beunruhigt durch die unsichere Situation auf den
Straßen, bemühte sich der portugiesische König Dom João bereits kurz nach seiner Ankunft
in Brasilien 1808, um den Aufbau einer effizienten Polizeieinheit seines Vertrauens. Diese
Polizeitruppe sollte insbesondere gegen die Capoeiras und Candomblés vorgehen. Chef der
Spezialeinheit wurde Major Miguel Nunes Vidigal, selbst ein gefürchteter Capoeira-Kämpfer
(Rego, 1968, S.295). Aus dieser Zeit stammt vermutlich der Rhythmus der Capoeira-Musik,
der cavalaria heißt und mit dem das Ankommen der Polizei angekündigt wurde (und wird).
Andererseits waren es gerade der Mut und die kämpferischen Fähigkeiten der Capoeirista, die
diese prädestiniert für einen Kriegseinsatz im Namen Brasiliens erschienen ließen.. Ob sie
zwangsrekrutiert wurden, wie Onori meint, oder aber sich freiwillig mit
Freiheitsversprechungen angelockt zum Kriegseinsatz meldeten, ist bis heute nicht eindeutig
geklärt (Onori, 1988, S.21). Auf jeden Fall nahmen eine Vielzahl von Capoeirista am
Paraguay-Krieg (1864-1870) teil, bei dem mehrere Tausend Nachfahren afrikanischer
Sklaven ums Leben kamen.
Auch nach Abschaffung der Sklaverei fühlte sich die Elite durch die Capoeira bedroht. So
wurde das Strafgesetzbuch von 1890 um ein Kapitel ergänzt, das sich mit dem Problem der
„vadios e capoeiras“ („Müßiggänger und Capoeiras“) beschäftigte. Das Kapitel XIII verbot
unter Androhung von Gefängnisstrafe, auf öffentlichen Plätzen Capoeira zu üben. Ausländer
konnten sogar des Landes verwiesen werden (Código Penal, livro III, cap. XIII, 1890 nach
Pinto, 1991, S.44).

55
Der brasilianische Soziologe Gilberto Freyre vermutet, dass es erst die Verfolgung durch die Polizei war, die
eine Kriminalisierung der Capoeira nach sich zog und die Capoeirista in Ergänzung zu Kopfstössen und Tritten,
zu Rasierklingen und Messer greifen ließ (Freyre, 1990, S.407f).

110
Während der ersten Dekaden dieses Jahrhunderts entwickelten sich Teile der Capoeira mehr
und mehr zu einem nationalen Sport bzw. einer Folkloretradition. Mestre Bimba, Manoel dos
Reis Machado, gilt als Begründer der moderneren Form der Capoeira, der sogen. Capoeira
Regional. Ihren Namen erhielt sie, weil sie so zunächst nur in Bahia praktiziert wurde.
Nachdem Mestre Bimba bei einem Aufenthalt in Rio de Janeiro mit orientalischen
Kampfsportarten in Kontakt gekommen war, integrierte er in Anlehnung daran neue
Bewegungen in die traditionelle Capoeira. Mestre Bimba war ein mutiger Kämpfer, der gegen
Gegner anderer Sportarten antrat. 1932 eröffnete er die erste Capoeira-Schule (academia) in
Salvador. Dort setzte er die von entwickelten neuen Trainingsmethoden und –Abläufe
(sequências) in die Praxis um und erhielt 1937 die offizielle Registrierung der bahianischen
als Sportlehrer (Sodré, 2002, S.64ff). Mestre Bimba bemühte sich, die Capoeira vom Bezug
zur Marginalität zu befreien. Es heißt, dass in seiner Akademie nur trainieren durfte, wer eine
„carteira assinada“, ein unterzeichnetes Arbeitsbuch besaß. „Sobald sie also reglementiert
und zwischen vier Wände verbannt war, stellte Capoeira für den Gesetzgeber keine Gefahr
mehr dar, auf der Straße jedoch war sie nach wie vor unerwünscht“ (Pinto, 1991, S.45). Bis
heute ist die Capoeira der academias eine Sache, die Capoeira der Straße eine andere. Auf der
Straße treffen sich die Capoeirista der unterschiedlichsten Schulen. Da ist es schwer
vorhersehbar, wie sich eine Roda entwickeln wird.
Mestre Bimba war es auch, der als erster vor einem brasilianischen Präsidenten Capoeira
zeigte. Der populistische Präsident Getúlio Vargas soll die Capoeira als den „einzig
wirklichen Nationalsport“ bezeichnet haben (Almeida, 1986). Präsident Vargas war es, der
per Präsidenten Dekret das Gesetz aufgehoben hat, das die Capoeira und den Candomblé
kriminalisierte (Sodré, 2002, S.67). Als Teil der Volkskultur eignete sich die Capoeira bestens
zum Aufbau zu einem nationalen Symbol. In den Zeitungen avancierte sie von den Polizei-
auf die Sport- und Kulturseiten.

Capoeira Angola56 heißt noch heute eine Richtung der Capoeira, die sich gegenüber der
„moderneren“, sportlichen Capoeira Regional insbesondere auf ihre Tradition und
afrikanischen Wurzeln beruft. Ob es Capoeira bereits in Afrika, im Angola-Raum, gegeben
hat oder ob dort dem Berimbau ähnliche Instrumente benutzt werden, lässt sich bis heute
nicht eindeutig klären. Die Anhänger der traditionellen Capoeira vertreten die Auffassung,
dass Capoeira bereits in Afrika praktiziert und von den Sklaven mit nach Brasilien gebracht
56
Pinto mutmaßt, dass es sich bei der Capoeira de Angola um eine Art Initiation für junge Männer gehandelt
habe, die stark mit rituellen Werten behaftet war (Pinto, 1991, S.47)

111
wurde (zum Beispiel Mestre Morães von der Grupo Capoeira Angola Pelourinho). Die
bisherigen Studien scheinen aber doch eher die Vermutung zu bestätigen, dass die Capoeira
erst in Brasilien von den Sklaven „als rituelle Kampfpraxis und eine Art
Geschicklichkeitstraining der jungen Männer im Gefangenendasein der Sklaverei“ entwickelt
wurde (Pinto, 1991, S.43). Auf den ersten Stichen aus Brasilien von Moritz Rugendas vom
Anfang des 19. Jahrhunderts ist beispielweise kein Berimbau zu sehen (Rugendas, 1835).

Zwischen den Vertretern der beiden Capoeira-Richtungen gibt es nicht nur über die Herkunft
der Capoeira, sondern auch in allen anderen Fragen heftige Kontroversen und Divergenzen.
Insbesondere mit dem Bemühen der Schwarzen-Bewegung beim Aufbau einer neuen
afrobrasilianischen Identität und der Valorisierung „schwarzer“ Kultur, hat die Capoeira eine
besondere Bedeutung erhalten: Während die Capoeira Regional als die „weiße“, angepasste
Capoeira eingeschätzt wird, die auch in den Schulen der Mittel- und Oberschicht als
brasilianischer Sport gelehrt wird, gilt die Capoeira de Angola als die authentische Äußerung
schwarzen Widerstands, die (mit wenigen Ausnahmen57) heute fast nur noch in Bahia
praktiziert wird.

Die Bewegungen der Capoeira de Angola sind langsamer, meist dicht am Boden,
tänzerischer. Es gibt einen Moment, wo einer der Spieler den anderen zu einem Tänzchen
auffordert, bei dem die beiden Körper sich dicht an dicht bewegen. Die Musik hat größeren
Einfluss auf das Geschehen in der Roda als bei der Capoeira Regional. Drei Schlüsselbegriffe
gehören zum Verständnis der Capoeira – und insbesondere der Capoeira Angola: malícia und
malandragem, sowie mandinga oder mandingueiro. Die wörtliche Übersetzung
„Verschlagenheit, Gerissenheit“ und „Gaunerei“ ist im Deutschen viel zu negativ besetzt. In
der Capoeira gilt ein Spiel voll malandragem als besonders spannend, raffiniert und
schlagkräftig, ein Spieler mit viel malícia ist besonders unberechenbar. Der Begriff mandinga
stellt eine Assoziation zum Universum der Götter der afrobrasilianischen Religion her, die der
betreffende Capoeirista vermutlich um Unterstützung im Kampf gebeten hat, ein
mandingueiro ist ein Zauberer58.

57
Capoeira de Angola gibt es auch in Städten wie Rio de Janeiro, São Paulo oder Belo Horizonte. Bei diesen
Gruppen handelt es sich jedoch fast immer um Ableger einer Gruppe aus Bahia.
58
Zu einer der besten und umfassendsten Arbeiten über Capoeira gehört das Buch von Lewis 1992: Ring of
Liberation.

112
6.3 Candomblé – die Religion der afrikanischen Götter

Die Sklaven brachten ihre Götter mit über den Atlantik. Gehörten sie in Afrika zum Kult der
Flußgöttin Oxum, so verehrten sie auch weiterhin diese Göttin in der Neuen Welt. Durch die
neuen Lebensumstände in der Sklaverei bedingt, verschmolzen die verschiedenen Kulte (für
Oxum, für Xangô, für Iemanjá) zum Candomblé, der eine Vielzahl von Göttern, orixás
genannt, umfasst. Zu den am häufigsten in Brasilien verehrten gehören der kämpferische
Ogum (Schmiede, Eisen, Kriege) , der Jäger Oxossi, der Herr der Pflanzen, Ossaim, Xangô,
der Herr des Donners und des Feuers, die Göttin des Windes Iansã, die Flussgöttinnen Oxum
und Obá, die Meeresgöttin Iemanjá, der durch den Regenbogen symbolisierte Oxumaré, der
Orixá der ansteckenden Krankheiten Omolu (Obaluaê) und die alte Gottheit der Seen und
Sümpfe Nanã Buruku. Oberhaupt der Götterfamilie ist Oxalá, der in zwei Ausprägungen
verehrt wird: als alter, weiser Oxalufã symbolisiert er den Frieden, als junger Oxaguiã ist er
agil und kriegerisch. Exu, der Herr der Wege, nimmt eine Sonderstellung unter den Orixás ein
und wird vor allem als Mittler zwischen den Welten in Anspruch genommen. Über den
Orixás regiert der oberste Gott Olódùmaré, der für die Menschen nicht erreichbar ist (Verger,
1997, S.17ff.).

Wie die Sklaven aus verschiedenen Reichen Afrikas nach Brasilien kamen, so sind auch im
Candomblé Unterschiede in den religiösen Praktiken durch die Einteilung in Nationen
(nações) aufgrund der ethnischen Herkunft vorgenommen worden. Zu den wichtigsten Linien
zählen die aus dem Südwesten des heutigen Nigeria und der angrenzenden Volksrepublik
Benin stammenden Nation der nagô-ketu, und die Candomblés der Nationen jeje (ebenfalls
westafrikanisch) und angola. Eine brasilianische Besonderheit sind die Candomblés de
caboclo, die indianische Elemente mit aufgenommen haben (Lühning,1990, S.6ff; Pinto,
1991, S.160ff).

Das Spektrum der dem bahianischen Candomblé ähnlichen afro-brasilianischen Kulte reicht
vom Batuque in Rio Grande do Sul, über den Xangô in Pernambuco, zur Casa das Minas in
Maranhão, die auf den Kult einer königlichen Familie aus dem alten Dahomey zurückgeht59.
In die Umbanda, deren Entwicklung im Zusammenspiel mit den Urbanisierungsprozessen im
Südosten des Landes, insbesondere in Rio de Janeiro zu betrachten ist, flossen verschiedene

59
Hubert Fichte, der sich auf unterschiedliche Art und Weise mit verschiedenen Praktiken der afro-
amerikanischen Religionen beschäftigt hat, beschreibt „Das Haus der Mina in São Luiz de Maranhão (Fichte,
1989).

113
kulturelle und religiöse Traditionen ein, wie beispielsweise der Kardecismus. Die
Bezeichnung macumba wird im wesentlichen als unspezifischer, oft negativ besetzter Begriff
im Sinne „schwarzen Zaubers“ benutzt.
Der Xangô-Kult ist in der Neuen Welt sehr verbreitet, in Brasilien, Kuba und den anderen
Antillen-Inseln. In Pernambuco, nördlich von Bahia, bezeichnet er die Gesamtheit der
Candomblé-Kulte.

Der Candomblé ist eine Religion, die allein durch die mündliche Überlieferung überlebt hat.
Bis heute werden die Legenden der Orixás, die religiösen Praktiken und Regeln des
Zusammenlebens überwiegend mündlich weitergegeben. In den traditionellen Häusern
geschieht dies bis heute überwiegend in den afrikanischen Sprachen, vor allem in Yorubá. Die
alten Damen mit einer langen Vergangenheit im Glauben erzählen die Geschichten der Götter
ihren Kindern und Enkeln - den blutsverwandten und denen aus der spirituellen Familie. Erst
in den letzten Jahren wird in einigen Candomblé-Häusern dieses Wissen stärker systematisiert
und schriftlich festgehalten60.

Der Candomblé umgibt eine Aura des Geheimnisvollen, des geheim gehaltenen Wissens und
des Losgelöstseins von den Dingen, die in Brasilien normalerweise den Lebensrhythmus
bestimmen. Die Entfaltung des Axé, der positiven Energie, die in den Kräften der Natur
enthalten ist, gehört zu den Grundprinzipien der afrikanischen Religion. Die Kenntnisse der
Pflanzen und Kräuter zu medizinischen und religiösen Zwecken, die Fähigkeit die Zukunft
vorherzusagen oder Probleme zu lösen mittels geheimer Praktiken, machen die Candomblés
und ihre Würdenträger bis heute zu Orten, die ebenso verehrt, respektiert wie gefürchtet sind.
Erst seit Ende letzten Jahrhunderts gibt es Aufzeichnungen von Wissenschaftlern, die sich mit
dem Phänomen beschäftigen wie Nina Rodrigues oder Edison Carneiro. Die religiöse
Gedankenwelt und Praktiken haben seitdem jedoch eine Vielzahl von Anthropologen,
Soziologen etc. angezogen, darunter viele Ausländer wie Roger Bastide, Ruth Landes oder
Pierre Verger.

Anfang der 80er Jahre hat es 1920 Kultstätten, terreiros genannt, in der damals zwei
Millionen Einwohner zählenden Stadt Salvador gegeben (Barbosa, 1984 nach Lühning, 1990,
S.10). Auch heute wird die Zahl auf rund 2000 Kultstätten geschätzt. Dabei gibt es große
Unterschiede sowohl hinsichtlich der Größe der Kultstätte, der Zahl ihrer Anhänger, des
60
Es gibt sogar ein Schul-Projekt auf dem Gelände eines Terreiros, in dem die Grundschüler mit Bezug zu ihren
religiösen Wurzeln lernen (s. dazu Schaeber, 2003).

114
Alters, der Art der religiösen Praktiken. Jedes Terreiro verfügt über eine jeweils eigene
Tradition.
Als ältestes Terreiro gilt das Ilê Iyanassô, die Casa Branca (wörtlich: weißes Haus), das um
1830 gegründet wurde. Davon spalteten sich um die Jahrhundertwende das Ilê Axé Opô
Afonjá61 und das Iyá Omi Axé, genannt Gantois62 ab. Bis heute gehören die drei Häuser zu
den bekanntesten und traditionellsten Häusern Salvadors.

Während seiner ganzen Geschichte wurde dem Candomblé, wie allen anderen kulturellen und
religiösen Äußerungen der afrikanischen Sklaven in Brasilien und ihrer Nachfahren, mal mit
Unterstützung und mal mit Ablehnung begegnet. Immer wieder wurden die Anhänger des
Candomblé verfolgt und ihre Kultstätten zerstört. Die Repression der 30er Jahre unter Vargas
ist bis heute in Erinnerung und wurde vielfach dokumentiert und ging sogar in die Literatur
ein in Jorge Amados Roman „Tenda dos Milagres“ (in der deutschen Übersetzung: Die
Geheimnisse des Mulatten Pedro). Zu dieser Zeit war der Candomblé nicht als Religion
anerkannt und alle den Candomblé betreffenden Angelegenheiten dem Polizei-Kommissariat
für Spiele und Gebräuche („jogos e costumes“) zugeordnet. Weder der erste noch der zweite
Afro-Brasilianische Kongress (1934 und 1937) konnten an der Illegalität etwas ändern. Die
Repression brachte es mit sich, dass Angehörige der Candomblés auch geschickte Allianzen
mit Persönlichkeiten der Gesellschaft eingingen , die einen gewissen Schutz der Gemeinschaft
versprachen. Erst 1976 wurden die Candomblé-Häuser von der bis dahin gültigen
gesetzlichen Meldepflicht befreit. Das entsprechende Dekret wurde bei der Lavagem do
Bonfim, dem wichtigsten religiös-profanen Volksfest zu Ehren Oxalas im bahianischen
Sommer, verabschiedet (Riserio, 1981, S.20).

Von staatlicher Seite brauchen die Candomblés keine Verfolgung mehr zu befürchten, im
Gegenteil: einigen der traditionellen Häuser ist es sogar gelungen, ihre Grundrechte anerkannt
zu bekommen63. Von kirchlicher Seite werden die Candomblés jedoch teilweise heftigst
kritisiert, insbesondere von den evangelistischen Pfingstkirchen. Gerade in den letzten
Monaten hat es heftige Angriffe in den Fernsehprogrammen einzelner Pfingstkirchen und
gewalttätige Übergriffe auf einzelne Candomblé-Stätten in Salvador gegeben. Innerhalb der

61
Das Ilê Axé Opó Afonjá wurde von zwei in ganz Brasilien bekannten Kultleiterinnen geführt: Aninha
(Eugênia Ana dos Santos) und Mãe Senhora (Maria Bibiana do Espírito Santo). Heute ist dort Mãe Stella
Hüterin des Axé.
62
Auch das Gantois wurde von einer in ganz Brasilien respektierten Ialorixá geleitet, deren Rat auch von hohen
Politikern und Künstlern gesucht wurde: Mãe Menininha.
63
Als erstes Terreiro wird die Casa Branca (Ilê Axé Iam Nasso-Oka) 1982 von der Stadtverwaltung geschützt.

115
katholischen Kirche gibt es neben den Abgrenzungsbestrebungen wie sie insbesondere vom
vorigen Kardinal Erzbischof Salvadors, Dom Lucas Moreira Neives , verfolgt wurden, auch
Tendenzen, welche die Integration von afro-brasilianischen Elementen und Symbolen in die
Messen befürworten64. Aber auch in den einzelnen Candomblé-Häusern wird über
Synkretismus unterschiedlich gedacht: während einige Priesterinnen und Priester den
Synkretismus ablehnen, sind in anderen Häusern die Trennlinien zwischen katholischem
Glauben und Orixá-Kult teilweise nur schwer auszumachen.

Der Großteil der Anhänger der Candomblés, insbesondere der kleinen, unbekannten Häuser,
setzt sich aus der überwiegend dunkelhäutigen Nachbarschaft in den armen Vierteln
zusammen. Zur Klientel der bekannteren Häuser gehören allerdings längst nicht mehr nur
diese Bevölkerungsgruppe, sondern auch hellhäutige Vertreter der Mittel- und Oberschicht,
darunter bekannte Politiker, Künstler und Unternehmer. Die öffentlichen Feste sind allen
zugänglich, an den internen Zeremonien dürfen jedoch nur die in das Ritual eingeweihten
Personen teilnehmen.
Im folgenden soll nun eine öffentliche Festzeremonie für den Orixá Xangô im Ilê Axé Opô
Afonjá beschrieben werden.

„Kao kabicilê“65- “Kommt den König zu sehen“ - das Fest

Kurz bevor das Fest beginnt herrscht Stille im barracão, dem Festsaal des terreiro. Am
Kopfende steht der holzgeschnitzte Lehnstuhl, auf dem während der Zeremonie die ialorixá,
die Priesterin, Platz nimmt. Rechts und links davon die Stühle, die für die Würdenträger des
Hauses, die obás, vorgesehen sind. Auf der rechten Seite ist ein Bereich abgegrenzt, der den
Musikern vorbehalten bleibt. Hier stehen die drei verschieden großen Trommeln, atabaques
genannt, die mit rot-weißen Schleifen in den Farben des Orixá geschmückt sind, dem das
heutige Fest gewidmet ist.
Xangô, Herr über Blitz und Donner, ehemals König von Oyo Dahomey, von dem gesagt
wurde, er könne Feuer speien. Xangô gilt als viril, kraftvoll, gewalttätig und gerecht. Er wird
gefürchtet von den Lügnern, Gaunern und Übeltätern. Sein Symbol ist die Doppelaxt oxé, ,

64
In Salvador gibt es seit der Amtszeit des engagierten, progressiven afro-brasilianischen Hilfs-Bischofs Dom
Gílio Felício die Pastoral Afro, die den Dialog zwischen Schwarzenbewegung, Candomblé und katholischer
Kirche wieder in Gang brachte.
65
„Kommt den König zu sehen, wie er auf die Erde hinabsteigt“ – mit diesen Worten wird Xangô begrüßt.

116
sein Instrument die xeré, eine Rassel aus einer länglichen Kabasse gefertigt. An jedem
Mittwoch, dem ihm gewidmeten Wochentag, gibt es amalá, ein Gericht aus Okra-Schoten.
Sein Opfertier ist der Hammel, dessen Hörner schnell wie der Blitz sein können. Xangô ist ein
eleganter Verführer. Er hatte drei Frauen Oyá, Oxum und Obá, die zu Flüssen wurden (Verger
i. Carybé-Buch)
Der gesamte Festsaal ist mit Zweigen und Blättern liebevoll hergerichtet für das Fest des
Orixá Xangô, der hier „Herr im Hause“ ist. Das 1910 gegründete Terreiro Axé Opô Afonjá in
Salvador ist dem Kult ....
An den Wänden und an der Decke hängen aus Holz geschnitzte Symbole seiner Insignien. In
der Mitte des Saales wurden Buchstaben mit Körnern, Blütenblättern und farbigen Pulver auf
den Boden gemalt. Nach und nach treffen immer mehr Gäste ein, die an dem Fest teilnehmen
möchten. Rechts des Eingangs ist der Bereich für die Frauen, auf der linken Seite für die
Männer. Bei vielen Besuchern glänzt das Haar noch feucht vom Duschen und alle haben
frischgebügelte neue oder sorgfältig aufbewahrte Kleider an.
Es erinnert an den Auftritt einer Königsfamilie, als eine Gruppe von Menschen, angeführt von
der trotz ihres Alters flinken Mãe de Santo den Weg vom Haus Xangôs herüber zum Barracão
kommt. Als Mãe Stella in ihren weiten Festkleidern umgeben von den Würdenträgern des
Hauses, den Ogãs und Obás des Orixá Xangô, hoheitsvoll hereinrauscht, beginnen die
Trommler einen speziellen Rhythmus zu spielen. Die Trommler beginnen mit Händen und
später auch mit kleinen Stöcken auf die mit Ziegenfellen überzogenen Trommeln zu schlagen.
Die mit der Mãe de Santo hereingekommenen Menschen verbeugen sich vor dem Eingang,
dann bewegen sie sich zu den Trommeln. Die Trommler begrüßen Würdenträger, diese
verbeugen sich vor ihnen, berühren mit der Hand den Boden. Danach begrüßen sie die
inzwischen am Kopfende in der Mitte des Saales thronende Iyalorixá und nehmen auf den
Ehrenplätzen Platz. Die zwölf Minister Xangôs (Obás) repräsentieren die Minister des Hofs
von Oyó. Sie wurden 1937 von Mãe Aninha eingesetzt, sechs sitzen zur Rechten, sechs zur
Linken des Königs. Jetzt ist die Reihe an den Filhas die Santo nacheinander ein ähnliches
Begrüßungsritual zu vollziehen. Das Ilê Opô Afonjá ist eines der größten und wichtigsten
Terreiros Brasiliens. Heute Abend sind es mehr als 50 Filhas de Santo, die hier im Barracão
am Fest teilnehmen. Sie alle tragen festliche Kleider in den Farben des heute verehrten
Orixás. Noch haben alle ihre Köpfe mit Turbanen verhüllt. Mit einem leichten Anschlagen
des adjá, einer metallenen Glocke, beginnt die Zeremonie: die Iaos formen einen Kreis und
beginnen langsam zu tanzen.

117
Nacheinander werden die Musiken der verschiedenen Orixás gespielt. Jeder Orixá hat seinen
eigenen Rhythmus, seine eigenen Lieder. Die Anwesenden singen in Yorubá. Ein Kinderchor,
der hinter den Trommlern Platz genommen hat, singt laut in der afrikanischen Sprache. Die
Trommeln rufen die Götter. Einige Heiligentöchter beginnen zu stolpern, taumeln, mit
unkoordinierten Bewegungen beginnt die Trance. Der Turban wird abgenommen, die Schuhe
werden ihnen ausgezogen, die Schmuckgegenstände aus Sicherheitsgründen weggenommen,
Männern werden die Hosen hochgekrempelt. Einige tanzen wild, stoßen tiefe Schreie aus,
begrüßen die Anwesenden, andere befinden sich in einem ruhigen Dämmerzustand. Um die in
Trance gefallenen, kümmern sich andere Frauen des Terreiros, die Ekedi genannt werden.
Nachdem für alle Orixás gesungen und getrommelt wurde, werden die von den Göttern
besessenen Heiligentöchter hinausgebracht.
Es ist das Fest Xangôs, der Feuer speien kann. Eine Gruppe angeführt von den Ministern
Xangôs kommt vom Haus Xangôs zurück. Minister tragen bordeauxrote Samtschärpen und
Mützen auf die in Gold ihre Namen gestickt sind. Eine Tonschale mit Feuer wird von Kopf zu
Kopf gereicht. Einige der in Trance befindlichen Iaôs schlucken Feuer. Das Fest hat seinen
ersten Höhepunkt erreicht. In der folgenden Pause werden die Lieblingsspeisen Xangôs an die
Anwesenden verteilt.
Später kommen die Orixás in ihren Festkleidern herein: Xangô begleitet von seinen Frauen
Oya, Oxum und Obá. Die afrikanischen Götter manifestieren sich während der Feste in den
Körpern der Heiligentöchter. Die Anhänger begrüßen sie feierlich. Einige schenken Blumen,
andere drehen Kreise mit Geldscheinen um den Kopf des Orixá und legen sie vor Trommlern
ab. Wieder werden die Musiken der einzelnen Orixás gespielt bis das Fest spät schon nach
Mitternacht zu Ende geht.

118
7. Zwischen Anpassung und Abgrenzung – die brasilianische Schwarzenbewegung im
20. Jahrhundert

Das Goldene Gesetz hatte formal die Sklaverei beendet, Mechanismen für eine Integration der
Afro-Brasilianer in die Gesellschaft sah es jedoch nicht vor. Für die Sklaven und ihre
Nachfahren begann mit der Abolition der Kampf gegen die ungleiche Integration in die
moderne Gesellschaft – von der Beseitigung der wirtschaftlichen Ungleichheiten bis zur
Anerkennung der kulturellen Besonderheiten. Die Haltung der Afro-Brasilianer wurde dabei
ebenso durch ihre soziale Situation geprägt, wie durch die zeitgenössischen gedanklichen
Strömungen und die sich verändernden politischen Voraussetzungen. Seit der
Jahrhundertwende war es vor allem das Selbstverständnis und der Mythos Brasiliens als erster
Rassendemokratie und, damit verbunden, die Ideologie (und Praxis!) der Aufhellung, die den
Rassenbeziehungen ihren Stempel aufsetzten. Seit der Kolonialzeit war es zudem zu einer
Vermischung der Menschen unterschiedlicher Herkunft gekommen, so dass sich die
eindeutigen Trennlinien der Rassen verwischten. Umso schärfer jedoch wurden die
Unterscheidungen aufgrund der Hautfarbe und der Feinheiten der äußeren Merkmale als
Zeichen für die Art der Integration in die Gesellschaft. Das Fehlen einer segregativen
Gesetzgebung bei gleichzeitiger rassischer Diskriminierung wurde charakteristisch für die
Situation Brasiliens.

Zu Beginn dieses Kapitels soll ein Überblick über die sich verändernden Rassenbeziehungen
in Brasilien des 20. Jahrhunderts gegeben werden. Er liefert den Rahmen für das Verständnis
der Geschichte der brasilianischen Schwarzenbewegung zwischen Assimilierung und
Abgrenzung. Die gravierenden Veränderungen der wirtschaftlichen und politischen
Verhältnisse der letzten hundert Jahre haben sich auf die Lebenssituation aller Brasilianer
ausgewirkt, für die Afro-Brasilianer jedoch in besonderem Maße Bedeutung gehabt: vom
Sklaven zum freien Arbeiter und mündigen Bürger ist es ein langer Weg, dessen Ziel bis
heute nicht zufriedenstellend erreicht ist. Der Widerstand gegen die Ketten der Sklaverei
wurde abgelöst vom Kampf für eine gerechte Integration in die bürgerliche Gesellschaft.

Charakteristisch für die unterschiedlichen Formationen der brasilianischen


Schwarzenbewegung ist dabei das Schwanken zwischen Assimilierungs- und
Abgrenzungsbestrebungen – Tendenzen, die auch durch den gesellschaftlichen und

119
ideengeschichtlichen Rahmen geprägt werden. Zwei Phasen hat es im 20 Jahrhundert
gegeben, die starke politische Organisationen der Afro-Brasilianer hervorbracht haben, die
noch stark durch die Aufhellungs-Thesen beeinflusste Frente Negra Brasileira (Schwarze
Brasilianische Front) der 30er Jahre und die heute politisch stärkste Gruppe, der 1978
gegründete Movimento Negro Unificado (Vereinigte Schwarze Bewegung, abgekürzt: MNU).
Trotz der Unterschiede der beiden Bewegungen lassen sich wirtschaftliche und politische
Parallelen bei der Entstehung erkennen, während in den Phasen dazwischen die brasilianische
Schwarzenbewegung entweder politisch unterdrückt (Vargas, Militärdiktatur) oder sich in
einer Zeit der Restaurierung und Reflektion befand.

7.1 Die Nation wird aufgehellt

Parallel zur Diskussion um die Abschaffung der Sklaverei begann ein Prozess in Brasilien,
der als Ideologia do branqueamento, Ideologie der Weißwerdung, Teil der brasilianischen
Kultur wurde. Dahinter steht die Vorstellung, dass die allmähliche Aufhellung der
brasilianischen Bevölkerung Fortschritte für die Entwicklung der Nation bedeute, bzw. auf
individueller Ebene die Anpassung an das weiße Ideal sozialen Aufstieg ermögliche.
Ideengeschichtlicher Hintergrund dafür waren die aus Europa nach Brasilien dringenden
Rassentheorien und die evolutionistische Sichtweise der Entwicklung der Menschheit. Die
Theorie und Praxis der Aufhellung der brasilianischen Gesellschaft prägten den Aufbau der
Nation und das brasilianische Selbstverständnis - auch der Afro-Brasilianer.

Gegen Ende des letzten Jahrhunderts wurde die rassische Zusammensetzung Brasiliens immer
häufiger als maßgebend für die gesellschaftliche Situation des Landes gesehen. Die Elite
Brasiliens wurde dabei durch die in Europa entwickelten Rassentheorien beeinflusst, welche
die Überlegenheit der europäisch-arischen Völker wissenschaftlich zu belegen versuchten und
nur ihnen höhere Entwicklungsstufen der Zivilisation zutrauten. Während der Sklaverei
beschäftigte die Situation der Afrikaner und Afro-Brasilianer die gesellschaftlichen
Führungsgruppen im wesentlichen unter wirtschaftlichen Aspekten oder polizeilichen
Gesichtspunkten. Mit der Abolition wurden sie zum Rassenproblem, das der Elite als das
entscheidende Hindernis auf dem Weg zu einer europäisch geprägten Nation schien.

120
Um die „Entwicklung“ Brasiliens im historischen Prozess voranzutreiben, schien es daher
geeignet, die europäische Immigration zu fördern. Die Europäer sollten die Arbeitskraft
ersetzen, die durch die Abschaffung der Sklaverei entfallen war. Darüber hinaus würde die
Immigration den Aufhellungs-Prozess beschleunigen (Skidmore, 1976, S.40). Bereits 1866
wurde die erste Immigrationsorganisation gegründet. Ihr Gründer argumentierte unter
anderem, dass die weißen Arbeitskräfte produktiver als schwarze seien. Diese Vorstellung
wurde von vielen seiner Zeitgenossen geteilt (Hofbauer, 1995, S.123). Selbst Gegner der
Sklaverei, wie der Abolitionist Joaquim Nabuco, waren überzeugt von den positiven
Konsequenzen, welche die europäische Immigration mit sich bringe.

Zwischen 1871 und 1920 kamen über drei Millionen Europäer nach Brasilien vor allem
Italiener (60%), Portugiesen und Deutsche (Hofbauer, 1995, S.77). Manche Gesellschaften
übernahmen sogar die Reisekosten der Immigranten. Sie hatten einen anderen Start für das
Leben auf brasilianischer Erde, als die rund fünf Millionen Afrikaner, die als Sklaven in den
vorhergehenden drei Jahrhunderten hier angekommen waren. Die Immigration von Menschen
mit dunkler Haut wurde andererseits gezielt unterbunden: Zwei Jahre nach dem Goldenen
Gesetz verbot ein Dekret die Einreise von Afrikanern und Asiaten nach Brasilien.

Wie sich die Welle europäischer Immigration auf die Zusammensetzung der brasilianischen
Bevölkerung ausgewirkt hat, lässt sich auch mit Blick auf die Statistik nur schwer
interpretieren. Nach dem Zensus von 1940 ergab sich ein Bevölkerungsanteil von fast zwei
Dritteln (63,47%) weißen und nur einem Drittel dunkelhäutigen Brasilianern (21,20%
pardos, 14,64 % Schwarze). Statistisch bedeutete dies eine Verkehrung der Zusammensetzung
der Bevölkerung im Vergleich zum Zensus von 1874. Ob es jedoch tatsächlich zu einem
solchen Anstieg des hellhäutigen Bevölkerungsanteil während der vorhergehenden zwei
Generationen gekommen war, bleibt fraglich. Sicherlich spiegelt dieser Zensus auch die
Konsequenzen der Ideologie der Weißwerdung, die sich im Bestreben zeigen, als möglichst
hellhäutig eingestuft zu werden.

Die politischen und gesellschaftlichen Umstände des Estado Novo, wie das Regime des 1937
mit einem Staatsstreich an die Macht gekommenen Präsidenten Getúlio Vargas genannt
wurde, nährten und bedienten sich der Ideen Freyres zum Aufbau des Mythos der
Rassendemokratie. Getúlio Vargas ist als populistischer Führer eines aufstrebenden Staates,
des Estado Novo (1937-1945), in die Geschichte Brasiliens eingegangen. Während seiner

121
Amtszeit wurden eine Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen eingeführt - von
der Verstaatlichung von Schlüsselindustrien (Öl, Automobil) bis zu einer umfangreichen
Arbeitsgesetzgebung - die noch heute ihre Auswirkungen haben. Vargas ist es, der ganz
gezielt Elemente der bis dahin zumindest verpönten, größtenteils sogar verbotenen
„schwarzen“ Volkskultur rehabilitiert und zu nationalen Symbolen aufwertet. Das beste
Beispiel dafür ist der Samba, der in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zum zentralen Element
der Definition nationaler Identität wurde (Vianna, 1995, S.28). Die Samba-Schulen und der
Karneval, aber auch die bis dahin verbotene Capoeira wurden während der Vargaszeit
gesellschaftsfähig. In Bahia wurde der Sportschule Mestre Bimbas 1937 die offizielle
Anerkennung gewährt. Während eines Besuchs in Salvador in seiner zweiten Amtsperiode
1953 empfängt Präsident Vargas den bekannten Capoeirista Mestre Bimba und erhebt die
Capoeira zum einzigen wirklichen Nationalsport (Almeida, 1986, S.44)

Während einerseits also Teile der schwarzen Kultur zu nationalen Symbolen aufgebaut und in
die brasilianische Kultur inkorporiert werden, verteidigt das Vargas-Regime anderseits den
Mythos der Rassendemokratie gegen ihre Kritiker und setzt die Politik der Aufhellung fort.
1937 verbietet Vargas beispielsweise die erste größere Organisation der brasilianischen
Schwarzenbewegung, die Frente Negra Brasileira (Schwarze Brasilianische Front). Die
Immigrationspolitik bevorzugt nach wie vor die europäische Einwanderung, wie das Dekret
zur Immigration von 1945 zeigt, dass die Notwendigkeit in der ethnischen Komposition des
Landes die begünstigenden Charakteristiken seiner europäischen Herkunft zu
berücksichtigen.

7.2 Assimilierung zur Überwindung der Rassenschranken

Die Armut und Marginalisierung der schwarzen Bevölkerung hielt auch nach der
Abschaffung der Sklaverei an. Auf dem Arbeitsmarkt konkurrierten sie mit den europäischen
Migranten, deren Einwanderung von der hellhäutigen Elite gefördert wurde. Die Afro-
Brasilianer übernahmen die schweren körperlichen Arbeiten und hatten kaum Chancen, über
Bildung und Ausbildung Zugang zu besseren Tätigkeiten zu erhalten. Nur im öffentlichen
Sektor boten sich einige wenige Möglichkeiten. Die erste Industrialisierungsphase brachte
auch in Brasilien ein städtisches Proletariat hervor und führte zum Entstehen einer kleinen,
aber wachsenden Mittelklasse, zu der fast ausschließlich weiße Brasilianer gehörten. Da

122
Analphabeten vom Wahlrecht ausgeschlossen waren, blieb der Großteil der Afro-Brasilianer
ohne politische Repräsentation. Die marginale Position der Afro-Brasilianer wurde als
Bestätigung all der negativen Eigenschaften, wie Faulheit, Ignoranz, Dummheit, Unfähigkeit
gesehen, welche die Elite ihnen zuschrieb. Die Aufhellungs-Ideologie schien durch die
Umstände bestätigt zu werden.

Die ersten Jahre der Republik waren bewegt und immer wieder kam es zu Unruhen, wie der
Chiabata-Revolte66. Die Afro-Brasilianer waren zwar an einzelnen Konflikten beteiligt,
übernahmen dabei aber keine Führungspositionen. Die Arbeiterbewegung war von
europäischen Immigranten dominiert und beim häufiger rebellierenden Militär waren sie von
den gehobenen Positionen ausgeschlossen. Die Nachfahren der Sklaven bemühten sich um
Integration und fühlten sich als Brasilianer. „Wir haben nicht vor unsere Rasse zu erhalten,
sondern uns in den Busen der priviligierten weißen Rasse zu infiltrieren, ... weil ... wir sind
keine Afrikaner, sondern reine Brasilianer“ hieß es auf einem ihrer Flugblätter (zitiert nach
Andrews, 1998, S.213).

Die Katholischen Bruderschaften stellten auch zu Beginn dieses Jahrhunderts noch eine
wichtige Organisationsform von Schwarzen dar. Ihre Rolle begann sich jedoch langsam zu
verändern. Die Konflikte mit der Kirche wegen der zu besonderen Anlässen üblichen
öffentlichen Tänze hielten an. Aus einigen der Bruderschaften, das wurde bereits gesagt, sind
die verschiedenen von Afro-Brasilianern gemachten Karnevalsvereine hervorgegangen. Die
Mitglieder der Samba-Schulen kamen zum überwiegenden Teil aus der Arbeiterschaft.
Aufstiegsoriente Schwarze hielten sich von den Karnevalsgruppen und den Sambaschulen
fern, waren aber auch nicht in den sozialen Clubs und Tanzgesellschaften der hellhäutigen
Elite zugelassen. Sie gründeten ihre eigenen Clubs. Kosmos, Elite-, Smart-Club hießen die
Vereinigungen, deren Namen bereits die Selbsteinschätzung zeigen. Hier konstruierten sie
eine eigene Welt, in der sie nicht den Diskriminierungen der Weißen, aber auch nicht der
Nähe der breiten schwarzen Masse ausgesetzt waren. Bei diesen Gruppen handelte es sich um
eine Art von „Selbsthilfeorganisationen“, die dem Beispiel der Immigranten-Vereine folgend,
soziale Aktivitäten organisierten. Diese Gruppen verfolgten keine politischen Ziele, hatten
aber verschiedene positive, soziale Effekte. Nach Fernandes trugen sie dazu bei, das

66
Der als Revolta da Chiabata in die brasilianische Geschichte eingegangene Aufstand der Marine 1910 wurde
ausgelöst, durch die Weigerung einiger Marine-Soldaten weiterhin, wie zu Zeiten der Sklaverei, ausgepeitscht zu
werden.

123
Sozialbewusstsein durch gemeinsame Interessen zu stärken und die
Minderwertigkeitskomplexe zu reduzieren (Fernandes, 1978, S.230).

Viele dieser Gruppen gaben kleine Publikumszeitungen heraus. Diese Zeitungen spiegelten
Interessen und Sorgen der Afro-Brasilianer wider und geben Hinweise über die ökonomische
Basis67. Zeitungen wie „O Clarim da Alvorada“ oder „A Voz da Raça“ - offizielle Zeitung der
Frente Negra - beschäftigten sich ausführlich mit dem sozialen Aufstieg und wirtschaftlichen
Fortschritt der schwarzen Bevölkerung. In anderen Zeitungen standen soziale Aktivitäten wie
Feste und Bälle im Vordergrund. Die Sozial-Kolumnen schwarzer Zeitschriften zeigten
deutlich die Wichtigkeit dieser Ereignisse. Erwähnt wurden aber auch Erlebnisse rassischer
Diskriminierung, wie den Zugang zu Hotels verweigert bekommen oder nicht bedient zu
werden in Restaurants oder Friseurläden. Ein Thema, zu dem die Meinungen in den 20er
Jahren noch weit auseinander lagen und das häufig diskutiert wurde, war die Frage des
Zutritts von schwarzen Brasilianern zu den öffentlichen Parks und Plätzen. Nach Hofbauer
war die in den Zeitungen publizierte Einschätzung der eigenen Situation deutlich von der
branqueamento-These und den Einschätzungen der weißen Elite geprägt (Hofbauer, 1995,
S.199).

Gegen Ende der 20er Jahre war der Mythos der Rassendemokratie für viele Afro-Brasilianer
durch die Realität entschleiert. Der Wunsch nach gleichen Chancen und einem gerechten und
harmonischen Zusammenleben war jedoch stark zu spüren. 1927 wurde in São Paulo das
Centro Cívico Palmares gegründet, mit dem Ziel der schwarzen Gemeinde eine Bibliothek
zugänglich zu machen. Das Interesse an Biographien schwarzer Persönlichkeiten war deutlich
spürbar. Während Palmares und der Kampf der Palmarinos zu einem nationalen, ja
mythischen Freiheitssymbol wurde, distanzierte man sich von den gewalttätigen Revolten wie
der „Revolta dos Malês“. Anders als bei vergleichbaren Bewegungen in den USA war Afrika
kein Thema dieser Gruppierungen. Im Gegenteil: an Garveys Ideen zur Rückkehr nach Afrika
wurde Kritik geübt. Die Gruppierungen der 20er und 30er Jahre hoben den Beitrag der Afro-
Brasilianer am Aufbau der brasilianischen Gesellschaft hervor.

67
Über die schwarze Presse siehe Ferrara 1986.

124
7.3 Frente Negra Brasileira – die erste politische schwarze Vereinigung

Das Palmares-Zentrum entwickelte sich zu einem Treffpunkt von Afro-Brasilianern, wo


Fragen gemeinsamen Interesses diskutiert wurden. Zu ihnen gehörte auch Arlindo Veiga dos
Santos, ein Bahianer, der nach São Paulo gekommen war und dort als Sekretär für die
Rechtsfakultät arbeitete. Veiga dos Santos war Mitarbeiter der schwarzen Presse und eine der
herausragenden schwarzen Persönlichkeiten São Paulos in den 20er Jahren. 1931 gründete er
eine ausdrücklich politische Organisation, welche die Arbeit des Centro Cívico
vervollständigen sollte: die Frente Negra Brasileira, die Schwarze Brasilianische Front, kurz
FNB.

Sie war die erste schwarze Gruppe, die sich am Vorbild europäischer politischer
Organisationsstrukturen orientierte. In allen größeren Städten richtete sie Ortsgruppen ein und
ihre Mitglieder wiesen sich durch Mitgliedsausweise aus. Umgehend breitete sich die FNB
über den gesamten Staat São Paulo, das südliche Minas und Espírito Santo aus. Auch in Bahia
und Rio Grande do Sul gab es Vertretungen der FNB. Innerhalb kurzer Zeit wurde die FNB
zur ersten großen überregionalen Schwarzenbewegung des Landes mit rund 60.000 bis 70.000
Mitgliedern (nach Hofbauer, 1995) Der Erfolg der FNB steht in engem Zusammenhang mit
den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen der Alten Republik: Zum einen waren
Auswirkungen der wirtschaftlichen Depression für die Afro-Brasilianer besonders stark zu
spüren; zum anderen hatte das politische Klima dazu geführt, dass während der
vorhergehenden beiden Dekaden immer deutlicher nachgefragt wurde, mit welcher
Begründung das politische Sagen allein der weißen Elite überlassen war und die Integration
der Schwarzen in den politischen Prozess gefordert wurde.

Die Frente Negra Brasileira verstand sich als politische Interessenvertretung einer sozialen
Gruppe, stellte sich aber auch aktiv den sozialen Herausforderungen. Zu ihrem wichtigsten
Anliegen gehörte der Zugang für Afro-Brasilianer zu den Bildungsinstitutionen –
Voraussetzung einer besseren Integration in die Gesellschaft.
Die FNB bot Alphabetisierungskurse für Erwachsene an und richtete eine Schule ein. In der
FNB eigenen Klinik gab es medizinische und zahnmedizinische Behandlung zu günstigen
Preisen. Zu gesünderem und besserem Wohnen wurde später auch der Bau des eigenen
Hauses durch gegenseitige Hilfe und Kleinkredite zum Kauf stimuliert. Trotz des
ausgeprägten Engagements für die Mitmenschen dunkler Hautfarbe ist das Gesellschaftsbild

125
der FNB durch die herrschenden weißen Vorstellungen und die Aufhellungs-Ideologie
geprägt, was sich insbesondere im Tenor der Mitglieder-Zeitschrift verfolgen lässt.

Die Zeitschrift „A Voz da Raça“ zirkulierte ab 1933 landesweit. In ihrer Zeitschrift wird
deutlich, dass die Imitation weißer Kultur und die Distanzierung von als typisch schwarz
geltenden Traditionen zwei Seiten einer Medaille sind. Insbesondere wurde auf die
verderblichen Einflüsse des Samba, der Trommeleien und des Zuckerrohrschnapses
hingewiesen. Auch die ästhetischen Vorstellungen orientierten sich am Vorbild der
kultivierten weißen Mode, mit nicht zu kurzen Röcken und geglättetem Haar. Man bemühte
sich, dem weißen Ideal ähnlich zu werden, um die angeborenen Hindernisse zu überwinden -
eine Denkweise, die bereits existierende Minderwertigkeitsgefühle sicherlich verstärkte.
Dahinter stand die Vorstellung, dass erst nach Durchlaufen eines soziokulturellen
Anpassungsprozesses eine zufriedenstellende Integration der Afro-Brasilianer in die
Gesellschaft möglich sei. (Hofbauer, 1995)

Im Laufe ihrer Existenz konnte die FNB allerdings nur wenig konkreten politischen Druck
ausüben. 1933 ließ sich Arlindo Veiga dos Santos, dessen autoritärer Führungsstil der
Organisation ihren Stempel aufsetzte, für die Abgeordneten Versammlung aufstellen – mit
wenig Erfolg. Ab 1936 wurde die Frente Negra Brasileira sogar zur politischen Partei.
Erfolglos bei Wahlen, blieb die FNB eher als Lobby tätig - mit streng nationalistischem
Unterton. Der in den 30er Jahren aufgekommene Nationalismus in ganz Brasilien richtete sich
vor allem gegen die armen europäischen Einwanderer. Auch die FNB bezog Stellung gegen
die weitere Immigration von Ausländern nach Brasilien, die ja mit den Afro-Brasilianern auf
dem Arbeitsmarkt in direkter Konkurrenz standen (Andrews, 1998). In weiten Kreisen der
brasilianischen Gesellschaft herrschte die Auffassung, dass diese Immigranten über ebenso
wenig Bildung und Niveau verfügten, wie das eigene gemischtrassige Volk, aber zudem noch
politisch radikaler waren.

Mit der Machtergreifung Getúlio Vargas 1937 endete eine Phase aktiver politischer
Mobilisierung. Die schwarzen Organisationen verschwanden zwar nicht komplett, standen
von nun aber unter anderen Vorzeichen. Die politischen Organisationen wie die FNB wurden
verboten und aufgelöst, die Tanz- und sozialen Clubs blieben bestehen. Teile der schwarzen
Kultur wurden von Vargas massiv unterstützt, insbesondere die Samba-Schulen (Vianna,
1995). Die kleine schwarze Mittelklasse, welche die wirtschaftliche Entwicklung

126
hervorgebracht hatte, zeigte kein Interesse an eigener politischer Organisation, sondern allein
an den Aufstiegsmöglichkeiten, die sich durch den wirtschaftlichen Fortschritt boten. Auch
unter Vargas bleibt die Aufhellungs-Ideologie en vogue wie ein Dekret von 1945 zur
Immigration zeigt. Darin wird die Notwendigkeit die europäische Herkunft in der ethnischen
Zusammensetzung Brasiliens zu erhalten und entwickeln (Hofbauer,1995).

7.4 Kurze Blüte zwischen zwei Diktaturen: Schwarzes Theater

Mit dem Ende der Vargas-Diktatur 1945 kam es zu einer Welle von Versuchen die schwarze
Bewegung der 30er Jahre wiederherzustellen. So lebte die 1937 ausgelöschte schwarze Presse
in São Paulo wieder auf, wurde 1944 in Rio de Janeiro das Teatro Experimental do Negro
gegründet. Diese und andere schwarze Organisationen waren nicht direkt an der Politik
beteiligt, sondern befassten sich mit sozialen, kulturellen und edukativen Fragen. Die Aufgabe
künstlerisch-politischer Aktivität wurde darin gesehen, das kulturelle Niveau der Schwarzen
anzuheben und langsam gesellschaftliche Veränderungen hervorzurufen. (Hanchard, 1994)

Der Gründer des Teatro Experimental do Negro Abdias do Nascimento ist sicher eine der
auffälligsten Persönlichkeiten der brasilianischen Schwarzenbewegung68. Bis heute ist der
inzwischen über 80jährige als Künstler und Militant aktiv. Er war bereits eine der führenden
Persönlichkeiten der 1937 verbotenen Frente Negra Brasileira. Während der Militärdiktatur
musste Abdias do Nascimento ins Exil gehen, was sich stark auf seinen Diskurs auswirkte. Er
emigrierte in die USA, später nach Nigeria, wo er an verschiedenen Universitäten lehrte.
Nach seiner Rückkehr befasste er sich ausschließlich mit der Frage der brasilianischen
Schwarzen und ging aktiv in die Politik. 1983 wurde er als Abgeordneter der PDT („Partido
Democrático Trabalhista“) ins Parlament gewählt. 1990 wurde er als einer der ersten Afro-
Brasilianer in den Senat gewählt. Dort brachte er einen Gesetzesvorschlag zu einer
Quotenregelung für Afro-Brasilianer ein.

Vier Jahre nach Gründung des Theaters, lancierte Abdias de Nascimento die Zeitschrift
Quilombo, in der er seine Überlegungen zum Rassismus darlegte. Rassismus sei eine Art

68
Als ich mit Abdias do Nascimento im Jahr 1987 ein Interview machte, war er kurz zuvor aus den USA
zurückgekehrt. Ich interssierte mich bereits für Rassenproblematik, aber mir war zum Zeitpunkt des Interviews
nicht wirklich bewusst, wer mir gegenübersaß. Aus dem Gespräch in seiner Wohnung ging ich sehr beeindruckt
hinaus.

127
psychischer Defekt, der sich in klimatisch-geografisch ungünstigen Räumen entwickelt habe
„psicoracismo“. Die Weißen fühlten sich kulturell unterlegen, da den Theorien Cheikh Anta
Diops69 folgend, der Ursprung westlicher Zivilisation in Afrika liege und auch Christus
dunkle Haut habe. Auch der schwarze Widerstand sei eine Art psychologisches Phänomen,
das allen afro-brasilianischen kulturellen, religiösen und politischen Formen inne wohne und
am authentischsten im Quilombo anzutreffen sei.

Mit seinem „O Quilombismo“ legte er 1980 ein globales Konzept vor, dessen Ausgangspunkt
und Ziel eine Quilombo-Gesellschaft nach dem Beispiel Palmares war. Die politische
Bewegung der brasilianischen Schwarzen solle eine freie, gerechte und egalitäre Gesellschaft
anstreben, deren Wirtschaft auf kommunitären Prinzipien aufbaue. „ Die Republik von
Palmares war der erste und einzige Versuch in der brasilianischen Geschichte, echte Freiheit,
ethnische Harmonie und wirtschaftliche Gleichberechtigung zu verwirklichen“ (Nascimento,
1983, S.42f nach Hofbauer, 1995, S.206). Zumbi sei der Begründer des historisch-kulturellen
quilombismo-Begriff, der aus dem historisch-kulturellen Entwicklungsprozess gewachsen sei.
Die Idee des Quilombismo sei von den verschiedenen schwarzen Aufständigen und
Freiheitskämpfer wie den Males, Luís Gama, oder Chico Rei fortgesetzt worden. Für Abdias
do Nascimento sind alle afro-brasilianischen Vereinigungen und Praktiken wie Candomblé,
Capoeira, Bruderschaften, Musik- und Tanzgruppen etc. Ausdruck des Quilombismo.
Quilombos seien in den verschiedenen Ausprägungen in allen Kulturen der afrikanischen
Diaspora präsent, wie die marrons in Jamaika, die cimarrones in Cuba etc. Das
Wirtschaftssystem im Quilombo sei die Anpassung der Ujamaa70, der afrikanischen Form des
Sozialismus, an die brasilianischen Verhältnisse. Für alle Schwarzen in der Diaspora fordert
er den Aufbau einer pan-afrikanischen Kultur. In einem 16 Punkte-Programm71 legt er seine
Vorstellungen zu Arbeit, Familie, Bildung und Kultur dar (Nascimento, 1980, S.275ff)

Viele weiße Brasilianer reagierten auf diese Ideen mit Abwehr. Dahinter stand die Angst, dass
der weiße Rassismus durch einen schwarzen Rassismus ersetzt würde. Bis heute ist die Angst
vor einem Gegen-Rassismus in Diskussionen mit hellhäutigen Brasilianern zu spüren. Die
Mobilisierung der Afro-Brasilianer beunruhigt die Mehrzahl der Weißen in zweierlei
Hinsicht: Erstens, wird dadurch vor Augen geführt, dass Brasilien keine Rassendemokratie
69
Auf den afrikanischen Wissenschaftler Cheikh Anta Diop beziehen sich auch die Mitglieder Olodums um die
These zu untermauern, daß der Pharaoh Tut-ench-Amun dunkelhäutig sei.
70
Ujamaa heißen die traditionellen ländlichen Organisationsformen, die im sozialistischen Tansania von
Präsident Nyerere in den 60er/70er Jahren verbeitet wurden.
71
Arbeit (Recht und Pflicht), Kind (Mutterschutz bis Kinderkrippe), freie Schulbildung (Geschichte Afrikas, afro-brasilianische Uni),
Religionsfreiheit, kreative Gesellschaft, keine Bürokratie, Beteiligung von Frauen

128
ist, wie es vorgibt und zweitens ist den weißen Brasilianern bewusst, dass sie an der Spitze
einer durch Armut und Rassismus spannungsgeladenen Gesellschaft stehen. Den schwarzen
Brasilianern ist im allgemeinen diese Angst der Weißen bewusst. Sie reagieren darauf, indem
sie Dinge vermeiden, die zu einer Verstärkung dieses Bildes führen.

Die weitere Industrialisierung und das wirtschaftliche Wachstum Brasiliens wirken sich auch
auf die sozialen Beziehungen aus. Ganz langsam, verhältnismäßig in viel geringerem
Ausmaß, steigt das Bildungsniveau auch der Afro-Brasilianer. Die Offenheit der politischen
Institutionen wie Gewerkschaften und Volksparteien gegenüber der Rassenthematik nimmt in
den 50er Jahren langsam zu. Erstmalig ab Mitte der 50er Jahre übernehmen einzelne
Schwarze Führungspositionen in den Gewerkschaften - eine Tendenz, die in den 60er und
70er Jahren noch verstärkt wird. Die weiße Mittelschicht beäugt dies mit Ablehnung, während
die Arbeiterschicht den schwarzen Kollegen mit offenen Armen gegenüber steht. An einer
politischen afro-brasilianischen Bewegung gibt es kein Interesse.

Zu den wichtigsten politisch-sozialen Organisationen der Afro-Brasilianer in der 50er Jahren


gehörten die Frente Negra Trabalhista (1948), União Nacional dos Homens de Cor (1949),
Conselho Nacional das Mulheres Negras (1950).

1951 wird ein Gesetz verabschiedet, dass erstmalig in der brasilianischen Geschichte
rassische Diskriminierung verbietet Das Gesetz Lei Afonso Arinos verbietet die
Diskriminierung von Rasse, Hautfarbe und Religion. Der Auslöser dafür war, die
Diskriminierung der dunkelhäutigen us-amerikanischen Tänzerin Katherin Dunham, welcher
der Zugang zu ihrem Hotel in São Paulo verweigert worden war (Hasenbalg, 1979, S.224) In
der Praxis hatte das Gesetz zunächst leider nur wenig Auswirkungen, es wurde jahrelang
keine einzige Verurteilung bekannt.

Als die Militärs 1964 die Regierung des Präsidenten João Goulart stürzen, herrscht seitens der
Mittel- und Oberschicht Erleichterung. Das ab 1968 einsetzende Wirtschaftswachstum, das
als „Brasilianisches Wunder“ (milagre brasileira) in die Geschichte eingegangen ist, bringt
insbesondere den Angestellten und Beamten wirtschaftliche Verbesserungen.

Obwohl Brasilien 1965 die von der Vollversammlung der Vereinten Nationen beschlossene
Internationale Konvention zur Eliminierung aller Formen von Rassendiskriminierung

129
unterzeichnet, wird das Thema Rassismus zum absoluten Tabu72. 1969 verbietet Regierung
General Médicis die Verbreitung von Nachrichten über Indianer, Todes-Schwadrone,
Guerilla, schwarze Bewegung und rassische Diskriminierung. Jegliche politische Opposition
wird unterdrückt und führende Persönlichkeiten der Schwarzenbewegung und die
Intellektuellen, die sich mit Rassismus beschäftigen, sind gezwungen das Land zu verlassen.

Das brasilianische Wirtschaftswunder (1968-1974) begünstigt die Mehrzahl der Afro-


Brasilianern nur in relativ geringem Ausmaß. Außerdem schienen die Ungleichheiten
zwischen hellen und dunklen Brasilianern immer größer zu werden, je mehr sich die Afro-
Brasilianer beruflich und bildungsmäßig verbesserten. Ab Mitte der 70er Jahre wurden immer
mehr Schwarzen mit höherem Bildungs- und Berufsniveau bewusst, welche Barrieren sich
ihnen in den Weg stellten, um ihren gerechten Anteil am Wirtschaftswachstum zu erhalten.

7.5 Movimento Negro Unificado –Vereinte Schwarzen Bewegung

Erst als der Druck der Militärregierung etwas nachließ, die politische Öffnung des Landes
eingeleitet wurde, kommt es zur Gründung einer neuen politischen schwarzen Kraft. Die
bereits seit 1975 in Gang gekommene Re-Artikulierung der Schwarzenbewegung mündet in
der Gründung des Movimento Negro Unificado Contra a Discriminaçao Racial, („Vereinigte
Schwarze Bewegung gegen rassische Diskriminierung“), später nur noch Movimento Negro
Unificado, MNU, genannt. Am 7.7. 1978 trafen sich Vertreter verschiedener schwarzer
Gruppierungen auf den Stufen des Teatro Municipal in Sao Paulo und riefe das MNU ins
Leben. In der Mehrzahl waren es junge Afro-Brasilianer, die besser ausgebildet, politisch
bewusster und unzufrieden mit ihrer Situation als Schwarze in einer rassisch stratifizierten
Gesellschaft sind. Die Nachrichten über die internationale Schwarzenbewegung, insbesondere
die Befreiungsbestrebungen in den portugiesischen Kolonien Afrikas und die
Bürgerrechtsbewegungen in den USA motivierten sie. Schon nach kurzer Zeit hat das MNU
regionale Vertretungen in Rio de Janeiro, Minas Gerais und Rio Grande do Sul, in Goiás und
Brasília, sowie Pernambuco und Bahia und wird damit nach der Frente Negra die zweite
überregionale Schwarzenbewegung des Landes.

72
So wurden zum Beispiel auch die Daten über Rasse des Zensus von 1960 nicht veröffentlicht und im darauffolgenden Zensus 1970 nicht
erhoben.

130
Das MNU unterscheidet sich deutlich von den Gruppierungen der 30er Jahre. Es geht nicht
mehr darum, um jeden Preis assimiliert zu werden, sondern im Gegenteil wird immer mehr
Wert auf Abgrenzungen und die schwarzen Eigenheiten gelegt. Dabei wurden die Afro-
Brasilianer des MNU beeinflusst von den schwarzen Strömungen aus den USA und der
Karibik, aber auch durch afrikanische Einflüsse. Dies zeigte sich beispielsweise in einer
neuen Ästhetik: Haare sollen nicht mehr geglättet werden, als chic galt unter MNU-
Anhängern der Afrolook nach dem Vorbild Angela Davis´ oder die strenge Brille Malcom X.

Dem Vorurteil der vermeintlichen Rückständigkeit schwarzer Kultur wurde der Stolz auf eine
Kultur des Widerstands gegen Jahrhunderte der Unterdrückung entgegengesetzt. Es begann
die Aufarbeitung und Neubewertung der Geschichte. Die Aufstände und Revolten der
Sklaven und ihrer Nachfahren wurden mit typisch okzidentalen Idealen von Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit, Demokratie, Fortschritt assoziiert. Das
Zusammengehörigkeitsgefühl sollte geweckt werden. Die Suche nach der reinen schwarzen
Kultur73 begann, synkretistische Formen wie beispielsweise Umbanda oder die Congadas
wurden abgelehnt.

Im Zentrum des Interesses der neuen Schwarzenbewegung standen die Quilombos von
Palmares als Beispiel effizienten Widerstands. Das MNU fordert den Todestag Zumbis, 20.
November, als Gedenktag einzuführen und protestiert gegen den 13. Mai als offiziellen Tag
der Abolition. „Wir ... sind stolz darauf von Zumbi ... abzustammen.... und fordern den
Todestag des großen nationalen Anführers Zumbi, der für den ersten und einzigen Versuch, in
Brasilien eine demokratische bzw. freie Gesellschaft aufzubauen, verantwortlich war, in der
für alle – Schwarze, Indios, Weiße – ein großer politischer und sozialer Fortschritt erreicht
wurde ...“ hieß es im Dokument der zweiten Nationalversammlung des MNU 1979 in
Salvador. Die Ablehnung des 13. Mai war eine vor allem von Intellektuellen eingenommene
Haltung, denn für viele Teile der Volkskultur blieb der 13. Mai weiterhin ein Tag besonderer
Bedeutung als Festtag der pretos velhos oder für Congada-Treffen.

Ausgangspunkt für die Gründung des MNU waren die kulturellen Gruppen der 50er und 70er
Jahre gewesen. Anders als bei ihnen stand die politische Orientierung jedoch ausdrücklich im
Vordergrund. Ziel war es, der Masse der Afro-Brasilianer rassische Diskriminierung und
Ungleichheit bewusst zu machen und zu Widerstand zu mobilisieren. Das MNU hoffte auf die

73
Im Candomblé ist diese Suche nach dem Ursprünglichen unter dem Begriff „Pureza nagô“ in die anthropologische Forschung
eingegangen.

131
Regierung und politischen Parteien Druck ausüben zu können, damit diese Politiken
verfolgten, die zur Verbesserung der Situation der Schwarzen beitragen würden.
Die Basis des MNU sah den Rassismus zunächst als unabänderliche Folge des Kapitalismus.
Zum Erreichen einer neuen Gesellschaftsordnung mit einer wahrhaften und gerechten
Teilnahme müsse also das kapitalistische System durch den Sozialismus abgelöst werden.
Diese Haltung wirkte ebenso abschreckend auf viele politisch weniger radikale Afro-
Brasilianer, wie die Diskussion darum, ob allein die dunkle Hautfarbe mit schwarzer Kultur
gleichgesetzt werden könne und zum Beispiel schwarze Brasilianer auch für hellhäutige
Kandidaten stimmen könnten.

Das Erstarken der Schwarzenbewegung führte dazu, dass alle Oppositionsparteien Interesse
an Fragen der rassischen Diskriminierung und Ungleichheit entwickelten und in ihre
Programme aufnahmen. Politisch mussten die dunkelhäutigen Kandidaten in allen Parteien
Niederlagen hinnehmen. Die afro-brasilianischen Kandidaten erhielten nur wenig Stimmen,
weder von schwarzen, noch von weißen Brasilianer, wenn überhaupt dann eher von
Schwarzen mit höherem Bildungsniveau (Valente, 1982). Diese führte zu Reflexionen
darüber, ob eine unabhängige Schwarzenbewegung sinnvoll oder die Rassenproblematik in
den Parteien bereits gut aufgehoben sei.

Die politische Schwarzenbewegung wurde im wesentlichen nur von der afro-brasilianischen


Mittelschicht unterstützt. Die breite Masse zeigte an der Bewegung kein Interesse. Für die
armen Schwarzen schien die rassische Diskriminierung angesichts der Armut, in der die
meisten lebten, nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Dabei ist ihnen die Diskriminierung
wohl bewusst. Die brasilianische Rassenideologie liefert zudem ausreichend Motive, ein
Problem zu ignorieren, das sich nur selten offen stellt.
Afro-brasilianische Kandidaten, welche die Rassenproblematik in den Vordergrund stellen,
hatten bislang nur wenig Chancen gewählt zu werden. Als geschickter hat es sich erwiesen,
die Rassenfrage in eine umfassende soziale Basis zu integrieren. Nach den Erfahrungen der
ersten Jahre beginnt die Schwarzenbewegung vermehrt Allianzen zu schließen, beispielsweise
mit Teilen der Kirche und Sozialwissenschaftlern, die sich wieder des Themas Rassismus
annehmen.

Vier Faktoren waren es nach Andrews, die das Erstarken der Schwarzenbewegung ab Ende
der 70er Jahre begünstigt haben: Erstens, der steigende Frust der schwarzen Mittelklasse

132
angesichts der rassischen Barrieren, die ihren Fortschritt verhinderten; zweitens, die
zunehmende Einsicht, dass eine rein kulturelle Annäherung das Rassenproblem lösen könne;
drittens, die konkreten Beispiele der Schwarzenbewegungen im Ausland; viertens, die
allgemeine Mobilisierung und Organisation der brasilianischen Gesellschaft als Folge der
politischen Öffnung (Andrews, 1998, S.301).

Gemeinsam ist den Aktivisten der Schwarzenbewegung eine gewisse schwarze Symbolik und
der Zugang zur Rassismus-Problematik. Zumbi und Palmares sind zu ethnischen Symbolen
der Afro-Brasilianer geworden. Das typische Profil der meisten Aktiven der
Schwarzenbewegung ist der Intellektuelle, der beim sozialen Aufstieg behindert wurde und
spürt, dass selbst perfekte Anpassung an die Normen der weißen Gesellschaft nicht
ausreichen (Souza, 1991). Daher wurde in Brasilien die Redewendung „Torna-se negro“
geprägt, „Schwarzer werden“. Der Afro-Brasilianer wird in der Regel nicht „schwarz“
geboren, sondern entwickelt erst dann eine schwarze Identität, wenn er sich bestimmter
Unterdrückungsmechanismen bewusst wird. Die Überwindung der Rassenvorurteile ist
besonders schwierig in einem Kontext, der deren Existenz negiert, aber sie beständig
reproduziert.
Anders als die früheren Gruppierungen der Schwarzenbewegung hinterfragen die schwarzen
Aktivisten heute die gegebenen sozialen Verhältnisse. Gesellschaftliche Strukturen, welche
die afro-brasilianische Bevölkerung benachteiligen, werden offengelegt und reklamiert. Dabei
haben die unterschiedlichen politischen Ansätze seit Mitte der 80er Jahre zur Schwächung des
MNU als wichtigster politischer Organisation geführt.

Noch bevor die politische Vertretung der Schwarzenbewegung, das MNU, in São Paulo
gegründet wurde, finden sich im fast 2000 Kilometer entfernten Bahia schwarze Jugendliche
zusammen, um in einer Karnevalsgruppe mit dem afrikanischen Namen Ilê Aiyê am Karneval
teilzunehmen und so gegen die rassische Diskriminierung zu protestieren. Der Karneval
liefert den Freiraum für diesen Protest während der Militärdiktatur (s. dazu auch Kapitel 6,
das sich mit dem Thema Karneval und seiner besonderen Bedeutung für die Afro-Brasilianer
beschäftigt)74.

74
Mehr noch als der Karneval bietet die afrobrasilianische Religion Candomblé Raum für kulturelles Widerstandspotential . 1976 ist Bahia
ist der erste Bundesstaat, der die polizeilich Registrierung der afro-brasilianischen Kultstätten streicht.

133
8. „Racismo Cordial75“ - der höfliche Rassismus Brasiliens

„Zum größten Erstaunen wird man nun gewahr, dass alle diese schon durch die Farbe
sichtbar von einander abgezeichneten Rassen in vollster Eintracht miteinander leben ... Was
in anderen Ländern nur auf Papier und Pergament theoretisch festgelegt ist, die absolute
staatsbürgerliche Gleichheit im öffentlichen wie im privaten Leben, wirkt sich hier sichtbar
im realen Raum aus, in der Schule, in den Ämtern, in den Kirchen, in den Berufen und beim
Militär, an den Universitäten, an den Lehrkanzeln: es ist rührend, schon die Kinder, die alle
Schattierungen der menschlichen Hautfarbe abwandeln - Schokolade, Milch und Kaffee -
Arm in Arm von der Schule kommen zu sehen, und dieses körperliche wie seelische
Verbunden sein reicht empor bis in die höchsten Stufen, in die Akademien und Staatsämter.
Es gibt keine Farbgrenzen, keine hochmütigen Schichtungen, und nichts ist für die
Selbstverständlichkeit dieses Nebeneinanders charakteristischer als das Fehlen jedes
herabsetzenden Wortes in der Sprache“, schreibt Stefan Zweig (Zweig, 1984, S. 13f.).

Wie mit keinem anderen Land verbindet sich mit Brasilien die Vorstellung von Menschen mit
den verschiedensten Hautfarben, die harmonisch im fünftgrößten Land der Erde
zusammenleben. So ähnlich, wie es Zweig in seinem Buch „Brasilien - Land der Zukunft“ vor
rund 60 Jahren schwärmerisch beschrieben hat76. Doch die Realität sieht anders aus. Die
Vorstellung des Rassenparadieses ist dem zunehmenden Bewußtsein gewichen, daß es in
Brasilien zwar zu einer starken Durchmischung der Bevölkerung seit der Kolonialzeit
gekommen ist, daß aber dennoch die rassische Diskriminierung der Afro-Brasilianer
Bestandteil der Geschichte und Gegenwart des Landes ist. Erst seit dem Entstehen einer
neuen Schwarzenbewegung in den 70er Jahren findet eine öffentliche Debatte über den
brasilianischen Rassismus statt.

In der Einleitung wurde es bereits gesagt: Ca. 45% der rund 170 Millionen Brasilianer sind
dunkler Hautfarbe. Knapp 6% davon (ca. 10,5 Mio) werden unter der Bezeichnung „schwarz“
(„preta“ 77) erfaßt, fast 39% in der Kategorie „dunkel“ („parda“), (ca. 66 Mio). Etwas mehr
als die Hälfte (rund 90,7 Mio) der Brasilianer hat laut Statistik eine weiße Haut. Der Anteil

75
Unter dem Titel Racismo Cordial hat die renommierte Tageszeitung Folha de São Paulo 1995 eine Untersuchung über Rassenvorurteile
veröffentlicht, auf die ich mich in diesem Kapitel noch mehrfach beziehe.
76
Zu den Interpretationen bezüglich der Entstehung des Brasilian-Buches von Zweig siehe unter 2.2 in diesem Kapitel, (Drekonja-Kornat,
1998)
77
Ich benutze weiterhin die Ausdrücke schwarz oder Afro-Brasilianer, wie anfänglich definiert. Sie umfassen die statistischen Kategorien
preto und pardo. Die Kategorien aus dem Zensus und der Erhebung benutze ich teilweise im portugiesischen Original - zum einen, weil wir
im Deutschen nicht über so viele Bezeichnungen verfügen und zum anderen, um sie von den bereits definierten Bezeichnungen zu
unterscheiden.

134
der Menschen asiatischer Herkunft liegt bei rund 0,5 Prozent (0,9 Mio), die indianische
Bevölkerung bei ca 0,4% (0,7 Mio Menschen) (www.ibge.gov.br , 18.03.2003). Die Afro-
Brasilianer sind also keine Minderheit. Im Vergleich ist ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung
des Landes viermal so hoch, wie jener der African Americans in den USA (Skidmore, 1992).
In 18 der 27 Teilstaaten stellen die Afro-Brasilianer die Bevölkerungsmehrheit. Der
Bundesstaat Bahia hat vor Maranhão und Rio de Janeiro, den größten Anteil afro-
brasilianischer Bevölkerung, knapp 80% (www.ibge.gov.br, 24.04.2003).

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Situation der Afro-Brasilianer in der brasilianischen
Gesellschaft. Dazu werden die Daten zur wirtschaftlichen und sozialen Situation der Afro-
Brasilianer vorgestellt. Vorab aber sollen die besonderen Schwierigkeiten der statistischen
Datenerhebung und Interpretation in Brasilien diskutiert werden. Anschließend wird die
Besonderheit des sich oftmals versteckt präsentierenden brasilianischen Rassismus
darzustellen versucht.

8.1 „Lass Deine Farbe nicht unbemerkt durchgehen –


Schwierigkeiten bei der Statistik

Nach der Statistik ist Brasilien auf den ersten Blick ein Land mit zwei großen
Bevölkerungsgruppen: den weißen und den dunkelhäutigen Brasilianern. Aber was in Zahlen
gepackt so einfach aussieht, versteckt eine komplexe Realität. Denn schon bei der
Quantifizierung der Zusammensetzung der Bevölkerung tritt eines der grundlegenden
Probleme der Rassenbeziehungen zutage: Wer ist in Brasilien weiß, wer ist dunkelhäutig? Die
Antwort auf diese Frage findet nicht nur auf einer persönlichen Ebene statt und berührt die
eigene Identität, sondern hat auch politische Implikationen.

Die Liste ist lang: Von „Richtung kastanienfarben“ („acastanhada“) insgesamt vier
Kombinationen, über fünf Varianten „gelb“(„amarela“), zwei „Blau“töne („azul“), und 14
Schattierungen „weiß“ („branca“ ) - von „sehr weiß“ („bem-branca“) über„blass-weiß“
(„branca-pálida“), und „schmutzig-weiß“(„branca-suja“) - kommen wir zu „Kaffee“
(„café“) und Kaffee mit Milch („café com leite“), bzw. „Zimt“ („canela“) und „Schokolade“
(„chocolate“). „Dunkel“ („escura“), „galizisch“ („galega“), „orange“ („laranja“), „lila“
(„lilás“), „blond“ („loira“), über die Zwischentöne „halb-weiß“ („meio-branca“), „halb-

135
gelb“ („meio-amarela“), „halb-braun“ “meio-morena“), oder „halb-schwarz“ („meio-preta“
kommen wir zur meist gewählten Bezeichnung „morena“, für die es im Deutschen keine
treffende Übersetzung gibt. Wir behelfen uns mit der Bezeichnung „braun“, womit ein großes
Spektrum von Hautnuancen bezeichnet werden soll, die dunkler als die mitteleuropäische aber
heller als die dunkle Haut der Afrikaner ist. Die befragten Brasilianer differenzierten, indem
sie der Bezeichnung „morena“ noch ein weiteres Attribut zufügten: „gebräunt“ („morena-
bronzeada“), „zimten“ (morena-canelada), „dunkel“ („morena-escura“) etc. Weiter im
Alphabet geht es mit mulattin-farben („mulata“), Neger-farben („negra“) und
„schwarz“(„preta“). Wie stellen wir uns jemanden vor, dessen Hautfarbe „ein bisschen hell“,
(„pouco-clara“), oder „ein bisschen braun“ („pouco-morena“), bzw. „Richtung weiß“
(„puxa-para-branca“) oder „fast neger-farben“ („quase-negra“), ist. Es folgen vier
Varianten der Kategorie „gebräunt“ („queimada-de-praia“) oder („-de-sol“), „vom Strand“
oder „der Sonne“, bis zu drei „Rosa“-Tönen . „Rothaarig“,(„ruiva“), oder „russisch“
(„russo“) „getoastet“ („tostada“) und „weizen-farben“ („trigo“), bis zu „trüb“ („turvo“),
„grün“ ( „verde“), und „rot“ („vermelha“.
143 Bezeichnungen für die eigene Hautfarbe fanden die von der Nationalen
Haushaltserhebung (PNAD) 78 1998 befragten Brasilianer, als es darum ging ihre Hautfarbe
zu beschreiben - eine verwirrende Vielfalt von Ausdrücken, die zumindest eines deutlich
zeigen: die Abgrenzung ist diffus, die Identitätsfrage komplex. Wer ist in Brasilien „weiß“
oder „schwarz“, „gelb“ oder „rot“, „Mestize79“ oder „Mulatte80“? Wie kommt es zu dieser
Begriffsvielfalt? Welche Werte spiegeln sich darin?

Beim staatlichen Statistik-Institut IBGE werden fünf Kategorien verwendet: schwarz (preto),
dunkel (pardo), gelb (amarelo), weiß (branco), indianisch (indígena). Nicht eines der
wichtigsten fünf staatlichen Forschungsinstitute benutzt den Begriff „negro“. Einige Nicht-
Regierungsorganisationen nutzen die Bezeichnung „negro“ für die Gruppe aus „pretos“ und
„pardos“, wie zum Beispiel das IPEA (Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada) und das
IUPERJ (Instituto de Pesquisas do Rio de Janeiro), die selbst keine Erhebungen vornehmen,
aber Daten des IBGE und anderer Institute interpretieren (Folha de São Paulo, 22.10.2001,

78
Die Pesquisa Nacional por Amostra de Domicílios (PNAD) sind repräsentative Haushaltserhebungen des staatlichen Statistikinstituts
Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE), die grundlegende Daten zur sozio-ökonomischen Situation der Brasilianer mit
Berücksichtigung der Hautfarbe lieferte. Bis heute beziehen sich brasilianische Wissenschaftler auf die damals erhobenen Daten, z.B. do
Valle Silva, 1996.
79
Im Deutschen bezeichnet Mestize die Nachfahren von Weißen und Indianern. Das brasilianische mestiço kann wörtlich als Mischling
übersetzt werden. Im Speziellen bezieht es sich auf die Mischlinge weißer und schwarzer Eltern.
80
Mulatte wird im deutschen Sprachgebrauch benutzt zur Bezeichnung der Nachkommen von afrikanischen und europäischen Vorfahren. Im
Deutschen ist der Begriff weniger negativ besetzt als der Ausdruck Neger. In Brasilien dagegen weckt die Bezeichnung stark negative
Assoziationen: Der Begriff ist eine Ableitung des Worts mula, Maultier. Dennoch ist zum Beispiel in Rio de Janeiro mulata ein feststehender
Ausdruck für Frauen, die Samba-Shows, meistens für Touristen, machen, „trabalhar como mulata“, „als Mulattin arbeiten“.

136
Especial1). Im folgenden Text werden also entweder die Originalbezeichnungen oder aber die
zuvor definierten Ausdrücke Afro-Brasilianer, Schwarze, schwarz, dunkelhäutig verwendet.

8.1.1 Geschichte des Zensus

Die Schwierigkeit den Anteil der afro-brasilianischen Bevölkerung zu quantifizieren hat in


Brasilien Geschichte. Mal wurde die Eigenschaft Hautfarbe in den Volkszählungen erfasst,
mal nicht. Es wechselten die zur Verfügung stehenden Bezeichnungen und die
Erhebungsmethode. Zum ersten Mal wurde im Zensus von 1872 die Bevölkerung eingeteilt in
die Kategorien weiß (branco), schwarz (preto)“, dunkel (pardo) und „caboclo“. Caboclo
bezeichnete damals die indianische Bevölkerung und wurde später gebraucht für die
Nachfahren von Weißen und Indios. Außerdem wurde unterschieden zwischen Sklaven und
Freien. Zwei Jahre nach Abschaffung der Sklaverei, 1890, entschied man sich zur
Identifizierung der Hautfarbe der Brasilianer für die Kategorien weiß (branco), schwarz
(preto), indianisch (caboclo) und mestizisch (mestiço) für die Kinder weißer und schwarzer
Elternteile. In den darauffolgenden Volkszählungen 1900 und 1920 wurde die Hautfarbe nicht
erhoben.
Seit 1940 wird alle zehn Jahre vom staatlichen Statistikinstitut (IBGE) ein Zensus gemacht.
Für die Hautfarbe stehen vier Kategorien zur Verfügung: weiß, schwarz (preta), gelb
(amarela) und dunkel (parda). Im Zensus von 1970 wurde die Hautfarbe nicht erhoben. Ein
Jahr zuvor hatte die Regierung General Médicis die Verbreitung von Nachrichten über
rassische Diskriminierung und schwarze Bewegung verboten. Im letzten Zensus von 1991
wurde als weitere Unterscheidung der Bevölkerung indianisch (indígena) aufgenommen.

Der Zensus in Brasilien war und ist eines der Auseinandersetzungsfelder zwischen denen, die
Brasilien für ein weißes Land halten und denen, die es für ein Land mit einer dunkelhäutigen
Mehrheit sehen. Der Zensus hilft nicht nur zu zählen, sondern bringt Rassen- und Farb-
Kategorien hervor. „Von 1920 bis 1950 feierte der brasilianische Zensus die vermeintliche
Aufhellung der Bevölkerung. Diese Haltung offenbart sich im Sprachgebrauch der IBGE-
Texte“, sagt Melissa Nobles, die sich in Ihrer Doktorarbeit „Shades of Citzienship: Race and
Censuses in Modern Politics“ mit dem brasilianischen Zensus beschäftigt (Nobles, 1995). Das
IBGE hilft das offizielle Brasilien-Bild durch Terminologie und Methodik zu belegen. „Die
Idee der Rassendemokratie wurde unterstützt durch die Unterstellung rassischer

137
Vermischung. Durch die Nutzung des Terminus Farbe statt Rasse durch das IBGE wurde der
Gedanke der Vermischung aufrecht erhalten. Die Begründung war, dass die Vermischung die
Frage nach den Rassen unwichtig machte. Rasse schien kein größeres Problem zu sein.“
(Folha de São Paulo, 6.6.1999, mais!, S. 5).

Für den Zensus im Jahr 2000 waren entscheidende Veränderungen zur Verbesserung der
Erfassung der afro-brasilianischen Bevölkerung vorgesehen: 1. alle Fragebögen, und nicht
wie beispielsweise 1991 nur ein Viertel, sollten die Frage nach der Rasse/Hautfarbe
beinhalten; 2. die Bezeichnung „preta“, sollte durch „negra“ ersetzt werden; 3. die Kategorie
„parda“ sollte unterteilt werden in „afro-descendentes“ und andere (Folha de São Paulo:
2.11.1997). Damit wäre ein wichtiger Kritikpunkt der Schwarzenbewegung berücksichtigt
worden und die bisher nur im privaten Gebrauch übliche Bezeichnung negra in die offizielle
Statistik aufgenommen : „Schwarz ist eine Farbe, aber kein Mensch“ hieß einer der Slogans
des Movimento Negro, die mit ihrem stolzen Gebrauch zu einer Umbewertung des Wortes
beigetragen haben (s.dazu auch 4.2.3). Die Einführung der Untergruppe „afro-descendentes“,
„Afro-Abstammende“ sollte der Bedeutung der ethnischen Abstammung der Brasilianer
Rechnung tragen. Anders als in den USA, wo die ethnische Abstammung entscheidend ist zur
Definition und Identität als african american, klassifizieren die meisten Brasilianer nach dem
Erscheinungsbild und den sozialen Verhältnissen. In den bisher veröffentlichten offiziellen
Ergebnissen sind die neuen Kategorien jedoch nicht zu finden.

8.1.2 Eigen- und Fremdeinschätzung

Abgesehen von den wenig zufriedenstellenden Kategorien bleibt ein Problem bei der
Erhebung des Datenmaterials die Eigen- wie die Fremdzuschreibung der Hautfarbe. Bei den
Haushaltsbefragungen des IBGE wird jeder Interviewer angehalten wird, jedes einzelne
Familienmitglied selbst zu befragen. Jeder Befragte muss sich dann, auch wenn er zunächst
eine andere Bezeichnung benutzt, einer dieser Kategorien zu ordnen. (Folha de São Paulo,
22.10.2001, Especial). Nur beim gewerkschaftsnahen DIEESE (Departamento Intersindical de
Estatística e Estudos Sócio-Econômicos) werden die Personen durch den Forscher
klassifiziert, der sich an körperlichen Merkmalen orientiert wie den Haaren, der Nase und der
Hautfarbe. „Trotz Trainings neigen die Forscher dazu, die Menschen höher sozialer Schichten
weißer einzuschätzen“ sagt Lúcia Santos Garcia, Technikerin des DIEESE und verantwortlich

138
für Forschung über Arbeit und Arbeitslosigkeit in Rio Grande do Sul (Folha de São Paulo,
22.10.2001, Especial).

In der von der Datafolha 199581 durchgeführten Untersuchung zu Rassenvorurteilen in


Brasilien beispielsweise wurde die Frage nach der Hautfarbe auf drei Ebenen gestellt: 1.)
Eindruck des Interviewers, 2.) Selbsteinschätzung und 3.) Einschätzung bei Konfrontation mit
den vom staatlichen Statistikamt IBGE verwendeten Kategorien. Die beiden wichtigsten
Ergebnisse: Laut IBGE ist Brasilien ein Land mit einer weißen Mehrheit, nach
Eigeneinschätzung der befragten Brasilianer haben jedoch 59% eine dunkle Haut. Und: Fast
ein Viertel (24%) der von den Interviewern als weiß klassifizierten Menschen, gab bei
Befragen die eigene Hautfarbe mit morena an (Datafolha, 1995, S.36). Letzteres ist auch
Zeichen für die in Brasilien zu beobachtende Neigung, jemanden als heller zu beschreiben, als
er tatsächlich ist - oftmals aus Höflichkeit. „An vielen Orten ist die Frage nach der Hautfarbe
unhöflich. Die Frage nach der Rasse oder Hautfarbe ist eine ausgehandelte Antwort zwischen
dem, der fragt und dem, der antwortet“ schildert Edith Piaza ihre Erfahrungen als Forscherin
der Fundação Carlos Chagas, die u.a. über die Problematik der Hautfarbe beim Zensus
arbeitet (Folha de São Paulo, 2.11.1997).

8.1.3 Braun („Morena“) ist die Farbe Brasiliens

Das IBGE benutzt die Bezeichnung „pardo“, unter der die 143 Bezeichnungen in einer
Kategorie vereinheitlicht werden. Ein unglücklicher Begriff: Laut brasilianischem Lexikon
„Aurélio“ ist „pardo“ „1. eine Farbe zwischen weiß und schwarz, fast dunkel; 2. ein
schmutziges Weiß, zweifelhaft; 3. eine wenig glänzende Farbe zwischen Gelb und Kastanie“
(Aurélio, 1986, S.1269). Die meisten Afro-Brasilianer lehnen den Begriff ab. Wohl kaum
jemand würde sich selbst als pardo klassifizieren. „Pardo ist keine Farbe von Menschen, es
ist eine Farbe von Katzen oder Einpackpapier“, wird die Historikerin Wania Sant’Anna in der
Folha de São Paulo zitiert (Folha de São Paulo, 2.11.1997). Von Nicht-
Regierungsorganisationen und der Schwarzenbewegung wird der Terminus pardo abgelehnt.
Bei der Selbsteinschätzung würden die Afro-Brasilianer nach anderen, sympathischeren
Begriffen suchen, um die eigene Hautfarbe zu beschreiben.

81
Die von der Tageszeitung Folha de São Paulo in Auftrag gegebene Untersuchung zur Situation der Rassenvorurteile erfasste über 5000
Brasilianer über 16 Jahre, altersmäßig gestreut, in 121 Munizipien verteilt auf die verschiedenen Regionen. Die Befragten wurden nach den
vorhandenen statistischen Daten nach Geschlecht, Alter und sozio-ökonomischen Niveau repräsentativ ausgewählt (s. Datafolha, 1995,
S.90).

139
Die offizielle Statistik behilft sich mit dem Begriff pardo, die Menschen suchen ihre
Hautfarbe anders zu beschreiben. Nach einer früheren Haushaltsanalyse des IBGE gaben sich
46% der Brasilianer Bezeichnungen, die unter die Kategorie parda gehören. Dabei fiel der
Löwenanteil von zusammen 35% auf die Einschätzung „morena“ bzw. „morena clara“,
(IBGE 1976). In der repräsentativen Umfrage des Statistikinstituts der Folha de São Paulo
Datafolha von 1995 gaben sogar 43% der Befragten als ihre Hautfarbe morena mit den
Abwandlungen hell oder dunkel an (Datafolha, 1995, S.36). In die offizielle Statistik ist der
Begriff bisher dennoch nicht eingegangen und soll es auch in Zukunft nicht.

Das Wort moreno stammt laut „Aurélio“ aus dem Spanischen oder Lateinischen und bedeutet
so viel wie „die dunkle Farbe der Mauren“ (Aurélio, 1986, S.1159). In Brasilien ist moreno
ein eher positiv besetzter Begriff, der zudem noch weit genug ist, alle möglichen
Hautschattierungen zwischen europäischem Weiß und afrikanischem Schwarz zu umfassen.
Dies zeigt sich auch im täglichen Sprachgebrauch: Jemanden mit „moreno“ oder „morena“
zu rufen, ist immer höflich und kann sogar schmeichelhaft sein. Jemanden mit „preto“ oder
„negra“ zu rufen, käme fast immer einer Beleidigung gleich. So vermeiden viele Brasilianer
diese beiden Bezeichnungen im Gespräch und sprechen, wenn jemand eine sehr dunkle Haut
hat, lieber von moreno.
Weit verbreitet ist es, insbesondere bei Brasilianern mit rassischen Vorurteilen, die
„unaussprechliche“ Tatsache der dunklen Haut unbenannt zu lassen und sich schnell mit den
Fingern über die Haut am Unterarm zu streichen. Diese typische Geste zusammen mit dem
fast konspirativen Gebaren beim Gespräch, in dem es dann meist um Unterschiede zwischen
den hell- und dunkelhäutigen Brasilianern geht, sind deutliche Zeichen dafür, wie tief
verinnerlicht auch die Scham über die Existenz von Rassenvorurteilen ist, doch dazu später
noch etwas.

Die Dominanz der Einschätzung morena kann auch als Zeichen tieferliegender historischer
Prozesse gewertet werden. Die Vermischung der Rassen und die damit assoziierte Tendenz
der Aufhellung der brasilianischen Bevölkerung, die sogen. Ideologia de branqueamento,
sowie der Mythos der Rassendemokratie prägen die Rassenbeziehungen seit dem letzten
Jahrhundert (Skidmore, 1976; Hasenbalg, 1995). „Der Mischling bestimmt das körperliche
Aussehen der brasilianischen Nation und begründet die Demonstration der demokratischen
Essenz des nationalen Charakters“ resümiert do Valle Silva (Silva, 1996, S.81). Mit der

140
gänzlichen Abschaffung der Farb-Unterschiede und der Absorbierung spezifischer Identitäten
zugunsten einer umfassenden „metaraça: os morenos“ erreiche die Rassendemokratie ihren
Höhepunkt.82

Das Dilemma bei einer Volkserhebung zur Quantifizierung des Anteils der Afro-Brasilianer
ist groß: Pardo ist eine hauptsächlich in der Statistik und in den Dokumenten auftauchende
Bezeichnung, moreno wird in der Eigeneinschätzung benutzt, geht aber nicht in die offiziellen
Daten ein, preto ist eine für die Statistik anerkannte Klassifizierung, aber im Sprachgebrauch
zwischen Unbekannten eher eine Beleidigung. So erklärt sich, dass die Unterschiede
zwischen Eigen- und Fremdklassifizierung auffällig sind und bei der Erhebung von
Datenmaterial zur Situation der Afro-Brasilianer immer wieder zum Tragen kommen. Eines
der Hauptanliegen der Schwarzenbewegung ist die Mobilisierung zum Annehmen und
Artikulieren der eigenen schwarzen Identität. „Não deixe sua Cor passar em Branco:
Responda com Bom C/Senso“ „Lass Deine Farbe nicht unbemerkt durchgehen: Antworte mit
Verstand“ lautete der Slogan anlässlich des Zensus von 1991.

Anders als in den USA, wo die Trennlinien zwischen schwarz und weiß eindeutig sind, fehlt
in Brasilien bisher also ein eindeutiges „schwarzes Bewusstsein“ – die Identität bleibt vage,
unbestimmt, situationsabhängig, wie folgendes Zitat beschreibt:
„So, a person that in an English-speaking country in the America’s is simply ‘black’, can be
´negro´ during carnival and when playing or dancing samba, ´escuro´[dunkel] for his work-
mates, ´moreno´ or ´negão´ (literally ´big black man´) with his drinking friends, ´neguinho´
(literally ´little black man´) for his girlfriend, ´preto´ for the oficial statistic and ´pardo´ in his
birth certificate“(Sansone, 1994, S.11).

Das Beispiel Sansones zeigt die jeweiligen Identitäten in den unterschiedlichen öffentlichen
und privaten Räumen und Zusammenhängen:
- die schwarze Identität (negro) im Karneval oder beim Samba, den traditionell den Afro-
Brasilianern zugeordneten Bereichen öffentlichen Lebens
- die höfliche, eher neutrale Wertschätzung der Arbeitskollegen („escuro“), um
möglicherweise beleidigende oder herabsetzende Bezeichnungen zu umgehen

82
Immanuel Wallerstein liefert in dem mit Balibar verfassten Buch „Rasse, Klasse, Nation“ ein Beispiel aus Südafrika, in dem es ebenfalls
um die Problematik der Einteilung der südafrikanischen Bevölkerung geht. Die Diskussion betrifft insbesondere die Kategorie „Mischling“
(Balibar & Wallerstein, 1990). ein Vergleich mit der Situation in Brasilien drängt sich auf.

141
- die vorgegebenen Kategorien der offiziellen Statistik (preto) und der amtlichen Erfassung
(pardo)
- die joviale Bezeichnung unter den Kumpels (negão), die ebenso Zeichen der Nähe der
Gesprächspartner als auch ihrer Wertschätzung ist
- der familiär-zärtliche Diminutiv der Freundin (neguinho)
- die Bezeichnung moreno, wie im Zitat beschrieben, ist m.E. nicht glücklich gewählt, eher
wäre es die Beschreibung von Bekannten als von Trinkkumpanen zur Bezeichnung der
Hautfarbe.

Eine der Thesen, die in meiner Arbeit verfolgt werden und die hier ebenfalls anklingt, ist, dass
die identidade negra im öffentlichen Raum besonders dort zutage tritt, wo sie mit der
vorherrschenden Zuordnung konform geht. Im Fußball, im Karneval, in der Musikszene, im
Candomblé treffen wir auf „schwarze“ Brasilianer, während in den Anwaltskanzleien,
Arztpraxen oder Banken die hellhäutigen Brasilianer dominieren. Solange die Eigen- und
Fremddefinition als negro gemäß der jeweiligen gesellschaftlichen Situation variieren und
nicht übereinstimmen, solange sind rassisch bedingte Ungleichheiten vorhanden.

8.2 Die soziale und wirtschaftliche Situation der Afro-Brasilianer

Um die folgenden Daten zur sozio-ökonomischen Situation der Afro-Brasilianer in einen


größeren Zusammenhang zu stellen, sei ein kurzer Überblick über die wirtschaftlichen und
sozialen Daten Brasiliens gegeben.

8.2.1 Brasilien – die zwei Welten


Mit über 8,5 Millionen Quadratkilometern ist Brasilien das flächenmäßig fünftgrößte Land
der Erde, 24mal größer als die Bundesrepublik. Über drei Viertel der rund 176 Millionen
Brasilianer leben in Städten. Brasilien ist reich an Bodenschätzen und teilweise stark
industrialisiert. Brasilien zählt je nach Stärke seiner Währung zu den zwölf größten
Volkswirtschaften weltweit mit einem Brutto-Inlandsprodukt von rund 44 Mrd US$. Seit
1995 wächst seine Wirtschaft jährlich um rund 2,4% (Dresdner Bank Lateinamerika,
Monatsbericht April 2003, Hamburg).
Brasilien ist ein Land mit eklatanten sozialen Kontrasten.„Belindia“ ist ein geflügeltes Wort
mit dem der Entwicklungsstand des Landes in Brasilien gern beschrieben wird: eine

142
Mischung aus „Belgien“ und „Indien“, einem kleinen industrialisierten Teil mit an
mitteleuropäische Werte reichenden sozialen und ökonomischen Indikatoren und ein großes,
wirtschaftlich unterentwickeltes Gebiet mit den typischen Problemen eines
„Entwicklungslandes“. Diese Spaltung lässt sich auch räumlich beobachten: dem industriell
entwickeltem Südosten (62,6% Anteil am Brutto-Inlandsprodukt) mit dem Ballungsgebiet São
Paulo (die Stadt allein hat rund 16 Millionen Einwohner) steht der wirtschaftlich
unterentwickelte Nordosten mit Salvador da Bahia, der drittgrößten Stadt des Landes (rund
2,3 Millionen), und der Norden (Amazonasgebiet) gegenüber.
Brasilien hat eine der höchsten Einkommenskonzentrationen der Welt: Das reichste Fünftel
der Bevölkerung verfügt über rund zwei Drittel des Einkommens der Gesellschaft. Die
ärmsten 20% der Bevölkerung dagegen teilen sich nur2,5%. Das bedeutet, dass das obere
Fünftel 26 mal mehr Einkommen erhält, als das ärmste Fünftel (Almanaque Abril, 2001,
S.112) . Auch die Konzentration des Landbesitzes ist im weltweiten Vergleich
beeindruckend: Großgrundbesitzer mit Ländereien über 1000 Hektar – das sind 1% der
Bauern – gehören 45% der registrierten Fläche (IBGE 1996). Die Umsetzung einer
Agrarreform gehört zu einer der größten politischen, wirtschaftlichen und sozialen
Herausforderungen Brasiliens.
54 Millionen Brasilianer, fast ein Drittel der Bevölkerung (32,1%), leben unterhalb der
Armutsgrenze von einem durchschnittlichen Familien-pro-Kopf-Einkommen von einem
halben Mindestlohn (100 R$). Davon leben 22 Millionen mit einem durchschnittlichen
Familien-pro-Kopf-Einkommen von einem Drittel des Mindestlohns (66,66R$) (Folha de
São Paulo, 19.10.2002).
Die Wirtschaftsreform des „Plano Real“ verschaffte Brasilien zwar erstmals seit Jahrzehnten
eine stabile Währung, den Real. Gleichzeitig wurde das Land unter der Regierung Fernando
Henrique Cardoso (FHC) für ausländische Investoren und Importe geöffnet. Dabei stieg die
in- und Auslandsverschuldung rasant an, weshalb Brasilien heute hochgradig abhängig vom
Zufluss weiteren Auslandkapitals ist. Auch der 2003 angetretenen Regierung von Luíz Inácio
Lula da Silva, kurz Lula genannt, dem Vertreter der Arbeiter-Partei (PT), bleibt wenig Raum
für eine andere Wirtschaftspolitik.
Die brasilianische Wirtschaft bleibt in einen kleinen formellen und einen wachsenden
informellen Sektor gespalten. Offiziell liegt die Arbeitslosenquote bei 12% (www.ibge.gov.br
25.04.2003) Der Mindestlohn, den mehr als die Hälfte der Bevölkerung verdient, beträgt je
nach Wechselkurs zwischen 60 und 80 Euro.

143
Nach dem Index der Menschlichen Entwicklung, der die Länder der Welt in einem Ranking
auflistet, liegt Brasilien auf Platz 74. Der Ökonom Marcelo Paixão der Föderalen Universität
Rio (UFRJ) hat die Daten des Jahres 1999 nach diesen Kriterien für das weiße und das
schwarze Brasilien aufgeschlüsselt. Unterscheide man die Daten nach schwarzen und weißen
Brasilianern, so liegen 55 Länder zwischen den beiden Universen. Das weiße Brasilien liegt
auf Platz 46, das schwarze auf Platz 101. Das weiße Brasilien liegt damit bei Kroatien und
den Vereinigten Arabischen Emiraten, das schwarze Brasilien liegt bei Vietnam und Algerien.
Das weiße Brasilien ist ungefähr zweieinhalb mal so reich wie das schwarze Brasilien. Die
reichsten 10% sind zu 85% weiße Brasilianer, die einen Anteil von 41% am nationalen
Einkommen haben. Die Ärmsten sind zu 60% schwarze Brasilianer, die nur 7% des
nationalen Einkommens verdienen (Folha de São Paulo, 06.01.2002, Gazeta Mercantil,
11.01.2002).

Obwohl sich die Lebensbedingungen in Brasilien während der 90er Jahre verbessert haben,
verringerten sich die Unterschiede zwischen schwarzen und weißen Brasilianern jedoch nicht.
„Fast alles hat sich mit der Währungsstabilität verbessert, nur die Ungleichheit hat sich
gehalten.“ Zu diesem Schluss kommt Ricardo Henriques, Autor der IPEA-Studie von 2001.
Von Armut (weniger als 120 R$ = 40 Euro pro Kopf) waren Anfang der 90er Jahre 40% der
brasilianischen Bevölkerung betroffen, gegen Ende nur noch 34%. Der Anteil der Armen
unter den Afro-Brasilianern lag 1999 bei 64%, gegen 36% der weißen Brasilianer. Fast zwei
Drittel (65%) der afro-brasilianischen Kinder bis 6 Jahre sind arm, gegenüber 38% der weißen
Kinder bis 6 Jahre. Auch in den weiteren Lebensphasen bleibt die Distanz erhalten: Bei den 7-
14-jährigen sind fast doppelt so viele Afro-Brasilianer von Armut betroffen (61%), während
es nur ein Drittel der gleichen Gruppe unter weißen Kindern und Jugendlichen ist (33%). Und
in der Altersgruppe zwischen 15 und 25 leben 47% der schwarzen Brasilianer in Armut
gegenüber 22% der weißen Brasilianer (www.ipea.gov.br 25.04.2002 und A Tarde, 30.01.02)

8.2.2 Arbeitsmarkt und Einkommen

Der durchschnittliche weiße Brasilianer wohnt in einem Haushalt mit einem monatlichen Pro-
Kopf-Einkommen von 482 Reais (ca. 160 Euro), mehr als doppelt so viel wie sein afro-
brasilianischer Nachbar, der sich mit einem durchschnittlichen Einkommen von 205 Reais
(ca. 68 Euro) begnügen muss (www.ipea.gov.br 25.04.2003).

144
Wenn wir die Einkommenspyramide betrachten, fällt als erstes eine farbliche Staffelung auf:
81% der Familien mit einem negro Familienoberhaupt und 88,5% mit einem pardo
Familienoberhaupt verdienen maximal bis zu einem Mindestlohn, während es bei den
Familien mit weißem Familienoberhaupt nur 45,4% sind. Einem Viertel der Familien (25,2%)
mit einem weißen Familienoberhaupt stehen über drei Mindestlöhne zur Verfügung, während
nur 7,7% und 7,6% der Familien mit einem negro oder pardo Familienoberhaupt über drei
Mindestlöhne zur Verfügung haben (PNAD 1999 und DIEESE 2000 in: Folha de São Paulo,
22.10.2001, Especial1).
In den letzten zehn Jahren hat es in der Einkommensentwicklung keine Verbesserung
gegeben, die Distanz ist gleich geblieben (Jornal do Brasil, 27.08.2001). Nach der IPEA
Studie war 1998 das durchschnittliche Einkommen weißer Brasilianer mit 726,89 R$ (ca. 242
€) fast doppelt so hoch wie das der Afro-Brasilianer mit 337,13R$ (ca. 112 €). Die schwarzen
Frauen erhielten noch weniger: 289,22 R$ (ca. 96 €). Zwei Faktoren (Qualifikation und
Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Arbeitsmärkten) wurden als mögliche Ursachen für diese
Unterschiede hinzugezogen, dennoch blieb das Vorurteil ein entscheidender Faktor für die
Unterschiede. „Die schwarzen Frauen tragen die ganze Last der Rassen- Diskriminierung. Sie
leben mit der Diskriminierung als Frauen und leiden außerdem noch an der sektorial-regional-
beschäftigungsmässigen Diskriminierung“ so der Forscher Sergei Suarez Dillon Soares des
IPEA.
Die Studie des Instituts für Angewandte Ökonomie (IPEA) kommt zum Ergebnis, dass der
afro-brasilianische Mann vor allem unter der geringen Qualifizierung leidet, die für 73,5% der
Gehaltsunterschiede verantwortlich ist. Das reine Vorurteil wird durch 17,9% repräsentiert,
vergrößert sich aber mit dem Anstieg des Gehaltes. Ohne rassische Vorurteile würden die mit
den niedrigsten Einkommen, 5-7% mehr Geld in der Tasche haben. Am oberen Ende der
Einkommensskala würde der Unterschied dann schon ein Fünftel betragen. Bei den
schwarzen Frauen akkumulieren sich die beiden Faktoren (45% weniger) (Valor, 03.09.2001,
D1, D4).

In allen Regionen liegt die Arbeitslosenquote der schwarzen Brasilianer über jener der weißen
(21,6% gegenüber 15,3%). In Salvador liegt sie für die Schwarzen bei 28,4% gegenüber
18,9%, was um so mehr heraussticht, als hier die Mehrheit der Bevölkerung Afro-Brasilianer
ist (Valor, 20.11.2001).Unter den Frauen sind 23,9% arbeitslos, gegenüber 18,1% der
Männer. Bei den schwarzen Frauen steigt die Zahl sogar auf 25,1%, gegenüber 18 % der
hellen Brasilianerinnen. Bei den schwarzen Männern sind es 19%, gegenüber 13,2% der

145
weißen Männer. Die Arbeitslosenquote unter den schwarzen Frauen ist also fast doppelt so
hoch wie die der weißen Männer (Folha de São Paulo 24.01.2002, B10). In Salvador ist sogar
jede dritte schwarze Frau arbeitslos (31,2%).

Die Beschäftigungsstruktur schwarzer und weißer Brasilianer ähnelt sich. Die meisten
Beschäftigten entfallen auf die Sektoren Dienstleistungen und Industrie, mit einer Ausnahme:
„serviços domésticos“, Hausangestellte. Über die Hälfte der weißen Brasilianer (54%) ist im
öffentlichen oder privaten Sektor angestellt, 22,4% arbeiten auf eigene Rechnung. Ähnlich
sieht es aus bei negros (Angestellte: 53,2%, Autonome: 21,0%) und etwas weniger bei pardos
(Angestellte: 47,4%, Autonome: 24,6%). Nur 6,1% der weißen Brasilianer arbeiten als
Hausangestellte, gegenüber 14,6% der negros und 8,4% der pardos (PNAD, 1999 und
DIEESE, 2000 in: Folha de São Paulo, 22.10.2001, Especial1).

Nur 6% der Afro-Brasilianer nehmen Führungspositionen mit höheren Löhnen ein. Das
Institut Ethos hatte Fragebögen an die 500 größten Unternehmen geschickt. Die
Wahrscheinlichkeit eines Weißen einen Chefsessel zu erobern ist 12% größer, als die eines
negros mit gleichem Ausbildungsstand (Folha de São Paulo, 24.01.2002, B10).
Auch eine Untersuchung des Sistema Estadual de Análise e Dados (SEADE) kommt zu dem
Ergebnis, dass nur 4,5% der schwarzen beschäftigten Männer in São Paulo
Entscheidungspositionen in Unternehmen inne haben. Und nur 9,6 % aller leitenden
Positionen werden von afrobrasilianischen Männern eingenommen. Die Situation der
schwarzen Frauen ist noch schwieriger, nur 4,3% nehmen leitende Positionen ein. Die
Schwierigkeit beruflichen Aufstiegs hat nicht nur mit Vorurteilen zu tun, sondern auch
sozialen Hindernissen. Nur 2,4% der schwarzen männlichen Beschäftigten und 4,7% der
schwarzen weiblichen Beschäftigten haben einen Universitätsabschluss
(Valor,03.09.2001,D01, D02).

In der Generationenperspektive gelingt der soziale Aufstieg eher den weißen, als den Afro-
Brasilianern. Über die Hälfte (53%) der weißen Brasilianer überwindet die Situation ihrer
Eltern gegenüber 44% und 46% der negros und pardos. Zu diesem Schluß kommt die Studie
Nelson do Valle e Silvas, Professor des IUPERJ, der Daten von 1970 und 1996 vergleicht.
Während des Lebens akkumulieren sich die Verluste der Afro-Brasilianer aufgrund ihrer
schlechteren sozialen Herkunft, geringeren Schulbesuchs, häufigeren Schulverlassens und
größerer Schwierigkeiten die Bildung in Einkommen umzusetzen. Unter Berufstätigen mit

146
Universitätsabschluß und Unternehmern (37% der Weißen und 17% der negros und pardos)
konnten die Kindern die Position der Väter erhalten. Selbst bei gleichen Chancen, würde sich
am Ende noch ein Unterschied im Einkommen von rund 13% manifestieren, der den
rassischen Vorurteilen zugeschrieben werden müsste (Quelle PNAD, 1999 und DIEESE,
2000 in: Folha de São Paulo, 22.10.2001, Especial1).

Exkurs: Integration der Afro-Brasilianer ins Wirtschaftsleben


Die Integration der Afro-Brasilianer in das Wirtschaftsleben ist auffällig: Zum Beispiel
morgens früh in der Hauptstraße des Mittelklasseviertels Vila Mariana in São Paulo zwischen
Ibirapuera-Park und U-Bahn Station Ana Rosa. Die Straße hinauf eilen viele frisch
parfümierte, blasse Männer mit Anzügen und Frauen in Kostüm und Schuhen mit hohen
Absätzen. Sie sind auf dem Weg ins Geschäfts-Zentrum zwischen Avenida Paulista und Praça
da Sé, wo sie als Angestellte in Banken, Unternehmen oder Agenturen tätig sind. Ihnen
entgegen kommen, ebenfalls in Eile, Frauen und Männer, für die die U-Bahn-Station Ana
Rosa die letzte Etappe der zweistündigen täglichen Anfahrt zu ihrem Arbeitsplatz war. Viele,
meist dunkelhäutige, Frauen sind dabei, die schwer an Plastiktüten tragen und deren billige
Kleider frisch gebügelt sind. Die meisten arbeiten in einem Haushalt als Putzfrau, Köchin,
Wäscherin oder Büglerin. Während die „patroa“, die Chefin, im Büro ist, sorgt die
empregada, die Hausangestellte, dafür, dass die Wohnung aufgeräumt und geputzt ist, etwas
zu essen auf den Tisch kommt und die schmutzige Wäsche abends gewaschen und gebügelt
im Schrank hängt.
Zum Beispiel in der Avenida Sete de Setembro in Salvador, quirlige Geschäftsstraße der
Oberstadt in Salvador, deren Bürgersteige fast gänzlich von den fliegenden Händlern,
„camelôs“ okkupiert wurden. Männer und Frauen bauen auf wenigen Quadratmetern ihre
Stände auf, um Unterwäsche und Kinderspielzeug, elektronische Geräte und Modeschmuck
zu präsentieren oder bieten verschiedene Dienstleistungen vom Schlüssel nachmachen bis
zum Blutdruckmessen an. Frauen in traditionellen weißen Kleidern, Baianas genannt,
verkaufen afro-brasilianische Imbisse und Süßigkeiten. Auf dem kleinen Platz, wo die
Nebenstraße Rua do Cabeça abzweigt, sitzen die Obsthändler und Blumenverkäufer, weiter
unten werden lebende Hühner, Enten und Truthähne verkauft. Die einfachen Geschäfte auf
der Avenida Sete, vor allem Haushaltsartikel und Textilien, sind im allgemeinen preislich
günstiger als die Konkurrenz in den großen Shopping-Centers. Fast alle, die sich hier zu Fuß
bewegen oder versuchen irgendeine Ware oder Dienstleistung an den Mann oder die Frau zu

147
bringen, haben eine dunkle Haut. Am Nachmittag ist das bunte Durcheinander besonders
groß, dann beanspruchen die Fußgänger die beiden seitlichen Fahrbahnen für sich, so dass
sich der Autoverkehr auf der mittleren Spur zusammenstaut.
Nur zwei Beispiele aus einer langen Liste möglicher Beschreibungen. Die meisten Afro-
Brasilianer sind in Tätigkeiten beschäftigt, die am unteren Ende der Einkommensskala liegen,
eher manuell sind und für die wenig Ausbildung nötig ist - in der Industrie ebenso wie im
öffentlichen Dienst. Ein großer Teil verdient das Geld im informellen Sektor durch das
Anbieten von Dienstleistungen oder als fliegende Händler. Eines der typischsten Arbeitsfelder
ist die Hausarbeit in den Apartments und Häusern der brasilianischen Mittel- und
Oberschicht, auf die hier kurz ausführlicher eingegangen werden soll, weil es so
charakteristisch für die brasilianische Realität ist.

„empregada doméstica“- die Hausangestellte


Die kurz „empregada“ genannte Hausangestellte ist aus dem Alltag brasilianischer Mittel-
und Oberschichtsfamilien nicht wegzudenken. Außer den ganz armen Familien gibt es keinen
Haushalt, der ohne empregada funktioniert, die mindestens einmal pro Woche Ordnung
schafft. Früher war es üblich, dass die empregada an ihrem Arbeitsplatz auch schlief und bei
Bedarf rund um die Uhr einsetzbar war. Das ist in der Stadt heute weniger geworden, auf dem
Land aber immer noch die Regel.
Die Apartments in der Stadt haben im allgemeinen ein Dienstmädchen-Zimmer (quarto de
empregada), zum Beispiel auch die für die untere Mittelschicht finanzierten Einheiten des
sozialen Wohnungsbaus. Das Dienstmädchenzimmer liegt im allgemeinen hinter der Küche in
der Nähe der Waschküche. Fast alle Apartment-Häuser werden bis heute mit zwei
Fahrstühlen gebaut: dem elevador social83, und einen für´s Personal, den sogen. elevador de
serviço. Kommt man in so ein Hochhaus, wird man vom Hausmeister an den entsprechenden
Aufzug verwiesen. Die Benutzung oder das Verweigern dieser Benutzung sind immer
wiederkehrende Anlässe, an denen sich der brasilianische Rassismus zeigt.
Bei wohlhabenden Brasilianern sind sieben bis acht Hausangestellte nichts Ungewöhnliches:
Putzfrau (faxineira), Köchin (cozinheira), Wäscherin (lavadeira), Büglerin (passadeira),
Kindermädchen (babá), Gärtner (jardineiro), Fahrer (chofer), Hausmeister (caseiro im Haus,
porteiro im Hochhaus) sind die unterschiedlichen Aufgabenbereiche. Die Häuser haben einen
abgeteilten Bereich dependência genannt, in dem die Hausarbeiten erledigt werden (in

83
Das Attribut social bei elevador social oder roupa social (auf deutsch: ordentliche Kleidung) bedeutet nicht sozial im Sinne von „gerecht“,
sondern im Sinne von „gesellschaftlich anerkannt“.

148
Deutschland wäre das die Waschküche, der Keller) und wo die Angestellten untergebracht
sind. Das erinnert noch heute an die Zeit der Sklaverei mit Herrenhaus und Sklavenhütte.

Die wenigsten Hausangestellten sind entsprechend der herrschenden Arbeitsgesetzgebung


angestellt und haben eine sogen. carteira assinada, ein unterschriebenes Arbeitsbuch. Damit
haben sie Anspruch auf die gesetzlich vorgesehenen Leistungen des Arbeitgebers, wie zum
Beispiel ein 13. Monatsgehalt und soziale Abgaben in den INSS. Dafür gibt es zwei
Erklärungen: Einerseits weigern sich die Arbeitgeber die carteira zu unterschreiben und
damit Lohnnebenkosten und mehr Verantwortung zu übernehmen, andererseits lehnen es
viele ab, ihr Arbeitsbuch als Hausangestellte unterschreiben zu lassen. „Sujou a carteira“
heißt es in der Umgangssprache, „das Arbeitsbuch schmutzig machen“, womit gemeint ist,
dass eine derart unterbewertete Tätigkeit wie Hausangestellte dort gar nicht erscheinen sollte.
Viele fürchten, in Zukunft bei einem anderen Job mit einer solchen Eintragung Nachteile zu
haben. Aus dem bereits Beschriebenen erklärt sich auch, warum der gewerkschaftliche
Organisationsgrad der Hausangestellten so gering ist. Zwar gibt es eine Gewerkschaft, aber
nur ein verschwindend geringer Prozentsatz ist in ihr organisiert - und das auch nur in den
Großstädten.
Im allgemeinen verdienen die Hausangestellten in etwa einen Mindestlohn (rund 80 Euro),
auf dem Land meistens weniger. Den Arbeitgebern ist es gestattet für „Kost und Logis“ einen
Anteil vom Lohn abzuziehen. Arbeitet eine empregada auf freier Basis und bietet ihre Dienste
in verschiedenen Häusern an (vergleichbar zu Deutschland), dann kann sie wesentlich mehr
Geld verdienen, bis zu 15 Euro pro Tag. Sie ist dann wie jeder andere, der Dienstleistungen
im informellen Sektor anbietet, komplett auf sich gestellt.

8.2.3 Bildung – ein zentrales Problem der Afro-Brasilianer

Mangelnde Schul- und Ausbildung ist eines der grundlegenden Probleme für Afro-
Brasilianer. Das zeigt sich auf mehreren Ebenen des Bildungssystems, wie
Analphabetenquote, Länge des Schulbesuchs, Schulform und –Niveau. Die
Analphabetenquote in Brasilien liegt 2001 bei durchschnittlich 12%. Sie ist damit in den 90er
Jahren von 17% auf 12% gefallen. Die Differenz zwischen weißen und Afro-Brasilianern
jedoch blieb erhalten: 18% der Afro-Brasilianer sind Analphabeten, während dieses Schicksal
nur 8% der weißen Brasilianer trifft.

149
Die Dauer des Schulbesuchs ist in den letzten drei Generationen länger geworden, die
Unterschiede in der Länge des Schulbesuchs zwischen weißen und Afro-Brasilianer haben
sich jedoch fast nicht verändert. Durchschnittlich besuchen weiße Brasilianer 6,9 Jahre die
Schule, während Afro-Brasilianer nur durchschnittlich 4,7 Jahre die Schule besuchen.
Die Unterschiede zwischen weißen und Afro-Brasilianern in der schulischen
Grundausbildung, dem sogen. Ensino Fundamental, von der ersten bis zur achten Klasse
haben sich in den 90er Jahren reduziert. Im Bereich der weiterführenden Schulen, dem sogen.
Ensino Médio, hat sich die Distanz dagegen vergrößert: Während 51% der weißen Brasilianer
weiterführende Schulen besuchen, sind es nur 25% der Afro-Brasilianer.
Vergleicht man nun, ob das altersgemäß gewünschte Schulniveau erreicht wird, lassen sich
große Unterschiede feststellen: Im Bereich des Ensino Fundamental sind 45% aller
afrobrasilianischen Kinder und Jugendlichen nicht auf dem ihrem Alter entsprechendem
Niveau gegenüber 25% der weißen Brasilianer. Im Bereich des Ensino Médio sind es dann
schon 60% der Afro-Brasilianer gegenüber 41% der weißen Kinder und Jugendlichen.
Die statistischen Daten wurden nun dahingehend untersucht, inwieweit sich die Diskrepanzen
zwischen weißen und Afro-Brasilianern auf andere Ursachen als durch rassische
Diskriminierung zurückführen lassen. Ihr Schluss: Rassische Diskriminierung und nicht etwa
ungünstigere familiäre Verhältnisse sei für 63% der Unterschiede im Bildungsbereich
verantwortlich.
(www.ipea.gov.br, 25.04.2003).

Nur vier Prozent aller Schwarzen erreichen das Universitätsniveau, unter den Weißen sind es
immerhin 16% (Folha de São Paulo, 24.01.2002, B10). An der renommierten staatlichen
Universität von São Paulo (USP) sind 1995 rund 50.000 Studenten eingeschrieben, der Anteil
schwarzer Studenten liegt bei knapp 2% (Datafolha, 1995, S.47). Nach einer der letzten
Untersuchungen sind die Medizin-Absolventen der Universidade de Sao Paulo zu 81,6%
weiße Brasilianer, 2,3% pardos und 1% negros. Immerhin 4,1% sind asiatischen und 0,7%
indianischen Ursprungs (Gazeta Mercantil, 09.01.2002 und 11.01.2002).
In diesen Tagen werden in Brasilien an einigen staatlichen Universitäten erstmals
Quotenregelungen eingeführt, so zum Beispiel an der Universidade Estadual da Bahia
(UNEB) (Folha de São Paulo, 28.07.2002). Diese Quoten-regelungen sind heftig umstritten
(s. dazu im Schlusskapitel).

150
Das vorgestellte Datenmaterial belegt im wesentlichen die auf eine knappe Formel gebrachten
Erwartungen: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Hautfarbe, Einkommen und
Schulbildung: Je dunkler die Hautfarbe, umso geringer Einkommen und Schulbildung (do
Valle Silva, 1996). Die Daten aus dem Bildungsbereich zeigen, dass trotz 46 Jahren Apartheid
in Südafrika, Brasiliens Schwarze im Bildungsbereich noch hinter dem Land am Kap liegen
(Veja, 21.03.2001, S. 104) . Dazu noch einige grundsätzliche Erläuterungen: Brasiliens
Bildungssystem ist gespalten in einen öffentlichen, staatlich finanzierten und einen privaten
Zweig. Das öffentliche Schulwesen, die sogen. Escolas Públicas, sind bis auf wenige
Ausnahmen in einem desolaten Zustand. Die privaten Schulen haben im allgemeinen einen
besseren Standard, sind aber von der Teuerung der Lebenshaltungskosten besonders
betroffen84. Diese Trennung gilt für das Ensino Fundamental (1°-8° série) ebenso wie für das
Ensino Médio. Das vorzeitige Verlassen der Schule (evasão escolar) ist ein chronisches
Problem des öffentlichen Schulsystems und steht in engem Zusammenhang mit der
wirtschaftlichen Situation des Landes: einerseits sind die öffentlichen Schulen in einem
desolaten Zustand und die Qualität des Unterrichts schlecht, andererseits sind die Kinder
gezwungen, schon frühzeitig zum Familienunterhalt beizutragen.
Den größten Anteil der staatlichen Bildungsausgaben nehmen jedoch die Ausgaben für das
sogen. Ensino Superior ein, das Hochschulwesen. Im Hochschulbereich ist es dann genau
umgekehrt: Als die besseren Unis gelten fast immer die öffentlichen Universitäten, die
kostenlos sind.
Wer hat also die Voraussetzungen zum Universitätsbesuch und schafft die Vestibular
genannten Aufnahmeprüfungen? Diejenigen, die besser vorbereitet sind, in der Regel also die
Schüler, die von den privaten Schulen kommen. Hinzu kommt noch, dass die meisten der
zukünftigen Studenten teure (!) Vorbereitungskurse (bekannt als „cursinhos“) für das
Vestibular machen. De facto investiert Brasilien also einen großen Teil der Bildungsausgaben
in die eigene reiche Elite und nicht in eine breite Volksbildung.
Eine Weltbank-Studie hat gezeigt, dass nur 46% der armen Brasilianer die fünfte Klasse
schaffen. Im internationalen Vergleich liegt Brasilien also noch hinter vielen afrikanischen
und einigen Nachbarländern wie Ghana oder Sambia, Peru oder Bolivien, die über ein viel
geringeres Wirtschaftsvolumen verfügen. Gleichzeitig gibt Brasilien jedoch einen größeren
Anteil des Brutto-Inlands-Produkts für Bildung aus, wie diese Länder (Weltbank-Daten zitiert
nach H. Santos, 2001, S.220). Aus der Studie geht auch hervor, dass die reichsten 10% der

84
So liegt zum Beispiel allein das Schulgeld an der amerikanischen Privatschule Salvadors (die als die beste der
Stadt gilt) bei monatlich rund 1000 US$ pro Kind - ohne Lehrmittel, Schuluniform, Transport etc.

151
brasilianischen Bevölkerung im Durchschnitt mehr als zehn Jahre die Schule besuchen (H.
Santos, 2001, S.222).
Die schlechte Qualität des Unterrichts steht in direktem Zusammenhang mit dem
Lehrpersonal: Die Lehrer sind zum großen Teil nur ungenügend ausgebildet und werden
schlecht bezahlt. Laut Bildungsministerium haben nur 37% aller Lehrer eine
Universitätsausbildung. 46,4% haben einen weiterführenden Abschluß (segundo grau
completo) und 14,3% aller Lehrer sogar nur den Hauptschulabschluss (Dimenstein, 1993, S.
145). Im Nordosten haben 12,4% der Lehrer selbst nicht einmal eine komplette
Grundschulausbildung oder gerade nur diese (6,3%) (Almanaque Abril, 1997, S. 201).

Zu diesen grundsätzlichen Problemen des Bildungssektors kommen die besonderen


Schwierigkeiten für Afro-Brasilianer aufgrund rassischer Vorurteile und Diskriminierung. Die
Weichen für die Unterschiede im Bildungsniveau wurden schon während der Sklaverei
gestellt: Während der Sklaverei blieb der Schulbesuch und das Erlernen des Lesens und
Schreibens den Kindern der weißen Kolonialherren vorbehalten. Zwar hatten sich die Jesuiten
in Brasilien um die Erziehung und Bildung der Indianer bemüht, von ihrem humanitären
Engagement blieben die afrikanischen Sklaven jedoch ausgeschlossen. Die Sklaverei ist seit
dem letzten Jahrhundert verboten und getrennten Schulbesuch wie in den USA für Kinder
unterschiedlicher Hautfarbe und Herkunft hat es in Brasilien nicht gegeben. Dennoch läßt sich
eine de facto Segregation in den Schulen und Universitäten konstatieren, deren Ausnahmen
nur die Regel bestätigen zu scheinen. Die Diskriminierung im Erziehungsbereich spielt sich
auf verschiedenen Ebenen ab, vom Unterrichtsmaterial, über die Ausstattung der Schulen bis
zu den viel subtileren Formen rassistischer Verhaltenweisen in den Klassenzimmern, wie
Erwartungshaltungen der Lehrer und Eltern, Stimulans zum Eintritt in anspruchsvollere
Bildungsprogramme, Bestrafungen u.a.m.

Große Unterschiede in der Behandlung weißer und afro-brasilianischer Kindern in den


Schulen hat zum Beispiel die Pädagogin Eliane Cavalleiro festgestellt. Nach achtmonatiger
Analyse in einer öffentlichen Vorschule in São Paulos kommt sie zu dem Schluss, dass die
Konstruktion einer positiven Identifikation während des Sozialisationsprozesses fast nicht
möglich sei.
Sie schildert Situationen, bei denen es normal sei, dass die Kinder unkommentiert abwertende
Begriffe wie „negrinho feio“ („hässliches Negerchen“) oder „pretinha suja“ („dreckige kleine
Schwarze“) zu dunkleren Kindern sagen. Auch komme es vor, dass afro-brasilianische Kinder

152
abgelehnt würden als Partner, wenn z.B. Paare geformt werden. Die Kinder würden, nach
Meinung der Lehrerinnen, die rassischen Unterschiede noch nicht bemerken oder es wäre
ihnen egal. Die afro-brasilianische Pädagogin diagnostiziert auch die Haltung der
Lehrerinnen, die den Rassismus als normal betrachteten und/oder abschwächten. Als einer der
Hauptgründe des Rassismus werde von den Lehrerinnen der angeblich schlechte Geruch
farbiger Menschen genannt. Die Lehrer seien ungeduldiger und weniger liebevoll mit den
afro-brasilianischen Kindern und in extremen Fällen erniedrigend. Die unterschiedliche
Behandlung der Kinder durch die Lehrerinnen zeige sich in mehreren Aspekten: Sie werde
sichtbar beim Abschied, wenn weiße Kinder dreimal so viel von den Lehrerinnen geküsst
würden wie afro-brasilianische Kinder. Sie zeige sich in der unterschiedlichen Art des Lobens
„Deine Aufgaben sind gut“, „gut gemacht“ für die dunkelhäutigen Kinder oder „Du bist
wunderbar“ „Du bist intelligent“ für die weißen Kinder. Die unterschiedliche Behandlung
werde nach Meinung der Forscherin von den Kindern wahrgenommen. Die weißen Kindern
bekämen mehr Möglichkeiten positiver Identifikation mit den Lehrerinnen, als die afro-
brasilianischen Kinder (Cavalleiro, 2000). Die Studie sorgte in Brasilien vor kurzem auch
deshalb für Aufsehen, weil sie den spürbaren, aber teils schwer diagnostizierbaren Rassismus
auf einer Stufe entlarvt, wo er nicht aus sozialen Motiven erklärt werden kann, der
frühkindlichen Erziehung (Educação Infantil). Auch die Forscherin, die selbst Afro-
Brasilianerin ist, entging dem subtilen Rassismus nicht (Veja Nr. 33, 1999).

Die Untersuchung Cavalleiros ist eine Einzelfall-Untersuchung. Die geschilderten Situationen


stimmen jedoch tendenziell mit den persönlichen Eindrücken in einem privaten
brasilianischen Kindergarten überein. Eine andere Studie in der Vorschule kommt zu dem
Ergebnis, dass die afro-brasilianischen Kinder, besonders die Mädchen, sich nicht als negras,
sondern als weiß identifizierten. Die Forscherin hatte ihnen einen Auswahl Fotos von
Menschen verschiedener Hautfarbe vorgelegt. (Dias, Lucimar Rosa 1997: Diversidade étnica
na educação infantil. Campo Grande, Universidade Federal Mato Grosso do Sul, zitiert nach
H. Santos, 2001:128) und so sucht die Schwarzenbewegung Brasiliens nach neuen Formen
der Erziehung afro-brasilianischer Kinder. Der Bedeutung der Schulbildung als
Grundvoraussetzung zum Zugang zu besseren Lebensbedingungen ist man sich seit langem
bewusst, inzwischen setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, dass noch frühzeitiger mit einer
Anti-Rassismus-Erziehung begonnen werden muss. “Die rassischen Vorurteile werden in die
geistige Struktur des Kindes eingepflanzt“, sagt Cruz (Cruz, 1989: S. 57).

153
Viele der Schulbücher des Ensino Fundamental (1° bis 8° série) sind bis heute voller
Stereotypen wie schusselige schwarze Hausangestellte, freche schwarze Jungen etc.Die Studie
von Ana Célia da Silva über die Schulbücher in Salvador in den 80er Jahren zeigte, wie das
didaktische Material dazu beiträgt die Afro-Brasilianer als Menschen zweiter Klasse
einzustufen: Während die weiße Familie mehrmals beschrieben wurde, kommt eine schwarze
Familie nur einmal vor und dann auch nur unglücklich. Die weißen Personen wurden
assoziiert mit etwas Schönem, Intelligentem, Gutem. Die schwarzen Familien stellen den
Stereotyp des Hässlichen, Unfähigen (Silva, 1988).

In den USA, wo das Ende der Segregation in den Bildungsinstitutionen vor 30 Jahren mit
Programmen und Quotenregelungen zur rassischen Integration der Afro-Amerikaner begleitet
wurde, sind es heute ähnliche Formen subtilen Rassismus, die als Erklärung der ungleichen
Bildungssituation zwischen hellen und dunkelhäutigen Amerikanern herangezogen werden
(Gazeta Mercantil, 03.08.1999).
Die Entwicklung der neuen Kommunikationstechnologien scheinen zur weiteren
Polarisierung beizutragen. Als „gap digital“ wird in den USA die Tatsache bezeichnet, daß
der Anteil der Haushalte mit Internet-Zugang unter den weißen Amerikanern größer als bei
den schwarzen und Hispano-Amerikanern ist und zwar unabhängig von der Höhe der
Einkommen wie Studien des Department of Commerce zeigen. Verschärft werde die Situation
zusätzlich dadurch, dass sich der Abstand vergrößere, statt zu verkleinern (Gazeta Mercantil,
09.08.1999).

8.2.4 Gewalt

Afro-Brasilianer sterben früher als weiße Brasilianer. Die Lebenserwartung der schwarzen
Brasilianer liegt bei durchschnittlich 65 Jahren gegenüber 71 Jahren der weißen Brasilianer
(Gazeta Mercantil, 11.01.2002). Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Tatsache ist aber auch,
dass insbesondere Afro-Brasilianer von der Gewalt betroffen sind. Vor allem die Großstädte
Brasiliens leben mit einer hohen Kriminalitäts- und Gewaltrate.
Eine Untersuchung der Universidade de São Paulo zeigt: Tod durch Feuerwaffen ist die
wichtigste Todesursache unter den negros, vor Herzinfarkt, Aids und Lungenentzündung.
1995 starben 7,5% der negros auf diese Art und Weise, gegenüber 2,8% der weißen
Brasilianer . Die meisten weißen Brasilianer (66,3%) sterben mit über 50 Jahren, bei den

154
negros sind es weniger als die Hälfte (43,8%). 41,7% aller negros starben zwischen 20 und
49, gegenüber 22,8% der weißen (Folha de São Paulo, 17.05.1998).

Die zunehmende Gewalt ist ein großes Problem in Brasilien. Die Polizei, die Militärpolizei
(PM) ebenso wie die Polícia Civil nehmen dabei eine oft sehr ambivalente Position ein:
einerseits sind sie zur Verbrechensbekämpfung verpflichtet, andererseits werden sie wegen
ihrer gewalttätigen Handlungen insbesondere von den Afro-Brasilianern gefürchtet. Die
Polizei ist meist ungenügend ausgebildet, schlecht bezahlt und verfügt über eine katastrophale
technische Ausstattung. Dazu kommt das Problem der Korruption und der Todesschwadrone.
Zwischen 1987 und 1992 verfünffacht sich die Zahl der von der PM erschossenen Menschen
auf 1470 Opfer, die meisten von ihnen Afro-Brasilianer (H. Santos, 2001, S.135). In Rio de
Janeiro sterben mehr negros und pardos (70,2%) in Konfrontationen mit der Polizei als weiße
Cariocas (29,8%). Zu diesem Ergebnis kommt die Studie des Soziologen Ignácio Cano des
ISER (Folha de São Paulo, 15.05.2000). In der Öffentlichkeit führen die Übergriffe der
Polizei jedoch allenfalls zum Protest von Menschenrechtsorganisationen.
Rund jeder vierte Paulistano (23%) fürchtet die Polizei mehr als die Banditen. Unter den
negros sind es sogar 35%, bei den weißen Paulistanos nur 19%. Dies hat eine Untersuchung
der Datafolha ergeben. Fast die Hälfte (48%) aller negros wurde schon einmal von der Polizei
untersucht, gegenüber 34% der weißen Paulistanos (Folha de São Paulo, 06.04.1997).

Zusammenfassend: Die Afro-Brasilianer gehören in ihrer überwiegenden Mehrheit zur armen


und ärmsten Bevölkerungsgruppe, verdienen weniger und sterben früher als ihre weißen
Landsleute, sind nur begrenzt in die formale Wirtschaft integriert, häufiger von
Arbeitslosigkeit betroffen, stellen einen Großteil der Analphabeten und die wenigen
schwarzen Universitätsstudenten sind die Ausnahme und nicht die Regel. Die oben genannte
Studie des Instituts für Angewandte Ökonomie (IPEA) zeigte darüber hinaus aber noch etwas:
Die geringe Qualifikation und die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Arbeitsmärkten ist eine
der Ursachen der sozialen Unterschiede. Es gibt aber sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch
im Bildungsbereich einen unterschiedlich großen Restfaktor, rassische Diskriminierung, der
für die Diskrepanzen verantwortlich ist (www.ipea.gov.br ). Mit steigendem Einkommen wird
der Faktor rassischer Diskriminierung immer wichtiger.

155
8.3 „mit gutem Auftreten85“ – verdeckter Rassismus
Rassismus in Brasilien zeigt sich bei einer vergleichenden quantitativen und qualitativen
Analyse der sozialen Ungleichheiten und deren Folgen für das Leben weißer und schwarzer
Brasilianer. Im folgenden Text sollen die vielfältigen Formen des Rassismus, rassischer
Vorurteile und Diskriminierung dargestellt werden.

8.3.1 Das europäische Ideal

Wer in Brasilien den Fernseher anschaltet, wird überrascht sein. Das Kinderprogramm am
Morgen moderieren die blonde Angélica oder Eliana, am Samstag Veteranin Xuxa, die
Hausfrauenunterhaltung am frühen Nachmittag die blonde Seniorin Ana Maria Braga, durch
die zahlreichen Talk- und Unterhaltungsshows führen die ebenso europäisch aussehenden
Moderator(inn)en wie die Ansager der Nachrichtenprogramme aus Mitteleuropa kommen
könnten. Und selbst in den beliebten Telenovelas des Vorabend- und Abendprogramms, die in
fast jedem der brasilianische Haushalte verfolgt werden, spielen Afro-Brasilianer meist nur
kleine Rollen. Allein in einzelnen Werbespots für Bier und Erfrischungsgetränke zum
Beispiel oder Elektrogeräte und der staatlichen Werbung für die inzwischen der Einschluss
von Afro-Brasilianer gesetzlich vorgesehen ist, erscheinen Afro-Brasilianer auf dem
Bildschirm. Eine Woche lang hat die Folha de São Paulo 115 Stunden Programme verfolgt
und bestätigt die rassische Trennung. Die Afro-Brasilianer sind zahlenmäßig und in kürzerer
Zeit zu sehen. Darüber hinaus erscheinen sie in überwiegend in einer stereotypen Darstellung,
vor allem als Musiker, Sportler oder Hausangestellte (Folha de São Paulo 6.1.1996)
Das europäische Ideal dominiert nicht nur das Fernsehen, sondern auch die Zeitschriften,
Modenschauen, Kinderspielzeug und im privaten Bereich. Bei Kindern gemischt-rassiger
Paare gilt es als großes Glück, wenn das Kind mit blonden Haaren und heller Haut zur Welt
kommt. Das lässt sich im Freundes- und Bekanntenkreis ebenso beobachten, wie in der
Zeitung lesen (Revista da Folha, Folha de São Paulo, 23.3.1997). Auch in vielen afro-
brasilianischen Familien ist man stolz darauf, wenn das Baby nicht das Kraushaar („cabelo
duro“) des Vaters geerbt und die um Nuancen hellere Haut der Mutter hat, besonders wenn es
ein Mädchen ist. Logische Folge, dass es vor allem die europäisch hellhäutigen Babys und
Kinder sind, die in Brasilien zur Adoption gesucht werden. „Anders als in den USA, wo alle
die als Schwarze angesehen gelten, die irgendwelche afro-amerikanischen Vorfahren haben,
85
„de boa aparência“ – ein gutes Erscheinungsbild wird in den Stellenanzeigen oft gewünscht. Damit ist in der
Regel ein europäisch anmutendes Äußeres gemeint.

156
reicht in Brasilien ein Tropfen weißes Blut, um weiß zu sein“ schreibt der brasilianische
Wirtschafts-Professor und Militante Hélio Santos (Santos, 2001, S.154). Was für den privaten
Bereich gilt, trifft umso mehr im öffentlichen Leben zu. Dies lässt sich selbst in typisch afro-
brasilianischen Bereichen wie dem Musikmarkt verfolgen. Mitte der 90er Jahre wurde die
„Morena“, also eigentlich ein eher afro-brasilianischer Typ, als Partnerin der blonden
Haupttänzerin der bahianischen Musikgruppe „É o Tchan“ gesucht. In einer sich wochenlang
hinziehenden Publikumsentscheidung des mächtigen Fernsehsenders Globo (vergleichbar mit
„Deutschland sucht den Superstar“), gewann schließlich eine Frau mit heller Haut und glatten,
braunen Haaren. Die erfolgreiche Musikgruppe nahmen die zahlreichen anderen lokalen
Pagodegruppen zum Vorbild und holten meist blond-gefärbte Tänzerinnen auf die Bühnen
(Revista da Folha, Folha de São Paulo, 7.3.1999).

Auch wer die besseren Restaurants, die eleganten Shopping-Center und chicen Bars und
Diskotheken Brasiliens besucht, wird nicht nur in Südbrasilien in der überwiegenden
Mehrheit auf europäisch aussehende Brasilianer treffen. Der brasilianische Autor Hélio
Santos verweist in seinem Buch auf eine Reportage der Zeitung O Dia vom 11.8.1996: Von
den 318 Angestellten der 33 besuchten Etablissements entlang der 16 Kilometer langen
Strandpromenade trafen die Reporter nur auf einen negro als Kellner. Dies veranlasste die
Schwarzenbewegung zu Protesten und zur Untersuchung der rassistischen Praktiken bei der
Auswahl der Kandidaten (in Santos, 2001, S.88) .
Nach einer älteren Untersuchung handelt es sich bei der Mehrzahl der Fälle von Rassismus,
die 1986 in der Presse erschienen, um Diskriminierungen in Geschäften, Restaurants, Hotels
oder Diskotheken (ca. 35%), am Arbeitsplatz (27%) oder in Apartmenthäusern (20%)
(IBASE, 1989, S32). Das lässt sich sicherlich auch für die darauffolgende Dekade bestätigen.
Insbesondere die Diskriminierung in den Apartment-Häusern, die bis heute in Brasilien mit
zwei getrennten Aufzügen für Personal (elevador de serviço) und Wohnungseigentümer bzw.
Gäste (elevador social) gebaut werden, wird immer wieder von Afro-Brasilianern im
Gespräch erwähnt.

157
8.3.2 Die Scham des Vorurteils

„Der Brasilianer vermeidet es nicht, schämt sich aber, Vorurteile zu haben“ Florestan
Fernandes

„Die Brasilianer wissen, dass es sie gibt, verneinen, welche zu haben, aber zeigen in ihrer
überwiegenden Mehrheit Vorurteile gegenüber Schwarzen“, lautet die knappe
Zusammenfassung einer Untersuchung der Datafolha über Rassenvorurteile in Brasilien
(Datafolha, 1995, S.11). In Ziffern: 89% der über 5000 befragten Brasilianer waren der
Meinung, dass es Rassismus in Brasilien gibt, aber nur 10% halten sich selbst für rassistisch.
Ein zunächst unüberbrückbar erscheinender Widerspruch. In der Untersuchung wurde dann so
vorgegangen, dass den Interviewten Fragen und Sätze mit unterschiedlichem Grad rassischer
Diskriminierung vorgelegt wurden, denen sie zustimmen oder die sie ablehnen konnten. Nur
die Antworten von 13% der Befragten waren frei von rassischen Vorurteilen, während 87% in
unterschiedlicher Stärke Schwarze diskriminierten (Datafolha, 1995, S.11ff.).
Zu den in der Untersuchung vorgelegten Aussagen gehörten zum Beispiel:
„ein guter Schwarzer ist ein Schwarzer mit weißer Seele“ ; „die einzigen Dinge, die die
Schwarzen gut können, sind Musik und Sport“; „ein Schwarzer, wenn er keine Dummheiten
beim Reinkommen macht, dann beim Rausgehen“ - Redensweisen, denen ich im Gespräch
mit Brasilianern unterschiedlichster Hautfarbe und sozialer Zugehörigkeit, immer wieder
begegnet bin.
Kurioserweise waren es nicht nur die weißen Brasilianer, die diskriminierend antworteten.
Fast die Hälfte der interviewten Schwarzen (48%) stimmen dem Satz zu „ein guter
Schwarzer, ist ein Schwarzer mit weißer Seele“ und ein Drittel (32%) hält die Aussage für
richtig „die einzigen Dinge, die die Schwarzen gut können sind Musik und Sport“ und selbst
die Redensart „ein Schwarzer, wenn er keine Dummheiten beim Reinkommen macht, dann
beim Rausgehen“ wird von mehr als einem Fünftel (22%) der Schwarzen als zumindest
teilweise zutreffend angesehen (Datafolha, 1995, S.26). Die als pardo, dunkel, klassifizierten
Brasilianer zeigten sich ebenso vorurteilsbeladen wie die weißen Brasilianer. Ein Viertel
(24%) der dunkelhäutigen Brasilianer hält die Aussage für zumindest teilweise zutreffend
„wenn Gott unterschiedliche Rassen geschaffen hat, so sollen sie sich auch nicht vermischen“
(Datafolha, 1995, S.27). Ein Viertel der untersuchten Personen in der bereits erwähnten
älteren Untersuchung fand nicht normal, wenn der Sohn oder die Tochter eine Schwarze(n)
heiraten würde (IBASE, 1989, S.33ff).

158
Es sind also insbesondere diese Stereotypen, die den Rassismus einerseits zeigen, andererseits
reproduzieren. Sie sind es auch, die von der Schwarzenbewegung bekämpft werden. So
beschreibt Santos, der zwischen 1984 und 1987 Vorsitzender des Conselho do Negro de São
Paulo war die verschiedenen Beschwerden des Organs beim Nationalen Rat für die Selbst-
Regulierung der Werbung (Conselho Nacional de Auto-Regulamentação Publicitária
(Conarp): Ein bekannter Komiker, Chico Anysio, der in einer Cachaça-Werbung mit einem
schwarz angemalten Gesicht, auf der Plakatwand zu sehen war Stereotyp schwarzer Säufer;
eine Kampagne gegen Steuerhinterziehung der Präfektur São Paulo, in deren Text
Steuerhinterziehung als Raub bezeichnet wird, und die von einem Photo begleitet wird auf
dem ein jugendlicher Schwarzer mit einem Revolver in der Hand abgebildet ist; eine
Regierungskampagne für die Rechte der Rentner, wo von den acht Personen auf dem Foto
zwei japanischer Herkunft sechs europäischer, aber kein Afro-Brasilianer zu sehen ist (Santos,
2001, S.118ff).

8.3.3 Die wichtigen Zwischentöne

Wie subtil sich die rassische Diskriminierung auch präsentiert, zeigen die folgenden Beispiele
aus dem brasilianischen Alltag: „Ist der Richter schon gekommen?“ wird der einzige
schwarze Richter am Gericht von São Paulo immer wieder gefragt. Regelmäßig wird er auch
von der Straßenpolizei zur Überprüfung der Dokumente angehalten, wenn er mit dem eigenen
Auto, einem neuen Modell der gehobenen Mittelklasse einer amerikanischen Firma
unterwegs ist. Ein Unternehmer aus Recife mit einem Jahresumsatz 1995 von 100 Millionen
wurde beim Besuch eines Autohauses vom Verkäufer angesprochen, ob er nicht eher einen
Lastwagen suche. Im Parkhaus des Sheraton-Hotels in São Paulo wurde er angesprochen, ob
Chauffeure so viel verdienen, dass er sich so ein Auto leisten könne (Datafolha, 1995).

Als „glass-ceiling“ wird in den USA das Scheitern an einer durchsichtigen Barriere
bezeichnet von denen, die ein mittleres Karriereniveau erreicht haben. Sie können weiterhin
den Gipfel sehen, wo sie hinmöchten, aber schaffen es nicht, auf der sozialen Leiter weiter
aufzusteigen. Erfahrungen erfolgreicher afro-brasilianischer Geschäftsleute illustrieren diese
Aussage. Zum Beispiel André Oliveira, Besitzer einer kulturellen Produktionsfirma:
Obwohl er einer der besten bei Abschluss des Studiums an der UFRJ war, fand er als einer der

159
letzten Arbeit. „Meine Kompetenz und mein Prestige wurden von den anderen ständig in
Frage gestellt und beneidet. Eines Tages wurde eine Versammlung unterbrochen und ich
gefragt, ob ich von Engländern adoptiert worden sei. Die anderen wunderten sich, warum ich
„negro“, Brasilianer sein und fließend Englisch sprechen konnte“ (Valor, 03.09.2001, D1,
D4). Oder José Marcos Oliveira, Verkaufsdirektor Nortel: „Am Anfang gibt es eine Phase, wo
alle hoffen, dass du versagst. Je mehr du sichtbar wirst, um so mehr zweifeln die anderen an
deinen Fähigkeiten, weil du negro bist.“ Seiner Erfahrung nach kann es vor allem in einer
leitenden Position passieren, dass das Team den schwarzen Chef zu sabotieren versucht. „Das
sind die subtilen Barrieren, die du überwinden musst“ sagt Oliveira. „Dass du negro bist, das
lernst du von klein auf. Die Vorurteile sind immer verdeckt. Wer sagt, er habe damit noch
nichts zu tun gehabt, der lügt“ (Valor, 03.09.2001, D1, D4).
Die bereits angeführte Untersuchung der Datafolha zeigte auch, dass die Fähigkeit Vorurteile
zu erkennen, in direktem Zusammenhang mit dem Bildungsniveau steht. Je höher das
Bildungsniveau, umso größer die Fähigkeit Rassismus zu erkennen. Aber auch eine
Beziehung zwischen Einkommen und rassischer Diskriminierung stellte die Untersuchung
fest. Je höher das Einkommen, umso seltener werden Vorurteile offenbart. Je geringer die
Einkommen, umso eher drückt jemand seine Vorurteile aus (Datafolha,1995, S.28)

8.3.4 Zwischen Recht und Ordnung

Zu den alltäglichen Übergriffen der Polizei gehört die rassistische Behandlung von Afro-
Brasilianern insbesondere im Straßenverkehr. Davon sind vor allem erfolgreiche Afro-
Brasilianer betroffen, die in teuren Importwagen durch die Strassen fahren - neben
Unternehmern und Politikern auch Sportler oder Musiker (z.B. Fußballer in São Paulo, Folha
de São Paulo, 14.1.1996 und Volleyball-Spielerin in Rio FSP 10.12.1994). Die dahinter
stehende Überlegung der Polizei ist die, dass es sich bei Schwarzen am Steuer eines teuren
Autos vermutlich um Kriminelle handelt, die kontrolliert werden müssen. Fast immer werden
die Kontrollen mit Pistole im Anschlag und unter großer Anspannung gemacht. Als
Entschuldigung wird oft angeführt, dass unter den betroffenen Polizisten ja auch negros seien
und deshalb nicht von rassistischem Vorgehen gesprochen werden könne (H. Santos, 2001,
S.140).
Was für das häufig diskriminierende Vorgehen der Polizei gilt, trifft auch für die privaten
Sicherheits-Unternehmen zu, wie sie bei Banken oder Shopping-Centers üblich sind. So ist es

160
schon passiert, das Menschen unschuldig festgenommen oder sogar erschossen wurden, „weil
er schwarz war und eine große Plastiktasche dabei hatte“ (Folha de São Paulo, 10.2.1995).

Fast immer, wenn das Gespräch auf Rassismus in Brasilien kommt, wird innerhalb kürzester
Zeit darauf verwiesen, dass in den USA Rassismus herrsche, in Brasilien aber allenfalls
soziale Diskriminierung. Oder es wird gesagt, dass die schwarzen Brasilianer ja selber die
schlimmsten Vorurteile hätten: gegenüber ihresgleichen bzw. gegenüber den weißen
Brasilianern. Als der umgekehrte Rassismus („racismo ás avessas“), der Schwarzen
gegenüber den Weißen wird dies bezeichnet. So empfanden viele eher helle Brasilianer die
vor wenigen Jahren in Mode gekommenen schwarzen T-Shirts mit dem weißen Aufdruck
„100% negro“ als rassistisch. Viele europäische Brasilianer fühlen sich auch in einem sehr
schwarzen Ambiente, wie zum Beispiel bei den Proben Olodums auf dem Pelourinho,
unwohl. Meinem Eindruck nach sind außer bei einigen politischen Veranstaltungen der
Schwarzenbewegung Weiße fast immer willkommen, in den Sambaschulen und blocos afros
ebenso wie in den religiösen Ambientes.
Immer wieder wird als Argument, dass jemand nicht rassistisch sein könne angeführt, weil er
einen Afro-Brasilianer in der Verwandtschaft, als Freund oder Kollegen habe. Eines der
extremsten Beispiel Mitte der 90er Jahre war der Fall des Sängers Tiririca. In seiner Musik
„Veja os cabelos dela“ (wörtlich: „Schau Dir mal ihre Haare an“) heißt es u.a. „..essa nega
fede. Fede de lascar/ bicha fedorenta fede mais que gambá“ (wörtlich: “diese nega stinkt.
Stinkt, dass es nicht zum aushalten ist/ stinkende bicha stinkt mehr als ein gambá“). Es kam
zu einem Prozess gegen den Kompositor und die Plattenfirma Sony, bei dem das Recht auf
freie Meinungsäußerung gegen den Vorwurf des Rassismus stand. Der Richter, der den Fall
entschied, argumentierte in seinem Urteil, dass es sich bei dem Text um einen Spaß handele.
Tiririca als Sohn einer „Negra“, verheiratet mit einer „Mestiça“ könne wegen seiner
persönlichen Herkunft wohl kaum Rassismus praktizieren und habe einen Spaß gemacht mit
der eigenen Frau (Zitiert nach H.Santos, 2001:132). Hélio Santos erinnert in seinem Buch
auch an zwei andere Musiken, die in die brasilianische Musikgeschichte eingegangen sind
und erst in den letzten Jahren durch ihren rassistischen Gehalt aufgefallen sind. Lamartine
Bobo, bekannter Kompositor von fröhlicher Karnevals Marchinhas aus der ersten Hälfte des
20.Jahrhunderts, bestätigt in einem Refrain “que a cor não pega”, „dass die Farbe der Mulatta
nicht abfärbe“, man(n) sich also mit ihr einlassen könne. „Nega do cabelo duro, qual é o
pente que te penteia” (Nega mit dem Kraushaar, welches ist der Kamm, der Dich kämmen
kann“) fragen sich die Komponisten eines anderen früheren Karnevalshits.

161
Seit in der Neuen Verfassung von 1988 Rassismus als Verbrechen eingestuft wurde, kam die
Frage in den 90er Jahren auch zunehmend vor Gericht. Dabei überwiegen bisher die
Anzeigen, Urteile zugunsten der Opfer des Rassismus sind erst wenige ergangen. Die
66jährige Künstlerin Dilce Pires da Silva zeigte den Wachmann eines Supermarktes in São
Paulo an, der sie und ihre Tochter verfolgte und gesagt haben soll „wenn Schwarze hier
reinkommen, dann um zu klauen“. Den Prozess gegen die Supermarktkette gewann sie (Veja,
14.9.1994). Und in Salvador bekam ein junges Mädchen Recht, dass im Supermarkt von
einem Wachmann verfolgt, des Diebstahls verdächtigt und festgehalten wurde. Die
Supermarktkette wurde zur Zahlung von zweitausend Mindestlöhnen verurteilt 86.

8.3.5 In nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen

Bisher haben erst wenige Afro-Brasilianer den Sprung in die Politik geschafft. Die wenigen
Ausnahmen bestätigen dabei nur die Regel. Im Jahr 2001 fand erstmals ein Treffen der
afrobrasilianischen Politiker (Encontro Nacional de Parlamentares Negros) in Salvador statt.
Zu diesem Zeitpunkt gab es einen farbigen Senator und acht farbige Bundesabgeordnete. Auf
Landesebene Bahias gab es vier Abgeordnete und neun Stadtverordnete. Salvador hat bisher
ebenso wenig einen schwarzen Bürgermeister gehabt, wie Bahia von einem afro-
brasilianischen Gouverneur regiert wurde.
Im April 2002 ist Benedita da Silva in den Gouverneurs-Palast in Rio de Janeiro eingezogen,
als sich der amtierende Gouverneur zur Präsidentschaftswahl stellte. In den Medien wurde
dies behandelt, wie die Geschichte Cinderellas, die in den Palast einzieht, dabei kann
Benedita da Silva auf eine solide politische Karriere zurück blicken. Sie war bereits
Stadtverordnete, Bundestagsabgeordnete und erste schwarze Senatorin in Brasília. Aber ihre
Vergangenheit ist typisch für die Mehrheit der schwarzen Brasilianerinnen. Als junge Frau
verdiente sie ihr Geld als Hausangestellte, als Kind putzte sie Schuhe. Benedita da Silva,
heute Anfang 60, hat noch bis vor kurzem in der Favela gelebt, in der sie auch groß geworden
ist. Sie ist Mitglied der brasilianischen Arbeiterpartei PT.

86
An diesem Beispiel erläutert Santos die einzelnen Aspekte des brasilianischen Rassismus:
Hier zeigten sich rassische Vorurteile, weil die junge Frau nicht wie eine normale Kundin
eingeschätzt wurde, individueller Rassismus, weil der Wachmann sie für nicht ehrlich
einschätzte, rassische Diskriminierung, weil der Wachmann seine vorurteilsgeladene Haltung
in Aktion umsetzte (H.Santos, 2001, S.110)

162
1988 anlässlich der 100 Jahrfeier der Abschaffung der Sklaverei wurde von der
Bischofskonferenz die Schrift „Ouvi o clamor desse povo“ („Ich hörte die Klagen diese
Volkes“) herausgebracht. Heute gibt es in der katholischen Kirche einige wenige Gruppen,
die sich mit Rassenfragen auseinandersetzen (Pastoral dos Negros etc.) und den Aufbau einer
christlichen, schwarzen Identität anstreben. Einige wenige, meist dunkelhäutige Priester
machen ökumenische Experimente mit der Integration afro-brasilianischer Elemente. Dabei
finden sie wenig Unterstützung von Papst und Kirchenkonservativen wie dem ehemaligen
Kardinal-Erz-Bischof von Salvador Moreira Neves oder dem Erzbischof von Rio de Janeiro
D. Eugênio Sales.

Selbst eine der brasilianischen Leidenschaften, der Fußball, ist ein Bereich, der nicht frei von
rassischer Diskriminierung war und ist. Als der Fußball 1894 nach Brasilien kam, war er ein
Sport der Eliten. Afro-Brasilianer wurden nicht akzeptiert. Noch 1915 hellte der Afro-
Brasilianer Carlos Alberto des Fluminense Fußball Clubs sein Gesicht mit Reismehl auf. Erst
1918 wurden schwarze Spieler von den Clubs akzeptiert. Seit der Professionalisierung des
Sportes 1933 wurde der Fußball dann zu einem Bereich, in dem viele Afro-Brasilianer sich
profilieren konnten. Zwischen den 50er und 70er Jahren waren die afro-brasilianischen
Spieler (u.a. Pelé und Garrincha) stark in der Nationalmannschaft repräsentiert, Brasilien
wurde dreimal Weltmeister und einmal Vize. Danach folgte eine Phase der „Aufhellung“ der
brasilianischen Nationalmannschaft. Erst in der Nationalmannschaft, die 1994 den vierten
Weltmeistertitel holen konnte, waren wieder überwiegend Afro-Brasilianer vertreten. Als
„anmalen“ des Teams wird dies im Fußball-Jargon bezeichnet87. Während es in den
nationalen Fußball-Ligen afro-brasilianische Spieler gibt, sind jedoch afro-brasilianische
Schiedsrichter und Trainer auf Landesniveau eine Rarität.
Auch eine andere sportliche Leidenschaft der Brasilianer, die Formel 1, in der im Vergleich
zu anderen Nationalitäten besonders viele Brasilianer vertreten sind, wird von Brasilianern
europäischen Erscheinungsbildes geprägt, genau wie das unvergessene Idol Ayrton Senna.
Auch im Springreiten und Tennis haben die international erfolgreichen Brasilianer eine helle
Hautfarbe.

87
„Die Abwesenheit der negros in der Mannschaft war die Abwesenheit der Brasilianität ... Die schwarze Schule
des Fußballs in Brasilien zeigt einer eher künstlerischen, als sportlichen Körper. Es gibt das Spiel des Körpers,
Ginga, Kreativität“ (Maurício Murad in FSP 15.1.1995, zitiert nach Santos, 2001, S.287).

163
8.4. Auf der Suche nach einem Weg für Brasilien

In diesem Kapitel wurde anhand vieler Bereiche gezeigt, wie sich der brasilianische
Rassismus präsentiert. Abschließend soll einer der Militanten selbst zu Wort kommen. In
seinem Buch „A Busca de um Caminho para o Brasil“ beschreibt der bereits mehrfach zitierte
Wirtschaftswissenschaftler Hélio Santos den Teufelskreis der brasilianischen Gesellschaft
anhand von sechs Schritten/Faktoren:
1. Durch die Art der Abschaffung der Sklaverei wurde die soziale Immobilität
vorbestimmt. „Der 14. Mai ist heute“ sagt Hélio Santos
(Interview, 10.12.2002).
2. Das Dilemma zwischen niedrigem Einkommen und geringerer Schulbildung begründe
die Diskrepanz
3. Für die herrschende Schicht der Gesellschaft seien die Afro-Brasilianer unfähig
4. Der Rassismus werde verinnerlicht.
Die Gesellschaft, welche die Afro-Brasilianer diskriminiert, halte sich für europäisch,
sei es aber nicht. Diese Gesellschaft sei in kultureller Hinsicht schwarz. Sie habe die
schwarzen Werte in ihrer Kultur internalisiert. „Die vermeintlichen Weißen, wenn sie
die Schwarzen angreifen, beleidigen sie sich selbst“ (H.Santos, 2001, S.148) .
5. Die fehlende ethnische und rassische Identität der brasilianischen Schwarzen sei das
Ergebnis der dominierenden Sichtweise der Gesellschaft. Die Instrumente diese
Sichtweise zu konsolidieren, seiendie Kommunikationsmittel. Die Folge für die Afro-
Brasilianer ist ein negatives Selbstbild, das Santos mit einer Frucht vergleicht:
„brasileiro jabuticaba“ - schwarz von außen, weiß von innen, wie die Frucht
Jabuticaba (H.Santos, 2001, S.150)
6. Die Situation sei nicht durch einen militanten Diskurs zu verkehren.

Wenn es also nicht der militante Diskurs ist, was ist es dann, was zu einer Veränderung der
Situation beitragen kann? Für Hélio Santos ist es insbesondere die Stärkung der schwarzen
kulturellen Werte. Nicht die Schwarzen Brasiliens sind ein Problem, sondern sie können zur
Lösung der brasilianischen Probleme beitragen. Eine Sonderrolle nimmt dabei Bahia ein.

164
9. „Bahia ist zu Jamaika geworden“ – die kulturelle Bewegung der Blocos Afros

„Bahia ist zu Jamaika geworden“ betitelte die angesehene Zeitung Folha de São Paulo Ende
der 80er Jahre die Ereignisse im 2000 Kilometer entfernten Salvador (Folha de São Paulo,
31.01.1988). 1988 das Jahr, in dem der 100. Geburtstag des Verbots der Sklaverei gefeiert
wurde, richtete sich das Augenmerk der brasilianischen Presse auf Bahia. Hier hatten die
Blocos Afros den Samba-Reggae erfunden, eine Mischung aus Samba und Reggae. Die
Blocos Afros hatten darüber hinaus eine politische Bedeutung, denunzierten die rassischen
Ungleichheiten und wurden zum Aushängeschild der schwarzen Kultur in Bahia.

In diesem Kapitel wird gezeigt, mit welchen Bezugspunkten und Instrumenten die Bewegung
der Blocos Afros neue Identifikationsmuster für Afro-Brasilianer anbietet. Zuvor aber werden
der Ort des Geschehens, Salvador da Bahia, sowie die historischen, wirtschaftlichen und
politischen Begleitumstände beschrieben.

9.1 Bahia - schwarzes Herz Brasiliens

„Bahia hat seine eigene Geschichte, seine eigene Kultur, seine eigene Lebensform. Von allen
Städten Brasiliens hat es am treuesten die Zivilisation bewahrt. Nur in ihren Steinen und
Straßen versteht man Brasiliens Geschichte, nur hier begreift man, wie aus Portugal Brasilien
geworden ist“ (Zweig, 1984, S. 261f)

Der Bundesstaat Bahia hat in etwa die Größe Frankreichs. Rund 13 Millionen Menschen
leben hier. Bahia ist Teil des brasilianischen Nordostens. Nach São Paulo und Rio de Janeiro
ist Bahias Hauptstadt Salvador mit rund 2,5 Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt
Brasiliens. 80% der Einwohner Salvadors sind Afro-Brasilianer (www.ibge.gov.br ) .
Die Stadt Salvador liegt an der Bahia de Todos Os Santos, der Allerheiligenbucht, der
zweitgrößten Bucht Brasiliens. Oft spricht man deshalb auch von Salvador da Bahia.

Salvador war die erste Hauptstadt der portugiesischen Kolonie Brasilien und über drei
Jahrhunderte Zentrum des transatlantischen Sklavenhandels. Ausmaß, Dauer und
Organisationsform des Sklavenhandels und der auf Sklaverei basierenden Kolonialwirtschaft
waren einzigartig in der Neuen Welt . In Salvador zeugen die vielen Barockkirchen und –

165
bauten vom Reichtum vergangener Epochen. Die Güter aus dem fruchtbaren Hinterland
Salvadors, dem Recôncavo, der sich wie der Name verrät, um die Bucht schmiegt, wurden aus
der Bahia direkt nach Europa bzw. Afrika verschifft.

Nachdem sich das wirtschaftliche und politische Geschehen ab Ende des 18. Jahrhunderts aus
dem Nordosten in den Südosten, nach Rio de Janeiro und später São Paulo, verlagert hatte,
verfiel Salvador in einem fast hundertjährigen Dornröschenschlaf. Erst mit Ansiedlung der
Industriekomplexe in Aratu und besonders Camaçari begann ab Ende der 60er Jahre eine neue
Entwicklungsphase. Zum ersten Mal wurden Afro-Brasilianer in Bahia in größerem Maßstab
zu Industriearbeitern, die über stabile, höhere Einkommen verfügten und sich sogar
gewerkschaftlich organisierten (s. dazu Agier, 1992). Ihrem gesellschaftlichen Aufstieg
standen jedoch die Vorurteile bezüglich ihrer Hautfarbe entgegen.

Auf politischer Ebene begünstigte die Auflockerung der autoritären politischen Verhältnisse
der seit 1964 herrschenden Militärdiktatur den langsamen graduellen Übergang zu
demokratischen Verhältnissen. Die politischen Repressionen nahmen ab Mitte/Ende der 70er
Jahre ab, meinungsbildende Künstler kehrten Anfang der 80er Jahre aus dem europäischen
Exil zurück, die öffentliche Diskussion bislang tabuisierter Fragestellungen wurde erstmals
wieder möglich. Das verbesserte politische Klima bot auch Raum für das von der
Militärregierung per Dekret verbotene Thema Rassismus.

Die Industrialisierung der Wirtschaft wirkte sich auch auf die anderen gesellschaftlichen
Bereiche aus. Über die Medien gelangten zunehmend Informationen der internationalen
politischen und kulturellen Schwarzen-Bewegungen nach Salvador. Nachrichten von den
Befreiungskämpfen der Länder in Afrika ebenso wie neue Musikmoden, insbesondere Soul
und Reggae, erreichten Salvador. Dieses neu erwachende Selbstbewusstsein fand seinen
ersten organisatorischen Ausdruck in der Gründung des Karnevalsvereins Ilê Aiyê. Dem
Beispiel folgte eine Gründungswelle der unterschiedlichsten Blocos Afros.

Bahia ist ein Ort Brasiliens, der in besonderer Weise mystifiziert wird. Salvador ist die Stadt
Brasiliens, die am stärksten von den afrobrasilianischen Kulturen geprägt ist: Der Kampftanz
Capoeira, die Candomblé-Religion, die Straßenfeste zu Ehren der afrikanischen Götter,
Orixás genannt, bzw. der katholischen Heiligen, an deren Prozessionen die Baianas, dem
Candomblé zugehörige Frauen in traditioneller Festkleidung teilnehmen, Moqueca und

166
Acarajé, Gerichte, die ursprünglich nur aus Bahia kommen und deren Zutaten, wie Palmöl,
Trockenkrabben oder Okraschoten, afrikanischen Ursprungs sind. „Die Kultur in Bahia
kommt vom Volk bevor sie zum Schmuckstück der Eliten wird. Die Kraft dieser Kultur hat
mit der intensiven schwarzen Beteiligung zu tun“ (H.Santos, 2001, S. 257)

Baianidade („Bahianität“) ist ein Begriff, zu dessen Facetten diese kulturellen Äußerungen
gehören, der letztlich aber nicht eindeutig zu definieren ist. Baianidade ist Ausdruck einer
bestimmten Identität, vergleichbar mit der bereits zuvor erwähnten brasildade, der
Brasilianität, über die sich Anthropologen und Soziologen, Politologen und Philosophen
immer wieder Gedanken gemacht haben. Gleichzeitig werden dabei aber auch bestimmte
Stereotypen produziert, die positiv und negativ bewertet werden können.
Für die meisten Afro-Brasilianer ist Bahia so etwas wie eine spirituelle Heimat, steht für die
Sehnsucht nach authentischen Werten, nach den eigenen Wurzeln, nach einer eigenen
Identität. „In Bahia, das ist sicher, wer schon keinen Schwarzen im Blut hat, kann es nicht
verhindern, ihn im Kopf zu haben“ schreibt Hélio Santos (H.Santos, 2001, S.256). Diese
Assoziationen begründen sich auf der Stärke der religiösen Wurzeln und der Kraft der neuen
kulturellen Bewegung. In den letzten Jahren kommen zunehmend auch us-amerikanische
Schwarze auf der Suche nach einer authentischen, schwarzen Kultur hierher.

Die ebenso farbenprächtige wie geschichtsreiche Kulisse dieser Volkskultur ist das
historische Zentrum Salvadors. Das centro histórico ist der größte zusammenhängende
Barockkomplex in der Neuen Welt und von der UNESCO 1985 als Kulturdenkmal der
Menschheit anerkannt. Kern des alten Zentrums ist der Pelourinho-Platz, der wie kein anderer
Ort Salvadors eine symbolische Konstruktion schwarzer Identität ist.88 Früher war das
Pelourinhoviertel das Nobelviertel der Stadt. Seit Mitte letzten Jahrhunderts begann sich die
Bewohnerstruktur des Pelourinho zu verändern. Die reicheren Klassen zogen aus den
Sobrados, den zweistöckigen Kolonialbauten in die Villen der Stadtviertel Graça, Vitória und
Barra. Ärmere Menschen zogen nach, der Abstieg des Viertels begann. Anfang der 90er Jahre
(1992) wurde das Gebiet durch eine großangelegte Renovierungsaktion der bahianischen
Landesregierung restauriert und für den Tourismus hergerichtet. Die ursprünglichen
Bewohner, die in den heruntergekommenen Kolonialbauten gewohnt hatten, in ihrer
erdrückenden Mehrheit arm, schwarz und von der Gesellschaft marginalisiert, wurden aus
dem neuen Touristengebiet verdrängt. Der Pelourinho aber bleibt auch weiterhin das Herz der

88
s. auch Sansone, 1995.

167
schwarzen Volkskultur und wird im ganzen Land mit den neuen kulturellen Ereignissen
assoziiert.

Die schwarze Alltagskultur Bahias mit ihren religiösen, musikalischen, tänzerischen,


ästhetischen oder kulinarischen Elementen bildet den Nährboden für eine bunte
Folklorisierung und Kommerzialisierung Bahias. Ab Ende der 80er Jahre wird Bahia als Ziel
des nationalen und internationalen Tourismus immer wichtiger. „Wir haben Interesse das
Leben der Bahianer zu verbreiten, weil das Essen, die verschiedenen kulturellen
Manifestationen, die Freizeit, der Strand Teil unseres Produktes sind“ (Gaudenzi in Revista
Bahia Análise & Dados No.4 1996) Der Ausbau der touristischen Infrastruktur, die
Restaurierung der Altstadt zusammen mit einem geschickten Tourismus-Marketing sind aber
auch für die Entwicklung der neuen kulturellen Schwarzen-Bewegung von grundlegender
Bedeutung.

„Baiano não nasce, estréia” heißt es in Brasilien, „der Bahianer wird nicht geboren, sondern
hat Premiere” auf der Weltenbühne. Dafür wird er ebenso bewundert wie er mit einem
gewissen Stigma leben muss. In São Paulo und vielen anderen Regionen des Südens und
Südostens weckt das Wort Baiano negative Assoziationen. Der Baiano gilt als arbeitsscheu,
rückständig, langsam, gleichzeitig jedoch lebensfroh und immer bereit, ein Fest zu feiern. Der
Mythos der bahianischen Faulheit hält einer wissenschaftlichen Analyse jedoch nicht stand.
Die Anthropologin Elisete Zanlorenzi zeigte in ihrer Doktorarbeit89, dass Ende der 80er Jahre
50,4% der im Großraum Salvador Beschäftigen mehr als 48 Stunden arbeiteten und 35,78%
zwischen 38 und 47 Wochen (A Tarde, 31.07.2002).
Auch eine Studie unter ausländischen Firmen spanischer und nordamerikanischer Herkunft in
Bahia zeigte, dass die Ausländer übereinstimmend den Bahianern bestätigten, viel zu arbeiten.
Darüber hinaus beschrieben sie die bahianische Unternehmenskultur als kreativ und
innovativ, affektiv und Konflikt vermeidend, aber auch als hierarchisch und kurzfristig
Gewinn anstrebend. Sie erwähnten die große Bedeutung der Religion, die unterschiedlichen
Zeitvorstellungen, die Bedeutung des Arbeitsplatzes als Ort sozialen Miteinanders u.a.m
(Gazeta Mercantil, 14.08.2002).

Nach einer Untersuchung des staatlichen Statistikinstituts IBGE liegt das durchschnittliche
Familieneinkommen in Salvador bei 894 R$ (ca. 298 €). Die Analphabetenquote bei rund

89
O Mito da Preguiça Baiana, Diss., Universidade de São Paulo, 2001

168
6,25%. (A Tarde, 06.12.2002). Diese Werte sind Durchschnittswerte hinter denen sich extrem
große Unterschiede im sozio-ökonomischen Niveau der Einwohner Salvadors,
Soterapolitianos genannt, verbergen. Im Staat Bahia leben nach der gleichen Untersuchung
440.000 Familien ohne reguläre monatliche Einkünfte.

In Salvador haben die schwarzen Arbeitnehmer nach der neuesten Untersuchung des
gewerkschaftsnahen Departamento Intersindical de Estatística e Estudos Sócio-Econômicos
(DIEESE) einen Anteil von vier Fünfteln (79,9%) am Arbeitsmarkt und verdienen im
Durchschnitt nur wenig mehr als zwei Mindestlöhne (etwa 160 Euro). Die weißen
Arbeitnehmer (20,1%) verfügen dagegen über mehr als dreimal so viel Einkommen.

Rund die Hälfte der afro-brasilianischen Bevölkerung Salvadors befindet sich in einer
prekären Arbeitssituation, während weniger als ein Drittel der weißen Soterapolitanos davon
betroffen ist. 43,5% der Schwarzen verdienen im Großraum Salvador (Região Metropolitana
Salvador, RMS) als Autonome ihr Geld gegenüber 30,2% der weißen Soterapolitanos. Bei
vielen dieser Tätigkeiten geht es um einfache Handels- oder Dienstleistungen, wie zum
Beispiel Verkauf von Waren oder Arbeiten als Hausangestellte, die ohne gesetzlich-geregelte
Arbeitsvereinbarungen gemacht werden.
Die Arbeitslosenquote der Afro-Brasilianer liegt bei 28,4% , gegenüber 18,9% der weißen
Arbeitnehmer. Noch schlechter schneiden die schwarzen Frauen ab: 31,2% gegenüber 24,3%
der weißen Frauen.
Die schwarzen Soterapolitanos beginnen früher zu arbeiten und müssen länger aktiv bleiben
als die weißen. Immerhin 17,1% der 15-18jährigen jugendlichen Schwarzen arbeiten,
während es bei den weißen Jugendlichen so wenig sind, dass sie nicht erfasst werden
konnten. Über drei Viertel (76,2%) der 18-bis 24jährigen Afro-Brasilianer üben eine
Erwerbstätigkeit aus, gegenüber 66,2% ihrer gleichaltrigen weißen. In der Altersgruppe über
40 gehen nur noch 52,1% der weißen Soteropolitanos einer Beschäftigung nach gegenüber
57% der schwarzen Soterapolitanos (A Tarde, 21.11.2001).

Über ein Fünftel (21,6%) der Einwohner Bahias sind Analphabeten. Damit liegt Bahia weit
über dem brasilianischen Durchschnitt. In Salvador liegt die Analphabetenquote allerdings
nur bei 6,2 %. Die höchsten Analphabetenquoten gibt es in den Gemeinden des Inlands. Als
eine der wichtigsten Ursachen für die hohen Quoten gilt das vorzeitige Verlassen der Schule
(A Tarde, 05.08.2002). 79% der Schüler sind in den staatlichen Schulen immatrikuliert (A

169
Tarde, 09.05.2002). In Salvador erreichten laut amtlicher Statistik über 75% der Schwarzen
1989 nicht einmal den Hauptschulabschluss, gegenüber knapp 16% der weißen Bevölkerung
(Pimenta, 1995, S. 65).

In Bahia geben rund 86% der Bevölkerung ihre Religion mit katholisch an und nur 0,1% als
afro-brasilianisch, 11,6% gehören zu den evangelistischen Pfingstkirchen. (IBGE nach A
Tarde, 09.05.2002) Dies zeigt, dass bis heute die meisten Anhänger des Candomblé auch in
Bahia nicht eindeutig zu ihren religiösen Präferenzen stehen, bzw. dass der Synkretismus weit
verbreitet ist. Der schwarze Hilfs-Bischof der Erzdiözese Salvadors Dom Gílio Felício
bekennt im Interview „dass es eine tiefgreifende Identität zwischen katholischem Glauben
und dem Candomblé gibt“ (Veja, 1.01.1998). Einige Priester in Salvador halten Messen mit
afro-brasilianischen Elementen und tragen Kutten, deren Muster afrikanisch inspiriert sind.
Frisch Eingeweihte aus dem Candomblé sitzen unter Tüchern verhüllt am ersten Freitag des
neuen Jahres in der Bonfim-Kirche. Für Außenstehende sind die Trennlinien nur schwer zu
entschlüsseln90.

Die ethnische Frage verwischt sich in einer sozialen Realität, die gekennzeichnet ist, durch
die Mischung der Rassen, den religiösen Synkretismus und wo der Ausschluss der Schwarzen
oftmals verwechselt wird mit der typischen Marginalität, in der die armen Teile der
Bevölkerung leben (Bacelar,1989). Es sind nicht die sozialen und wirtschaftlichen
Schwierigkeiten, durch die sich die Afro-Brasilianer identifizieren, sondern ihre Fähigkeit in
einem bestimmten Ambiente und bei den gegebenen historischen Bedingungen zu erkennen,
was zu tun ist, um ethnisch und kulturell „negro“ zu sein.
Diese kulturelle Identität wurde ausgehend von der Bewegung der Blocos Afros neu kreiert.

9.2 Die Reafrikanisierung des Karneval

Kultur wird gebraucht, manipuliert, eingesetzt. Baumann spricht in seinen Arbeiten zur Kultur
von einem inhärenten Dualismus der menschlichen Erfahrungen, bei dem Menschen als
Objekte Abhängigkeit und Zwang erleben, als Subjekte jedoch Kreativität und
Handlungswillen spüren (Baumann, 1973). Die Afro-Brasilianer der Blocos Afros machten
sich zu Produzenten und Produkten in der Welt der Kunst und Kultur. Sie besetzten physisch

90
Ausführlicher zu Candomblé siehe Kapitel 6.

170
und kulturell Orte, die zuvor stigmatisiert wurden. Sie übernahmen und erklärten die Wurzeln
bahianischer Kultur in einem vorher nicht gekannten Ausmaß mit der historischen Beziehung
zu Afrika, den afrikanischen Traditionen. Tradition ist dabei im Sinne Hobsbawm´s zu
verstehen, als eine ebenso reale wie auch erfundene oder herangezogene Tradition, die sich
auf eine historische Vergangenheit bezieht (Hobsbawm & Ranger,1994). Jetzt wurde die
historische Beziehung zu Afrika zur Referenz bei der Konstruktion einer schwarzen Identität.
Trotz schwierigster wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse hatten sich die Afro-
Brasilianer immer bemüht ihre Kultur und ihr Erbe zu erhalten. Das afro-brasilianische
Denken, ist ein Denken der Annäherung, zu dem die Schwarzen in Brasilien gezwungen
wurden, um eine eigene Kultur, unabhängig von einem Territorium zu kreieren „Die Musik
ist die Waffe, mit der er [der negro] ein ihm nicht zugängliches Territorium erobert und dieses
mit den Besonderheiten seiner Mentalität neu konstituiert“ sagt der Anthropologe Muniz
Sodré im Interview (die tageszeitung 27.12.1994).

9.2.1 Der Bezug zu Afrika und die Konstruktion einer Identität

Innerhalb der Gesellschaft orientierten die Blocos Afros ihre Handlungen und gaben ihnen
Bedeutungen über die Manipulation der Symbole (Morales, 1990, S.19). „Der Bloco Afro
anders als der Bloco de Trio... er hat eine Informationsfunktion. Er agiert als Geografie-
Lehrer, als Geschichts-Lehrer, als Politik-Lehrer, weil er den Menschen beibringt, in
Anführungsstrichen, wo Jamaika liegt, wer die Regierung von Jamaika ist, wer die
Pharaonen waren, wie die politische Struktur Ägyptens ist, Ilê zeigte dieses Jahr Tansania,
Nelson Mandela...“ So beschreibt Xaréu, einer der Komponisten des Bloco Afro Muzenza
diese Aufgabe (Xaréu, 1992).
Die Blocos Afros waren ausdrücklich afrikanisch inspiriert und Ausdruck ethnischer
Bestätigung in Einklang mit dem Bewusstseins-Prozess der „Blackitude baiana“. Ihre
Wurzeln liegen in den kulturellen (Gegen-) Revolutionen der 60er Jahre, in den Werten der
schwarzen Kultur: der Bewegung der Black Panthers, der Musik Jimmy Hendrix´ und James
Brown´s, der Haltung schwarzer Sportler wie Cassius Clay, der sich später Muhammad Ali
nannte, Persönlichkeiten wie Martin Luther Kind, Malcolm X und Angela Davis (Morales,
1991, S.78).
Antônio Risério war einer der ersten, der die Bedeutung des Einflusses der Symbole der
Massen-Kultur für die neuen afro-karnevalesken Formen hervorhob – ebenso für die Blocos

171
de Indios (Western) wie für die Blocos Afros, in die Teile neuer kultureller Verhaltensweisen
auf der Basis schwarzer amerikanischer Musik, insbesondere Funk und Soul eingingen
(Risério, 1981, S.67;27-33). Die jungen schwarzen Soterapolitanos identifizierten sich als
„brows“, nach dem Funk-Idol James Brown.
Die Blocos Afros stellen eine Beziehung zu Afrika her, sei es eine mythische oder eine
konkrete. In ihren Liedern thematisieren sie afrikanische Kulturen, die afro-brasilianische
Geschichte, sowie die Helden der nationalen und internationalen Schwarzen-Bewegung.
„Das war sehr wichtig für uns den afrikanischen Kontinent zu entdecken. Was wir in der
Schule lernten war doch, dass wir Sklaven waren, dass wir dafür gemacht seien, Schläge zu
bekommen, zu arbeiten, bestraft zu werden. Aber ab dem Moment entdeckten wir, dass wir
Nachfahren von Afrikanern sind, von Königen und Königinnen, dass wir unsere eigene Kultur
haben“ (Washington, 1993).

9.2.2 Das Karnevalsthema

Anders als beim Karneval der Samba-Schulen in Rio de Janeiro wird im bahianischen
Strassenkarneval keine bestimmte Thematik vorgegeben. Zwar gibt es ein Motto, das die
Karnevalskommission der Stadtregierung festlegt, aber dieses Motto beeinflußt mehr die
offizielle Dekoration der Strassen, als die einzelnen Gruppen. Jede Gruppe präsentiert sich im
Karneval, wie es ihr gefällt. Anders als bei den Blocos de Trio, für die die Kleidung der
Karnevalisten nur eine untergeordnete Rolle spielt und auch die Musik allein kommerziellen
Aspekten folgt, sind die oft farbenprächtigen, afrikanisch anmutenden Kostüme und die
Musiken der Blocos Afros und Afoxés thematisch eingebunden. Jeder Bloco Afro und Afoxé
verfolgt eine bestimmte Linie und bearbeitet ein Thema. So sind zum Beispiel die Stoffe der
Kostüme des Bloco Afro Ilê Aiyê immer in den Farben Rot, Schwarz, Weiß und Gelb, tragen
die Männer des Afoxé Filhos de Gandhi immer die gleichen weißen Gewänder und Turbane,
hat der Bloco Afro Muzenza jedesmal eine Gruppe mit Rasta-Männern – gleichzeitig jedoch
werden die jeweiligen Thematiken vorgestellt: in den Musiken, den Tanz-Choreografien, den
Drucken der Stoffe.
Jedes Jahr, kurz nach Karneval, wird vom Direktorium der Karnevalsgruppe das Thema für
den nächsten Karneval festgelegt. Bei den Blocos Afros und Afoxés sind es in der Regel
Themen, die Bezug zur afrikanischen Herrkunft, zur afro-brasilianischen Geschichte, zur
internationalen Schwarzenbewegung und schwarzen Kultur haben. Vom Direktorium wird

172
eine Postille verfaßt, die Informationen zum Thema liefert. Jeder, der Interesse hat, kann sich
die beim Vereinssitz abholen. Danach lassen die Komponisten und Liedschreiber ihre
Phantasie spielen und schreiben Texte. „Ich machte Forschungen und eine Ausstellung
darüber, machte die Postille und verteilte sie und organisierte Veranstaltungen zum Thema...
Das Thema ist die Basis für die Stimmung im Karneval. Wenn es nicht gut bearbeitet wurde,
sind die Musiken furchtbar. Wenn es gut gemacht ist, dann sind die Texte der Lieder gut,
erzählen interessante Dinge, bringen unbekannte Begriffe“ (Rodrigues, 1992). Darauf
basierend schreiben Dichter und Komponisten während des ganzen Jahres neue Texte und
Melodien und konkurrieren um die Gunst des Publikums auf den öffentlichen Proben. Die
Designer entwerfen die Stoffe und Kleider, die während des Umzugs von den Musikern,
Tänzern, Direktoren und Mitgliedern der Gruppe getragen werden. Das jeweilige Thema hat
also starken Einfluss auf die Darbietung des Bloco Afro im Karneval. Mehr noch: Der
Karneval ist auch eine Gelegenheit eine bestimmte Thematik auf die Strasse zu bringen.

9.2.3 Die Musik- und Schönheits-Festivals

Jeder Bloco veranstaltet eigene Musik- und Schönheits-Festivals, während der die Lieder und
Repräsentantinnen für den kommenden Karneval gewählt werden. Bei den Musikfestivals
werden von einer Jury die besten Musiken ausgesucht. Im Verlauf der davor liegenden
Monate haben die Lieder, die ins Finale kommen, einen Aufführungsmarathon hinter sich.
Zunächst wurden die neuen Kompositionen in kleinem Kreis vorgestellt, bei den
Musikdirektoren oder anderen Freunden und Bekannten im Bloco. Dann werden sie vor
Publikum lanciert. Jede Woche proben die Blocos Afros. Die Trommler müssen die
Rhythmen lernen, die Sänger ihre Texte. Das sind Veranstaltungen, zu denen je nach
Beliebtheit der Gruppe die Nachbarschaft, Freunde, Freunde von Freunden, die Fans,
kommen. Bei den Proben zeigt sich, welche Lieder auf das Publikum wirken. Meist tritt auch
hier schon eine Jury an, um aus der Vielzahl der Kompositionen, die besten heraus zu filtern,
die am Finale teilnehmen dürfen. Die Proben, die Musik- und vor allem die
Schönheitsfestivals heizen den bahianischen Sommer über das Klima in der Stadt an.

Die Wahl der „Beleza Negra“ des ersten Bloco Afro Ilê Aiyê ist bis heute jedes Jahr eines der
wichtigsten Ereignisse der schwarzen Gemeinschaft. Eine schwarze Gala-Veranstaltung, die
normalerweise in einem Festsaal, einem Club oder Veranstaltungsraum stattfindet, der im

173
Verlauf des Jahres eher von der hellhäutigen Mittel- und Oberschicht frequentiert wird. Die
Wahl des Veranstaltungsortes ist ebenso eine Demonstration, wie die Eleganz der Menschen,
die zu dem Ereignis kommen. Es ist die Nacht der schwarzen Schönheit. Die handverlesene
Jury besteht aus Persönlichkeiten der Schwarzenbewegung wie Schauspielern,
Wissenschaftlern oder Politikern und manchmal auch hellhäutigen Brasilianern, in der Regel
die Sponsoren (Direktor Supermarktkette, Vorsitzender Stromkonzern) des entsprechenden
Jahres. Im Verlauf des Abends spielt die Musikgruppe Ilê Aiyês, zeigt die Tanzgruppe eine
neue Choreographie. Jedes Jahr treten auch bekannte brasilianische Musikstars auf, die einen
Bezug zur afro-brasilianischen Kultur haben.
Die Kandidatinnen präsentieren sich in aufwendigen afrikanisch-inspirierten Kostümen.
Kunstvolle Flechtfrisuren, mit Muscheln geschmückt, zu Kronen gebogen, leuchtende
Tücher, zu imposanten Turbanen gewickelt, Stoffe mit ethnischen Motiven, stilisierte
Insignien der Orixás – die Kandidatinnen bereiten sich monatelang auf ihren Auftritt vor.
„Schwarze Schönheit ist für den Schwarzen etwas anderes. Es ist keine Frau voller Make-up
und Lippenstift. Schwarze Schönheit ist etwas natürliches. Je natürlicher, umso besser“
(Mestre Gari, 1992). Neben der Schönheit von Körper und Gesicht, spielt die tänzerische
Darbietung und die gesamte Präsentation eine wichtige Rolle. Die Kandidatinnen werden
nicht nur mit Namen und Alter vorgestellt, sondern auch mit den Orixás, die ihren Kopf
regieren, und den jeweiligen Berufs- und Ausbildungsplänen.
Jede Kandidatin hat ihre Fans dabei, die mit Klatschen und Rufen oder sogar großen
Spruchbändern auf sich aufmerksam machen. Die Wahl der Beleza Negra ist nicht einfach die
Wahl einer Schönheitskönigin, sie repräsentiert mit einem Höchstmaß an Ästhetik all das,
wovon viele der schwarzen Gemeinschaft träumen, wofür sie sich engagieren. „Die schwarze
Schönheit, die zum Schauspiel wird, ist ein typisches Phänomen der Modernität. Dabei
handelt es sich um ein Element, das Identifizierungen hervorbringt und Wege zur
Transformation und einem anderen Verständnis von Realität aufzeigt“ (Silva, 1996, S.42).

9.2.4 Die Rhythmen

Der musikalische Erfolg Olodums Ende der 80er, Anfang der 90 Jahre ist vor allem in seiner
starken Perkussion und den mitreißenden Rhythmen begründet. Der „rollende, von tiefen
Frequenzen getragene und von scharfen Akzenten vorwärts getriebene groove91 der blocos

91
Der aus dem Englischen kommende Begriff groove beschreibt das Erleben von Musik, bei der eine spürbare rhythmische Spannung
entsteht, die Musiker und Zuhörer in ihren Bann zieht und zum Tanzen animiert. Zu den musikalischen Elementen des groove s. Keil/Feld,
1994.

174
afro animiert unwillkürlich zum Tanzen“ schreibt die deutsche Musik-Forscherin Christiane
Gerischer (Gerischer, 1996, S.54). Sie hat in ihrer Magister-Arbeit die Rhythmen der
bekanntesten Blocos Afros analysiert92. Wodurch entsteht der Groove, diese spürbare
rhythmische Spannung, die wie ein Sog auf Musiker und Zuhörer wirken kann? Dabei gehen
afro-brasilianische Rhythmen eine Fusion ein mit zunächst karibischen Einflüssen,
insbesondere Reggae und Merengue, später us-amerikanischen, Rock und Rap. Sie verweist
auch auf die afrikanischen Wurzeln brasilianischer Musik, die sich in der polyrhythmischen
Struktur des Samba, der Dominanz der Perkussionsinstrumente und der „Tanzbarkeit“
brasilianischer Musik zeigen. „Was beim ersten Hörereindruck als relativ gleichförmige
Perkussion erscheint, stellt sich in der detaillierten Analyse der einzelnen Blocos als eine
differenzierte und vielfältige Rhythmik dar“ (Gerischer, 1996, S.125).

Ein Wendepunkt der Entwicklung des bahianischen Karnevals ist das Jahr 1987. Zwei
Musiken sind damit verbunden: Die Lieder „Faraó“ von Luciano Gomes dos Santos,
Kompositeur des Bloco Afro Olodum und „Eu sou negão“ („Ich bin ein Schwarzer“) des
Musikers Gerônimo. Das Lied Faraó, auf das in Kapitel 12 noch eingegangen wird, stellt eine
Beziehung her zwischen den ägyptischen Hochkulturen und den schwarzen Bahianern.
Ägypten wird zu einem schwarzen Symbol der jungen Afro-Brasilianer, welche die Proben
der Blocos Afros frequentieren.
Das zunächst nur bei den Proben Olodums am Pelourinho gesungene Lied eroberte die
Strassen und wurde auf allen Festen des bahianischen Sommers gespielt, die mit der Lavagem
der Kirche Conceição da Praia im Dezember beginnen und sich über die ganze Stadt verteilt
bis zum Karneval hinziehen. Im Karneval spielten dann bereits einige Musikgruppen der
Blocos de Trio das Lied auf dem Castro Alves Platz. Zum ersten Mal wurde ein Titel der
Blocos Afros auch von anderen Gruppen wie Djalma Oliveira, Margareth Menezes, Banda
Mel und Banda Reflexus erfolgreich aufgenommen. Die Banda Reflexus, eine Bloco de Trio-
Gruppe, verfügt über ein Repertoire mit großem Anteil der Rhythmen der Blocos Afros. Von
ihrer ersten Platte verkauften sie fast eine Million Exemplare – ein spektakulärer Erfolg für
eine bis dahin auf dem nationalen brasilianischen Musikmarkt unbekannte regionale
Musikform.

92
Während Ilê Aiyê seit seiner Gründung 1974 einen an Samba und ijexá orientierten groove spiele („Afro-Samba“), betone Olodum die
karibischen und Reggae-Elemente und habe viele neue Rhythmen entwickelt („Samba-Reggae“). Die Gruppe Ara Ketu nehme stilistisch
eine Sonderrolle ein (Gerischer, 1996, S.62).

175
Das Lied „Eu sou negão“ veränderte den Sinngehalt des Begriffs negão, wörtlich: großer
Schwarzer. Zunächst waren es die Fans der afro-bahianischen Musikszene, die sich so
bezeichneten. Heute findet man in Bahia und ganz Brasilien viele junge Schwarze, die sich
selbstbewusst als negões und negonas titulieren. Es „sind wache Personen, die sich ihrer
Negritude bewusst sind und mit den kulturellen Bewegungen auf lokaler, afrikanischer,
jamaikanischer und nordamerikanischer Ebene verbunden sind. Sie tragen bunte Kleider und
extravagante Frisuren mit der Haltung derer, die sich selbst mögen“ beschreibt die
bahianische Anthropologin Goli Guerreiro (Guerreiro, 2000, S.24).

„ ...e aí chegaram os negros „.. und da kamen die Schwarzen


com toda sua beleza, mit all ihrer Schönheit,
sua cultura, sua tradição, ihrer Kultur, ihrer Tradition,
com toda sua religião all ihrer Religion,
tentada, motivada a ser mutilada herausgefordert von den weißen
pelos heróis brancos da história, Helden der Geschichte verstümmelt zu werden,
e estamos aqui, und wir sind hier,
eles sobreviveram no bum bum bum, no seu und sie haben überlebt
tambor...., im Bum Bum Bum, in ihren Trommeln
e o negão vai cantanda assim ... und der Negão singt so..

Eu sou negão, Ich bin ein negão,


eu sou negão ich bin ein negão,
meu coração é a liberdade, mein Herz ist die Liberdade,
sou do curuzu, Ilê, igualdade nagô ich bin aus Curuzu, Ilê, Gleichheit der Nagô,
essa é a minha verdade das ist meine Wahrheit.

E de repente aparece ao longe Und plötzlich erscheint weit weg


um carro todo iluminado ein großer beleuchteter Wagen,
é um trio eléctrico ´ ein Trio Eléctrico. `

Que é isso, meu irmão? Was ist los, mein Freund?


Venha de vagar, calma, segura essa aí . Komm langsam, immer mit der Ruhe....
pegue seu caminhão e siga seu caminho nimm deinen Lastwagen und setz deinen Weg fort
que a gente vai seguir o nosso“ und wir setzen unseren fort“

176
Im dem Lied denunziert der Sänger Gerônimo auch einen Konflikt zwischen den Blocos de
Trio und den Blocos Afros im Karneval. „Was in diesem Moment auf dem Spiel stand, war
der Respekt für die schwarzen Manifestationen ... und das nicht nur im Karneval“ (Guerreiro,
2000, S. 22). Auf das Spannungsverhältnis im Karneval zwischen den schwarzen Blocos
Afros und den Blocos de Trio, das in diesem Lied artikuliert wird, wird später in einem
Kapitel über die Entwicklung des Karnevals eingegangen.

Die Ereignisse des Jahres 1988, des 100jährigen Geburtstags des Verbots der Sklaverei,
verstärken die musikalischen und kulturellen Entwicklungen. In diesem Jahr besuchte der
internationale Popstar Paul Simon Bahia und fand hier rhythmische Formen, die er
musikalisch verwerten konnte. Er öffnete der bahianischen Musik zusammen mit David
Byrne, der sich als Förderer von Margareth Menezes betätigte, den Zugang zum
internationalen Markt. So wie zuvor der Reggae Bob Marleys und Peter Tosh´s durch
internationale Stars des PopRock u.a. den Rolling Stones und Eric Clapton,gefördert wurde,
öffnete sich der bahianischen Musik mit Paul Simon das Tor zur Welt.

9.3 Die verschiedenen Stämme

Im folgenden sollen die fünf wichtigsten heute noch existierenden Blocos Afro vorgestellt
werden. „Jeder Block in Salvador hat eine eigene Art zu spielen, seine Musik zu machen –
das ist so eine Art Stammesmentalität, denn die einzelnen Stadtviertel haben eine sehr stark
eigene kulturelle Persönlichkeit, und sie verhalten sich wie richtige Nationen, wie Stämme:
Liberdae, Itapuã, Períperí, Pelourinho“ beschreibt João Jorge Präsident Olodums und eine
der führenden Persönlichkeiten der brasilianischen Schwarzenbewegung (João Jorge, 1992).
Während Ilê bis heute das Bild des Rustikalen, Afrikanischen kultiviert, entwickelte sich Ara
Ketu in Richtung Pop. Muzenza eröffnete einen Raum für den Reggae und Olodum behielt
den zunächst einen stärker politischen Ton als Stimme der Schwarzen, hat aber zunehmend
erotisierende Musik aufgenommen. Die Formation der Blocos ist nach Meinung des
bahianischen Soziologen Marcelo Dantas Ausdruck unterschiedlicher historischer Prozesse.
Während bei der Gründung Ilês die Träume sozialen Aufstiegs an den Hindernissen eines
stark einkommenszentrierenden Wirtschaftsmodells unter einer Militärdiktatur zerschlagen

177
waren, sei Olodum zu einem Zeitpunkt gewachsen, als die ethnische Identität bereits von
Teilen der schwarzen Bevölkerung zurückgewonnen und das wachsende Selbstbewusstsein
die Kraft zum Versuch der Überwindung der rassischen Grenzen gegeben habe (Dantas, 1996,
S.73)93.

9.3.1 „Der Schönste der Schönen“94 – Ilê Aiyê

Der Stolz auf die eigene Rasse und Herkunft ist die Triebfeder der Arbeit Ilês. „Weißer wenn
du wüsstest, welchen Wert der Schwarze hat, du würdest dich in Teer baden, um auch
schwarz zu werden“ („Branco se você soubesse, o valor que preto tem, tu tomava banho de
piche, ficava preto também“) lautete der Refrain der Musik, die eine Gruppe junger
Schwarzer im Karneval 1975 auf der Strasse sang. Auf die Musik und das afrikanisch
anmutende Auftreten der Gruppe, reagierte die Öffentlichkeit schockiert: „Rassistischer
Block, Missklang“ überschrieb die Lokalzeitung einen Artikel über die Neuigkeit. Kritisiert
wurde in dem Artikel die „unpassende Nutzung des Themas“, die „mangelnde Fantasie“ und
die „Imitation Nordamerikas“ durch die neue Karnevalsgruppe. „Wir haben glücklicherweise
kein Rassenproblem. Das ist ein großes Glück Brasiliens“ war in der Lokalzeitung zu lesen
(A Tarde, 12.11.1975). Die Bezeichnung Bloco Afro und der aus dem Yorubá kommende
Name, den die Karnevalsgruppe wählte, gab Hinweise auf Identität und Ziele. Der Name Ilê
Aiyê kommt aus dem Yorubá und bedeutet „Haus der Schwarzen“. Ilê Aiyê wollte ein Afro-
Block der „schwarzen Welt“ sein. Hier wollten junge schwarze Männer und Frauen am
Karneval teilnehmen und dabei nicht ihre afrikanischen Wurzeln negieren.
„Als wir zum ersten Mal im Karneval waren, bekamen die Leute Angst, liefen davon,
brachten ihre Kinder nachhause, weil wir eine Gruppe Schwarzer waren und auch weil wir
aus Liberdade kommen.... dieses Viertel wurde immer gefürchtet als Viertel von aufmüpfigen,
kämpferischen Menschen .. das verschaffte Respekt“, erinnert sich Antonio Carlos dos Santos,
genannt Vovô (Opa), einer der Gründer und bis heute Präsident der Gruppe (Vovô, 1992).

Die Geschichte Ilês ist untrennbar mit dem Viertel Liberdade verbunden. Liberdade hat ca.
400.000 Einwohner und ist eines der größten schwarzen Stadtviertel Lateinamerikas. Immer
wieder wird es als eine Art „Harlem soterapolitano“ bezeichnet. Für den Besucher stellt sich

93
Die Hochphase des Bloco de Indio „Apaches“ in den 70er Jahren sei mit der Entstehung einer neuen, aus dem städtischen Proletariat
hervorgehenden Mittelklasse einhergegangen.
94
« O mais belo dos belos » ist der Teil einer Musik von Daniela Mercury.

178
das Viertel als ein ziemlich unüberschaubares, sich an die Oberstadt anschließendes, Richtung
Bucht ausbreitendes Wohngebiet dar. Über die belebte Hauptstrasse schieben sich unzählige
Busse, die die Menschen aus ihren Häusern ins Stadtzentrum transportieren. Ein Aufzug
(Plano Inclinado da Liberdade) verbindet das hochgelegene Viertel mit der Unterstadt. Der
Platz am oberen Ende des Aufzugs heißt inzwischen Nelson Mandela-Platz. Kurz danach
biegt man aus dem Zentrum kommend oben am Supermarkt nach rechts nach Curuzu ab.
Hier entstand die Idee das schwarze Universum zu zeigen. „Eigentlich sollte die Gruppe
„Poder Negro“ (Black Power) heißen, aber da hat es Probleme mit der Polizei gegeben, die
das nicht registrieren wollten“ erzählt Vovô (Vovô, 1992). Das Orakel der Kauri-Muscheln
habe dann diesen Namen ergeben.

Ilê Aiyê ist eng mit den Riten und Gebräuchen des Candomblé verbunden. Das „Herz“ des
Bloco ist das Haus von Mãe Hilda, Mutter des Präsidenten Vovô. Mãe Hilda ist Priesterin des
Candomblé und an das Wohnhaus in der steilen Curuzu-Gasse im Stadtteil Liberdade
schließen sich die Räumlichkeiten für die Candomblé-Feiern an. Fast alle der zur
Führungsgruppe des Bloco gehörenden Personen erfüllen Ehrenaufgaben im Terreiro. Die
enge Beziehung des Präsidenten zum Candomblé als Sohn Mãe Hildas, sowie seine Position
als „Sohn Oxalás“ eines der meist verehrten Orixás und sein offenes Bekenntnis zur
afrobrasilianischen Religion, legitimieren seine hierarchische Position im Bloco, dessen
Präsident er seit 1981 ist.

Musikalisch hat Ilê die rituellen Instrumente des Candomblé integriert. Der Samba nach Art
der Sambaschulen Rio´s wurde abgelöst von einer Mischung aus bahianischen Samba- und
Ijexá- Rhythmen95. Auch in den Liedern Ilês ist immer wieder die Candomblé-Religion
präsent, werden Mythen und Legenden der Orixás angesprochen. Dabei wird darauf geachtet,
was in der Öffentlichkeit gesungen werden darf und was nicht. „Hier singen wir nicht, was
wir nicht dürfen auf der Strasse. ... Im Zweifel fragen wir meine Mutter oder die Älteren.
Wenn sie sagen, dass wir etwas nicht singen dürfen, singen wir es auch nicht“ (Vovô, 1992).

Zu den wichtigsten Elementen Ilês gehört die Stärkung des schwarzen Selbstbewusstseins.
Der zunächst wichtigste Aspekt ist die Akzeptanz des eigenen Körpers mit seinen
Charakteristiken. „Die Leute sagen, dass unser Haar schlecht ist, wir sagen, unser Haar ist
nicht schlecht, unser Haar ist kraus. Wir sagen, dass Schwarze nicht stinken, dass Schwarze

95
Als Ijexá werden bestimmte Rhythmen im Candomblé bezeichnet, insbesondere ein für die Oxum gespielter, stark kadenzierter Rhythmus
(Cacciatore 1977:143)

179
gut riechen, dass die schwarze Frau schön ist, sinnlich, dass Schwarze nicht dumm sind... Wir
konnten das tatsächlich verändern, dass du kein Rot anziehen kannst, keine bunten Kleider“
listet Vovô auf (Vovô, 1992). Diese einfach wirkende Aussage, beinhaltet einen Kernpunkt
des brasilianischen Rassismus: durch die Jahrhunderte lange Vermischung der Rassen, sind
die äußeren Trennlinien aufgeweicht. Umso wichtiger wurden die Einzelheiten, die zur
Abgrenzung herangezogen werden: Von der Breite der Nase bis zum Zustand des Haares.
Den krausen oder glatten Haaren kommt vielleicht dabei die größte Bedeutung zu, da diese
am leichtesten veränderbar sind. Wie die Haare getragen werden, ist bis heute fast immer
auch Ausdruck einer bestimmten Haltung.„Ich war einer der ersten, die sich die Haare
wachsen ließen, vorher hatte ich Black-Power-Haare, seit 1981 habe ich die Haare nicht
mehr geschnitten“ erzählt Vovô und verdeutlicht: „Ich bin kein Rasta, ich habe nur Rasta-
Haare. Meine Religion ist der Candomblé“ (Vovô, 1992).
Dreadlocks und Flechtfrisuren wie sie zunächst von den Afro-Brasilianern aus der Szene der
Blocos Afros getragen wurden, sind ein gutes Beispiel für materielles und symbolisches
Engagement, bei dem die Konstruktion einer kulturellen Identität als gelebte Realität ein Weg
ist, in der Welt zu sein.
Bis heute sind Rasta-Haare Ausdruck schwarzen Selbstbewusstsein. In breiten Kreisen rufen
sie immer noch Unwillen hervor. „Das ist das zweite Mal, dass ich mir Rasta-Haare
wachsen lasse. Das erste Mal musste ich sie abschneiden wegen der Arbeit. Als Chauffeur....
Denn, wer Rasta-Haare hatte, bekam keine Arbeit. Bis heute gibt es dieses Vorurteil in
Brasilien.. Die Eltern erzählen den Kindern ja sogar, dass die mit Rasta-Haaren Tiere sind,
die kommen, um sie zu holen, wenn sie nicht brav sind.... Seit 1987 lasse ich meine Haare
wieder wachsen... Hier am Pelourinho habe ich immer Probleme. Ich war einer der ersten,
die Ohrringe benutzten. Ich war der erste, der geflochtene Haare hatte. Die ersten hier mit
Rasta-Haaren waren ich und João Jorge...“ (Lazinho, 1994).

Die Philosophie aller Blocos Afros ging von Ilê Aiyê aus. Die Aufgabe der Blocos Afros sieht
Vovô in der Bewusstseinsbildung. „Hier in Bahia ist es schwer die Massen anzusprechen. Zu
den Seminaren und Debatten gehen doch immer wieder dieselben Personen. Mit der Musik
aber kannst du Botschaften vermitteln“ (Vovô, 1992). Das Selbstbild der Schwarzen
veränderte sich dank Ilês. „Die bahianischen Schwarzen sind kulturell sehr entwickelt, aber
politisch, sieht es so aus, als seien wir wenig gewachsen....Unser schwarzes Bewusstsein ist
ähnlich wie das von Steve Biko.. Stolz darauf Schwarzer zu sein, sich selbst zu mögen, sich

180
nicht zu schämen, sich selbst anzunehmen, zu zeigen, dass die Geschichte der Schwarzen
nicht schlecht ist... Das haben wir ein bisschen geschafft“ (Vovô, 1992).

Ilê nimmt bis heute eine Sonderrolle unter den Blocos Afros ein. Ilê ist der Ausgangspunkt
aller Blocos Afros und in ganz besonderer Weise religiös eingebunden. Ilê erhält die
Geheimnisse der Vorfahren, eine zentrale Rolle nimmt dabei Mãe Hilda ein.
Bis heute dürfen bei Ilê nur Schwarze am Karnevalsumzug teilnehmen. Eine Praxis, die als
Strategie zum Erhalt der schwarzen kulturellen Manifestationen gerechtfertigt wird. „Als wir
Ilê gründeten, war die Teilnahme der Schwarzen am Karneval ganz gering. Damals gab es
keine Blocos mit einer auf die Schwarzen ausgerichteten Philosophie, wohl gab es
Karnevalsgruppen in denen viele Schwarze waren. Gerade deshalb gründeten wir Ilê. Weil
wir beobachteten, dass die Schwarzen nur als Musiker oder Träger der Allegorien am
Karneval teilnahmen. Mit den Blocos Afros hat sich dies geändert (Vovô 1996:21).
„Was hier mit den gemischten Gruppen passiert ist, dass die Schwarzen ihre Referenz als
Menschen anderer ethnischer Herkunft verlieren. Und wir von Ilê versuchen den Schwarzen
zu zeigen, dass der Schwarze schön ist, wenn er sich selbst annimmt und unter sich bleibt.
Unsere Haltung ist Teil einer Umerziehungspädagogik des schwarzen Volkes sich selbst zu
akzeptieren. Und weil die Leute unsere Haltung nicht verstehen oder aus bösem Willen,
verbreiten sie, dass wir Rassisten sind“ (Vovô 1991 in A Tarde zitiert nach Guerreiro
2000:29)

Das Verhältnis aller Blocos Afros zur Politik ist schwierig – bewegt sich zwischen
Widerstand und Anpassung. Grundsätzlich unterstützt die Ilê Aiyê schwarze Kandidaten
unabhängig von der Partei. Vovô kritisiert: „Die Schwarzen akzeptieren es bis heute nicht
sehr, von Schwarzen Anordnungen zu befolgen... die in einer ähnlichen Situation sind, stehen
immer in Konkurrenz zueinander“ (Vovô, 1992). Andererseits aber hat Ilê 1992 Wahl-
Kampagne für den mächtigen konservativen Politiker ACM gemacht. „Nicht für Geld“ wie
der Präsident betont, aber für das Versprechen, das dem Haus Mãe Hildas gegenüber liegende
Grundstück zu bekommen. Hier soll eine Art Kulturzentrum Ilês gebaut werden, in dem für
die gesamten sozialen und kulturellen Aktivitäten Platz sein soll.

Seit einigen Jahren unterhält der Bloco eine Schule im Festsaal der Candomblé- Stätte. In
zwei Gruppen morgens und zwei Gruppen nachmittags werden dort Kinder aus dem Viertel
unterrichtet. Daneben gibt es die kulturelle Arbeit wie Trommel- und Tanzunterricht. In die

181
Jugendgruppe, die Banda Erê, wird nur aufgenommen, wer an einer Schule immatrikuliert ist.
„Der Candomblé war immer Haus der Lehre und diese Funktion wird in unseren
verschiedenen Schulen fortgeführt” Mãe Hilda. Seit 1995 gibt die Gruppe in unregelmäßigen
Abständen Hefte mit Themen der afrobrasilianischen Kultur heraus. Im Bau befindet sich
derzeit ein staatlich finanziertes Kulturzentrum Centro Cultural Senzala do Barro Preto.

Abschließend soll einer der magischsten Momente des bahianischen Karnevals beschrieben
werden: der Auszug Ilê Aiyês aus Curuzu. Vor dem Karnevalsauftritt kommt der politische
und ästhetische Diskurs und ein Ritual für die Orixás.

Der Auszug aus Curuzu am Samstag-Abend

„Wer kommt die schmale Strasse aus Curuzu herauf?


Es ist eine der schönsten Sachen, die man sehen kann, es ist Ilê Aiyê
Der Schönste der Schönen, bin ich, bin ich
Schlag dir fest auf die Brust und sage: Ich bin Ilê
Halt mich nicht fest, lass mich in Ruhe
Ich möchte Ilê genießen, den Charme der Liberdade
Der Swing dieser Band ist so hypnotisierend
Meine schwarze Schönheit
Hier bist du es die zählt“

Quem é que sobe a ladeira do Curuzu?


É a coisa mais linda de se ver, é o Ilê Aiyê
O mais belo dos belos, sou eu, sou eu
Bata no peito mais forte e diga: eu sou Ilê
Não me pegue não, me deixe a vontade
Deixe eu curtir o Ilê, o charme da Liberdade
É tão hipnotizante o suingue desta banda
A minha beleza negra
Aqui é você que manda...“

(Guiguio, Valter Farias, Adailton Poesia)

182
Wenn Ilê Aiyê am Karnevals-Samstag nach einem Candomblé Ritual vom Haus Mãe Hildas
aus die schmale Curuzu-Strasse auszieht, so ist das mit einer der magischsten Momente des
bahianischen Karneval. So gegen neun Uhr abends ist die steile Gasse schon ziemlich voll mit
Menschen, die in kleinen Gruppen zusammenstehen, Bier trinken und freudig Bekannten
zuwinken. Aus dem gegenüberliegenden Proberaum tragen Jungen Trommeln herüber, die sie
vor dem Haus von Mãe Hilda auf dem Boden anordnen. Die jungen Trommler tragen stolz
die rot-weiß-gelb-schwarzen Gewänder des Bloco. Rot für das während der Sklaverei
vergossene Blut, gelb für die Macht, das Schwarz wie die eigene Hautfarbe und das Weiß des
Friedens. Sie wissen, wie schön sie sind. Einige haben die dunklen Kraushaare scheren und
Muster hineinschneiden lassen, die sie durch Blondierungen hervorheben. Ein anderer trägt
Zöpfchen, in die Hunderte von Perlen geflochten sind. Jemand hat ein Tuch, wie eine Krone
um den Kopf geschlungen. Viele haben, obwohl es dunkel ist, Sonnenbrillen auf der Nase.
Noch cooler ist es, die Brille falsch herum auf die Ohren zu klemmen. Auf den teilweise
unbedeckten Oberkörpern, sind Ketten in den Farben der Orixás zu sehen, vor allem im
kräftigen Blau Ogums, der als mutiger Krieger der Straße gilt. Der Eingang zum Haus Mãe
Hildas wird von kräftigen Wachen geschützt. Zugang haben nur die engsten Mitglieder des
Bloco und Prominenz, die zur festlichen Karnevalseröffnung des Bloco erwartet wird. Von
der Veranda aus beobachten auch international bekannte Musiker, Film- und Fernseh-
Schauspieler und die lokalen Politiker die Zeremonie. Vor dem Eingang gehen bereits Foto-
und Fernsehjournalisten in Stellung, um die besten Szenen dokumentieren zu können.
Währenddessen ist Mãe Hilda im Barracão im Hinterhaus des Gebäudes mit den rituellen
Handlungen beschäftigt, die dem Bloco einen ungestörten und erfolgreichen Karnevalsumzug
sichern. Es dauert eine Weile bis alle Trommeln aufgebaut und vor allem alle Trommler auf
ihren Plätzen stehen. Die Spannung steigt. Die Veranda des Hauses wird immer voller. Neben
den an eine afrikanische Königsfamilie erinnernde Führungsgruppe des Bloco, die mit
prächtigen Turbanen auf den Beginn der Zeremonie auf der Strasse warten, wirken die Musik-
und Filmstars blaß und unscheinbar. Ein Trommelwirbel leitet die Zeremonie ein. Mãe Hilda
in ihren blütenweißen weiten Spitzenröcken drängt sich zusammen mit zwei Helferinnen
durch den Eingang auf die Strasse. Aus großen Schüsseln verteilt sie Popcorn und weißes
Maniokmehl auf dem Boden und über die Menschen. Sicherheitskräfte schützen sie vor dem
Andrang der Menge und formieren einen Korridor bis zum wenige Meter weiter oben
wartenden Karnevalswagen. Mit dem Ritual werden die Wege für den diesjährigen Umzug
geöffnet und insbesondere Exu, der Herr der Straßenkreuzungen geehrt. Einer der schönsten

183
Momente steht noch bevor. Zurück im Haus übergibt sie jedem der Mitglieder auf der
Veranda eine weiße Taube. Auf ein Zeichen hin lassen die Menschen die Tauben, die
Botschafter des Friedens, fliegen. Sie sollen sich nicht setzten sondern die Botschaft in die
Welt tragen. Mit einem ohrenbetäubenden Feuerwerk, das vom Dach des schräg
gegenüberliegenden Hauses ab gefeuert wurde, endet die Einweihungszeremonie. Noch eine
kurze Minute des Schweigens – dann übernehmen die Trommeln das Kommando des
Festgeschehens.

Langsam schieben und drängen sich die Menschen in Richtung Karnevalswagen. Die
diesjährige Beleza Negra, schön wie man sich eine schwarze Prinzessin vorstellt, mit
prächtigem Kopfputz, strahlendem Lächeln und anmutigen Bewegungen wird von ihrem nicht
weniger schönen Begleiter zum Wagen gebracht. Es dauert eine Weile bis sich ein Zug
formiert. Es liegt eine freudvolle Stimmung in der Luft. Die Frauen Ilê Aiyês scheinen sich
mit ihren kunstvoll gewickelten, riesigen Turbanen, den langen Ketten und bunten Armreifen
an würdevoller Schönheit zu überbieten. Einige tragen auch kunstvolle mit Muscheln
geschmückte Flechtfrisuren, deren Herstellung viele Stunden in Anspruch nimmt. Auf den
Stoffen ihrer Gewänder sind Namen und Symbole afrikanischer Länder oder Persönlichkeiten
aufgedruckt. In jedem Jahr wird sorgfältig für das Thema recherchiert und die Ergebnisse in
Postillen verfasst. Mehrere Stunden dauert es bis der Menschenzug die schmale Rua do
Curuzu durchquert hat und die Hauptstrasse des Liberdade-Viertels erreicht. Ohne Pause
spielen die Trommler, singen die Menschen die Lieder des Bloco. An den Fenstern, auf den
Balkonen, auf den Dächern stehen Menschen, singen und tanzen und winken den
Vorbeiziehenden zu. Auch wenn es immer mal wieder erdrückend eng wird, gewalttätige
Rangeleien oder gar Schlägerein gibt es nicht. Die Stimmung bei Ilê ist gelöst, friedlich. Der
Auszug aus Curuzu ist sicherlich einer der würdevollsten und schönsten Momente des
bahianischen Karnevals. Wenn der Auszug aus Liberdade weit nach Mitternacht zu ende geht,
stärken sich viele der Teilnehmer noch schnell, bevor sie sich in einen knallvollen Bus
quetschen, der Richtung Zentrum fährt. Erst spät in der Nacht beginnt der Karneval für Ilê
Aiyê am Campo Grande.

184
9.3.2 Die Fischer von der Lagune - Malê Debalê

Die islamisierten Afrikaner und ihr denkwürdiger Aufstand 1835 (A Revolta dos Malês)
gaben die Inspiration zum Namen des zweiten (nach Gründungsalter) großen, heute noch
existierenden Bloco Afro Malê Debalê. Jocélio de Araújo, Elektriker und bis heute Präsident
erklärt den Namen: „Die Malê sind ein afrikanischer Stamm, Muselmanen. ... Debalê ist ein
Wort, das es eigentlich nicht gibt, eine Idee von uns. ... Malê Debalê sind glückliche
Schwarze, Stamm der Glückseligkeit“ (Jocélio, 1992) . Zum ersten Mal nahm Malê Debalê
1980 am Karneval teil. Schon bald wurde die Gruppe für ihre Afro-Tanz-Darbietungen
berühmt. Neben der Musik und den Texten sind die tänzerischen Einlagen eines der
wichtigsten Elemente bei der Konstruktion der Identität. Mit immer wieder neuen
Choreographien, der Einbeziehung von Capoeira und in Anlehnung an die Tänze in den
Candomblé-Häusern präsentieren sich die Afro-Blocos im Karneval.

Malê Debalê hat seinen Sitz an einem der touristisch markantesten und bekanntesten Orte
Salvadors: an der Lagoa do Abaeté im Stadtteil Itapuã. Das frühere Fischerdorf, 25 Kilometer
vom Zentrum entfernt gelegen, gehört inzwischen zum Stadtgebiet. Dennoch inspiriert der
Ort bis heute viele bahianische Musiker und Künstler, von Dorival Caymmi bis Caetano
Veloso. Die unberührte Dünenlandschaft, in der die Lagune versteckt lag, ist inzwischen
weitestgehend zersiedelt. Dennoch haftet dem Ort ein gewisser Zauber an, werden in den
dunklen Wassern der Lagune Geschenke für die Göttin des Süßwassers Oxum gemacht.
„Malê ist der Bloco der Fischer, der Baianas, der Arbeiter und der Wäscherinnen der
Abaeté-Lagune“ beschreibt Jocélio das Profil der Mitglieder. Diese arme, bedürftige
Bevölkerung sei es, die den Bloco ausmache. Die permanenten finanziellen Schwierigkeiten
des Bloco erklärten sich auch daher: „Wenn das Meer keinen Fisch hergibt, oder es regnet,
dass die Wäscherinnen nicht waschen können, dann ist kein Geld da um den Bloco zu
bezahlen“ erläutert Jocélio (Jocélio, 1992). Religiös seien die Mitglieder Malês mit dem
Candomblé verbunden „Unser Volk ist vom Candomblé, natürlicherweise, durch die
Herkunft, die Erziehung...die Tradition. Auch alle, die katholisch sind, sind vom Candomblé.“
Dennoch sei der Bloco offen für alle Konfessionen, nur Evangelisten gebe es nicht.

Früher war der Bloco wesentlich größer als heute. „Da ging man Samstag zu Ilê, Sonntag
nach dem Strand kamen die Leute zu uns“ erinnert sich Jocélio (Jocélio, 1992). Viele
Mitglieder des sich gerade formierenden politischen Schwarzen Bewegung des MNU kamen

185
zu Malê. Der Prozess der Bewusstwerdung der jungen Schwarzen wurde von den
Regierenden nicht gern gesehen. „Malê war so etwas wie ein Druck-Ventil, die
demokratischen Verhältnisse damals waren nicht so wie heute, es war die Zeit der Diktatur“
(Jocélio, 1992)

Wie Ilê orientiert sich Malê musikalisch an den Afro-Rhythmen. Dennoch spielt kein Bloco
Afro wie der andere. Die Trommelmeister versuchen immer wieder neue Variationen zu
erfinden, auch wenn sie die erfolgreichen Rhythmen anderer Gruppen imitieren . Die
Liedtexte basieren auf den Postillen, welche die jeweiligen Themen erläutern und an die
Komponisten verteilt werden. „Die Blocos Afros machen Bewusstseinsbildung. Die Trios
machen nur ihre Feste, weiter nichts“ differenziert Jocélio (Jocélio, 1992).

Als wir Malê zum ersten Mal besuchten, trafen sich eine Handvoll Trommler und nur wenige
Zuschauer auf einem schlecht beleuchteten holperigen Fußballfeld oberhalb der Lagoa do
Abaeté. Die Männer um den Präsidenten nahmen sich sofort unserer an: Wir sollten uns im
Dunklen nicht weiter weg bewegen von der Gruppe, hier gebe es eine Menge Diebe und
Gauner. Nach Ende der Probe wurden wir aus Sicherheitsgründen bis zur Bushaltestelle unten
an der Straße gebracht. Die Dünen um die Lagune sind durch wilden Hausbau inzwischen zu
einem eigenen Stadtviertel „Nova Brasília“ mit mehreren Tausend Menschen gewachsen und
nicht weit entfernt liegt die größte Favela Salvadors, das „Bairro da Paz“ (Viertel des
Friedens) mit rund 40.000 Menschen. Beide Viertel sind für die prekären sozialen
Verhältnisse und die hohe Kriminalität bekannt. Ein Jahr später trafen wir die Malês an der
Kooperative der Fischer am Strand von Itapuã. Wegen der ständigen Belästigungen und
Übergriffe krimineller Jugendlicher hatten sie vorübergehend ihre Proben hierher verlegt.
Inzwischen, nach der Einrichtung des „Parque da Laoga do Abaeté“, die aus der verträumten
Lagune ein Ausflugsziel mit vielen Bars und Restaurant gemacht hat, hat der Bloco Afro
endlich Ende der 90er Jahre seinen eigenen Sitz einweihen können. Hier haben auch die über
den Karneval hinausgehenden Projekte wie Afro-Tanz- und Capoeira-Unterricht, sowie
berufsbildende Maßnahmen und ökologische Erziehung für die Jugendlichen aus den
umliegenden Vierteln einen Platz gefunden.

186
9.3.3 Olodum do Pelô

Olodum wurde am 25.April 1979 im Maciel/Pelourinho gegründet. Das Pelourinho-Viertel,


so benannt nach seinem wichtigsten Platz, ist ein Labyrinth von steilen Gassen, Ecken,
versteckten Plätzen und Winkeln, Barock-Kirchen und ehemaligen Bürgerhäusern. In dem
heruntergekommenen Altstadtviertel lebten Anfang der 80er Jahre fast nur von der
Gesellschaft an den Rand gedrängte: Tagediebe und Prostituierte, Zocker und Drogenhändler,
einige wenige arme Künstler und Musiker. In den verfallenden Häusern lebten die Menschen
ohne minimale sanitäre Einrichtungen, fließend Wasser oder Privatsphäre. Auch tagsüber
wagten sich Menschen, die nicht aus dem Viertel stammten, nur selten in die engen Gassen
und nachts lag auch der große Platz Terreiro de Jesus fast immer wie ausgestorben da. Nur in
den Bars sammelten sich die Menschen. In einigen wenigen begannen die Besitzer einen
neuen Rhythmus aufzulegen, an dem die negrada Gefallen fand: Reggae aus Jamaika. Die
Bar do Reggae in der Gregório de Mattos Gasse, die Cantina da Lua am Terreiro de Jesus und
das Banzo am Pelourinho bildeten schon bald das sogen. Bermuda-Dreieck des Viertels, das
zunehmend auch Musiker und andere unkonventionelle junge Schwarze anzog. Der Besuch
der Gegend blieb jedoch auch weiterhin mit einem gewissen Risiko verbunden. Nur die
Cantina da Lua war vom Praça da Sé–Platz relativ unproblematisch zu erreichen und erfüllte
eine Brückenkopf-Funktion zu den anderen Bars. Hellhäutige Mittel- oder Oberschichts-
Brasilianer kamen erst nach der Restaurierung und angezogen vom Erfolg Olodums Mitte der
90er Jahre in das Altstadtviertel.

Der Name Olodum wird hergeleitet von Olodumaré und bedeutet im Yoruba „Gott der
Götter“. Die Aktivitäten des Karnevalsbloco Olodums zogen zunächst nur wenig
Aufmerksamkeit auf sich. Zwei Jahre nach der Gründung trennte sich ein Teil der Mitglieder
und gründete den Bloco Afro Muzenza. Olodum wird immer schwächer, am Karneval 1983
nimmt die Gruppe nicht einmal mehr teil. Die grundlegende Veränderung Olodums beginnt
im selben Jahr mit der Wiederbelebung als Grupo Cultural Olodum und personellen
Veränderungen: vom Bloco Afro Ilê Aiyê kommen João Jorge Rodrigues dos Santos und
seine Schwester Cristina und Antônio Luís Alves de Souza, genannt Neguinho do Samba.
Cristina wird die erste Präsidentin des Bloco, gefolgt vom wortgewandten João Jorge, der mit
Unterbrechungen die meiste Zeit seit 1989 Präsident ist. „Wir entschieden uns dazu eine
kulturelle Gruppe zu gründen, weil wir so das ganze Jahr über Aktivitäten würden entfalten
können, politische Aktivitäten ebenso wie gleichzeitig den Karneval der Negritude neu zu

187
überdenken. ... Der Weg der Aktion, der innerhalb der schwarzen Gemeinschaft fehlte, war
der der politisch-kulturellen Aktion.“ (João Jorge, 1992).

Der charismatische Neguinho do Samba übernimmt die Leitung der Musikgruppe und beginnt
eine Art Musik zu spielen, die später als Samba-Reggae bekannt werden sollte. „Ich habe
trommeln gelernt mit den Waschschüsseln meiner Mutter“, erzählt Neguinho do Samba
(Neguinho do Samba, 1992). „Meine Mutter war Waschfrau, wir waren 11 Geschwister.
Meine Schule war der Candomblé...meine Brüder haben im Candomblé gespielt, mein Vater
...“ Fast noch ein Kind begann der Junge gegen den Willen der Mutter bei einer
Karnevalsgruppe zu spielen, die „Os Lordes“ hieß. Die Gruppe spielte Samba und Frevo und
probte am Pelourinho. „Ich danke den Orixás, daß ich mich schon als kleiner Junge auf diese
ganze Geschichte mit dem Samba eingelassen habe... Alle meine Rhythmen haben mit dem
Candomblé und der Ordnung der Trommeln zu tun: Rum, Rumpi und Le“ (Interview
Neguinho do Samba, 1992). Neguinho spielte bei den verschiedensten Karnevalsgruppen:
zunächst den Sambaschulen, später den Blocos de Índio, aber auch den ältesten Blocos de
Trio. Mitte der 70er Jahre gehört er zu den Gründern des ersten Bloco Afro Ilê Aiyê, wo er bis
1983 Musikmeister bleibt. Als sich Ilê Aiyê wenig offen zeigt für rhythmische
Veränderungen des traditionellen Samba, akzeptiert Neguinho die Einladung der neuen
Führungsriege Olodums.

Als Samba-Reggae werden eine Vielfalt von Rhythmen bezeichnet, an deren Kreation
Neguinho do Samba maßgeblich beteiligt war. Er wechselte Instrumente der traditionellen
Samba-Gruppen aus, nahm Inspirationen aus dem Reggae auf, der in den Bars des Pelourinho
gespielt wurde – inwieweit er als Erfinder des Samba-Reggae zu bezeichnen ist, ist schwer
abschätzbar. Zweifellos aber hat er den Klang Olodums in einer bestimmten Epoche
geschaffen. Den sonoren Klang der Musik Olodums prägen die surdos, große, zweifellige
Basstrommeln, welche die Spieler mit breiten Gurten umgehängt haben. Zum Spielen
benutzen sie dicke Holzschläge mit rundem Kopf. Es gibt hohe, mittlere und tiefe Stimmen.
Neben den Surdos ist eine repique genannte kleine Trommel mit ihrem hohen,
durchdringenden Ton, die die Trommler Olodums mit dünnen, selbstgeschnitzten
Holzstöcken spielen, das auffälligste Instrument. Der Bandleader spielt auf sogen. timbales,
zwei unterschiedlich großen Rahmentrommeln, die auf einem Metallständer installiert sind.
Daneben gibt es noch andere Arten von Trommeln, wie die schnarrende Caixa, oder die mit
den Händen gespielten timbaus.

188
Die Trommeln Olodums sind in den Farben Rot, Gelb, Grün und Schwarz angemalt, den
Farben des Pan-Afrikanismus, der Rastafari-Bewegung und des Reggae, den Farben der
schwarzen Diaspora. Das Grün repräsentiert die Urwälder Afrikas, das Gelb das Gold des
afrikanischen Kontinents, das Rot das Blut der schwarzen Rasse und das Schwarz den Stolz
der Afrikaner. Die Wahl dieser Farben zeigt das Universum mit dem sich die Gruppe
identifiziert. Deutlich wird dabei auch das Ausmaß der Globalisierung schwarzer Identität.

Die Proben Olodums, dienstags im Hinterhof des Teatro Miguel Santana und sonntags auf
dem Pelourinho, waren eines der wenigen Freizeitangebote für die dort ansässige
Bevölkerung und die Gruppe eine der wenigen Möglichkeit in einem Bloco am Karneval
teilzunehmen. Schon bald wurden die Proben zu einem Treffpunkt schwarzer Jugendlicher
mit wilden Ideen und ein Ort, an dem ständig neue Rhythmen erfunden, Liedtexte gedichtet
und Tanzchoreografien erarbeitet wurden. João Jorge erzählt: „Seit 1983 hat die Musik im
Karneval starke politische und ideologische Inhalte bekommen, weil die neue Ideen
schwarzen und sozialen Bewusstsein ausgehend vom Verständnis der Apartheid und der
Geschichte der Schwarzen... schon bald die Liedtexte, die Vibrationen der Rhythmen
Olodums, die Farben der Instrumente, das uns umgebende Schönheitsideal färbte....Die
Musik wurde gewürzt durch das Klima in einem Topf, dessen Zutaten dazu führten, dass eine
neue Etappe schwarzen Bewusstseins geschaffen wurde“ (João Jorge, 1992).

Olodum beginnt ein Projekt, das sich „Rufar dos Tambores“ (ungefähr: Raunen der
Trommeln) nennt und dessen Ziel es ist, die Kinder von der Strasse des Altstadtviertels zu
holen und ihnen nicht nur trommeln beizubringen, sondern auch Grundkenntnisse afro-
brasilianischer Geschichte und Gegenwart. Die „Banda Mirim“, die Kindergruppe Olodums,
zu der zeitweise über 200 Kinder gehören, war geboren. Dies sind auch die Anfänge der bis
heute existierenden Kreativschule Olodums.
„Zu Beginn der 80er Jahre bekam die Vorliebe für Musik Züge einer sozialen Bewegung“
schreibt die Anthropologin Goli Guerreiro. „Je mehr sich ein akademischer anti-rassistischer
Diskurs durchsetzte, umso mehr konstituierte sich eine organische Intelektualität, die
innerhalb der bahianischen Schwarzenbewegung Gewicht bekam. Sie widmeten sich einer
historisch-antropologischen Forschung, deren Ziel die Rettung der schwarzen, kulturellen
Wurzeln war“ (Guerreiro, 2000, S. 43). Das Bestreben Olodums einer wissenschaftlichen
Herangehensweise an die eigene Vergangenheit war zunächst umstritten.

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Das Jahr 1987 bringt den musikalischen Durchbruch Olodums. Das bereits erwähnte Lied
Faraó wird zum Karnevalshit, Olodum nimmt die erste Platte „Olodum, Egito, Madagascar“
auf, die über 50.000 mal verkauft wird. „Zunächst wurde die Musik nur hier in den Häusern
und auf den Strassen gesungen... um dann die Musik der Stadt zu werden, ohne zu
irgendeinem Moment ihre Herkunft zu verstecken... Viertel nach Viertel zu erobern, neue
Ideen und Inhalte aussäend... Nachdem die Musik Salvador erobert hatte, breitete sich diese
Musik aus in Rio und São Paulo, Brasília und Pernambuco“ (João Jorge, 1992). Von nun an
bringt die Gruppe jedes Jahr eine neue Platte auf den Markt. Eine aus in der Regel 10
Trommlern plus Sängern bestehende Banda Show beginnt in ganz Brasilien und im Ausland
aufzutreten. In den besten Zeiten treten gleichzeitig mehrere Showgruppen an verschiedenen
Orten gleichzeitig auf.
Nach seinem Erfolg mit der Platte Graceland, die er zusammen mit südafrikanischen
Musikern aufgenommen hatte, kommt Paul Simon 1988 auf der Suche nach neuen,
unverbrauchten Rhythmen nach Bahia. Zu diesem Zeitpunkt ist er der erste, der Popmusik mit
dem Label WorldMusic verkauft, wie die neuen Musikstile - Kombination von westlicher
populärer Musik mit Rhythmen, Instrumenten und Musiken aus den übrigen Kulturkreisen -
genannt werden. In Brasilien macht er Aufnahmen mit Olodum, Nana Vasconcelos, Uakti,
Milton Nascimento. Auf dem 24. Festival de Jazz in Montreux, Schweiz stellt er 1990 „The
Rythm of the Saints“ vor. Die Trommler vom Pelourinho bilden den perkussiven Hintergrund
eines Musikstücks „The Obvious Child“, das zum Leitmotiv der Platte wird. Es ist die erste
Europa-Tournee Olodums. Im selben Jahr wird der Videoclipe im Pelourinho aufgenommen,
der in 140 Ländern ausgestrahlt wird. Neben der Perkussion hatte besonders die Ästhetik
Olodums Paul Simon beeindruckt. „Olodum war das Interessanteste, das ich gefunden habe,
um es im Fernsehen zu zeigen“.

Quasi über Nacht ist Olodum durch die Aufnahme mit Paul Simon zu einer der
erfolgreichsten bahianischen Musikgruppen geworden - im In- und Ausland. Von nun an ist
Olodum in jedem europäischem Sommer auf Konzert reise. Die Originalität und
Ausdruckskraft der bahianischen Trommler trifft besonders in Europa auf einen Markt, der
auf der Suche nach neuen authentischen Rhythmen, nach World Music ist. In verschiedenen
Städten gibt es entsprechende Musikveranstaltungen: In Berlin jeden Sommer die Wochen der
Weltmusik, die brasilianische Nacht in Montreux, der Karneval in London etc. Olodum ist
überall gleichzeitig: die Banda Show, jeweils 12 Musiker, tritt am selben Tag in Tokyo, São
Paulo und Berlin auf.

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Den vorläufigen Höhepunkt der „internationalen Beziehungen“ Olodums stellt der Besuch
Michael Jacksons 1996 am Pelourinho dar. Unter der Regie des schwarzen us-amerikanischen
Filmemachers Spike Lee nimmt Michael Jackson ein Video-Clip mit den Trommlern von
Olodum auf. „They don´t care about us“ ist der aussagekräftige Titel der Musik, die weltweit
ausgestrahlt wird. Michael Jackson verschwitzt im Olodum-T-Shirt inmitten der Trommler.

Olodum T-Shirts, Baseball-Mützen und andere Acessoires werden in der Boutique Olodum
verkauft. Um in Zukunft die Karnevalskostüme selbst zu produzieren und die Nachfrage nach
Artikeln mit dem Label Olodum zu erfüllen, wird die Fábrica do Carnaval gegründet. Hier
sollen die ansässigen Bewohner des Pelourinho in einem schwarzen Unternehmen Arbeit
finden. Leider wird die Kulturgruppe von den Ereignissen durch die Restaurierung des
Pelourinho-Viertels und der Umsiedlung der einheimischen Bevölkerung überrollt.

Neben der Musik ist Olodum auf vielen Gebieten aktiv. Olodum veranstaltet
Diskussionsrunden und Tagungen zu Themen, welche die schwarze Gemeinschaft
beschäftigen. Olodum gibt regelmäßig Zeitungen heraus und gründet einen eigenen Verlag,
die Editora Olodum, in der Bücher über die Gruppe erscheinen. Zu einer der erfolgreichsten
Unternehmungen wird 1990 die Gründung der Theatergruppe „Bando de Teatro Olodum“. In
der Gruppe versammelt der bekannte brasilianische Theatermacher Márcio Meirelles,
zusammen mit der Schauspielerin Chica Carelli schwarze Schauspieler, die bereit sind, sich
mit der eigenen afro-brasilianischen Realität auseinander zu setzen. Bis heute ist die Gruppe
mit einem eigenen schwarzen Theater-Stil erfolgreich und beispielhaft in Brasilien.

Die Grupo Cultural Olodum ist zum Zeitpunkt der Forschung eine sehr große, komplexe
Gruppe, mit der sich die kommenden Kapitel ausführlich beschäftigen werden.

9.3.4 Ara Ketu – „Mehr als gut“96

Die Gruppe Ara Ketu zu beschreiben ist nicht ganz einfach, schieben sich doch zwei Bilder
übereinander: Das eines stark mit Afrika und den afrikanischen Göttern verbundenen Bloco
Afro aus dem armen, abgelegenen Stadtviertel Periperí und das einer erfolgreichen Pop-

96
„Bom de Mais“ ist der Titel einer Musik Ara Ketus.

191
Musik-Gruppe um den Sänger Tatau, deren Proben in den letzten Jahren zum Point der
oberen Mittelschichts-Jugendlichen wurde und deren Verwaltung im noblen Stadtviertel
Barra sitzt.

Zunächst zu den Ursprüngen. 1980 gründete die Geschichts-Lehrerin Vera Lacerda


zusammen mit einigen Verwandten und Freunden den Bloco Afro Ara Ketu. „Der Bloco
sollte ein wenig von unserer Kultur zeigen ... nicht nur in der Musik, sondern auch im
Aussehen auf der Avenida“, erzählt Vera Lacerda (Lacerda, 1992). Ara Ketu, der Name der
Karnevalsgruppe stammt aus dem Yoruba und bedeutet: das Volk des Königreichs von Ketu,
der Region in West-Afrika, in der die Yoruba-Völker zuhause sind. Der Name deutet auf die
enge Verbindung seiner Begründer mit dem Candomblé hin. Bis heute ist der Kultur-Direktor
Augusto Cézar (ein Cousin Vera Lacerdas) nicht nur plastischer Künstler, sondern auch
Priester, Pai de Santo, der Candomblé-Religion. Jedes Jahr im Karneval zeigt der Bloco eine
Geschichte der schwarzen Völker und macht dabei Referenzen an die afrikanischen Götter.
Im ersten Jahr war es Oxossi, der König der Jagd, dem der Bloco in der Avenida seine
Referenz erwies. Das Orakel der Kauri-Muscheln hatte gezeigt, daß Oxossi den Schutz des
Bloco übernommen hatte. So wurde auch der ofá, sein Pfeil und Bogen zum untrennbaren
Symbol Ara Ketus sowie seine Farben weiß und blau. „Candomblé und Wissenschaft
vermischen sich, um dem Projekt der sozialen Emanzipation einer urban-periferen
überwiegend schwarzen Bevölkerung Konsistenz zu geben“ schreibt Goli Guerreio (Guerreiro
2000). Der Rhythmus Ara Ketus wurde nicht als Samba-Reggae bezeichnet, sondern als
Samba im Ijexá, einem Candomblé-Rhythmus

Das Stadtviertel Periperi ist weit vom Zentrum entfernt. Um dorthin zukommen fährt man
entweder die gesamte Suburbana entlang, die Strasse, die an den Pfahlbauten der Alagados
vorbei stadtauswärts an der Innenseite der Allerheiligenbucht entlang führt. Rechts und links
der Strasse reihen sich Autowerkstätten, Altteillager und ein paar armselige Bars aneinander,
stehen die einfachen, meist unverputzten Häuschen eng gedrängt nebeneinander. Rund
400.000 Menschensollen in diesem Gebiet an der Suburbana leben. Fast ein Sechstel der
gesamten Bevölkerung der drittgrößten Stadt Brasiliens. Oder man steigt in der Unterstadt in
den alten wackligen Zug, den einzigen Salvadors und vergisst bei dem Blick aufs Meer die
Armut um einen herum. Der Sitz Ara Ketus liegt in der Nähe des Esporte Club Periperi und
des Sao Bartolomeu Parks. Der São Bartolomeu-Park ist einer der letzten Reste des
ursprünglichen Urwalds, der die brasilianische Küste bei Ankunft der Portugiesen bedeckte

192
und ein geheiligter Ort für die Anhänger des Candomblé, die hier seltene Pflanzen finden. Auf
dem Gelände sollen es nach einem Indianerdorf auch eine Zucker-Destille und einem
Quilombo gegeben haben. Die Existenz des Parks ist durch die zunehmende Urbanisierung
und Verschmutzung, sowie den Vandalismus gewalttätiger Jugendlicher bedroht.

Hier in diesem Viertel hat der Bloco Afro Ara Ketu besonders während der 80er Jahre und
noch bis Mitte der 90er Jahre eine Vielzahl von Aktivitäten gemacht. Perkussions-Schulen
und öffentliche Proben, Tanz- und Theaterworkshops, Capoeira-Unterricht, Feste „Wir haben
uns immer bemüht, die Vorstadt zu valorisieren, weil wir von dort kommen, unsere Wurzel ist
da“ erzählt Lacerda (Lacerda, 1992).
Auch politische Bewusstseinsbildung gehörte dazu. Als Beispiel nennt Vera Lacerda die
Bürgermeisterwahlen: Während der sonntäglichen Proben in Periperi, hatten die Kandidaten
die Möglichkeit sich vorzustellen. Dazu wurde die Musik wurde gestoppt und sie hatten 20
Minuten zum Sprechen über ihre Ziele. „Wenn es den Leuten gefallen hat, gab es Beifall,
wenn nicht, wurden sie ausgepfiffen,“ erinnert sich Vera. Heute werden die Proben Ara Ketus
eher von Politikern des Establishments besucht, die sich gern dort zeigen und im Gegenzug
mit Ehren empfangen werden. Das ist auch bei den anderen Blocos Afros nicht viel anders.
Was Ara Ketu unterscheidet, ist jedoch schon die „Klasse“ der Politiker: der frühere
Finanzchef des Bundesstaates und heutige Energieminister Brasiliens ebenso wie der
Kultursekretär des Bundesstaates oder der Chef der Exportförderung des Staates.

Ara Ketu bemühte sich in den ersten Jahren besonders die Bedeutung der afrikanischen
Religionen hervorzuheben, ohne sie zu folklorisieren. Ab Anfang der 90er Jahre werden
Musikstil und Auftreten Ara Ketus zunehmend moderner, poppiger. 1990 hieß das Thema Ara
Ketus „Modernidade negra“, wobei die zeitgenössischen Entwicklungen schwarzer Kultur
dargestellt wurden. „Eine weitere Reise nach Afrika hatte mir gezeigt, dass es dort neben der
Perkussion auch viel moderne Musik gab, die Musiker modernste Technologie benutzten.. Die
Afrikaner waren nicht nur an den Trommeln, sie hatten sich weiter entwickelt und auch wir
mussten das tun“ (Lacerda, 1992). Die Einführung elektronischer Instrumente während des
Karnevalsumzugs 1991 und die Reduzierung der Trommler wurde kontrovers diskutiert. Auf
dem Karnevalswagen sind jetzt die elf Musiker der Banda und noch weitere zehn
Perkussionisten und der Sänger Tatau. Die 1992 aufgenommene CD Seven Gates wurde in
Brasilien aufgenommen und in London gemischt. Erstmalig wurden darauf die traditionellen
Trommelrhythmen mit elektronischer Musik vermischt. In Brasilien war diese Platte fast nicht

193
zu bekommen. Erst die nächste Platte Ara Ketu aus Períperi ist 1993 die erste in Brasilien
gemachte CD mit elektronischer Musik.

Den Vorwurf mit dem Erfolg ab Mitte der 90er Jahre die Wurzeln verloren zu haben, will
Vera Lacerda nicht gelten lassen. Ara Ketu sei durch die Verhältnisse gezwungen gewesen
sich zu modernisieren und professionalisieren erklärt sie während eines Karneval-Seminars
der föderalen Universität Bahia 1995. 1993 passierte Ara Ketu einen der schwierigsten
Momente seiner Geschichte: dem Bloco fehlten die Mittel für eine Teilnahme am Karneval.
Dies sei der Einschnitt für ein Umdenken bei der Führung des Bloco gewesen.
Das Jahr darauf, 1994, inzwischen mit einer aktiven Plattenfirma im Rücken (Sony) bringt
den Durchbruch der bereits 1989 überwiegend aus Musikern des Bloco gegründeten Banda.
Die12 Musiker mit dem Sänger Tatau sind das ganze Jahr über ausgebucht und gehen in
Brasilien und im Ausland auf Tournee. Die CD Ara Ketu Bom de Mais wird über 210.000
mal verkauft und bringt eine Goldene CD. Jedes Jahr erscheint eine neue CD, die sich ähnlich
gut verkauft. Der absoluten Höhepunkt ist jedoch die Live CD mit den größten Hits von 1998,
die über 2.000.000 über den Verkaufstisch ging und der Gruppe Goldene, Platin und
Diamantene Platten einbringt. Auf ihrer Homepage wirbt die Band für sich als Afro-Pop-
Gruppe, deren Charakteristika unterhaltsame, tanzbare, farbige und perkussive Shows seien.
Alegria, Freude, sei das Stichwort die Auftritte zu charakterisieren und ebenso einziges
Kriterium bei der Aufnahme in den Bloco.

Ara Ketu wirbt damit der erste Bloco Afro gewesen zu sein, der durch sein anti-rassistisches
Haltung auszeichnet und Menschen jeder Hautfarbe und sozialer Herkunft aufnimmt. Anders
als bei Ilê Aiyê durften Weiße von Anfang am Bloco teilnehmen. Vera Lacerda, selbst
hellhäutig, erzählt: „Ich hatte immer einen Spleen was Blocos Afros angeht, weil ich
mehrmals versucht habe bei Ilê mitzumachen und durfte es nicht“ (Interview Lacerda 1992).
Vera Lacerda ist auch die einzige der interviewten Leader der Blocos Afro, die von „afro-
brasileiros“ spricht, einem eher wissenschaftlichem Terminus, im Vergleich zu den
verschiedenen umgangssprachlichen Bezeichnungen wie negões, negrada, comunidade
(negra) etc.

Seit kurzem ist die soziale Arbeit des Bloco wieder neu belebt worden. In den seit 1997
funktionierenden Oficinas werden rund 600 Kinder betreut. Zu den Aktivitäten die dort
angeboten werden gehören neben Perkussion, Tanz, Theater und Capoeira, auch Serigrafia,

194
Schneiderei und die Herstellung von Zubehör. Diese sozialen Aktivitäten werden durch
Abkommen mit einer Reihe staatlicher Institutionen auf Munizipal- und Landesebene aber
auch nicht-staatlicher Gruppen getragen.

9.3.5 Bahia-Jamaika: „Muzenza - der Rastafari-Kämpfer“97

Vom Bloco Afro Olodum spaltete sich 1981 eine Gruppe ab und gründete den Bloco
Muzenza, damals noch mit Sitz im Maciel/Pelourinho. Mit dem Tod Bob Marleys im Mai
1981 wurde dieser zum mythischen Idol der Gruppe. „Wir hörten nur Reggae. Reggae hörten
die, die eine Beziehung zur schwarzen Gemeinschaft hatten“ erinnert sich Geraldão, einer der
Gründer Muzenzas. „Der Reggae von Jimmy Cliff war nicht unsere Sache, der Reggae von
dem die Idee kam, war der politische Reggae, der Reggae der Befreiung, von Bob Marley.
Und nicht jeder hörte den... das war wirklich ein Reggae des Widerstands“ (Geraldão, 1992).

Reggae und Rastafari-Glauben wurden zu identitätsstiftenden Elementen eines Teils der


Anhänger Muzenzas. Viele Mitglieder des Bloco haben Rasta-Haare, tragen Hemden mit
Fotos von Bob Marley. Einige folgen auch der Philosophie der Rastafari, sind Vegetarier und
rauchen Marihuana. Das Symbol des Bloco ist der Löwe von Judas, Titel der dem Kaiser
Äthiopiens oder Ras Tafari Hailé Selassie98 zusteht. Muzenza benutzt die Farben der Flagge
Jamaicas, grün, gelb, rot und schwarz.
Seit 1983 hat Muzenza seinen Sitz im Stadtviertel Liberdade. Die Straße Alvarengo Peixoto
ist heute bekannt unter dem Namen Av. Kingston, benannt nach der Hauptstadt Jamaikas. Die
Macher des Bloco fühlen sich als Vertretung Jamaikas in Bahia. „Muzenza, distrito cultural,
embaixador da Jamaica“ intoniert Xaréu eines seiner Lieder (Xareu, 1992).

Anders als die aus dem Yoruba stammenden Namen der anderen Blocos Afros, kommt das
Wort Muzenza aus dem Bantu und bedeutet Tanz der Iaô, genauer der erste Tanz der
Heiligentochter nach der Zeit der Initation. „Das Wort Muzenza kommt aus dem Fundament
des Candomblé, der Initiation eines Menschen in der Religion oder der die Gabe hat zu
empfangen“ erläutert Geraldão (Interview 1992). Die Inspiration zu dem Namen kommt aus

97
„Muzenza, o guerreiro rastafari“ heißt ein Lied der Gruppe.
98
Marcus Mosiah Garvey Existenz eines schwarzen Gottes und Notwendigkeit der rpückkehr nach Afrika.
Garvey identifizierte sich mit der Geschichte der azus Israel vertreibenen Stämme, die als sklaven nach
Babilonien verkauft wurden. Daher stammt die Identifiaktion mit Äthiopien und Haile Selassie (1975 gestorben).
Äthiopien ist für die Rastafari so etwas wie das gelobte Land und Haile Selassie der Retter der schwarzen Rasse.

195
dem Candomblé de Angola, den die Bantu-Völker mit nach Brasilien brachten. Bei Muzenza
vermischen sich Reggae, Rastafarie-Glauben und Candomblé.

Die ersten Proben Muzenzas fanden am Strand von Ribeira an der Heiligenbucht satt. Der
Stadtteil Ribeira, zusammen mit Bonfim auf der Itapagipe-Halbinsel gelegen, ist ein
traditionelles Wohngebiete der (unteren) Mittelschicht. Wie an anderen Stränden auch, gibt es
in Ribeira Strandabschnitte, die von einem bestimmten Publikum besucht werden: die
alteingesessenen Bewohner des Viertels treffen sich an einer anderen Bar zu Bier und
Krebsen oder Muscheln, als die Jugendlichen, die aus den armseligen Siedlungen entlang der
„Suburbana“ genannten Strasse kommen, die hier beginnt und vorbei an den Alagados, den
Pfahlbautensiedlungen, stadtauswärts führt. Schon bald stand Muzenza in dem Ruf,
Treffpunkt von Marihuana-Rauchern, Gaunern und Kriminellen zu sein. Andererseits machte
dieses Image zusammen mit den mitreißenden musikalischen Proben Muzenza besonders
anziehend. Geraldão erklärt die anfängliche Ablehnung: „Das Problem von Muzenza war der
Ort...ein Ort der Mittelklasse und die Leute haben das nicht akzeptiert. Dort wohnte ein
Polizeichef, ein Militär, ein Politiker ... und die Musiken waren so, daß sie bekämpften, was
sie machten... Die Musiken störten sie, weil zum Beispiel eine Musik, die damals davon
sprach Schwarze zu versammeln, von Befreiung, von Afrika, von Schwarzen störte“
(Geraldão, 1992). Bereits im ersten Jahre brachte Muzenza rund zweitausendfünfhundert
Menschen auf die Strasse.

„Der Reggae ist eine Musik der Ghettos. Es ist eine Musik, um von der Armut zu sprechen,
eine Musik, von all den Dingen zu sprechen, mit denen sich die schwarzen Bahianer
identifizieren, welche die schwarzen Bahianer mit den jamaikanischen Schwarzen gemeinsam
haben: in den Ghettos zu wohnen, ohne Bildung, in Armut, ohne eine Arbeit zu finden. ...
Reggae ist die Musik des Volkes“ (Xareu, 1992).
Über die Identifikation mit dem Reggae kommt es auch zu Bewusstseinprozessen wie
Geraldão beschreibt: „Was uns klar werden muss ist, dass Jamaika und andere Länder der
Neuen Welt sehr ähnliche Probleme haben. Haiti hat eine ähnliche Struktur wie Jamaika. In
was? Ghettos, Armut und vor allem die schwarze Bevölkerung“ (Geraldão, 1992). Inwieweit
seine Aussage zutrifft oder nicht, soll hier nicht thematisiert werden. Entscheidend ist, dass
diese Vergleiche gezogen werden und dass er überhaupt Kenntnis dieser Länder hat und weiß,
wo ungefähr sie einzuordnen sind. Die Identifikation geht sogar noch weiter, als er über die
Cimarrones spricht, die aufständischen Sklaven der Karibikinsel, die ebenfalls Quilombos

196
bauten und deren Gedankengut Muzenza verbreitet: „Bahia-Jamaika: Muzenza, der Rastafari-
Krieger“ heißt eines ihrer Lieder. Ganz deutlich sieht man auch hier, wie eine schwarze
Identität aus angenommenen Gemeinsamkeiten aufgebaut wird und dass die Musik dabei
eine zentrale Rolle spielt.

Die Beziehung zum Rastafarianismus ist schwieriger, weil „die Publikationen fast alle in
Englisch sind ... und wir bereits unsere Religion haben, den Candomblé. Wir übernehmen den
Begriff Rastafarianismus, weil er von Schwarzen gemacht wurde und ein Element des
Widerstands ist... weil der Rastafarianismus den schwarzen Stolz propagiert“ (Gari oder
Xareu, 1992). Hier wird noch einmal deutlich, dass Rasta-Haare und die Auseinandersetzung
mit dem Rastafari-Glauben in erster Linie auf einer ästhetischen, symbolhaften Ebene
verlaufen. Es gibt heute immer mehr Menschen in Salvador die Dreadlocks tragen, aber nur
ganz wenige Rasta, die auch zum Rastafari-Glauben gehören. Häufiger werden tatsächliche
oder angenommene Elemente übernommen, um eine Identität als Rasta aufzubauen, wie zum
Beispiel auch Marihuana zu rauchen. Es zeigt sich, dass die afro-brasilianische Religion des
Candomblé auch für die Rasta vom Bloco Muzenza die Wurzel ihres Seins ist. „Es ist
notwendig, diese Glaubensbeziehung zum Candomblé zu haben, damit man überhaupt die
Kraft hat, eine solche Arbeit zu machen... ohne die Bedingungen dafür zu haben... ohne Geld
... ohne politische Kenntnis...Deshalb war es etwas, was direkt auf dem Candomblé basierte,
mandinga (Zauberei), weißt du?“ (Xareu oder Mestre Gari, 1992)

Die Mitglieder Muzenzas sind zum Großteil (83%) zwischen 18 und 25 Jahren alt, haben
keine abgeschlossene Grundschulausbildung (76%) und verdienen zwischen einem halben
und zwei Mindestlöhne (73%) (Veiga 1991:107f.). Muzenza gilt als der Bloco der
Müllmänner, der Männer, die hart arbeiten. Es gibt auch Frauen im Bloco, aber die Männer
sind in der Mehrheit. Warum man zu Muzenza geht? „Einige um sich zu befreien, das ganze
Jahr am Schuften und dann im Karneval den Schrei nach Freiheit ausstoßen“ sagt Gari (Gari,
1992). Muzenza ist Garant für viel Tanzen und kräftige Rhythmen.

In diesem Kapitel wurden die wichtigsten Blocos Afros vorgestellt. Deutlich geworden ist,
dass sie über ein gemeinsames Repertoire verfügen aus dem sie die Elemente zum Aufbau
ihrer kulturellen Identitäten schöpfen. Sie sind jedoch auch einzelne kleine Gemeinschaften,
die durch familiäre und affektive Beziehungen zusammengehalten werden. Jede Gruppe
verfügt über spezifische Charakteristika, die sei von den anderen unterscheidet. Ihren

197
Mitgliedern sind diese Besonderheiten wichtig. Viele von ihnen empfinden sich nicht nur im
Karneval als Krieger Jamaikas, Malês oder dem Volk Ketus zugehörig. Insofern passt auf sie
auch die von Maffesoli geprägte Bezeichnung der „modernden städtischen Stämme“
(Maffesoli 1987). Die folgenden Kapitel befassen sich ausführlich mit einem dieser Stämme:
der Grupo Cultural Olodum.

198
10. Olodum und der Pelourinho

Wie kaum ein anderer Ort Salvadors steht der Pelourinho-Platz für das afro-brasilianische
Erbe und die Rassenbeziehungen in Brasilien. Der pelourinho war der Schandpfahl, an dem
die afrikanischen Sklaven von ihren portugiesischen Kolonialherren öffentlich gezüchtigt
wurden, während die Damen von den Balkonen und aus den Fensterecken ihrer
Stadtresidenzen dem Schauspiel zuschauen konnten. Der Schandpfahl, der dem Platz seinen
Namen gab, ist nicht mehr da, aber bis heute liegt über dem Ort eine bestimmte Aura, die ihn
von anderen unterscheidet. Jeden Sonntag kamen, bis vor kurzem, Tausende schwarzer
Jugendlicher zu den Sonntags-Proben Olodums auf den Pelourinho. Jeden Dienstag kommen,
vor allem Afro-Brasilianer, in das Altstadtviertel um Musik zu hören und sich zu unterhalten.
Das Pelourinho-Viertel mit seinen vielen Kirchen und kolonialen Bauten ist einer der größten,
noch erhaltenen Barockkomplexe der Welt, mit dessen Restaurierung in den 90er Jahren
begonnen wurde. Die Geschichte Olodums ist mit dem Pelourinho verbunden, dem Herzen
der Altstadt Salvadors, und die Veränderungen des Viertels stehen in engem Zusammenhang
zur Entwicklung Olodums.

10.1 Der Pelourinho, wie er früher war – persönliche Geschichten

Bis zur Restaurierung in den 90er Jahren war das Pelourinho-Viertel ein typisches
innenstädtisches Ghetto mit all den dazu gehörenden Problemen. In den zerfallenden,
feuchten Altbauten wohnten die Menschen in prekärsten Verhältnissen. Prostituierte und
Drogensüchtige suchten hier Unterschlupf, Diebe und Betrüger machten die Strassen
unsicher. Aus dem ehemaligen Bohème-Viertel, wie es Jorge Amado in seinen Romanen
beschrieben hatte, zogen die Reicheren weg, aber viele arme Familien konnten oder wollten
nicht wegziehen, wegen der Nähe zu Arbeitsmöglichkeiten in der Innenstadt oder einfach,
weil sie sich hier zuhause fühlten (Espinheira 1971).

Das Pelourinho-Viertel ist für viele der Mitglieder Olodums einer der wichtigsten
Bezugspunkte. Viele kannten die Altstadt seit ihrer Kindheit. In ihren Erzählungen wird der
Pelourinho als ein aufregender, gefährlicher, aber auch anziehender Ort geschildert, ein Ort,
in dem es Arbeit gab und in dem auch viel gefeiert wurde.

199
“Seit ich neun bin, komme ich an den Pelourinho. Weil ich in einer Schuhfabrik angefangen
habe zu arbeiten. Die Schuhfabrik war dort, wo heute die Casa do Benin ist. Ich war ein
Hilfsjunge des Schusters. Ich kam von Liberdade hierher, ich und drei meiner Brüder. Dann
ist die Fabrik in den Maciel umgezogen, der das brega war, das Hurenviertel. Dann habe ich
inmitten der Prostitution gearbeitet. Ich habe da gearbeitet, dann kamen diese Frauen rein.
Dann ging die Anmache so hin und her“ (Washington, 1993).
„Ich kam zum Pelourinho als ich neun war, arbeitete hier ein Jahr. Meine Mutter arbeitete
hier als Frau, die Matratzen machte,und Wäscherin. Mein Vater hatte eine schlechte
Beziehung zum Pelourinho99. Ich kam immer mal wieder hierher, später bei meiner sexuellen
Initiation. Der Pelourinho war das brega, ein Rotlichtviertel. Das erste Mal, das ich eine
sexuelle Beziehung hatte, war im brega, wie die meisten meiner Bekannten. Wir kamen her,
um zu trinken, zu erzählen, zu vögeln, Quatsch zu machen. ... Ich bin hier zuhause. Ich bin nie
beklaut, überfallen, angegriffen worden“ erinnert sich Zulu (Zulu, 1993).
„Ich kam hierher mit sieben Jahren. Ich kam nur morgens. Mittags musste ich nach Hause,
weil es hier barra pesada war, weil es hier eine dunkle Gegend war. Hierher kamen die
Soldaten, die Matrosen, hier gab es viel Streitereien, viel Durcheinander, also ging ich dann
mittags nach Haus. ... Was mich hier anzog waren die Karnevalsblocos. Ich machte bei den
Mercadores de Bagda mit, war Cavaleiro, Filho do Mar, Vai Levando .. Ich habe hier Fußball
gespielt. Mir gefielen die Frauen von hier...“ erinnert sich Petu (Petu, 1994).
„Mein Leben war der Pelourinho. Seit ich Kind war, bin ich hierher gekommen. Später gab es
hier viele Bars und Restaurants, als ich so 17, 18 war in den 70er Jahren. Nicht hier in der
Gregório de Mattos, die zu gefährlich war, aber in der Rua Alfredo Brito, wo die alte
medizinische Fakultät lag. ... Das war eine wilde Zeit, nur Partys. Ich ging ins Novo Tempo,
eine Bar mit vielen Prostituierten, viel Gewalt“ erzählt Bira (Bira, 1994).
„Ich bin hier vor dreizehn Jahren hergekommen. Da gab es immer ein Fest auf dem Terreiro
und einen Haufen Musikboxen, die in den Bars spielten. Und viel Prostitution. Mir gefiel das.
Ich fing an, Autos auf dem Terreiro zu waschen, hab mit den Jungs rumgehangen, schlief in
den Autos und bin gar nicht mehr nach Hause“ erinnert sich Neguinho do Samba ( Neguinho
do Samba, 1994).

Das Pelourinho-Viertel ist die Heimat Olodums. In diesem Umfeld des Rotlicht-Milieus, der
Prostitution, der Musik, der Kriminalität, aber auch der einfachen Handwerker, die in den
feuchten und dunklen Altstadthäusern kleine Werkstätten hatten, ist die Karnevalsgruppe

99
Der Vater hatte jemanden aus dem Pelourinho-Viertel im Affekt getötet.

200
gegründet worden. Mit ihr nahmen hauptsächlich die Bewohner des Viertels am Karneval teil.
Jahrelang veränderte sich wenig im Pelourinho-Viertel. Die weiße Mittelschicht traute sich
selten in die schmalen Gassen der Altstadt, nicht einmal bei Tageslicht, aber auch viele Afro-
Brasilianer kamen nicht hierher. „Die Negros schämten sich bei Olodum mitzumachen, weil
Olodum aus dem Rotlichtviertel (brega) kam. Olodum war viele Jahre als Karnevalsgruppe
der Huren und Schwuchteln bekannt, der Diebe, das war das Etikett. Das war die große
Aufgabe der Direktoren die Gruppe in einen sozialen, kulturellen und politischen Bloco
umzuwandeln“ (Billy, 1994).
Für den Karneval probten die Trommler Olodums im staubigen Hinterhof eines
heruntergekommenen Theaters, des Teatro Miguel Santana. Die Proben waren lockere
Zusammenkünfte am Sonntag-Nachmittag in einem Viertel, in dem den Jugendlichen nichts
geboten wurde. „Dieser Hof, gehörte zum Institut, wo wir Holzarbeiten machten und die
stellten ihn Olodum zur Verfügung. Das war reiner Lehm. Das war als Neguinho do Samba
zu Olodum kam und diese Musik machte „Olodum está de volta“ („Olodum ist zurück“). Das
war das Thema Ujamaa100. Das war 1982. Das war als wir alle zu Olodum kamen. Wir hatten
Sonntags nichts zu tun. Vor den Proben gingen wir in die Quadra, den Innenhof, um Fußball
zu spielen. Da standen dann schon die Instrumente und wir spielten darauf ein bisschen rum,
so im Rhythmus von Ilê. Dann kam Neguinho do Samba und hat uns was gezeigt. Spielt so,
spielt hier. Und so waren unsere Sonntage, morgens gingen wir an den Strand und von dort
zur Probe von Olodum und wenn wir da raus kamen, waren wir alle braun vom Staub, der
aufgewirbelt wurde. Das war für mich eine schöne Zeit, auch wenn wir nichts verdient haben.
Wir wurden nie müde, wir spielten und spielten“ erinnert sich einer der ersten Trommler
Olodums (Carranca, 1994). Die Sonntags-Proben waren für die Kinder und Jugendlichen aus
dem Viertel ein willkommener Zeitvertreib.

Als die Proben nach einiger Zeit bekannter wurden und mehr Leute kamen, begannen die
Musiker auf dem Pelourinho-Platz zu proben. „Später legten wir die Probe ... auf den
Pelourinho. Das hat direkt und indirekt die Einwohner begünstigt, die hier anfingen sonntags
ihre Stände aufzubauen, als ambulante Verkäufer unterwegs zu sein. Die hatten eine neue
Einkommensquelle. Das war eine wichtige soziale Veränderung...“ (Billy, 1994).
In der zweiten Hälfte der 80er Jahre, insbesondere nach dem Erfolg des Liedes Faraó, werden
die Proben auf dem Pelourinho-Platz immer bekannter in der Stadt. Mit zunehmender
Beliebtheit kamen jetzt auch Besucher aus anderen Teilen der Stadt Die Bewohner des
100
Der Trommler, der hier erzählt ist Analphabet. Dennoch identifiziert er den Zeitpunkt durch das
Karnevalsthema Ujamaa, die sozialistischen Dörfer des tansanischen Präsidenten Julius Nyere

201
Pelourinho-Viertels begannen eisgekühlte Getränke aus Styroporboxen zu verkaufen, aber
auch mit Honig und Nelken angesetzten Zuckerrohrschnaps, cravinho genannt. Das brachte
ihnen zusätzliche Einnahmen. Zumindest am Sonntag bei Tageslicht war der Besuch des
Pelourinho-Platzes relativ sicher.

10.2 Die Benção am Dienstag

Das Pelourinho blieb auch in den 80er Jahren ein heruntergekommenes Altstadtviertel mit
einer marginalisierten Bevölkerung. So langsam breitete sich aber auch der Ruf aus, dass dort
Musik zu hören war, die sonst nirgends gespielt wurde. Die Bars im Pelourinho-Viertel waren
die ersten Orte in Salvador, die jamaikanische Reggae-Platten in ihren Musikanlagen
abspielten. Der Reggae kam quasi über die Hintertür nach Bahia, über den noch weiter
nordöstlich gelegenen Bundesstaat Maranhão, dessen Hauptstadt São Luis bis heute als
Zentrum der Reggae-Musik gilt. „Das erste Mal hörte ich Reggae als ein Typ aus Maranhão
im selben Haus wie ich wohnte... Wir haben uns immer mit der Musik aus dem Ghetto
identifiziert, mit Samba, Pagode, Reggae. ... Reggae hörst du nicht oft im Radio, weil der
Reggae diskriminiert wird. Hier in Bahia gibt es gute Reggae-Sänger, aber die haben einfach
keinen Durchbruch. Wegen der Diskriminierung (Lazinho, Interview).
In den 80er Jahren wurde das Pelourinho-Viertel zu einem Treffpunkt von Studenten, die
wilde Ideen im Kopf hatten. Sie fühlten sich angezogen von der Mischung aus Musik und
Unterwelt, waren auf der Suche nach neuen Lebenskonzepten. „Während meiner Studienzeit
kam ich zum Pelourinho in die Bars zum Mittagessen, das Tempo, das Banzo, beides hier
unten am Pelourinho-Platz. Wir gingen nicht in die anderen Straßen die zum Maciel
gehörten, nur hier auf den Pelourinho-Platz. Hier war es, wo die Sachen passierten. Das
Banzo war eine Bar so richtig für Studenten, das war ein Erbe der siebziger Jahre, des
Tropicalismo...“ erinnert sich Dora (Dias, 1994)
Das Pelourinho-Viertel blieb weiterhin gefährlich. Hier bewegten sich nur die, die dazu
gehörten oder jemanden kannten. Tabu blieben weiterhin die vielen kleinen Nebenstraßen und
–gassen. „Vor zwei Jahren, wenn Du hier nachts rumgelaufen wärst, dann wärst Du nicht in
Salvador geblieben. Viele unserer Freunde von außerhalb, die zu den Proben kamen, wurden
überfallen. Das war extrem schwierig für uns“ erzählt Nêgo (Nêgo, 1994).

202
Ein besonderer Abend im Pelourinho-Viertel ist der Dienstag, besonders der erste und der
letzte im Monat, wenn die Leute zur Benção (wörtlich: Segnung) kommen. Die Benção ist
entstanden aus dem Brauch der Soterapolitanos am Dienstagabend um 18 Uhr die Messe in
der São Francisco-Kirche zu besuchen. Nach der Messe verweilte man noch zum Gespräch
auf dem Terreiro de Jesus. Über die Jahre wurde der Dienstag so zu einem typischen
Ausgehabend im Pelourinho-Viertel mit viel Live-Musik auf den Plätzen und vollen Bars.
„Die Benção hatte drei Phasen: früher gab es nur den religiösen Teil. Meine Oma wohnte am
Terreiro de Jesus und ich blieb am Fenster und schaute den Leuten zu, wie sie zur Messe
gingen. Seit ungefähr 15 Jahren hat sich das so entwickelt, dass die Leute nach der Messe in
den Bars etwas trinken gehen. Und dann kam Olodum und die anderen Gruppen und machten
die Benção zu dem, was es heute ist, wo nur noch die wenigsten wegen des Religösen
kommen“ beschreibt Petu die Entwicklung der Dienstage im Pelourinho-Viertel (Petuz,
1993).

Zur Benção am Dienstag kamen in den 80er Jahren immer mehr junge Schwarze, die sich
auch mit ihrer Situation als Afro-Brasilianer auseinander setzten. „Die Benção war ein Raum,
wo sich die negrada traf und über alle Fragen diskutierte. Dort trafen sich die Leute der
einzelnen Gruppen, von Malê, von Olodum, von Ilê, von den Negões, vom MNU, von allen
Gruppen trafen wir uns dort, haben Versammlungen gemacht und diskutiert“, erinnert sich
Jorge Washington (Washington, 1994).
Die Benção wurde zum Anlass intensiver Diskussionen über afro-brasilianische Kultur und
politische Militanz und einem Ort der Versammlung. Das wirkte beunruhigend für die
konservativen Kräfte. „Alle großen Manifestationen gingen von hier aus, oder endeten hier.
Die gegen den 13. Mai begann am Campo Grande und endete hier, und das mit 15.000,
30.000 Teilnehmer. Dieser Raum wurde gefährlich fürs System. Und das System hat das
klugerweise zerstört - wie? Sie haben dort Lautsprecherwagen aufgestellt, an den Dienstagen,
mit Reggae-Musik, die dem negão gefällt. Erst an einer Seite des Platzes, dann auch an der
anderen. So konnte man sich nicht mehr unterhalten, weil es so laut war. Und wer schickte
diese Wagen? Marcos Medrado, Pedro Irujo, Itapuã FM101.. einen Tag haben sie hier sogar
ein Trio Eléctrico hingestellt, aber das haben die alten Gebäude nicht ausgehalten.. Die
Presse begann das Fest an der Benção zu verbreiten, so wurde der Raum miniert“
(Washington, 1994).

101
Marcos Medrado und Pedro Irujo sind konservative Lokalpolitiker, Itapuã FM ist ein Radiosender.

203
Ob die konservativen Kräfte tatsächlich bewusst die Benção entpolitisiert haben, wie in dem
Gesagten unterstellt, entzieht sich der Beurteilung. Vorstellbar ist, dass die Politiker die
Ansammlung vieler Menschen zur politischen Propaganda ausnutzen wollten (Mitte der 80er
Jahre geht Brasilien wieder zu demokratischen Verhältnissen über). Ein solches Verhalten (
im Sinne von: „ihr dürft laut eure Musik hören, aber nicht diskutieren“) knüpft darüber hinaus
an, an eine lange Tradition der Aushandlung gesellschaftlicher Freiräume für die schwarze
Kultur. Tatsache ist, dass der politische Aspekt in den Hintergrund gerückt ist, heute ist die
Benção in erster Linie ein Anlass zum Ausgehen und sich Vergnügen. Sowohl der religiöse
als auch der politische Moment sind nur noch für eine Minderheit der Besucher von
Bedeutung.

10.3 Der Pelourinho – ein schwarzer Platz

Anfang der 90er Jahre ist der Pelourinho verschmolzen mit dem Namen Olodum. Zu den
Sonntags-Proben kommen jeden Sonntag Tausende. „Das Ensaio ist ein Raum zu dem die
negrada kommt. Das ist auf der Strasse, kostet nichts, Kunst mit Qualität. Die Leute, die zum
Ensaio von Olodum am Sonntag kommen, haben oft nur das Fahrgeld, vielleicht noch für ein,
zwei cravinhos [der gesüßte Zuckerrohrschnaps mit Nelkengeschmack] und mehr nicht“
(Interview Washington, 1993). Im folgenden soll eine solche Probe beschrieben werden.

Das Sonntags-Ensaio auf dem Pelourinho


Die untergehende Sonne färbt den Himmel rosa-violett und setzt die blaue Fassade der
Barockkirche Nossa Senhora do Rosário dos Pretos in einen reizvollen Kontrast dazu. Das
bucklige Kopfsteinpflaster des abschüssigen Pelourinho-Platzes schimmert glänzend im
Abendlicht und das Pastell der Hauswände der sobrados, der mehrstöckigen Kolonialhäuser,
bekommt einen warmen Ton. Cabeça de negro, wörtlich übersetzt Negerkopf, werden die
Pflastersteine auch heute noch manchmal genannt. Die Kirche, die den Namen Unsere Frau
des Rosenkranzes der Schwarzen trägt, bauten die Sklaven in ihrer Freizeit, weil ihnen der
Zugang zu den Kirchen der Portugiesen verboten war. Bis heute werden die Messen hier
überwiegend von Afro-Brasilianern besucht.

Sonntagnachmittag dringt über den Platz das Klopfen und Hämmern von Männern die aus
Holz provisorische Stände aufbauen, Rufe schallen dazwischen, ein Hund kläfft. Eine

204
Touristengruppe versucht noch schnell die Abenddämmerung mit ihren Fotoapparaten und
Filmkameras auf Zelluloid festzuhalten - belagert von Souvenirverkäufern, die sich durch die
gelben Westen der Stadtverwaltung legitimieren, Kindern mit bunten Bonfim-Bändchen, die
ihren Trägern Glück bringen sollen, und zwei Baianas, dunkelhäutigen Frauen in der
typischen weißen Kleiderpracht Bahias, die von den Edelsteinläden zum Kundenfang
eingesetzt werden - bevor sie eilig im Dämmerlicht den Platz verlassen. Wenn es dunkel wird
am Sonntagabend, dann gehört der Pelourinho, das touristische Aushängeschild Bahias, den
Nachfahren der Sklaven, die zu Tausenden aus den armseligen, gewalttätigen Vorstädten ins
historische Zentrum Salvadors kommen. Am Sonntagabend spielt hier Olodum, die
Trommelgruppe von Pelourinho.
Während entlang der Seiten des Platzes die Holzstände zum Verkauf von Getränken
aufgebaut und große Styroporkisten, voll mit Eis und gekühltem Bier, auf dem Kopf
herangeschleppt werden, treffen oben am Kopfende des Platzes vor der Casa Jorge Amado die
ersten Trommler ein. Bei den meisten hängen noch Wassertröpfchen in den Krauslocken, die
auf den frisch gebügelten T-Shirts feuchte Stellen hinterlassen. Auch die Bermudas- entweder
knielang wie sie die Surfer oder bis zur Wade wie die schwarzen Jugendlichen sie in den
Ghettos der USA tragen - haben Bügelfalten. Die Schienbeinschützer sind lässig bis an die
Knöchel gerutscht und liegen auf dem Rand der hohen Basketball-Schuhe, am beliebtesten
die Marken Nike, Reebok oder Asics. Die Mehrheit der Trommler ist zwischen 16 und 24
Jahre alt. Die, die schon länger in der Gruppe trommeln, die mit dem meisten Prestige,
kommen immer erst ein bißchen später. Die Neuen grüßen sie mit einem Kopfnicken und der
rechten Hand zur Faust geschlossen mit einem hochaufgerichteten Daumen „Diga-aí“ oder
„Qual é“, was so viel bedeutet wie „Alles klar“, aber deutlich eine Distanz und coole
Überlegenheit ausdrückt. Untereinander ist das Begrüßungsritual lauter und gestenreicher,
die Fäuste werden zusammen gestoßen, der Handschlag einmal rechtsrum, einmal linksrum,
dann die Finger ineinander verhakt und alles mit einem Schütteln und Schnippen aufgelöst.
Inzwischen sind auch immer mehr Mädchen, meist in kleinen Gruppen zu dritt, viert oder
fünft, auf dem Platz eingetroffen. Auch die meisten von ihnen haben noch feuchte Haare vom
Duschen und riechen nach Seife und Deodorant. Fast alle Mädchen tragen knappe Tops zu
engen Shorts und an den langen Beinen Turnschuhe. Die Mädchen, die mit einem der
Trommler befreundet sind, zeigen dies, indem sie seinen Gürtel, an dem später die Trommel
befestigt wird, lässig umgehängt oder ein frisches T-Shirt, das er beim ensaio, der Probe,
tragen wird, ordentlich zusammengefaltet über die Schulter gelegt haben. Immer mehr
Jugendliche treffen in Grüppchen auf dem Pelourinho ein, die kurze tropische

205
Abenddämmerung ermöglicht den Technikern auf den Stahlkonstruktionen, die provisorisch
am Kopfende des Platzes zur Bühne aufgebaut wurden, einen letzten Check, die
Toningenieure testen die Mikrofone und Verstärker - dann umhüllt das Dunkel der Nacht die
Szenerie.

Mit einem bombastischen Trommelwirbel, gepeitscht aus über zwanzig Trommeln, beginnt
meist so gegen 19.00 Uhr die Probe. Bereits nach einigen wenigen Rhythmen beginnt es in
der Masse aus menschlichen Körpern zu wogen. Zuerst sind es die Nachwuchs-Sängerinnen
und -Sänger, die neue Kompositionen vorstellen, zur Auflockerung immer mal wieder ein
alter Hit dazwischen. Um die Trommler, die vor der Bühne auf dem Platz stehen, scharen sich
die Menschen - in den ersten Reihen stehen die Jugendlichen, die sich im Verlauf des Abends
an den Trommeln abwechseln werden und die Freundinnen (namoradas). In der Menge gibt
es viele Jugendliche, die kleine Aufnahmegeräte in die Höhe halten und mitschneiden, vor
allem die neuen, noch unbekannten Musiken. Oft sind es Jungen, die in ihren Stadtvierteln
selbst trommeln und in eigenen Blocos spielen - auch in der Hoffnung, einmal selbst zu
Olodum zu gehören.
Im Verlauf des Abends füllt sich der Pelourinho immer mehr. 2000, 3000 bis zu 5000
Menschen, vor allem Jugendliche aus den Vorstädten, kommen hierher. Um zu flirten, zu
tanzen, sehen und gesehen zu werden, sich abzulenken vom wenig Perspektiven bietenden
Alltag - aber auch um den Schutz der Menge für kleine Diebstähle und Gaunereien zu nutzen.
Die wenigen Ausländer und hellhäutigen Touristen aus dem Süden und Südosten Brasiliens
sind einfach in der Menge auszumachen - nicht nur, wegen ihres körperlichen Aussehens,
auch an der Art sich zu bewegen, zu schauen, zu tanzen, der Kleidung. Unter den Tausenden
von Menschen auf dem Pelourinho sind keine zwanzig mit heller Haut. Nur ganz wenige
Jugendliche der hellhäutigen Mittel- und Oberklasse Salvadors besuchen das ensaio am
Sonntag, das als chaotisch und gefährlich gilt. Immer wieder kommt es zu Rangeleien, oft
auch zu Prügeleien. Die Militärpolizei versucht mit mehreren Mann starken Ketten die Masse
unter Kontrolle zu halten - nicht ohne dabei selbst oft als Aggressor zu wirken mit ihren tief
ins Gesicht gezogenen Helmen, den Knüppeln, die sie den im Weg stehenden auch mal in die
Rippen stoßen. Zivilpolizisten haben sich unter die Menge gemischt. Es ist nur eine
Minderheit der Jugendlichen, die auf briga, Streit, aus ist. Die Gangs der verschiedenen
Stadtviertel haben jeweils ihren festen Aufenthaltsort, ebenso die Diebes-Grüppchen, die
plötzlich in der Menschenmenge Gedränge provozieren, um blitzschnell die Taschen der
anderen zu durchwühlen. Währenddessen singt und tanzt die Mehrheit der Jugendlichen zur

206
Musik der Trommeln, applaudiert den Sängern, die oben auf der Bühne für ein friedliches
Miteinander werben und bei jeder Gewaltaktion die Musik unterbrechen. Die Probe von
Olodum am Sonntag ist nicht nur eines der wenigen kostenlosen Vergnügen, sondern auch ein
großes schwarzes Fest an einem der bedeutungsvollsten Orte der Schwarzen Salvadors.

Olodum spielt ohne Pause, drei, vier Stunden lang. Die meisten Besucher des Platzes können
fast alle Lieder auswendig und singen die Texte mit. Weiter unten auf dem Platz vor der von
Sklaven gebauten Kirche lassen die peitschenden Schläge auf die Trommeln die Kanaldeckel
vibrieren. Nach 22 Uhr nimmt die Menschenmenge so langsam ab, denn die meisten müssen
noch den letzten Bus von Lapa, Barroquinha oder Aquidabã in die Vorstädte bekommen. Mit
einem dumpfen Marsch geschlagen auf den tiefen Surdos verlassen die Trommler einer nach
dem anderen den Platz.

Die Sonntags-Probe hat eine eigene Dynamik. Sie ist eine gewaltige Demonstration afro-
brasilianischer Energien. Von mindestens 5000, oft bis zu 8000 Besuchern gehen die
Veranstalter aus. Sie verfügt über ein großes Potential an identitätsstiftenden Momenten. Hier
trifft zu, was Augé als „lugar antropológico“ bezeichnet, ein identitätsstiftender Raum, ein
Ort, an dem die Identität aufgebaut oder wiederbelebt wird (Augé, 1994, S.74). Das ist den
Verantwortlichen Olodums bewusst. Für sie ist die Sonntags-Probe auch ein Ort der
Mobilisierung. Fast jeden Sonntag wurde hier „Freiheit für Mandela“ gefordert und die
südafrikanische Nationalhymne gesungen. „Der Pelourinho heute ist nicht nur ein physischer
Raum. Der Pelourinho heute ist auch ein Raum für Ideen, ein Raum der Utopien“ sagt einer
der Kulturdirektoren Olodums (Zulu, Interview, 1993).

Ein großes Problem der Sonntagsproben ist die Gewalt. Zu der aufputschenden Musik der
Trommeln singen und tanzen die meisten, aber der Pelourinho wird auch Schauplatz
gewalttätiger Auseinandersetzungen. Wo viele Menschen zusammen kommen, ist die
Gelegenheit zu kleinen Diebstählen und Überfällen günstig, aber auch offene Rechnungen
werden beglichen. Die schwarzen Jugendlichen kommen aus den unterschiedlichsten
Stadtvierteln, einige von ihnen gehören zu Gangs. Jede Gang hat einen Bereich bei den
Sonntags-Proben, in dem sie sich überwiegend aufhalten: die Jugendlichen aus Amaralina am
oberen Ende des Platzes vor der Casa de Jorge Amado, die Jugendlichen von der Suburbana
am unteren Teil zwischen Taboão und Baixa dos Sapateiros. Sie sind in der Minderheit, aber

207
sie schaffen ein Klima, das zu Rangeleien und Schlägereien, aber auch dazu führen kann, dass
Messer oder gar ein Revolver gezogen werden.
Um die Ausbrüche von Gewalt zu beschränken, patrouillieren Gruppen von Militärpolizisten
durch die Menge. Die Polizisten sehen martialisch aus, wie sie in ihren Kampfanzügen, mit
Helmen auf dem Kopf, den Schlagstock in der Hand, sich in einer dichten Reihe den Weg
durch die Menge bahnen. Kommt es an einem Punkt zu einem Handgemenge, greifen die
Polizisten hart durch. Immer wieder kommt es vor, dass Jugendliche abgeführt werden, die
Arme umgedreht auf dem Rücken. Sind sie unter 16, dürfen sie nicht länger von der Polizei
festgehalten werden.
Um die Gewaltausbrüche ganz zu verhindern, wurden in den letzten Jahren die Zugänge zum
Pelourinho-Platz von der Militärpolizei ab dem späten Sonntagnachmittag abgesperrt und alle
Besucher der Proben auf Waffen abgetastet. Inzwischen patrouilliert an Spitzentagen nicht
mehr nur Militärpolizei, sondern auch eine Sondereinheit, das Batalhão de Choque. Kurz vor
und bis nach Ende der Auftritte wird auch die Polizeipräsenz in den Busbahnhöfen
Barroquinha, Lapa und Aquidabã verstärkt. Immer wieder werden von den Busgesellschaften
die Schäden an den Bussen nach den Sonntags-Proben beklagt (A Tarde, 23.11.1993)

Die Sonntags-Probe ist für die Gruppe Olodum der, neben dem Karneval, wichtigste Moment
zum Aufbau einer afro-brasilianischen Identität und Ort der Demonstration schwarzer Kraft,
der konservativen Landesregierung und Stadtverwaltung ist sie jedoch ein Dorn im Auge,
insbesondere als sie die Sanierung des Viertels in Angriff nimmt. „Das war doch klar, dass
die [Regierung] uns nicht hier haben wollten, so viele negões auf einem Platz, mitten im
renovierten Gebiet. Da konnten die madames dann nicht so entspannt rumlaufen“ sagt einer
der Direktoren (Zulu, 1994).

10.4 Die Afrikan Bar- der Auftritt am Dienstag

Aus den losen Freundestreffen der Mitglieder Olodums anlässlich der Benção im Hinterhof
des Miguel Santana Theaters entstand Anfang der 90er Jahre eine Veranstaltung, die Afrikan
Bar getauft wurde. „Die Quadra nutzten wir Dienstag, um unsere Freunde zu treffen,
miteinander zu sprechen. Wir richteten dort eine Bar ein und zunächst war es nur für uns
gedacht. Das war 1988/89. Hier wurden auch die Instrumente aufbewahrt. Das wurde immer
bekannter und mehr Leute kamen. Dann haben Nêgo und Neguinho do Samba beschlossen,

208
dass die Gruppe spielen sollte und damit kam der Erfolg. Das Fernsehen filmte, es kamen
auch andere Leute hierher. Es kam die Gruppe, die hier Aerobic zur Musik tanzt“ (Billy,
1994).

Die Afrikan Bar wird mit der Restaurierung des historischen Zentrums zu der zweiten,
wöchentlichen Veranstaltung Olodums. Die Zuschauer am Dienstag müssen Eintritt bezahlen.
Anfangs sind die Preise niedrig, aber mit dem beginnenden Boom Olodums und Bahia steigen
sie steil an. Inzwischen schwanken die Preise mit der Saison und liegen zwischen
umgerechnet 5 und 10 Euro102 - für die ehemaligen Bewohner des Pelourinho-Viertels
unbezahlbar. Dennoch sind in der Hochsaison die Karten für die Afrikan Bar schon
nachmittags ausverkauft. Die Afrikan-Bar ist die Veranstaltung Olodums, die von der
Restaurierung des Pelourinho-Viertels am meisten profitiert hat.

In der Afrikan-Bar
Ab 19 Uhr bilden sich lange Schlangen vor dem Einlass. Wer nicht rechtzeitig da ist, kommt
später nicht mehr hinein. Kräftige Männer organisieren den Einlass. Der Besuch bei Olodum
ist beliebt und quasi Pflichtprogramm der Ferien in Bahia. In dem engen Innenhof wird es in
der Hauptsaison so eng, dass man sich nur mit Mühe durch die Menschenmenge drängen
kann. Viele Touristen - in- und ausländische - sind es, die in dieser Zeit zur Afrikan Bar
kommen. Das ist einfach zu erkennen, an der von der Tropensonne oft geröteten hellen Haut,
den Kleidern. Viele tragen ein T-Shirt mit einem Aufdruck von Olodum oder Bahia.
Von 19.00 bis 21.00 Uhr spielt die Banda Juvenil, die Nachwuchs-Gruppe. Sie heizen die
Stimmung an. Häufig werden auch andere Musikgruppen eingeladen, die die neuesten Hits
des bahianischen Sommers spielen. Jeden Sommer gibt es neue Hits und Tanzstile. Wenn die
Musik losgeht, formiert sich bereits nach kurzer Zeit eine größere Gruppe, die gemeinsam
spontane Choreografien tanzt. Die Vortänzer, fast alles junge Männer, mit kräftigen,
gestählten Körpern, sind zwar nicht von Olodum unter Vertrag genommen, aber durchaus
gern gesehen, weil sie die Stimmung anheizen. Nichts, was da passiert ist abgesprochen. Die
Tänzer konkurrieren mit gewagten ebenso athletischen wie sinnlichen Darbietungen um die
Aufmerksamkeit des Publikums. Wer Lust hat, versucht den Schritten zu folgen und Teil der
Choreographie zu werden.

102
Die Eintrittspreise sind für die meisten Touristen aus dem Südosten Brasiliens und dem Ausland kein
Problem, für das einheimische Publikum aber schon. Die zur comunidade gehörenden Menschen werden von der
Organisation meist kostenlos eingelassen. Am Eingang stehen meist einige der Direktoren, die mit einem
Kopfnicken über den Zutritt entscheiden. Darüber hinaus gibt es die Gästelisten auf denen die Mitglieder
Olodums ihre Gäste eintragen.

209
Der Auftritt der Banda Show ist der Höhepunkt des Abends. Für ihren Auftritt bereiten sich
die Trommler gut vor. Sie versuchen immer wieder neue Kleider in den Farben und mit dem
Design Olodums vorzuführen. Teilweise lassen sie diese speziell dafür in der Fábrica
entwerfen und drucken. Unverzichtbar sind die importierten Turnschuhe und Strümpfe wie sie
auch von den nordamerikanischen Schwarzen getragen werden. Ebenso wichtig wie die
Kleider ist das Styling der Haare. Es gibt unterschiedliche Typen, die zur Mode wurden: der
kahl geschorene Kopf im Stile eines Michael Jordan, die mit eingeflochtenen Plastikperlen
hoch auf den Kopf gebundenen Haarzöpfe, der gepflegte Rasta-Look, das Malcolm X-
Bärtchen. Wichtige Accessoires sind auch Baseball-Kappen und Sonnenbrillen – auch dabei
werden die Marken und Modelle bevorzugt, die von den nordamerikanischen Sport- und
Musikidolen benutzt werden. Einige kreieren auch eigene, unverkennbare Moden. So hat
einer der Trommler immer eine CD umgehängt.
Während jedes Auftritts zeigen die Trommler eine spezielle Choreographie. Jedes Mal gibt es
den Moment, wo sich die Roda formiert und einzelne Musiker akrobatische und erotische
Tanz- und Trommeleinlagen vorführen. Dabei versuchen sie sich gegenseitig zu übertreffen
mit immer neuen Einfällen: Handstand auf dem Trommelrand, plötzliches auf die Knie fallen,
Trommeln hoch in die Luft schleudern – alles ohne den Rhythmus zu verlieren. Nicht nur
Styling und Outfit gerade auch diese teils akrobatischen Einlagen sind für die Präsenz auf der
Bühne wichtig und entscheidend für die Auswahl eines Trommlers zur Banda Show.103

Die Stimmung bei dieser Veranstaltung ist gänzlich anders, als bei der Sonntags-Probe. Der
Auftritt am Dienstag ist spektakulärer, inszenierter. Die Trommler möchten sich dem
Publikum zeigen, ihre exotische schwarze Schönheit und Virilität präsentieren. Das Publikum
ist ein anderes: weißer, reicher, viele Touristen, denn der Besuch der Afrikan Bar ist sicherer,
als die Sonntags-Probe mit ihren Rangeleien. Am Sonntag sind es hauptsächlich schwarze
Jugendliche ähnlicher sozialer Herkunft wie die Trommler, die zum Pelourinho kommen.
Hier spürt man die Kraft der Trommeln, die geradezu hypnotische Wirkung auf die Körper.
Auf dem Pelourinho identifiziert sich Olodum mit dem Publikum, das Publikum mit der
Gruppe. Etwas verkürzt könnte man sagen, am Sonntag wird die afro-brasilianische Identität
unter Seinesgleichen konstruiert, am Dienstag ausprobiert.

103
Diese performatischen Elemente sind auch in anderen schwarzen urbanen Gruppen üblich: bei den Funkern
des Black Rio (Vianna, 1988) ebenso wie bei den Rappern in São Paulo oder den USA.

210
Gemeinsam ist beiden Veranstaltungen die repräsentative Bedeutung der auf Jugendliche
orientierten Musik schwarzer Künstler, die untrennbar mit der körperlichen Erfahrung
verbunden ist. Sansone betont den spektakulären Charakter der neuen schwarzen Identität.
„Diese neue schwarze Identität definiert die negritude, in dem sie sie zum Schauspiel in der
Freizeit macht und neue schwarze Stile kreiert, die mit den Symbolen der modernen
Kulturindustrie kommunizieren und dadurch symbolischerweise die Hautfarbe kapitalisieren
und das Stigma der Hautfarbe umwandeln. Die positive Einschätzung der negritude hängt
zusammen mit einer Jugendkultur, die die Mode- und Freizeitindustrie bewegt. Schwarz sein
wird assoziiert mit jung sein, mit modern sein“ (Sansone, 1993, S.91). Und das passt gut in
die sommerliche Ferienstimmung, die das Leben in Salvador zwischen Dezember und März
erfasst. Olodum bietet einerseits sommerliche, authentische Unterhaltungsmusik schwarzer
Jugendlicher für die hellhäutige Mittelschicht, andererseits identitätsstiftende schwarze Musik
für die schwarzen Jugendlichen der Vorstädte.
Olodum ist zu einem Produzenten der „black cultural imagery“ geworden (Rose, 1994, S.12).
Darin sind sie mit anderen schwarzen Musikgruppen vergleichbar, einzelnen Reggae-Gruppen
Jamaikas oder Rap-Gruppen Nordamerikas, die sich in ihrer Musik mit der Ghetto-Kultur
identifizieren, deren Hörer aber oft auch aus der weißen Mittelschicht kommen. Das Interesse
der Weißen für schwarze Musik ist nichts Neues. Das gab es beim Blues, beim Jazz, beim
Rock´n Roll. Die weiße Begeisterung transformierte diese Rhythmen in „american popular
music“ schreibt Tricia Rose in ihrem Buch über die Entwicklung des Rap in den USA (Rose,
1994, S.45). Die weißen Jugendlichen in den USA begeisterten sich für die schwarze Kultur
des HipHop und imitierten ihn. Ähnliches geschieht mit der Axé Music, die in den 90er
Jahren nicht nur in Bahia, sondern in ganz Brasilien bei Festen gespielt wurde. Junge Frauen
und Männer in São Paulo oder Belo Horizonte lernen die immer neuen Choreographien der
bahianischen Musik in den Tanzkursen ihrer Body-Studios.Genannt wurde dies Axé Dance.

Viele der Trommler Olodums bemerken, dass die positive Akzeptanz, die ihnen bei den
Auftritten in der Afrikan-Bar oder Shows entgegen schlägt, nicht in allen Lebensbereichen
spürbar ist. Sie fühlen sich als Musikstars akzeptiert, aber nicht als Menschen. „Ich will jetzt
nach São Paulo, aber ohne Olodum. Ich will meine Freunde da besuchen, die, die sagen, sie
seien meine Freunde, aber ich bin gespannt, wie das wird, ob die mich auch so akzeptieren“
erzählt Negão, einer der Trommler (Negão, 1994). Die positive Bewertung schwarzer
Ästhetik ist einfacher dort, wo sie erwartet wird, zum Beispiel im künstlerisch-musikalischen

211
Umfeld. Sie ist individuell sehr unterschiedlich und bestimmte Elemente schwarzer Ästhetik,
wie zum Beispiel Rasta-Haare, werden auch weiterhin von vielen Brasilianern als hässlich
empfunden. Häufig erwähnen die Trommler auch, dass insbesondere in ihrer Heimat das
Stigma erhalten bleibt. „Ich fühle mich, wie soll ich sagen, wichtig, nicht so sehr hier in
Bahia, aber wenn ich reise. Die Leute haben mehr Respekt, sind netter, sind begeisterter für
die Sachen, als hier in Bahia“ (Tóti, zitiert nach Fagundes, 1997, S. 117).

10.5 Die Restaurierung des Pelourinho-Viertels

„Vom Zentrum der weißen Macht, wo die Sklaven ausgepeitscht wurden, zum Zentrum der
Prostitution, zum Zentrum der schwarzen Jugend-Kultur und zum Zentrum eines Bahia, das
die Bahiatursa verkauft“ (Sansone, 1995, S.59). Der Anthropologe Sansone unterscheidet vier
Phasen des Pelourinho, die zeigen, wie sich der Sinn eines Viertels und seine Symbole im
Verlauf der Zeit ändern können.
1992 wurde von der bahianischen Landesregierung in einer groß angelegten Aktion die
Restaurierung des Pelourinho-Viertels in Angriff genommen. In einer ersten Phase wurden
die Straßenzüge zwischen Pelourinho-Platz und Terreiro de Jesus entkernt, saniert und
restauriert. Die ansässigen Bewohner mussten wegziehen und bekamen eine Entschädigung.
Anders als ihnen zunächst versprochen worden war, durften sie nicht im Viertel bleiben
(Craanen, 1998). Die Art des Umgangs mit der Bevölkerung im Zuge der Restaurierung
wurde häufig kritisiert. In die renovierten Altbauten zogen Restaurants und Geschäfte, Cafés
und Andenkenläden. Wegen des Umfangs der nötigen Renovierungsarbeiten und der Größe
des renovierungsbedürftigen Gebiets, wurde die Sanierung der Altstadt in Etappen aufgeteilt.
Bis heute ist die sich über mehrere Phasen hinstreckende Sanierung jedoch nicht zum
Abschluss gekommen. Innerhalb von wenigen Monaten hatte sich jedoch 1992/3 die gesamte
Struktur des Viertels verändert.

Es gibt das Pelourinho-Viertel vor der Reform und das Pelourinho-Viertel nach der Reform -
dasselbe Viertel, aber belebt von unterschiedlichen Elementen der Gesellschaft und mit völlig
unterschiedlichen Bedeutungen. Im restaurierten Pelourinho konkurrieren die neu eröffneten
Bars und Restaurants, um die das historische Zentrum entdeckende hellhäutige Mittelschicht.
Schicke Boutiquen und Kunstgalerien rivalisieren mit Juwelieren und Andenkenläden - die
wenigen alteingesessenen Geschäfte und Bars sehen sich einer immensen Konkurrenz

212
gegenüber. Die hellhäutige Mittelklasse eroberte das Viertel innerhalb eines Sommers. Es war
„in“ am Pelourinho auszugehen: „Mauricinhos no Pelô – Die Jugendlichen der Mittelklasse
entdecken das schwarze Viertel“ schrieb die anerkannte Zeitschrift Veja (Veja, 11.03.1992).
Neben der einheimischen Mittelschicht kommen die Touristen aus dem In- und Ausland.

Die Rolle Olodums bei und nach der Restaurierung ist voller Widersprüche. Olodum hatte
sich jahrelang für die Verbesserung der Lebensbedingungen im historischen Zentrum
eingesetzt, war aber auf eine derartige Reform nicht vorbereitet. „Als Salvador noch nichts
vom Pelourinho wissen wollte und die schwarze Elite nicht hierher kam, nur der eine oder
andere schüchterne Ausländer, war Olodum hier, machte Sachen auf den Strassen, bekannte
sich zum Pelourinho/Maciel, denunzierte die Polizeigewalt und kämpfte für die Restaurierung
des historischen Zentrums, brachte Persönlichkeiten aus aller Welt hierher (Rodrigues,
Interview, 1994).
Viele der Trommler mit ihren Familien lebten in den heruntergekommenen Altstadtbauten.
Auch für sie stellte sich die Frage: Was tun? Eine Entschädigung akzeptieren oder die
Umsiedlung im Gebiet beantragen? Viele von wollten in der Nähe bleiben. „Meine Mutter
wohnt weiterhin im Centro Historico, aber wir wollen ihr ein größeres Haus kaufen, eines, wo
wir alle Platz haben. Und das gibt es hier nicht. Aber ich möchte gern hier bleiben.... Wir
haben die Umsiedlung beantragt“ erzählt Negão (Santos Filho, Interview, 1994).
Der restaurierte Pelourinho brachte Olodum viele Vorteile. Die Veranstaltungen Olodums
boomten: die Sonntags-Probe ebenso wie die finanziell bedeutendere Afrikan Bar. Kaum ein
Werbe-Prospekt oder eine Reportage über den restaurierten Pelourinho, in der Olodum nicht
auftauchte. Die Farben Olodums, die Trommeln, einzelne Mitglieder der Show- oder
Tanzgruppe wurden zu den Vorzeige-Models des neuen Pelourinho, der von einem
marginalisierten Ghetto zu einem weltoffenen Kultur- und Kommerzpoint gemacht wurde,
zur Ansichtskarte (cartão postal) von Salvador.
Die Sonntags-Probe Olodums allerdings wurde immer mehr zum Stein des Anstoßes. „Es gibt
viel Druck von den neuen Geschäftsleuten, dass wir mit den Ensaios am Sonntag aufhören.
Da müssen sie die Bars früher schließen, weil es hier so voll wird... erzählt eine Direktorin
(Dora, 1994). Die Gruppe hält jedoch weiterhin an der Veranstaltung am Sonntag fest. „Das
ist auch eine politische Frage: Wir wollen nicht mit den Sonntags-Ensaios aufhören, weil wir
wollen, dass diese Leute hierher kommen, weiterhin kommen. Die sind schon immer
hergekommen, das sind die, die auch im Alltag zum Pelourinho kommen. ... Das Publikum,
das am Dienstag kommt, die Mehrzahl kommt nur, weil es Mode ist“ (Dora, 1994).

213
Von vielen Mitgliedern Olodums wird die Art der Restaurierung ebenso kritisiert, wie das
Verhalten der Bewohner. „Ich bin traurig, wenn ich heute durch die Baixa dos Sapateiros
gehe und dort eine Menge Menschen sehe, die früher hier am Pelourinho gewohnt haben, die
jetzt auf der Strasse sind. ... Die Regierung hat zwar eine Entschädigung gezahlt, aber die
Leute mussten raus“ sagt ein Mitarbeiter Olodums (Bira, 1994). „Die Menschen, die hier im
Viertel wohnten, haben gar nicht gemerkt, dass sie rausgeworfen wurden. Die haben das Geld
genommen und sich entfernt“ meint ein anderer (Petu, 1994). „Dann kam der Gouverneur,
der erkannt hatte, dass diese Armen hier wie eine Milchkuh sind. Er bat um immer mehr und
mehr Geld im Ausland, aber hier ist nichts angekommen. Er hat die Leute hier rausgeworfen,
aber er hat sie auch entschädigt. Das tut jetzt allen leid...“ kritisiert der Musik-Meister
(Neguinho do Samba, 1994).

Mit der Restaurierung und dem Verschwinden der alten Bewohner ist Olodum immer
stärkerer Kritik aus Kreisen der Schwarzenbewegung ausgesetzt. Olodum wird vorgeworfen,
die Bewohner im Stich gelassen zu haben und sich nur noch kommerziell zu verhalten. Die
Mitglieder Olodums sehen die Verantwortung bei der Regierung und den Anwohnern „Die
Regierung ... hat noch etwas gemacht: sie hat die Armen hier rausgeholt, enteignet.... wir
hatten sogar eine Unterschriftenaktion für das Verbleiben der Bewohner hier gemacht“,
erinnert sich einer der Direktoren (Billy, 1994). „Wir hatten eine juristische Abteilung
zusammen mit der UFBA eingerichtet, hier in der Casa do Olodum. Es ist nur ein Anwohner
gekommen ... Alle scheuten sich zu kommen, weil sie das Geld haben wollten“ erzählt ein
anderer (Zulu, 1993). Der damalige Präsident sieht ein gesellschaftliches Phänomen „Die
Restaurierung war notwendig. Auf der anderen Seite zeigt das Verschwinden der ehemaligen
Bewohner, wie die Gesellschaft mit dem Gebiet umgegangen ist, denn das Vorurteil
gegenüber dem Maciel/Pelourinho war in den Köpfen drin und wer konnte, wollte hier weg.
Und alle hatten Angst dagegen zu protestieren, wegen des Ex-Gouverneurs. ... Die meisten
Leute wollten doch das Geld und wollten nicht, dass wir uns einmischen. Und jetzt wird uns
die Verantwortung für die Restaurierung zugeschoben....“ (João Jorge, 1994).

Den Mitgliedern Olodums ist der Stolz über den Erfolg ebenso anzumerken, wie einige von
ihnen die Veränderungen des Pelourinho bedauern. „Ich habe Sehnsucht nach den alten
Zeiten. Heute siehst du hier keine Prostituierten mehr, nicht mehr die Armut, nicht mehr die
Kleidung, nicht mehr Menschen, die betteln, keine Diebe mehr, die sterben. Heute ist hier

214
alles chic ...“ sagt ein Mitarbeiter (Bira, 1994). Die drastischen Veränderungen wurden auch
zum Thema eines erfolgreichen Musikstücks mit dem Titel „Cartão Postal“ („Postkarte)

Pelourinho não é mais ê Der Pelourinho ist nicht mehr eh


Pelourinho não é mais não Der Pelourinho ist nicht mehr nein
Pelourinho não é mais sim Der Pelourinho ist nicht mehr ja
Pelourinho não é mais não Der Pelourinho ist nicht mehr nein
Olha a cara dele Schau Dir sein Gesicht an
Você não fica à toa Du kannst nicht ungezwungen bleiben
Tem muita gente boa Es gibt so viele gute Leute
Aqui tudo mudou Hier ist alles anders
São quinze anos que brilhou Das sind 15 Jahre die Olodum,
Olodum filhos do sol die Söhne der Sonne leuchteten
Reluz e seduz o meu amo meine Liebe erhellen und verführen
Negros conscientizados Selbstbewusste Schwarze
Cantam e tocam no Pelô singen und spielen auf dem Pelô
Pelourinho primeiro mundo Pelourinho der Ersten Welt
Cartão postal de Salvado Ansichtskarte von Salvador
Passa lá passa lá Komm vorbei
Passa lá que eu vou komm vorbei, ich geh auch
Passa lá passa lá Komm vorbei
Passa lá no Pelô Komm vorbei am Pelô
Itamar Tropicalia, Mestre Jackson, Sérgio Participaçao

Die Veränderungen des Viertels bedeuten auch für Olodum Veränderungen auf den
verschiedensten Ebenen. Kurzfristig begünstigten sie Olodums Erfolg, langfristig haben sie
jedoch gravierende Auswirkungen auf die Arbeit der Gruppe. Die Restaurierung wirkte sich
auf die Umsetzung des politisch-sozialen Projekts Olodums nachteilig aus: Viele Bewohner
zogen weg, die Basis war nicht mehr vorhanden. Zunächst versuchte Olodum noch die
ehemaligen Bewohner mit Transportgutscheinen anzulocken, beispielsweise in der Escola
Criativa, aber das überstieg schon bald ihre finanziellen Möglichkeiten. Von vielen
politisierten Afro-Brasilianern wurde Olodum kritisiert: Die Gruppe habe sich nicht genügend
für die ansässige Bevölkerung eingesetzt, sich von ihrem Erfolg korrumpieren lassen.
Inwieweit diese Kritik zutreffend ist, lässt sich nur schwer einschätzen. Olodum hat sich nicht

215
vehement gegen die Restaurierung ausgesprochen oder agitiert, hatte sogar Vorteile davon.
Andererseits bleibt zu bezweifeln, dass ein Bloco Afro dazu überhaupt die gesellschaftliche
Macht gehabt hätte. Die konservative Landesregierung unter Antônio Carlos Magalhães, der
in ganz Brasilien als skrupelloser, unnachgiebiger Politiker bekannt ist, hätte sich wohl kaum
von ihren Plänen abhalten lassen. Olodum versuchte die sich bietenden Chancen für ihre
Arbeit zu nutzen, genoss den Erfolg. Das Ausmaß der Konsequenzen der Restaurierung ist
sicherlich auch den Machern Olodums nicht bewusst gewesen.

216
11. Die Musik der Blocos Afros - schwarze transatlantische Musik

Die Blocos Afros haben sich zum Aufbau einer neuen schwarzen Identität in Bahia an den
Musikstilen, Symbolen und der populären schwarzen Kultur anderer Schwarzenbewegungen
in der Diaspora orientiert und sind so ein gutes Beispiel der Globalisierung schwarzer Kultur.
Sie haben eine schwarze transatlantische Musik geschaffen. In diesem Kapitel soll die
musikalische Entwicklung Olodums anhand der Platten zwischen 1987 und 1996 analysiert
werden

11.1 Brasilien – Land der Musik

Nur wenige Länder verfügen über eine so reichhaltige und vielfältige Musiktradition wie
Brasilien, wobei Musik und Tanz eng miteinander verbunden sind. Bahia ist eine der
musikalisch bedeutendsten Regionen des Landes. Zahlreiche brasilianische Musikstars kamen
und kommen aus Bahia, von Carmen Miranda, die Brasilien in den 40/50 er Jahren in den
USA berühmt machte, über den poetischen Samba-Sänger Dorival Caymmi zum Bossa Nova
Gitarristen João Gilberto und den aus der Tropicalismo-Bewegung hervorgegangenen
Superstars Caetano Veloso, Gilberto Gil und Maria Bethânia. Seit dem Erscheinen der Blocos
Afros ab Ende der 70er Jahre haben sich die von ihnen gespielten Rhythmen von einer
lokalen Musikform zum festen Bestandteil brasilianischer Popmusik entwickelt. Basis dieser
Musik sind die oft als Samba-Reggae bezeichneten Rhythmusvariationen.

Der Samba-Reggae ist eine Mischung aus Brasilien und Jamaika, mit einer Wurzel im
national-populärem und einer Wurzel im jamaikanischen Ambiente der schwarzen Diaspora.
Der Samba ist die bekannteste im ganzen Land gespielte, gesungene und getanzte Musikform.
Der Samba ist mehr als ein Rhythmus oder eine Melodie - Samba ist auch Ausdruck
nationaler Identität, ein Lebensgefühl, eben „typisch brasilianisch“ (Vianna, 1995). Es gibt
die unterschiedlichsten Formen des Sambas, wie Samba Poesia, Samba duro, Samba de Roda
(vor allem in Bahia) oder den Samba Enredo der Sambaschulen des Karnevals von Rio.
Der Samba-Reggae ist eine Art verlangsamter Samba-Rhythmus104 mit tieferen Trommeln
und den typischen rhythmischen Verzögerungen des jamaikanischen Reggaes. Der Samba-
Reggae, dessen Name zum Oberbegriff für die neuen rhythmischen Stile der bahianischen

104
(genauer den sogen. Samba duro, eine rhythmische Variation des Samba)

217
Musik geworden ist, und Reggae charakterisieren sich durch die off-beat-Akzente, also die
rhythmische Betonung vor den Grundschlägen (Gerischer, 1996)
Der Samba-Reggae ist die Musik der jugendlichen Schwarzen in den Blocos Afros. Doch
schon bald übernahmen auch andere Musikgruppen die Rhythmen. Der Samba-Reggae ist der
Kelch aus dem die Axé-Music schöpft, die ab Ende der 80er Jahre den Musikmarkt erobert
hat. Die Diskrepanz zwischen Samba-Reggae und Axé-Music ist mehr als ein semantischer
Unterschied. Sie ist auch Ausdruck eines (Rassen-) Konfliktes. Die von der Presse als
„Königin der Axé-Music“ titulierte Sängerin Daniela Mercury hat ebenso eine helle Haut, wie
die meisten SängerInnen der anderen Afro-Pop-Gruppen wie Chiclete com Banana u.a. Über
Axé-Music bemerkt der brasilianische Soziologe Moura: „Der literarische Hybridismus eines
YorubaWortes und eines anderen griechisch-englischer Herkunft scheint den merkantilen
Charakter des neuen Stiles in großem Maße auszudrücken“ (Moura, 1996a, S.6).

Analysiert man die Entwicklung der Musik der Blocos Afros, lassen sich zwei Elemente
feststellen: einerseits der Bezug zu Afrika in der Musik, insbesondere in den Liedtexten, aber
auch bei der rein perkussiven Instrumentierung der ersten Jahre, andererseits die Aufnahme
von Einflüssen aus der schwarzen Diaspora, wie insbesondere des jamaikanischen Reggaes.
Der Bezug zu Afrika war gerade in der Anfangszeit voller romantischer Vorstellungen über
afrikanische Musik. Als die Macher von Ara Ketu von einer Reise aus West-Afrika
zurückkamen und nach dem Kontakt mit der aktuellen afrikanischen Musik, die eben nicht
mehr rein perkussiv, sondern auch mit elektrisch verstärkten Instrumenten, Bläsern etc.
gemacht wurde, begannen ihren Musikumzug im Karneval 1991 um eben jene Instrumente
zu erweitern, stieß dies bei der Mehrzahl der Schwarzenbewegung auf teilweise heftige
Kritik: Schwarze, afrikanische Musik, das war in ihrer Vorstellung, Trommelmusik, wie sie
in einem imaginären Afrika gespielt wurde. Während einige Blocos Afros bis heute an den
traditionellen Rhythmen festhalten, wie Ilê Aiyê oder Malê Debalê, sind Gruppen wie
Olodum oder Ara Ketu offen für viele Rhythmen und Musikstile. Ara Ketu bezeichnet seine
Musik heute auch als Afro-Pop.

Die Musik der Blocos Afros mit einem oder zwei Sängern und einer Vielzahl von Trommlern
ist technisch schwierig aufzunehmen. Die Patenschaft für die erste Plattenaufnahme eines
Bloco Afro, Ilê Aiyê, übernahm Gilberto Gil. Erst als Wesley Rangel in den WR-Studios in
Salvador die Musiken der Blocos Afros aufnahm, wurde diese neue bahianische Musik für
einen grösseren Personenkreis hör- und sichtbar. Zunächst waren es auch nur wenige

218
Radiostationen, die den Mut aufbrachten die neue Musik zu spielen. Zu dieser Zeit war
Cristovão Rodrigues Programmmacher bei Radio FM Itapuã, einer der populärsten
Radiostationen der Stadt. Er gehörte zu den ersten, die die rauhe Musik im Radio spielten. Zu
diesem Zeitpunkt war die bahianische Musik geprägt durch die Musikgruppen der Trios wie
Chiclete com Banana und romantische populäre brasilianische Musik. Die eigentliche
schwarze Musik, wie sie auf den populären Festen in Bahia gespielt wurde, war auf dem
Musikmarkt fast nicht vertreten.

11.2 Analyse der musikalischen Entwicklung Olodums

Die Musik der Blocos Afros ist zunächst eine Karnevalsmusik gewesen. Die Liedtexte
orientierten sich, wie bereits beschreiben, an den von den Gruppen ausgesuchten
Karnevalsthemen. Die ersten Plattenaufnahmen stehen in einem engen Zusammenhang zu den
jeweiligen Karnevalsthemen. Während der Rhythmus zum Tanzen animiert und die
Körperlichkeit anspricht, gehen die Liedtexte durch die Köpfe der Menschen. Die Worte
beschwören Gedanken herauf, sprechen Gefühle an. Hat eine Musik besonderen Erfolg,
können viele sie mitsingen, selbst kompliziertere Texte. In den Liedtexten kommt die
ideologische Bedeutung, die Zielsetzung dieser Gruppen zum Ausdruck. In den Liedern geht
es um den Stolz auf die eigene Rasse, die schwarze Schönheit, die afro-brasilianische
Religion und Kultur oder die bewegte schwarze Geschichte Brasiliens mit ihren Aufständen
und Helden. Darüberhinaus werden die Kultur und Geschichte afrikanischer Länder und der
Länder der Diaspora thematisiert. Viele Texte haben informativen Charakter, auch wenn die
Einzelheiten nicht immer korrekt widergegeben werden. Bis 1988 hat Olodum jedes Jahr ein
anderes Land Afrikas im Karneval vorgestellt: Länder, die kulturell nahe sind, entweder
aufgrund der gemeinsamen portugiesischen Kolonisation wie Guinea Bissau (1981) oder bzw.
und als Heimat der afrikanischen Sklaven, die nach Brasilien verschleppt wurden wie
Mozambique (1985) und Nigeria (1982). 1983 gelingt es den Mitgliedern Olodums nicht, den
Bloco auf die Strasse zu bringen. Im selben Jahr erfolgt die Restrukturierung und
Neugründung als Grupo Cultural Olodum mit João Jorge als Präsidenten und Neguinho do
Samba als musikalischem Leiter. Die Wahl des sozialistisch orientierten Tansanias unter
Julius Nyerere zum Karnevalsthema (1984) dokumentiert die neue politische und kulturelle
Denkrichtung. Wie in den Ujamaa-Dörfern, sieht sich auch Olodum gemeinsamen Zielen und
kollektivem Handeln verpflichtet.

219
Estilo de vida em comun Ein gemeinsamer Lebensstil
Olodum está de volta Olodum ist zurück
Esta é a volta triunfal Dies ist die triumphale Rückkehr
Com seu canto de comunidade Mit seinem Gesang der Vereinigung
Pra mostrar seu ideal Um seine Ideale zu zeigen
(„Ujamaa“- Musik von Luciano Gomes dos Santos)

Im darauffolgenden Jahr,1985, wird die marxistisch orientierte Volksrepublik Moçambique


zusammen mit der Revolta dos Búzios, dem wohl wichtigsten Sklavenaufstand Brasiliens
Karnevalsthema. Olodum stellt den Bezug her vom Bürgerkrieg gebeutelten Moçambique,
das seine sozialistischen Ideale gegen die von Südafrika unterstützten antimarxistischen
Gruppen verteidigte und dem 150 Jahre zuvor blutig niedergeschlagenen Aufstand
überwiegend muslimischer Sklaven gegen die weiße Vorherrschaft. Schwarze Völker
beiderseits des Atlantiks im Kampf gegen die weiße Vorherrschaft lautete die Botschaft.
Im Jahr darauf, 1986, wählt Olodum erstmals kein afrikanisches Land, sondern Cuba als
Thema, genauer die Geschichte der Schwarzen auf der Karibikinsel. Brasilien hat sich im
Verlauf des vorangegangenen Jahres nach zwanzigjähriger Militärherrschaft wieder
demokratischen Verhältnissen geöffnet. Die Wahl Cubas ist Ausdruck der Kontinuität der
politisch, sozial-revolutionären Denkweise. Jetzt sind es nicht mehr nur die Wurzeln in Afrika
die Referenz der afro-bahianischen Jugendlichen sind, sondern auch die anderen Völker der
schwarzen Diaspora mit vergleichbarer Geschichte und Gegenwart.

11.2.1 Starke schwarze Musik - die ersten vier Platten

Die ersten vier Platten Olodums („Egito, Madagascar“; „Núbia, Axum Etiópia“; „Do Deserto
do Saara ao Nordeste Brasileiro“ ; „Da Atlântida a Bahia“) unterscheiden sich von den
später aufgenommenen CD´s durch das Fehlen elektronisch verstärkter Instrumente. Die
ersten vier Platten sind noch Long-Play-Platten, keine CD´s. Die fünfte Platte, die erste CD
Olodums (The Best of Olodum), ist bereits eine Mischung mit älteren Liedern, die neu
aufgenommen wurden.
Auf den ersten drei LP´s gibt es nur einige wenige Rhythmen, die sich bei den verschiedenen
Liedern wiederholen. Bis 1991 sind es vor allem drei Rhythmen, „Merengue“, „Reggae“ und

220
„Samba-Reggae“ , die den musikalischen Stil Olodums kennzeichnen. Auf der ersten
Plattenaufnahme Olodums überwiegt der Merengue-Rhythmus, während auf der dritten nur
noch drei der Lieder („Revolta Olodum“, „Oasis Olodum“ und „Cabra de peste“) in diesem
Rhythmus gespielt werden (Gerischer, 1996, S.71).
Die ersten Platten-Aufnahmen waren den Live-Auftritten noch sehr ähnlich mit spontanen
Einwürfen der Sänger zur Anfeuerung des Publikums, rhythmischen Spannungen,
unterschiedlichen Tempi. Später wurde die Musik metronomisch gleichmäßiger, der Gesang
genauer intoniert, das Instrumentarium um Harmonie- und Melodieinstrumente erweitert -
Voraussetzungen für den kommerziellen Markt. Die älteren Lieder haben noch den Charakter
vertonter Texte. Später werden die Melodiestrophen gleichmäßiger, es wird zunehmend nach
ihren Vorgaben getextet. Die Instrumentierung wurde vergrößert.

Die Hochkultur des Alten Ägyptens mit ihren Pharaonen und Pyramiden geben dem Karneval
1987 seinen besonderen Glanz. Im Mittelpunkt der Lieder steht die Geschichte dieser Länder,
ihre Könige, Helden und Götter. Wie kaum ein anderes Lied zeigt „Faraó, Divinidade do
Égito“ wie komplex, kreativ und anspruchsvoll die Texte Olodums waren.

Faraó, Divinidade do Egito (von Luciano Gomes dos Santos)


Deuses, divinidade infinita do universo Götter, unendliche Gottheit des Universums
A ênfase do espirito original „ CHU“ Die Kraft des ursprünglichen Geistes CHU
Formará no Éden o ovo cósmico brachte in Enden das kosmische Ei hervor
A emersão nem Osiris sabe como aconteceu Das Auftauchen - nicht einmal Osiris wußte wie
es geschah
A ordem ou submissão do olho seu Der Befehl oder die Unterordnung unter sein
Auge
Transformou-se na verdadeira humanidade verwandelte sich in die wahrhaftige Menschheit
Epopéia do código de Gueb e Nut gerou as estrelasDer Epos des Kodes von Gueb und Nut
hat die Sterne hervorgebracht
Osíris proclamou matrimônio com Isis Osiris verkündete die Heirat mit Isis
E o mal Seth, irado o assassinou em Per-A-Á Und der schlechte Seth, zornig
Ermordetete er ihn in Per-A-A
Horus levando avante avingança do pai Horus brachte die Rache des Vaters mit
Derrotando o império do mal Seth Das Imperium des Schlechten Seth zu vernichten
Ao grito da vitória que nos satisfaz Zum Ruf des Sieges, der uns befriedigt

221
Tutancâmon, iê iê Gizé Tutancâmon, iê iê Gizé
Akahenaton, iê iê Gizé Akahenaton, iê, iê Gizé
E Faraó E Faraó
Clama Olodum-Pelourinho ruft Olodum-Pelourinho
E Faraó E Faraó
Pirâmide a base do Egito Pyramiden sind die Basis Ägyptens
Que mara mara maravilha ê Egito, Wie wunderbar ist Ägypten
Egito ê Faraó, ó ó Egito ê Faraó, ó ó

Pelourinho uma pequena comunidade Pelourinho eine kleine Gemeinschaft


Que porém, Olodum unira die Olodum zusammenbringt
Despertai-vos para cultura egípcia no BrasilEuch aufweckt für die ägyptische Kultur in
Brasilien
Em vez de cabelos trançados Statt geflochtener Haare
Veremos turbantes de Tutancamon sehen wir die Turbane Tut-Ench-Amuns
E, nas cabeças enchem-se de liberdade Und die Köpfe füllen sich mit Freiheit
O povo negro pede igualdade Das schwarze Volk verlangt Gleichheit
Deixando de lado as separações Läßt die Trennungen beiseite

In diesem Lied werden die ägyptischen Pharaonen Tut-ench-Amun (18. Dynastie, ca.1347-
1339 v. Chr.) und Echnaton (25. Dynastie, 711-656 v. Chr.) und die durch ihre Pyramiden
und die Sphinx berühmte Stadt Giseh besungen. Waren die Pharaonen wirklich schwarz
fragten sich die Bahianer? Olodum greift mit der Wahl Ägyptens auf eine wissenschaftliche
Debatte zurück, die den Ursprung der Menschheit im Nildelta ansiedelt und davon ausgeht,
dass diese Menschen eine dunkle Haut hatten. Die Sichtweise, die hier zum Ausdruck kommt,
unterscheidet sich von der gängigen Meinung, die die Pharaonen als Menschen heller
Hautfarbe betrachtet. Olodum bezieht sich auf die aufsehenerregenden Thesen des
afrikanischen Historikers Cheick Anta Diop und der amerikanischen Forscher Cf. Drake und
St. Clair, dass die Pharaonen dieser Perioden negroiden Rassen angehört haben. Nach Cheik
Anta Diop, dessen Überlegungen das wissenschaftliche Symposium der UNESCO zur
Erarbeitung der Geschichte Afrikas 1974 in Kairo prägten, gehen die afrikanischen Kulturen
auf die ägyptischen Hochkulturen zurück. Ihre Charakteristiken seien die dunkle Hautfarbe,
negroide Züge (Schädel), linguistische Ähnlichkeiten, Riten, Totemismus, Architektur,
Instrumente u.a.m. (Diop, 1980). Die ägyptischen Hochkulturen seien demnach Teil der

222
Geschichte der schwarzen Völker. Die Brücke von der Welt der Pharaonen zu den Afro-
Brasilianern am Pelourinho war geschlagen. Der Kompositor Luciano Gomes dos Santos
arbeitete damals als Mechaniker in einer Autowerkstatt. Die Informationen über die
ägyptischen Hochkulturen entnahm er der Postille Olodums.Die letzten Zeilen beschreiben
Olodum im Karneval: Statt geflochtenen Zöpfen, Turbane, unter denen der Ruf nach Freiheit
und Gleichheit wuchs. Der Soziologe Milton Moura interpretiert dies als Erweiterung der
Vorbilder des Afro-Typs. (Moura, 1987).

Auch in den darauffolgenden Jahren sind wieder afrikanische Länder Karnevalsthema wie
Madagaskar (1988), Musik von Rey Zulu „Ranavalona“, und Núbia Axum Etiópia (1989).
Mit zunehmender Beliebtheit und wachsendem Erfolg Olodums werden die Beziehungen der
Afro-Bahianer und ihrer schwarzen Schwestern und Brüder jenseits des Atlantiks immer
deutlicher. Eine der beliebtesten Karnevalsmusiken wird das Lied „Protesto Olodum“ von
Tatau (heute Ara Ketu)

Força e pudor Kraft und Durchsetzungsvermögen,


liberdade ao povo do Pelô Freiheit für das Volk vom Pelo
mãe que é mãe Mutter, die Mutter ist
no parto sente dor spürt die Schmerzen der Geburt
e la´vou eu, und da komm ich
lá e cá Norestopia hier und da Nordostthopien
para a Bahia o Nordeste vira as costas der Nordosten kehrt Bahia den Rücken zu

Die Wahl Ägyptens zum Karnevalsthema und das Lied Faraó entfachten heftige Diskussionen
in Salvador. Die weiße Mittelklasse macht sich darüber lächerlich. 105 Zu unverschämt schien
der Anspruch Olodums, Ägyptens Hochkultur als eine schwarze und nicht wie bisher
angenommen, weiße Hochkultur anzunehmen. Andererseits wurde kritisiert, dass Ägypten ja
selbst eine Sklavenhalter-Gesellschaft gewesen sei und eine Idealisierung durch einen Bloco
Afro deshalb grotesk sei (vgl. Moura, 1987).

105
Die erfolgreiche Theatergruppe Los Catedrásticos persiflierte in ihrem Stück „Novíssimo Recital da Poesia
Baiana“ des Sommers 1988 die Musik Faraó und brüskierte damit die schwarze Bewegung. Die Mitglieder der
Theatergruppe, wie auch die Mehrheit ihre Publikums, die begeistert applaudierte, setzt sich zum großen Teil aus
der hellhäutigen intellektuellen Mittelschicht zusammen. (S. dazu Guerreiro, 2000, S.26).

223
Den Menschen auf der Straße im Karneval gefiel das Lied und für die Mehrheit der
jugendlichen Schwarzen war es wichtig, die eigene Identität und Geschichte mit einer
berühmten Hochkultur in Verbindung zu bringen.

Von den neun Liedern auf der ersten Platte Olodums „Egito, Madagáscar“ von 1987 geht es
in fünf Liedtexten um die Geschichte Afrikas neben „Faraó Divinidade do Egito“, der
„Reggae dos Faraós“ und „Madagáscar Olodum“, sowie„Arco-Íris de Madagáscar“ und
„Encantada Nação“. In drei anderen Liedern wird Olodum und der Pelourinho besungen
„Ladeiro do Pelô“, „Olodum florente na Natureza“, „Raça Negra“. Der Text „Um Povo
comun pensar“ ist dem Cuba Fidel Castros gewidmet. Die meisten Lieder (vier) werden von
Lazinho gesungen, dem Sänger, der bis heute die Seele Olodums verkörpet, je zwei von
Tonho Matéria (Text und Gesang) und Betão und ein Titel von Suka komponiert und
gesungen. Von Anfang an hat es bei Olodum mehrere Sänger gegeben, die eigene oder nur für
sie komponierte Musiken vorstellen. Neben Faraó wird Ladeira do Pelô, (beide von Lazinho
gesungen) zu einem häufig im Radio gespielten Hit. In dem Lied geht es um das, was Olodum
zu diesem Zeitpunkt ist: Eine Gruppe junger stolzer Schwarzer, die selbstbewußt ihren Platz
beanspruchen.

Ladeira do Pelô (von Betão)


Olodum, negro elite Olodum, schwarze Elite
Ê negritude es ist die Negritude
Deslumbrante por ter magnitude Blendend durch die Grösse
Integra no canto toda a massa Intergriert in den Gesang die Massen
Que vem para a praça agitar die auf den Platz kommen um zu agitieren
Salvador se mostrou mais alerta Salvador zeigt sich aufgerüttelt
Com o bloco Olodum a cantar mit dem Bloco Olodum der singt
Lê Lê Lê Lê Ô Lê Lê Lê Lê Ô
Ê Aê A Ê Aê A
Aganjou, Alujá, muito axê Aganjou, Alujá, viel Axé
Canta o povo de origem nagô Singt das Volk der Herkunft nagô
O seu corpo não fica mais inerte Sein Körper bleibt regungslos
Que o bloco Olodum já pintou Weil der Bloco Olodum schon auftaucht
Lê Lê Lê Lê Ô Lê Lê Lê Lê Ô
Ê Aê A Ê Aê A

224
E eu vou e eu vou e eu vou e eu vou Und ich gehe und ich und ich gehe und ichgehe
Vou subir a ladeira do Pelô Gehe die Gasse des Pelô hoch
E eu vou e eu vou Und ich gehe und ich gehe
E eu vou, na sexta-feira eu vou Und ich gehe am Freitag gehe ich
Vou subir a ladeira do Pelô Gehe ich die Gasse des Pelô hoch
Balançando a banda Wiegend die Banda
Prá lá dort hin
Balança a banda Wiegend die Banda
Prá cá hier her
Eu falei Olodum, Olodum Ich sagte Olodum, Olodum
Me leva que eu vou, sou Nimm mich mit, ich gehe, ich bin
Olodum Deus dos Deuses Olodum Götter der Götter
Vulcão Aficano de Pelô der afrikanische Vulkan vom Pelô

Auf dem Platten-Cover ist eine Häuserzeile des Pelourinho zu sehen, eingerahmt von Streifen
in Regenbogen-Farben. Auf der Rückseite ist Olodum auf einer Bühne vor der Casa de Jorge
Amado auf dem Pelourinho zu sehen. Eine riesige Fahne zeigt eine afrikanisch inspirierte
Maske, auf deren linken Seite Afrika steht, auf ihrer rechten Seite Bahia. Darunter ist die
Widmung zu lesen „ Diese Platte ist gewidmet der Gemeinschaft des Maciel/Pelourinho, allen
Menschen, die gegen den Rassismus kämpfen, unseren Vorfahren der Quilombos und der
Revolta dos Búzios und Dona Benedita Evangelista de Melo“. Bereits diese erste Platte wurde
von der Continental der Warner Music Brasil produziert und über 50.000 mal verkauft.

Auf der zweiten Platte „Núbia, Axum, Etiópia“ von 1988 wird der Stil der ersten Musiken
beibehalten . Die Liedtexte der ersten Platten Olodums verbinden Anklagen gegen Rassismus
oft mit Rufen nach sozialer Gerechtigkeit. Olodum erscheint dabei oft als der Hort dieses
Widerstands, z.B. Revolta Olodum, Olodum Resistência, Protesto Olodum. Auf dem Titelbild
ist die Banda Olodum auf einer Bühne zu sehen. Rings herum zeigen kleine Quadrate
afrikanisch anmutende Symbole, wie sie für Westafrika typisch sind. Die Rückseite ist mit
afrikanisch inspirierten Motiven in den Farben Rot, Gelb, Grün und Schwarz gehalten. „Diese
Platte ist gewidmet Nelson Mandela, der brasilianischen Schwarzenbewegung, dem Volk des
Maciel/Pelourinho, dem sozialistischen Äthiopien, der Kraft und dem Licht des
Rastafarianismus, João Rodrigues da Silva, unserem Kampf gegen den Rassismus in der
Welt, gegen die Apartheid, für den Frieden in der Welt und gegen alle Formen des Krieges“

225
Auf der dritten Platte „Do Deserto do Saara ao Nordeste Brasileiro“ von 1989 spürt man den
Einfluss der sich verändernden Verhältnisse. Zehn Jahre Olodum. Olodum ist auch über die
Grenzen Bahias hinaus bekannt geworden, während gleichzeitig die Rassenproblematik
erstmalig offener im Alltag diskutiert wird und die politische Öffnung spürbarer ist. Olodum
positioniert sich in der schwarzen Diaspora und unterstützt die Anti-Apartheid-Bewegung
ebenso wie linke Regierungsmodelle. Das erste Lied der Platte ist eine Referenz an Cuba
„Vinheta Cuba-Brasil“. Eines der bewegensten Stücke ist die Nationalhymne des befreiten
Südafrika, gesungen von Lazinho, „Nkosi Sikelelle I – Africa“, gefolgt von einem Gedicht
„Poema da Liberdade“ zu Ehren Nelson Mandelas und eines befreiten Südafrika und
„Aiyndeô“ einem nigerianischen Folklorestück. Die Hälfte der zwölf Lieder führen im Titel
„Revolta Olodum“, „Envolvente Olodum“, „Olodum Resistência“, „Oásis, Olodum“,
„Olodum o Alicerce Negro“, „Olodum Ologbom“ und zeigen damit auch die Bedeutung der
Gruppe für die schwarzen Jugendlichen. Olodum repräsentiert den Widerstand, Olodum ist
verführerisch, Olodum bietet Geborgenheit. Eines der beeindruckendsten Lieder der Platte ist
die Musik „Revolta Olodum“, deren Text Olodum und die Bewegung der Blocos Afros in
einen Kontext mit den wichtigsten Aufständen und Freiheitshelden des brasilianischen
Nordostens stellt: Lampião, der brutale Robin Hood des Sertão, António Conselheiro, dessen
urchristliche Gemeinde in Canudos (Bahia)1897 von den Militärs zerstört wurde, und Zumbi,
der Anführer der Sklaven-Fluchtburg Palmares (Alagoas), sowie in Salvador die 1835 von
den islamisch-gläubigen Sklaven angeführte Revolta dos Malês und die kurz darauf folgenden
Balaiada-Aufstände im Maranhão. Das Bindeglied ist die gemeinsame Erfahrung des Lebens
im armen, unterentwickelten Nordosten.

Revolta Olodum (von José Olissan und Domingos Sergio)

Retirante Ruralista Der vom Land Vertriebene


Lavrador Arbeiter
Nordestino Lampião Nordostler Lampião
Salvador der Retter
Pátria sertaneja independente Unabhängiges Vaterland des Sertao
António Canselheiro em Canudos Antônio Conselheiros in Canudos
Presidente Präsident

226
Zumbi em alagoas commandou Zumbi in Alagoas kommandierte
Exército de idéias libertador Ein Heer befreiender Ideale

Sou Mandinga, Balaiada Ich bin der Zauberer, Balaiada


sou Malé Ich bin Malé
Sou búzios, sou revolta Ich bin die Muscheln, ich bin die Revolte
Are re Are re
Ô Corrisco O Corrisco
Maria Bonita mandou te chamar Maria Bonita hat dich gerufen
E o vingador de Lampião Es ist der Rächer von Lampião

Eta cabra da peste Eta cabra da peste


Pelourinho Olodum Pelourinho Olodum
somos do Nordeste Wir sind aus dem Nordosten
Êta, êta, êta, ta-ra-ta-ta Êta, êta,êta,ta-ra-ta-ta

Das Plattencover zeigt den Namen Olodums vor dem Hintergrund des vor Feuchtigkeit
glänzenden Kopfsteinpflasters des Pelourinho. Auf der Rückseite ist der verlassene
Pelourinho mit der Kirche N.S. de Rosário dos Pretos zusehen, im Vordergrund einsame
Trommeln. „Diese Platte ist gewidmet der totalen Freiheit Nelson Mandelas, dem Volk des
Nordostens Brasiliens, den Völkern der Tuaregs-Woobade der Sahara, Dona Alice dos Santos
Silva, Ratgeberin, Ialorixá, Mutter und Martin Lopes Santos, Ratgeber, Babalorixá, allen
Kindern der Welt Olodums, Kinder der Direktoren, Ratgebern, Mitgliedern, unserer
wunderbaren Banda Mirim, der realen Zukunft der Hoffnung, die ein Phänomen ist, das von
allen genannt wird das Volk Olodumarés.

Aus der Sahara-Wüste bis zum Nordosten Brasiliens und von Atlantis bis nach Bahia, das
Meer ist der Weg (1990) „Da Atlantida à Bahia, o mar é o caminho“ – Anfang der 90er
Jahre spannt Olodum den Bogen über den Atlantik. Die meisten der zwölf Musiken der Platte
beschäftigen sich mit dem Meer, wie „Atlântida“, „Canto à Iemanjá“, „Iemanjá, Amor do
Mar“, „Olodum no Balanco das Águas“ und das erfolgreichste Lied der Platte „Canto ao
Pescador“, das von Pierre Onassis gesungen wird. Einige Musiken sind stärker politisch-
historisch geprägt und beschäftigen sich mit den Sklavenaufständen und der Gemeinschaft
des Pelourinho wie das „Pout-Pourri“ aus „Revolta dos Búzios“ und „Pelourinho, Cultura

227
africanizada“, „Luz e Blues“ oder „Convite Olodum“ und „Cansei de Esperar“. In der Musik
„As duas Histórias“ wird der Bogen gespannt vom moslemischen Westafrika, der Sahara zu
der Wüste des Sertão im Nordosten Brasiliens. Die Musik „Reggae Odoyá“ hat der
jamaikanische Reggae-Mann Jimmy Cliff aufgenommen. Hier zeigt sich die enge Verbindung
zu der Musik und den Menschen aus Jamaika. Jimmy Cliff verbringt jedes Jahr eine längere
Zeit in Bahia, hat hier inzwischen Familie.
Auf dem Cover der vierten Platte sind vom Meer überspülte Felsen zu sehen, auf denen mit
Algen Olodum geschrieben steht. Auf der Rückseite glänzen auf den Felsen Schmuck-
Ornamente, die Yemanjá gewidmet sind. Das Innenblatt mit den Liedtexten ist doppelt so
groß wie bei den vorigen und zeigt zahlreiche Fotos von Olodum und zwei Texte über die
Gruppe Olodum.

Diese vier ersten Platten Olodums bilden – wie bereits vorher gesagt - eine Einheit: nicht nur
musikalisch, technisch, sondern auch inhaltlich. Die fünfte Platte, die erste CD Olodums, von
1991 ist eine Neuaufnahme der älteren Musiken, eine typische „Best of“ der früheren Titel,
die insbesondere mit Blick auf den internationalen Markt lanciert wird. Sie verkauft sich
blendend und erstmalig erhält Olodum eine goldene Platte für über 100.000 verkaufte
Exemplare.
Aus der Sahara-Wüste bis zum Nordosten Brasiliens (1990) Do deserto do Saara ao Nordeste
Brasileiro und von Atlantis bis nach Bahia, das Meer ist der Weg (1991).
Da Atlantida a Bahia, o mar é o caminho – Anfang der 90er Jahre spannt Olodum den Bogen
über den Atlantik. In diesen beiden Jahren werden Themen bearbeitet, die die
Gemeinsamkeiten und Parallelen der afro-bahianisch/brasilianischen Realität und Afrikas
betonen - die Bedeutung der Götter, die Kraft des Widerstands, die Besonderheiten des
Nordostens.

11.2.2 Vom Kämpfer zum Romantiker

Mit der Wahl Indiens zum Karnevalsthema 1992 überrascht Olodum. Erstmals wählt ein
Bloco Afro ein Thema ausserhalb der schwarzen Diaspora: Indien, die Wege des Glaubens
(„India -Os caminhos da fé“). João Jorge erläutert: “Wir haben bei dem Thema an den
passiven Widerstand der Inder gegen die übermächtige Kolonialmacht England gedacht, an
den Frieden, an Mahatma Gandhi und den Afoxé Filhos de Gandhi. Auch wir sind friedlich,

228
auch wir befinden uns auf einem langen Weg des Widerstands” (João Jorge, 1992). Wie in
den vorhergehenden Jahren auch tanzen Tausende auf den Strassen zur Musik Olodums.
Mahatma Gandhi und die pazifistische Befreiungsbewegung hatten ja bereits 1949, fast 50
Jahre zuvor, die Hafenarbeiter zur Gründung des Afoxé Filhos de Gandhi inspiriert, bis heute
eine der auffälligsten und in seiner Harmonie schönsten Erscheinungen des bahianischen
Karnevals. Anfang der 90er Jahre in unserer zunehmend globalisiserten Gesellschaft ist
Indien doch noch erheblich näher gerückt.

Während Erfolg und Kommerzialisierung einerseits die Tendenz zu einer musikalischen


Schematisierung haben, werden andererseits Innovationen und Kreativität gefördert. Auf der
LP/CD „A Música do Olodum“, Platte Nummer Sechs von 1992 wurden zum ersten Mal
Stücke mit elektronisch verstärkten Instrumenten (Gitarre, Bass, Keyboard und Bläser)
aufgenommen. Zwar hat es bereits auf den vorhergehenden LP´s (Do Deserto.. und Da
Atlântida..) Stücke mit Saxophon-Begleitung gegeben, aber die Aufnahmen waren äusserst
bescheiden. Auf dieser LP/CD gibt es noch rein perkussive Stücke – anders als auf den darauf
folgenden.

1992/1993 nutzt Olodum eine Welle des Erfolgs. Der Pelourinho wird restauriert,
Salvador/Bahia das beliebteste Ferienziel Brasiliens, Olodum die Musikgruppe, die in den
Medien den meisten Raum einnimmt und im Ausland ungemein erfolgreich ist. Bei den
Auftritten stehen nach wie vor die Trommler im Mittelpunkt des Geschehens, während sie auf
den Platten allmählich in den perkussiven Hintergrund übergehen.

Im darauffolgenden Jahr 1993 sind es die Schätze Tut-Ench-Amuns, die die Phantasie der
Karnevalisten beflügeln. Ein prächtiges Thema, für den zu diesem Zeitpunkt erfolgreichsten
Bloco Afro, dessen Auszug in den Karneval anfänglich beschrieben wurde.

Die sechste Platte „A Música do Olodum“ erscheint 1993, zu einem Zeitpunkt als Olodum
bereits auf dem Höhepunkt des nationalen und internationalen Erfolgs ist. Die Hälfte der
Lieder dieser Platte wird zu Hits, viel im Radio gespielt, nachgespielt von den anderen. Die
erfolgreichste Musik der CD ist das Stück „Berimbau“, gesungen von Pierre Onassis. In der
Musik wird nicht nur das bei der Capoeira eingesetzte Musikinstrument besungen, sondern
auch das schwarze Selbstbewusstsein.

229
Berimbau (Pierre Onassis, Germano Meneghel und Marquinhos)

Berimbau, Berimbau,,
um pedaço de arame ein Stück Draht
Um pedaço de pau ein Stück Holz
Juntou com a cabaça virou berimbau. zusammen mit der Kalabasse wird daraus ein
Berimbau
... Aguce a sua consciência Schärfe Dein Bewußtsein
Negra cor, negra cor ô ô ô Schwarzer Farbe, schwarze Farbe ô
Extirpar o mal Rotte das Böse aus
Que nos rodeia, se defender Das uns umgibt, verteidige Dich
A arma é musical mit der Waffe die die Musik ist
Cantando reggae, cantando jazz Reggae singend, Jazz singend
Cantando blues Blues singend
eu louvo a jah Ich bete zu Jah
Eu digo já chegou Olodum. Ich sage, dass Olodum schon gekommen ist
Eu sou Olodum quem tu es? Ich bin Olodum, wer bist du ?

Neben „Berimbau“ wird „Nossa gente“ ,wie es auf der Platte heisst, gesungen von Germano
Meneghel zu einem der Sommerhits 1992/93. Der Refrain „Avisa lá, que eu vou chegar mais
tarde ôyé!“ ist in den Sommermonaten überall zu hören. Diese Musik nehmen unabhängig
von einander auch die brasilianischen Stars Caetano Veloso und Gal Costa auf ihren Platten
auf. Der Text ist auch eine Homage an den internationalen Erfolg Olodums: die
Auslandsreisen der Gruppe, der Einsatz neuer Technik, die ausländischen Touristen, die zum
Pelourinho kommen.

Nossa Gente (von Roque Carvalho)

Vou me juntar ao bando Olodum que é da alegria Ich gehe auch zur Banda Olodum, die gut
drauf ist
É denomindao de vulcão Die wird auch Vulkan genannt
O estampido ecoou os quatro cantos o mundo Das Dröhnen hallt aus allen vier Ecken
wider
Em menos de um minuto, em segundos. In weniger als einer Minute , in Sekunden

230
Nossa gente é quem bem diz é quem mais dança Unsere Leute sind die, von denen man
sagt, die am meisten tanzen
Os gringos se afinavam na folia Die Gringos haben sich eingepaßt in die
Folie
Os Deuses igualizando todo encanto, toda trança Die Götter gleichen sich dem Entzücken
an, der Trance
Os rataplans dos tambores gratificam... Das Raunen der Trommeln belohnt

Während es auf den ersten Platten Olodums kaum romantische Liebeslieder gab, hat sich dies
mit zunehmendem kommerziellem Erfolg grundlegend geändert. Die edukativen Texte
weichen zunehmend Selbstdarstellungen oder romantischen Versen. Die Texte sind einfacher
geworden, komplexe Zusammenhänge sind selten. Den Bezug zu den afrikanischen Ländern
und Kulturen gibt es kaum noch. In den Erfolgsliedern der letzten Jahre wie „É lindo de se
ver“, „Deusa do Amor“, „Vem meu Amor“ geht es um Romantik, Liebe, Olodum. Olodum
macht glücklich. Alle sollen zum Pelourinho kommen, der gerade restauriert wird.

É lindo de se ver (Cay)

É lindo de se ver Es ist schön zu sehen


É lindo, venha apreciar Es ist schon, komm es zu geniessen
É lindo de se ver Es ist schön zu sehen
A banda Olodum tocar Wie die Banda Olodum spielt
É um toque bonito e tão infinito Es ist ein schöner Rhythmus und so unendlich
Que faz a gente balançar Der uns zum Schwingen bringt
Seu corpo não consegue Dein Körper schafft es nicht
Ficar parado em só lugar An nur einer Stelle still zu stehen
E a banda Olodum Und die Banda Olodum
com seu toque maneiro Mit ihrem hippen Rhythmus zeigt
vem mostrar
Esqueça a tristeza Vergiss die Traurigkeit
Deixe o tédio de lado Lass den Überdruss beiseite
E venha reguear.... Und komm zum Reggae

231
Deusa de Amor (Valter Farias und Adailton Poesia)
Tudo fica mais bonito Alles wird schöner
Você estando perto Wenn Du in der Nähe bist
Você me levou ao delírio Du bringst mich ins Delirium
Por isso eu confesso Deswegen gebe ich zu
Os teus beijos são ardentes Deine Küsse sind brennend
Quando você se aproxima Wenn Du Dich näherst
meu corpo sente.. Spürt es mein Körper
...Vejam o afro Olodum Kommt der Afro Olodum zu sehen
Ao passar na avenida Wie er durch die Avenida kommt
Todos cantando felizes Alle singen glücklich
De bem com a vida zufrieden mit dem Leben
Caminhando lado a lado Wir gehen Seite an Seite
Formamos um belo casal Wir geben ein schönes Paar ab
Somos dois namorados Wir sind zwei Verliebte
No suingue dessa banda.. Im Swing dieser Banda

Einige wenige Lieder mit politischen Texten kommen auf die Platte. Es ist Reni Veneno,
einer der Sänger, der die beiden politischsten Lieder komponiert und interpretiert. In
„Protesto Olodum II“ (zusammen mit Pierre Onassis und Antonio Copic) wird die soziale
Ungerechtigkeit denunziert und die Politiker angeklagt. Dabei geht es nicht um rassische
Diskriminierung, sondern um die Misere der Armen in Brasilien, für die die Politiker
verantwortlich gemacht werden

„Protesto Olodum II“ (Pierre Onassis, Reni Veneno und Antonio Copic)
Nesse mundo imundo que estamos In dieser schmutzigen Welt in der wir sind
Todas privações que passamos Alle die Entbehrungen, die wir erleben
E por falta de amor... Sind wegen des Fehlens der Liebe
...A usura toma conta dos homens Die Gier hat die Menschen eingenommen
E o povo morrendo de fome Und das Volk stirbt an Hunger
É um atentado ao pudor. Das ist ein Attentat auf die Scham

232
Falta casa, falta pão, falta escola Es fehlen Häuser, es fehlt Brot, es fehlen Schulen
Os políticos pisando na bola Die Politiker, die daneben liegen
Eles querem nos manter Sie wollen uns uninformiert
Desinformados halten
Oh! meu Deus, que país desgovernado Oh , Mein Gott, was für ein schlecht regiertes
Land

„Desabafo Olodum“ ist ein Rap, in den Reni seine Erfahrungen und Gedanken während
seiner letzten Europa-Reise eingearbeitet hat. Die Wahl des Rap als Darstellungsform zeigt
die geistige und kulturelle Nähe, die die Musiker Olodums zunehmend zur Situation der
African-Americans spüren. Im Vergleich zu nordamerikanischen Raptexten ist der Inhalt
dieses Liedes harmlos, für brasilianische Verhältnisse jedoch schon so, dass die Plattenfirma
der Aufnahme zunächst nicht zustimmen wollte.

Desabafo Olodum (Reni Veneno)


Está na hora de pensar Es ist an der Zeit darüber nachzudenken
Numa forma de derrubar Über eine Art Umzuwerfen
A discriminação que impera este lugar Die Diskriminierung, die an diesem Ort
regiert
A muralha desonesta não vai mais frutificar Die unehrliche Mauer wird nicht weiter
Früchte tragen
O povo não é burro já começa protestar... Das Volk ist nicht dumm, fängt schon an
zu protestieren...
Eu amo meu país, mas me vergonho do sistema Ich liebe mein Land, aber ich schäme
mich des Systems
Políticos retrógrados nosso grande problema Zurückgebliebene Politiker sind unser
großes Problem
Três vezes na Europa Dreimal in Europa
Com meu canto ecoando mit meinem widerhallenden Gesang
E decidamente eu vou seguindo protestando Und entschieden werde ich weiterhin
protestieren
Eu vou lutar e eu vou vencer Ich werde kämpfen und ich werde
gewinnen

233
E vou provar Ich werde beweisen
Que sou bocar defazer amor. Dass ich gut Liebe machen kann

Die zwölf Lieder der Platte werden von sieben Sängern interpretiert (Germano Meneghel,
Pierre Onassis, Lazinho, Reni Veneno und Tânia Santana je zwei, Marquinhos und Jauperi je
ein Stück). Der Sänger Jauperi ist bei Erscheinen der LP bereits zugunsten einer Solo-Karriere
ausgestiegen, die Sängerin Tânia erstmals bei einer Plattenaufnahme dabei. Tânia Santana ist
insbesondere auf den Tourneen nach Europa erfolgreich. Das Publikum schätzt ihre kräftige
Stimme und ihr an amerikanische Jazz-Sängerinnen erinnerndes Auftreten. Erstmals wird ein
Lied („Samba Reggae“) auf Spanisch gesungen.
Auf der Platte, die noch von der Banda Reggae Olodum aufgenommen wurde, sind alle
Musiker mit Namen aufgeführt. Auf dem Plattencover ist der Löwe der Rastafari-bewegung
zu sehen mit grün-gelb-rot-schwarzer Fahne, Grundfarbe weiß, Sterne und Monde.

Mit dem Karneval 1994 wird eine neue Phase Olodums eingeleitet. Von nun an sind die
Themen weiter gefasst, nicht mehr einzelne Länder oder Regionen der schwarzen Diaspora,
sondern mehr oder weniger fiktive Bewegungen, Gruppierungen. Die von Bahia ausgehende
Bewegung des Tropicalismo, eine kulturell-politische Widerstandsbewegung angeführt u.a.
von Caetano Veloso, Gilberto Gil, Gal Costa und Maria Bethânia wird 30 Jahre nach Beginn
der Militärdiktatur auf den Strassen Salvadors von Olodum gefeiert.
Wenige Monate zuvor ist die erste CD Olodums erschienen, auf der die bis dahin rein
perkussiven Aufnahmen von elektronischen und harmonischen Arrangements abgelöst
werden. Für die CD/LP “O Movimento” bekommt Olodum erstmals eine Goldene Platte. Die
Musik „Requebra“ von Pierre Onassis wird zur meistgespielten Musik des Karnevals. Im
Liedtext geht es nicht um afrikanische Könige oder Widerstand, sondern um sinnliche
Tanzbewegungen – eine der ersten Musiken Anfang der 90er Jahre, die mit ihren
Anspielungen in dieser Art den Publikumsgeschmack erobern.

Auf den CD´s „O Movimento“ und „Os Filhos do Sol“ sind alle Stücke mit elektronisch
verstärkten Instrumenten arrangiert. Olodum versucht musikalisch neue Wege. Dabei rückt
die Perkussion in den Hintergrund, um Platz (akustisch) für andere Instrumente zu machen.
Erstmals sind auch andere brasilianische Rhythmen zu finden, wie zum Beispiel der baião,
ein für den Nordosten typischer Rhythmus, bei dem eine Triangel und eine Art
Ziehharmonika gespielt wird.

234
Es gibt kurze, sich wiederholende Bassmelodien und eine Fülle von breaks, die von allen
Trommlern gemeinsam gespielt werden. Fast jedes Lied wird mit einem Perkussions-break
eingeleitet, die elektrisch verstärkten Instrumente folgen der marcação.
Parallel dazu sind ab 1993 die Karnevalsthemen nicht mehr an revolutionären afrikanischen
bzw. brasilianischen Fragen orientiert, sondern viel weiter gespannt wie die Themen Indien
oder Tropicalismo. Bei diesen beiden noch läßt sich ein intellektueller Bezug zur
pazifistischen Befreiungsbewegung Mahatma Gandhis oder politisch-kulturellen Bewegung
des Tropicalismo zu Zeiten der Militärdiktatur in Brasilien herstellen, aber eben nicht mehr
der direkte Bezug zu schwarzer Kultur. In den folgenden Jahren sind es die „Söhne der
Sonne“ und die „Söhne des Meeres“, die Karneval und die Musiken inspirieren.
Die erste Musik Alegria Geral gesungen von Germano Meneghel der siebten CD „O
Movimento“ dokumentiert das neue Olodum

Alegria Geral (Ythamar Tropicália, Alberto Pita und Moço)

Olodum tá Hippie, Olodum ist Hippie


Olodum tá pop, Olodum ist Pop
Olodum tá reggae, Olodum ist Reggae
Olodum tá rock, Olodum ist Rock
Olodum pirou de vez... Olodum ist auf einen Schlag ganz durchgedreht

Auf dem Höhepunkt des Erfolgs scheint alles möglich. Olodum ist ein Weltenbürger, eine
Weltmusikgruppe, Olodum kann alles sein. Anders als noch bei der vorhergehenden Platte ist
es jetzt die Banda Olodum, nicht mehr die Banda Reggae Olodum, die die Platte
aufgenommen hat. Die Tropicalismo-Bewegung wird zum Karnevalsthema. „Olodum pirou
de vez“ wird das Motto für das Bonfim-Fest im Jahr 1994.

In den meisten der 15 Liedtexte geht es um die Liebe, um Tanz und Flirt, wie beispielsweise
in „Rosa“ oder „Amor de Eva“. Der Hit der 1993 aufgenommenen Platte wird „Requebra“
gesungen und komponiert (zusammen mit Nêgo) von Pierre Onassis.

Requebra (Pierra Onassis und Nêgo)


Requebra, requebra, requebra sim Tanz, tanz, tanz ja
Pode falar, Pode rir de mim.... Du kannst reden, du kannst über mich lachen ....

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...Deusa de marrom Braune Göttin
Jeito sensual Sinnliche Art
Quando ela passa Wenn sie vorbeikommt
Agita a cidade Setzt das die Stadt in Bewegung
Pois é Carnaval... Weil es ist Karneval...
...Já falei que te quero Ich habe schon gesagt, dass ich Dich will
Não tenho vergonha Ich schäme mich nicht
de te assumir, zu Dir zu stehen
Pois o homen não vive Weil der Mann lebt nicht
Se seus sentimentos wenn seine Gefühle
Não admitir es nicht erlauben

Requebra bezeichnet die hin- und her- schwingende Bewegung der Hüften, ein sehr sinnliches
Tanzen, wie es bei den Proben Olodums üblich ist. Inspiriert in den tanzenden Mädchen ist
die Musik entstanden: Die „braune Göttin“, die die Stadt in Aufregung versetzt und die man
nicht vergessen kann. Und fast ungewollt ist auch hier der subtile Rassismus spürbar: „Ich
schäme mich nicht zu Dir zu halten, dich anzunehmen, zu akzeptieren“. Requebra wird zum
Inbegriff des bahianischen Karnevals 1994 und der dazu gehörige Tanz von den Mädchen
eingeübt.

Die meisten Musikstücke beginnen perkussiv, dann kommen die Bläser dazu, dann beginnt
der Gesang. Nur zwei („Mel Mulher, Ideologia) der 16 Musiken sind rein perkussiv, bei allen
anderen treten immer mehr die Bläser und elektrischen Instrumente in den Vordergrund.
Das Lied „Mel Mulher“ ist ein romantisches Liebeslied. Wegen seines Refrains wird es
während der Sonntagsproben immer dann gespielt, wenn es im engen Gedränge zu
Schlägereien kommt.

Mel Mulher (Lula Novaes und Sandoval)


Amar, amar, amar, eu amarei Lieben, lieben, lieben, ich werde lieben
Com Olodum eu vou Mit Olodum gehe ich
Aonde você for. Não, não brigue, Wohin du gehst. Nein, nicht streiten
não mate, Nicht töten,
não morra, não Nicht sterben, nein
Porque a vida é preciosa, Weil das Leben wertvoll ist

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não deixe passar em vão Lass es nicht umsonst verstreichen
não deixe não Nein lass es nicht

Lazinho besingt in Ideologia Olodum, eine über die Jahre gestärkte Gruppe, die ihren Kampf
nicht aufgeben wird und noch viel zu erreichen hat. In dem ebenfalls von ihm interpretierten
Lied Sueños Lejos geht es um die Einreiseschwierigkeiten für Brasilianer in Cuba.

Von den 16 Musiken (ein Instrumental-Stück) interpretieren die Stammsänger Pierre Onasis,
Lazinho, Marquinhos und Reni Veneno je drei, Germano Meneghel zwei Lieder und die
Sängerin Tânia Santana ein Lied. Die Sänger, insbesondere Pierre Onassis, aber auch
Germano Meneghel und Marquinhos sind Spezialisten für die Interpretation romantischer
Texte. Pierre Onassis gilt eine Zeit lang als Sexsymbol, wenn er auf die Bühne kommt
schreien und kreischen viele der Mädchen im Publikum. Er ist der beliebteste, begehrteste
Sänger, der jetzt nur noch mit Sicherheitsleuten zu den Auftritten kommen kann, zu groß ist
der Andrang der vor allem weiblichen Fans. Die Sänger Reny Veneno, der vor seiner Karriere
als Sänger bei Olodum Radiosprecher und Ansager politischer Propaganda war und Lazinho
interpretieren die politischeren Texte. Lazinho, einer der ersten Sänger Olodums, ist so etwas
wie die Seele Olodums. Bei den Sonntagsproben ist er es, der die Massen bewegt, der den
richtigen Ton für die Tausenden schwarzer Jugendlicher hat, wenn es zu Streitereien,
Rangeleien und Schlägereien kommt. Seine rauhe, rauchige Stimme zieht die Zuhörer in den
Bann. Wie kein anderer Sänger verkörpert Lazinho die Anfangszeit Olodums, ist er
Repräsentant des alten Pelourinhos.

Nur eine Musik Literatura Faraônica nimmt noch Bezug zu Afrika, zur schwarzen Identität,
zum Pelourinho. Das Lied Jazz e Blues stellt den Bezug her zu anderen „schwarzen“
Musiken, stellt den Samba Reggae in eine Reihe mit Jazz, Blues und Rap. Die Liedtexte, die
sich auf die Tropicalismus-Bewegung beziehen, O Falo da Fala, Tropicum, ehren die
Musikstars Caetano Veloso, Maria Bethânia. Am stärksten der Refrain É proibido proibir was
heisst „es ist verboten zu verbieten“.
Das wohl engagierteste, politischste Lied ist der Rap Papo Furado, gesungen und komponiert
(zusammen mit Marquinhos) von Reni Veneno, in dem es um die falschen politischen
Versprechen geht.

Papo Furado (Reni Veneno und Marquinhos)

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Se você pensa que com Wenn Du denkst, dass mit
as suas palavras Deinen Worten
Você já ganhou meu voto Du schon meine Stimme gewonnen hast
simplesmente se enganou Irrst Du Dich einfach
Olha que eu não como nada disso, Schau, ich esse nichts davon
você não tem compromisso, Du hälst dich an keine Verpflichtungen
sai daqui seu traidor Geh hier weg Du Betrüger ...
...
Eu não me iludo, Ich mache mir nichts vor
Esse sistema é imundo Dieses System ist schmutzig
Você me enganou Und willst mich reinlegen
Se pisou na bola Wenn Du nicht Wort gehalten hast
Não vai mais pisar Jetzt wirst Du es auch nicht mehr

Rhythmisch fällt neben dem Rap nur ein Lied aus dem gewohnten Samba-Reggae-Olodum-
Rhythmus heraus: „Te amo“ gesungen und komponiert von Marquinhos ist ein typischer
Nordost-Rhythmus.
Die Plattenhülle zeigt die schwarze Silhouette Brasiliens vor dem gestreiften Hintergrund in
den Farben rot, grün, gelb. Erstmals steht auf dem Cover nur Banda Olodum, nicht mehr
Banda Reggae Olodum. Darin zeigt sich der neue Anspruch Olodums eine Musikgruppe der
Weltmusik zu sein, offen für jegliche musikalische Richtung.

Die neue Platte wird dem bahianischen Publikum 1993 auf der Praça Castro Alves vorgestellt.
Dort ist eine riesige Bühne aufgebaut, der Platz ist schwarz vor Menschen, geschätzt werden
8000 Menschen. Die Mitglieder Olodums treten in Kostümen in den Farben des
Panafrikanismus auf, die in der Fábrica de Carnaval hergestellt wurden. Neben den
Trommlern sind erstmals Musiker mit elektrischen Instrumenten und Bläser auf der Bühne.
Auch die Tänzer gehören zum festen Show-Programm. Als Vorgruppe spielt eine
Musikgruppe, die Pagode spielt, eine Samba-Richtung wie es sie in Rio und Bahia schon
immer gab, die Anfang der 90er Jahre ein Revival erfährt und mit ihren sinnlichen Tänzen für
Schlagzeilen sorgt. Das Publikum ist geteilter Meinung über den neuen Sound Olodums „Die
Trommeln geraten in den Hintergrund“ „Wozu sind die Bläser und elektrischen Instrumente

238
da?“ wird von Zuschauern, die meisten von ihnen Besucher der sonntäglichen Proben,
kommentiert.
Für die Platte „O Movimento“ bekommt Olodum die erste goldene Platte für den Verkauf von
100.000 Exemplaren. Die folgende Platte „Filhos do Sol“ bringt für 250.000 verkaufte
Exemplare sogar eine Ehrung in Platin.

Die Eröffnungsmusik der achten Platte „Filhos do Sol“ von 1994 portraitiert die
Veränderungen am Pelourinho. Die romantische Musik „Girassol“ komponiert und gesungen
von Marquinhos wird neben „Cartão Postal“ zum meist gespielten Lied im Karneval 1995.
Bei der Mehrzahl der aufgenommenen Titel handelt es sich um mehr oder weniger
romantische Liebeslieder, die ausser einer kurzen Erwähnung des Namens Olodum nicht an
die Poesie und Ausdruckskraft der früheren Musiken heranreichen wie „Furacão“, „Hora
H“, „Estrada da Paixão“, „Trem da História“, „Gira“, „Desce e sobe“, „Parada
obrigatória“, „Mordida de Vampiro“ etc.. Keines dieser Lieder wird im Radio gespielt. Der
vielbesungene Zauber Bahias ist Thema eines Liedes „Encantada Magia“. Eins der wenigen
romantischen Lieder mit einem anspruchsvolleren Text ist „Poético Olodum“ .
Wieder einmal ist es Reni Veneno, der in „Samba Rap“ und „Careta Feia“ die sozialen
Probleme der Mehrheit der Brasilianer, besonders der Alten und Schwarzen, und die leeren
Politikerversprechen besingt.

Samba Rap (Reni Veneno)


... Ser idoso no Brasil é motivo de castigo Alt sein in Brasilien ist ein Motiv der Strafe
Sempre ganha como prêmio Immer gewinnst Du als Preis
Uma vaga nos abrigos Einen Platz im Altersheim
Trabalha a vida inteira pra se aposentar Du arbeitest Dein Leben lang um Rentner zu
werden
O salário que recebem mal da Das Geld was sie bekommen
pra se alimentar... reicht kaum sich zu ernähren
... O negro nos programas de televisão Die Schwarzen in den Fernsehprogrammen
Quando não é doméstico, Wenn es keine Hausangestellten sind,
só pode ser vilão können es nur die Bösen sein
Fala Negão, abre a boca negão Erzähl Negao, mach den Mund auf, negao
Thup, thu, terêrê Thup thu terêrê
Sem transporte, sem saúde Ohne Transport, ohne Gesundheit

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e sem educação und ohne Bildung
Como o povo vai fazer Wie soll das Volk es machen
para ganhar o pão Um das Brot zu verdienen
Enquanto filhos de políticos Während die Kinder der Politiker
Estudam na Europa in Europa studieren
Os iludidos ficam aqui Die Betrogenen bleiben hier
comemorando a Copa... die Weltmeisterschaft zu feiern
... Ladrão no meu país, Die Räuber in meinem Land
só anda bem vestido. Sind nur gut angezogen unterwegs.

Die Musik „Valente Nordeste“ gesungen von Tânia Santana ist eine Ode an den Nordosten
Brasiliens und eine Kritik an den Politkern, während der Tenor der Musik „Evangelização“
gesungen von Lazinho ohnmächtig und hilflos wirkt.

Von 16 Liedern haben zwölf keinen Bezug mehr zu sozialen Fragen und schwarzer Kultur
und Identität. Die beiden einzigen sozialkritischen Lieder sind von Reni Veneno komponiert
und gesungen. Die Sänger Marquinhos (zwei), Germano Meneghel (vier) und Pierre Onassis
(zwei) haben sich auf die leichten Liebeslieder spezialisiert. Vier Musiken interpretiert
Lazinho, zwei Tânia Santana.
Die CD wird dem bahianischen Publikum im Club Espanhol vorgestellt. Gast ist der Reggae-
Man Billy Paul. Erstmals muss für das Lançamento einer CD Olodums Eintritt bezahlt
werden. Die schlechte Qualität der Lautsprecher-Anlagen und die Unzufriedenheit der
angestammten Olodum-Fans über die Wahl des Veranstaltungsorts machen das Event zu
einem Flop.

In den letzten Jahren sind die Karnevalsthemen so offen gehalten, dass sie vielfache
Interpretationen erlauben. Der Zyklus “Die Söhne der Sonne” (1995), “Die Söhne des
Meeres” (1996), “Die Söhne des Feuers” (1999) erinnert ebenso an afrikanische Gottheiten,
die mit den jeweiligen Elementen verbunden sind, wie er einfache ästhethische Anspielungen
macht. “Roma Negra” ist das Thema des Jahres 1997.

Mit der neunten Platte „Sol e Mar“ folgt Olodum dem Beispiel berühmter Jazz-Musiker wie
Miles Davis, die beim weltbekannten alljährlich in Montreux stattfindenden Jazz-Festival
Live-Platten aufgenommen haben. Die von Olodum 1995 lancierte CD Sol e Mar wurde zum

240
größten Teil live (ao vivo) in der Schweiz aufgenommen und in den USA gemischt. Die
sieben neuen der insgesamt 19 Musiken wurden dagegen hier in Brasilien produziert. Nur
eines der neuen Lieder fällt aus dem Rahmen der sanft-romantischen Stücke. „Zumbi Rei“
komponiert und gesungen von Germano Meneghel, erzählt die Geschichte des vor 300 Jahren
ermordeten Schwarzenführers. Keine der neuen Musiken reicht an den Erfolg der
vorhergehenden CD´s heran.

Bereits mit der Live Platte aber auch mit der zehnten CD „Roma Negra“ von 1996 versucht
Olodum mit Aufnahme der alten Erfolgslieder musikalisch am Altbewährten anzuknüpfen.
Doch die meisten neuen Musiken sind zwar technisch ausgefeilt, aber es gelingt der Gruppe
nicht mehr einen Hit zu plazieren, eine Musik zu machen, die die breiten Massen begeistert.

Fazit: Zwei Tendenzen lassen sich in der musikalischen Entwicklung Olodums feststellen:
musikalisch werden die rauhen Trommelrhythmen von gefälligeren, elektronisch verstärkten
Melodien abgelöst, in den Texten weichen afrikanisch inspirierte Lieder des Widerstands,
zunehmend romantischen Liedern. Auch die Entwicklung der Karnevalsthemen geht in eine
ähnliche Richtung: weg von den afrikanischen Ländern, hin zu breiteren Themen, die
vielfältige Interpretaionen zulassen.
Verantwortlich für diese Entwicklung ist einerseits der Einfluss der Plattenfirmen, die auf
gefälligere Texte drängt und musikalisch höherwertige Studioaufnahmen machen möchte,
andererseits scheint auch in der Gruppe der Wunsch nach Romantik und kommerziellem
Erfolg über die politische Meinungsäusserung zu überwiegen. Einer der Gründe dafür
scheinen auch die im folgenden beschriebenen Möglichkeiten zu sein, die diese neue
Situation eröffnet.

11.3 Die Faszination des Ruhms

In den letzten zwei Dekaden haben die aus Bahia kommende Musik und bahianische Musiker
und die Gesamtheit der mit der Musik und afro-bahianischen Kultur assoziierten Bilder und
Symbole eine zentrale Rolle in der musikalischen Produktion Brasiliens sowie im nationalen
Selbstbild und dem Brasilienbild im Ausland gespielt. Diese neue bahianische
Musikproduktion und die Verbreitung der damit assoziierten Bilder ist untrennbar mit zwei

241
Phänomenen verbunden: dem Karneval und der schwarzen Kultur und Identität. Mit dem
musikalischen Erfolg Olodums begann die Nachfrage nach Auftritten der Gruppe in anderen
Städten in Brasilien und im Ausland. Dafür wurde zunächst eine, später sogar zwei, „Banda
Show“ mit den besten Stammmusikern gemacht, die zu den Konzerten reisten. Die
Musikgruppe Olodum verließ den Pelourinho um andere Bühnen zu erobern. Dies hatte nicht
nur eine kommerzielle Bedeutung, sondern auch ein symbolische.

Die Reisen in Brasilien und ins Ausland üben auf die Trommler eine besondere Faszination
aus. Reisen in Brasilien mit seinen kontinentalen Ausmassen ist weitestgehend der Mittel-
und Oberschicht vorbehalten. Flugreisen sind für die meisten Jugendlichen, die bei Olodum
trommeln oder die Sonntagsproben besuchen unvorstellbar teuer. Ein Flug Salvador – São
Paulo kostet hin und zurück umgerechnet um die 500 Euro. Das übliche Verkehrsmittel der
unteren Mittelschicht und Unterschichts-Brasilianer ist der Bus. Der braucht für diese Strecke
aber zum Beispiel nicht etwas mehr als zwei Stunden wie ein Flugzeug, sondern rund 30
Stunden. Es ist also leicht vorstellbar, dass Reisen für die große Mehrheit der Brasilianer, die
einen oder vielleicht zwei Mindestlöhne verdienen, prohibitiv teuer ist. Mit der Banda Show
zu reisen ist nicht nur eine Arbeit, sondern auch ein Ereignis und gibt Status. Es ist eine
Möglichkeit gesellschaftliche Räume zu betreten, die den meisten Freunden, Nachbarn und
Verwandten vorenthalten sind.
„Das erste Mal, das wir reisten, war nach Alagoas, am 20. November, dem Tag des
schwarzen Bewußtseins. Wir zogen los vom Pelourinho bis zum Campo Grande mit einem
Sack auf dem Rücken. Da stand der Bus und Neguinho machte es ganz spannend, wer mit
durfte. Und wir konnten mit, als letztes rief er uns auf. Ich konnte nicht einmal meiner Mutter
Bescheid sagen. Das war einer der schönsten Momente in meinem Leben. Von da an lernte
ich ganz Brasilien kennen“ erinnert sich einer der Trommler (Santana Filho, Interview, 1994).

1990 fahren 19 Mitglieder Olodums zum ersten Mal nach Europa. Sie treten u. a. in Glasgow,
das in jenem Jahr Kultur-Hauptstadt Europas ist, und während des Nottinghill Karnevals in
London auf. Der mit Paul Simon am Pelourinho aufgenommene Video-Clip wird in 140
Länder ausgestrahlt. Im darauffolgenden Jahr besuchen 750 000 Menschen die Show Paul
Simons im Central Park in New York und sehen auch die Gruppe spielen. Noch nie hat
Olodum vor einem so großen internationalen Publikum gespielt. „Als ich zu Olodum kam,
konnte ich kein Instrument ... nach zwei Jahren machte ich die erste Tournee in die USA: 35

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Tage, bei denen ich 20 Städte in den USA und vier in Kanada kennenlernte“ erzählt ein
anderer Trommler (Grande, 1994).

1992 begibt sich die Gruppe auf die erste große mehrmonatige internationale Tournee nach
Europa, u.a. auch nach Deutschland. In Berlin besuchen die jugendlichen Trommler das
Ägyptische Museum, um die Nofretete zu sehen. Nachdem die Musik der Pharaonen der
Gruppe 1987 den nationalen Durchbruch gebracht hatte, soll im darauffolgenden Jahr 1993
das Karnevalsthema wieder aufgenommen werden. In Köln besuchen sie den Kölner Dom, in
Barcelona spielen sie bei der Eröffnung der Olympischen Spiele, wo sie die Idole des us-
amerikanischen Basketball-Teams aus der Nähe sehen, von deren Styling sie verschiedene
Elemente übernehmen. „Als ich Michael Jordan so aus der Nähe sah, das war das Größte für
mich. Ich fing dann an, mir auch die Haare abzurasieren. Viele meiner Freunde nannten mich
dann nur noch Jordan“ erzählt einer der Trommler (Negão, 1994).

Alle Trommler erwähnen in Interviews immer wieder die Bedeutung des Reisens für sich
selbst. Dank ihrer Tätigkeit bei Olodum können sie Dinge erleben, von denen sie
normalerweise ausgeschlossen wären. Wer häufiger mit dem Flugzeug in Brasilien unterwegs
ist, wird bestätigen, dass der überwiegende Teil der Fluggäste weiße Brasilianer sind.

Einige der internationalen Tourneen ziehen sich über drei bis vier Monate hin. Am meisten
Prestige haben die Reisen in die USA und nach Europa. Deutschland, Frankreich, Dänemark,
Schweden, Holland, England, Spanien, Italien, Portugal etc. Die Banda Show ist außer im
nahe gelegenen Ausland wie Argentinien und Chile, auch in Japan, Israel oder Afrika
aufgetreten. Unter den Trommlern entwickeln sich Gruppen, die für bestimmte Shows
zuständig sind. Es gibt eine Gruppe, die am liebsten in die USA fliegt, andere machen lieber
Shows in Europa. Durch die Reisen sind einige der Trommler motiviert, Sprachkenntnisse zu
erwerben. Olodum bekommt Stipendien für Englisch-Unterricht, im Tausch für Karnevals-
Kostüme. „Auch wenn ich vielleicht nächstes Jahr kein Stipendium mehr habe, den Englisch-
Unterricht will ich weitermachen. Das kann ich später, wenn ich nicht mehr trommeln kann,
auch gebrauchen“, sagt ein Trommler (Negão, 1994).

Andere Trommler sehen in den Reisen eine weitere Möglichkeit ihr Leben zu verändern. Sie
hoffen auf den Reisen ausländische Frauen kennenzulernen und durch diese Beziehungen ihr
Leben zu verändern. Die blonden Europäerinnen gelten als attraktive Partnerinnen, die zudem

243
bereit seien, über die sozialen Gegensätze hinweg feste Beziehungen mit Afro-Brasilianern
einzugehen und ihnen zur Seite zu stehen. Nicht immer komplikationslos verläuft so eine
Beziehung für die Gruppe, wenn zum Beispiel ein Trommler während der Tournee abspringt
und in einer deutschen Stadt bleibt. Aber selbst wenn es nicht so weit geht, spielen diese
Begegnungen mit Ausländerinnen eine wichtige Rolle für die Trommler. Von anderen werden
sie darum beneidet, für sie selbst ist es nicht immer einfach, damit umzugehen. Teilweise
fühlen sie sich genötigt, ausländische Freundinnen zu haben, die als besser, interessanter,
vielversprechender gelten, als ihre Freundin in Bahia.

244
12. Olodum und der Karneval

Aus dem Karneval bzw. im Karneval sind die Blocos Afros entstanden. Der Karneval ist für
sie der Höhepunkt der Aktivitäten des Jahres und der Gipfel der Emotionen. Nach einer
Einführung in den Straßenkarneval Salvadors soll in diesem Kapitel der spezielle Moment
Olodums im Karneval sowie Tendenzen über die Zusammensetzung der Karnevalsteilnehmer
beschrieben werden.

12. 1 Karneval in Salvador – das Straßenfest der Superlative

„Karneval ist eine Erfindung des Teufels, die Gott gesegnet hat“
sagt Caetano Veloso in einem Interview

Das wichtigste gesellschaftliche und touristische Ereignis Bahias ist der Karneval. Karneval
ist eine Explosion von Rhythmen, Tönen und Farben, vielen Menschen, die feiern und
anderen, die arbeiten, ebenso Fest und Spektakel, wie Bühne und Plattform. Eine Woche lang
wird in den Straßen Salvadors Karneval gefeiert. An den Spitzentagen des Karnevals sind
rund 1,5 Millionen Menschen bis in die frühen Morgenstunden hinein unterwegs. Es ist
Sommer in den Tropen und nur manchmal bringen kurze Regengüsse Abkühlung. Unter die
Bahianer mischen sich mehrere Hunderttausend Touristen (rund 10% Ausländer), die für die
fast komplette Ausbuchung der Hotelbetten der Stadt verantwortlich sind (Loiola & Miguez,
1996, S.46).

Das Fest beginnt offiziell mit der Übergabe des Stadtschlüssels vom Bürgermeister an den
Karnevalskönig den dicken Rei Momo am Donnerstagabend. In den letzten Jahren gab es
jedoch auch schon Umzüge und Bälle am Tag davor, dem Mittwoch. Durch den Erfolg der
Axé-Musik im ganzen Land hat der Karneval in Salvador seit 1993 gigantische Ausmaße
angenommen. Über 200 verschiedene Karnevalsgruppen ziehen mit ihren Musikattraktionen
sieben Tage lang mit fast durchgehendem Programm durch die rund 19 Kilometer für die
Feierlichkeiten abgesperrten Strassen und Plätze der Innenstadt und entlang der Küstenstraße
vom Leuchtturm in Barra bis zu den Fünf-Sterne-Hotels in Ondina. Parallel dazu wird in den
einzelnen Stadtvierteln gefeiert und seit kurzem auch wieder im Altstadtviertel Pelourinho mit
kleineren akustischen Karnevalsgruppen, Pierrots und Verkleidungen im Stil der guten alten

245
Zeiten. Vom Pelourinho hatte sich der Karneval Anfang des Jahrhunderts auf die Rua Chile
über die Praça Castro Alves bis zur Piedade ausgedehnt.

Seit Mitte der 60er Jahre eroberte der Karneval den Campo Grande. Heute sind hier die
Tribünen und Logen, sogen. Camarotes, aufgebaut, von denen aus die Besucher den
Karnevalsgruppen zuschauen können. Wie durch ein Stadion ziehen die Karnevalsgruppen
durch den von den Tribünen geformten Korridor. Traditionell wohnen am Karnevalssonntag
die politischen Autoritäten den Darbietungen bei. Vom Campo Grande aus verläuft der Zug
über die Avenida Sete zur Praça Castro Alves und wieder zurück über die Rua Carlos Gomes
- eine acht Kilometer lange Tour, für welche die großen Trios bis zu zehn Stunden brauchen.
Der Einzug im Campo Grande ist ein wichtiges Element des Karnevals, das von den
Karnevalsgruppen möglichst repräsentativ gestaltet wird. Eine Kommission beurteilt die
Darbietungen in den verschiedenen Kategorien (Blocos de Trio, Blocos Afros, Afoxés etc.).
Von einer Konkurrenz und Rivalität, wie sie das Desfile der Samba-Schulen von Rio
charakterisiert ist jedoch nichts zu spüren.
Camarotes, eigentlich Logen, die von Unternehmen, den großen Hotels oder Privatpersonen
gemietet werden, gibt es inzwischen im gesamten Bereich des Campo Grande und im Bereich
Barra/Ondina. In den luxuriös ausgestatteten Logen der Musikstars wie Daniela Mercury oder
Gilberto Gil gibt es nicht nur eisgekühlte Getränke und warmes Essen, sondern auch
klimatisierte Luft und Discos für die Zeit der Passage zwischen zwei Trios. Hier können die
Reichen und Berühmten, Politiker und Filmstars, aber auch Mitglieder europäischer
Königshäuser dem Karneval beiwohnen.
Die Camarotes reduzieren den Platz, der auf der Strasse bleibt. Während die Camarotes
einerseits sehr beliebt sind, weil man dort relativ abgeschirmt von der Menge die
Musikattraktionen genießen kann, ist an ihnen die Diskussion über mögliche Veränderungen
des Charakters des Straßenfests zu einem Zuschauer-Karneval entfacht.

Schätzungsweise 50.000 Menschen sind direkt mit dem Karneval beschäftigt, noch einmal so
viele indirekt. Musiker und Organisationen, Bier- und Wasserverkäufer, Hot-Dog-Stände und
Grillspiess-Brater, Müllsammler und Straßenreinigung, Busfahrer und Journalisten. Mehrere
Tausend lizensierte Barracas und ambulante Verkäufer gibt es entlang der Festmeilen. Dazu
kommen noch alle diejenigen, die versuchen ihr Glück zu machen, indem sie Mineralwasser
und Bier aus den umgehängten Styroporkästen verkaufen, im Hauseingang eine stärkende
Feijoada servieren oder die Nutzung der Haustoilette gegen Gebühr erlauben. Die gesamte

246
Busflotte der zweieinhalb-Millionen-Stadt wird durchgehend während der tollen Tage
eingesetzt. Während des Karnevals sind außerdem in 25 Stadtvierteln und auf zwei Inseln
Bühnen aufgebaut, wo an die 3000 Musiker in über 600 Shows während der Karnevalstage
spielen. Schätzungen gehen von 100 bis 150 Millionen Reais (33 –50 Mio. €) aus, die im
Karneval umgesetzt werden (Loiola & Miguez, 1996).

12.2 “Bahia hat gewonnen” – der Karneval 1993

Der Karneval 1993 ist ein besonderer Karneval. Es ist das Jahr, in dem der Straßenkarneval
Salvadors das Augenmerk ganz Brasiliens auf die kulturellen Ereignisse in Bahia lenkt. Die
Stadt vibriert mit den musikalischen Neuheiten, hallt wider vom Klang der Trommeln, in
jedem Viertel gibt es neue Treffs, wo sich Jugendliche zum Tanzen treffen. Die Musik aus
Bahia erobert das ganze Land. Protagonisten dieser Welle sind allen voran die Afro-Pop-
Gruppe Timbalada und Olodum mit ihren Hit´s “Canto pro mar” (Timbalada) und
“Berimbau” (Olodum). Offizielle Repräsentantin des bahianischen Karnevals ist Daniela
Mercury, die bereits erwähnte “Königin der Axé-Music” wie sie oft genannt wird. Mit ihr
etabliert sich das Strandviertel Barra/Ondina zur ersten Adresse des Karnevals. Auf
politischer Ebene hat der Alt-Politiker Antonio Carlos Magalhães gerade sein Amt zum
Gouverneur angetreten. Eines seiner wichtigsten Projekte ist die Restaurierung des
heruntergekommenen Altstadtviertels Pelourinho, das in atemberaubender Manier
angegangen wird.
Dem Tenor der Reportagen in den Magazinen, die im 2000 Kilometer weit entfernten
hochmodernen São Paulo herausgebracht werden, merkt man das Ungläubige und Befremden
mit den bahianischen Neuheiten an. Der Musiker Carlinhos Brown und die Trommler mit den
nackten bemalten Oberkörpern der Timbalada sind auf dem Cover der Zeitschrift Isto é
abgebildet (Isto è, 17.02.93). “Bahia hat gewonnen” ist eine Woche später Titelgeschichte des
konkurrierenden Magazins Veja mit Fotos von Ilê Aiyê. Dort steht zu lesen, dass Salvador
Rio de Janeiro erstmals den Rang als Karnevalshochburg abgelaufen hat (Veja, 24.02.1993).
Zwischen dem Bürgermeister Rio de Janeiros César Maia und der Bürgermeisterin Salvadors
Lídice da Matta war es noch wenige Tage vor Karneval zum emotionalen Schlagabtausch
gekommen. César Maia giftet: “Der Tourist, der dorthin zum Karneval fährt hat eine 100%-
ige Chance überfallen und eine hohe Wahrscheinlichkeit vergewaltigt zu werden” (Veja,
24.02.1993, S. 35). Auch in anderen Karnevalshochburgen werden die musikalischen

247
Entwicklungen in Bahia kritisch gesehen. In Olinda wird das Spielen bahianischer Musik im
pernambucanischen Karneval verboten.
Die Bierfirmen Brahma und Antarctica liefern sich einen heißen Krieg um Marktpositionen
im ganzen Land. Die Brauerei Brahma, die zunächst hauptsächlich auf den Karneval in Rio de
Janeiro gesetzt hatte ( 8 Millionen US $), nimmt noch wenige Tage vor Karneval einen
Werbespot mit Olodum auf dem Pelourinho auf. Die Konkurrenz Antarctica warb bereits auf
allen Kanälen mit Daniela Mercury und bahianischen Ferien/Karnevals-Ambiente für ihr
kühles Blondes. Neben den Fernsehrechten und Werbeflächen der Präfektur, ist auch der Platz
auf den Trio Electricos umkämpft. Brahma sponsort hauptsächlich zwei Blocos Afros: den
tradtionellen Afoxé Filhos de Gandhi und den angesagten Olodum, während Antarctica in die
Blocos Afros Ilê Aiyê und Muzenza, die Timbalada und die Blocos de Trio Mel, Camaleão
und Os Internacionais investiert. Nicht alle Gruppen können jedoch von den Ereignissen
profitieren. Dem Bloco Afro Ara Ketu gelingt es in diesem Jahr nicht, eine Karnevalsgruppe
auf die Strassen zu bringen.
Das Jahr 1993 markiert auch für Olodum einen Höhepunkt: 1987 kam der Durchbruch mit
dem Lied Faraó und der ersten Plattenaufnahme des Bloco Afro, ein Jahr später “entdeckte”
Paul Simon die Trommler und machte 1990 die Gruppe international bekannt durch die
Aufnahmen auf seiner Platte “The Obvious Child”. Nach der Gouverneurs-Wahl 1992 beginnt
die Restaurierung des Pelourinho-Viertels, in dem die Grupo Cultural Olodum zu Hause ist.
Rechtzeitig zum Karneval sind in einem ersten Kraftakt einige Strassenzüge saniert und in
leuchtenden Pastelltönen gestrichen worden. Wie keine andere Gruppe wird Olodum mit den
jüngsten Entwicklungen in Bahia assoziiert und der Karneval 1993 wird zu einem der
erfolgreichsten und markantesten der Gruppe.

12.3 Olodum im Karneval

“Der Karneval ist, als wäre er das Blut im Körper Olodums. Er ist die Kraft, die durch die
Beine, durch die Arme, durch den Magen, durch das Gehirn strömt. Er gibt der Gruppe ihre
Stimme und ihren Sinn.” So bildreich beschreibt João Jorge, Präsident Olodums, die
Bedeutung des Karnevals für den Bloco Afro (João Jorge, 1994). Der Karneval ist die Essenz
der Gruppe. Das jeweilige Thema beeinflusst nicht nur die Musik, die Lieder, die Kostüme,
sondern auch die Identitätsfindung und das Denken. Hier definiert sich Olodum jedes Jahr
wieder neu. Der Karneval ist die Feier, die Verkörperung der Wünsche und Träume der

248
Mitglieder Olodums. Dafür haben die Trommler nun seit Monaten geprobt, die Sänger, die
Tänzer, die Direktoren schlaflose Nächte verbracht, um ihren Bloco auf die straße zu bringen.
Darum soll hier zunächst der erste Auszug Olodums am Freitagabend des Karnevals
beschrieben werden. Insgesamt sind es drei Abende bzw. Nächte, die der Afro-Block durch
die Straßen zieht, aber der Auszug aus dem Pelourinho am Freitagabend ist der bewegendste
von allen.

Die Schätze Tut-Ench-Amuns

Die Wände, der den Pelourinho-Platz umgebenden farbigen Kolonialhäuser schwitzen vor
Feuchtigkeit. Trotz der späten Stunde, steht die Luft. Die runden Steine des Kopfsteinpflasters
schimmern im Lampenlicht. In kleinen Gruppen stehen Bahianer und Touristen zusammen,
erzählen, lachen und warten. Die Verkäufer an den Bretterbuden werben mit der Kälte ihres
Biers, das in großen Styroporkisten in Eiswasser liegt. Plotsch – der Kronkorken wird in
hohem Bogen auf das Pflaster geschmissen, dass umgangssprachlich “Negerkopf” heißt. Die
Stimmung ist gelöst und erwartungsvoll. Ein paar Fotografen und die Kamarateams der
lokalen Sender testen die Lichtverhältnisse, machen erste Aufnahmen. In Kürze sollen sich
hier die Trommler Olodums versammeln um in den Karneval zu ziehen. Für 21 Uhr ist die
“Concentração” angesetzt, aber noch in keinem Jahr wurde der Zeitplan eingehalten. Einige
Mitglieder der Gruppe sieht man über den Platz laufen, um dann in der João-de-Deus-Gasse
am linken Kopfende des Pelourinho zu verschwinden. Blau und Gold – die leuchtenden
Farben des Fantasia genannten Karnevalskostüms gefallen den meisten Zuschauern auf
Anhieb. Auf dem Platz wird es voller. Der Auszug Olodums in den Karneval am Freitagabend
ist ein festes Datum für die der Schwarzenbewegung und kulturellen Alternativszene
nahestehenden Bahianer. Mit dem musikalischen Erfolg kommen jetzt auch immer mehr
brasilianische und ausländische Touristen hierher. Zunächst hört man nur ein dunkles Grollen
aus der Ferne, dann gelingt es dem Ohr über den ohnehin schon hohen Geräuschpegel auf
dem Platz tiefe Bassschläge zu identifizieren. Dum bum bum, dum bum, bum, dum bum,
bum. Die Trommeln werden lauter, kommen näher. Darüber zerreißen die metallischen
Breaks der Repiques-Trommeln die Luft. Es ist ein bewegender Moment, als die Trommler
aus der schmalen Gasse kommend, den Platz erreichen. Neguinho do Samba, der
Musikmeister, führt sie an. Neguinho trägt ein weiß-silbernes Gewand, auf den dunklen
Rastahaaren einen gleichfarbigen Kopfschmuck - eine königlich wirkende Erscheinung, die
an den ägyptischen Pharao Tut-ench-Amun erinnern will. Auch die Trommler tragen einen

249
Kopfschmuck, der in Form und Farben, Blau mit Gold, an die Nofretete im Berliner Museum
erinnert. Blaue Hosen mit goldenen Schärpen, einen blauen mit gelb-goldenen Mustern
bedruckten Kurzumhang über Brust und Schultern, der genügend Bewegunsgfreiheit für die
ausholenden Trommelschläge läßt. Die dunkle Haut der Trommler glänzt vom Schweiß.
Sechzig, achtzig, hundert Trommler strömen auf den Platz, postieren sich vor der Casa de
Jorge Amado. Neguinho do Samba dirigiert sie. Die Farben und Klänge verschmelzen zu
einer einzigen prächtigen blau-golden-schokoladenfarbenen Symphonie. Hier, wo sonst die
sonntägliche Probe stattfindet, beginnt heute der Karneval. Der so lang erwartete Moment ist
gekommen. Die Jungs zeigen was sie können: die Trommeln werden geschlagen und
gepeitscht, in die Luft geworfen und dienen als Stütze für ein Rad in der Luft. Jeder von ihnen
führt vor, was er monatelang vor dem Spiegel, der Freundin oder den Kumpels geübt hat. Die
Kameras der Filmteams laufen, die Fotografen versuchen die günstigste Einstellung zu
finden. Der starke Rhythmus der Trommeln wirkt auch auf die Touristen ansteckend, die
versuchen bei den Tanz-Choreografien der Einheimischen mitzumachen. Nach einer kurzen
Unterbrechung während der die Kostüme zurecht gezupft und die Trommeln in Ordnung
gebracht werden, erhebt sich ein neuer Trommelwirbel. Konzentriert hält Neguinho do Samba
sein feines Holzstäbchen in die Luft, mustert die Trommler und gibt das Zeichen zum
Aufbruch. Begleitet von der wogenden Menge bahnen sich die Trommler ihren Weg durch
die schmal ansteigende Gasse, Ladeira do Pelo, vorbei am Jorge Amado-Haus und der alten
medizinischen Fakultät. Auf dem Terreiro de Jesus, dem “Jesus-Platz” vor der Kathedrale
Salvadors, Sitz des brasilianischen Kardinal-Erzbischofs wartet der große Karnevalswagen
Olodums, ein Trio. Auf dem Trio ist auch Platz für die Sänger und die Ehrengäste der Gruppe
– Musik- und Fernsehstars und Politiker. Caetano Veloso, einer der wichtigsten
brasilianischen Sänger, verteilt Küsschen und lässt sich im Olodum-Kostüm mit Fans
fotografieren, während die amtierende Bürgermeisterin Lídice da Matta etwas schüchtern vom
Trio-Wagen herunterwinkt. Die Sänger und Direktoren tragen weite, buntbedruckte
afrikanisch-inspirierte Umhänge und Hosen. Sie laufen geschäftig und aufgeregt hin und her,
schon jetzt heiser vom Stress der letzten Wochen, den Block auf die Strasse zu bringen. Es
dauert eine Weile bis sich der Zug wieder neu formiert hat. Vorneweg wird eine kleine
Pyramide gezogen, auf der die diesjährige “Mulher Olodum” (Frau Olodum) mit einem
unglaublich schönen Lächeln tanzt. Dann setzt sich mit einem Ruck auch der große
Karnevalswagen in Gang und als er an der Kathedrale vorbei auf die längliche Praça da Sé
einbiegt, beginnt Pierre Onassis zu singen: “O berimbau, pedaço de arame, pedaço de
pau...”. Wie von einem Magnet angezogen, strömen jetzt die Menschen zusammen, um die

250
Gruppe zu begleiten. Die Trommler haben Schwierigkeiten ihre Reihenformation aufrecht zu
erhalten, weil es so eng ist. Mit einem Seil versuchen Hilfskräfte den Musikern Raum zu
schaffen. Die Menschen drücken und schieben, zwängen sich durch den Engpass an der
Kirche, nehmen den Platz ein, der mit sogen. Barracas, ambulanten Bars, dicht bestellt ist.
Die Menschen, die auf den bunten Holzhockern der vielen Bars sitzen, stehen auf, schieben
Tischchen zusammen, versuchen Platz zu machen. Oder bezahlen und vereinen sich mit der
tanzenden Menge, die vorbei wogt. Am unteren Ende des Sé-Platzes auf der Rua Chile wird
angehalten. Hier ist jetzt die ganze Strassenbreite Platz, um aus den Tausenden von Menschen
einen Zug zu formieren. Mit schweren Seilen, die von den cordeiros, Seilträgern, gehalten
und gespannt werden, entsteht ein mehrere Hundert Quadratmeter großer Raum auf der
Straße. Es dauert lange, bis es wieder losgeht und je mehr Menschen sich innerhalb der Seile
aufhalten, umso enger wird es. Die Stimmung ist angespannt. Die Cordeiros, meist kräftige
Männer, haben Mühe die Seile zu halten. Einige der Direktoren Olodums laufen mit
Sprechgerät am Mund, um die Aufstellung zu koordinieren. Wer nicht zur Gruppe gehört,
muss raus aus dem Zug. Mittlerweile kann man sich innerhalb der Seile kaum noch bewegen,
so eng ist es. Als vorne der Karnevalswagen losfährt, die cordeiros das Seil langsam mit
vorziehen, werden hinten alle zusammengequetscht. Bloß nicht stolpern! Als der gesamte
Zug dann in Bewegung ist, läßt der Druck nach. Jetzt nur noch tanzen, singen, feiern. Am
Straßenrand drängen sich die Zuschauer. “Vai passar o Olodum”. Mittlerweile ist es längst
nach Mitternacht. Bevor die Gruppe die Praça Castro Alves erreicht, noch ein kurzer Stop,
dann Trommelwirbel und wieder “Berimbau”, der diesjährige Sommerhit. Der Castro Alves-
Platz ist das Herzstück des Karnevals im Zentrum der Stadt. Hier, wo die Statue des Dichters
Castro Alves mit dem Arm in die Ferne zeigt, treffen sich in der Nacht zum Aschermittwoch
die großen Karnevalswagen und Tausende von Karnevalisten lassen beim Sonnenaufgang den
Karneval ausklingen. “Acabou” “vorbei”. Heute am Freitag ist Olodum jedoch die größte
Attraktion, die hier vorbeiziehen wird. Die ersten Trommelwirbel und die Musik bringen den
Platz zum Brodeln. Die Menge umwogt den Karnevalswagen, drückt und schiebt sich vorbei,
tanzt, singt mit. Ab und zu kommt es zu Rangeleien und handgreiflichen
Auseinandersetzungen. Innerhalb der Menschenmenge gibt es immer wieder Gruppen, die das
wilde Tanzen auch dazu nutzen, andere zu verprügeln. Im Rhythmus der Trommeln wiegen
sie die Oberkörper, die Schultern hochgezogen, die Arme angewinkelt vor dem Körper,
hüpfen wie Pogotänzer und schnellen die Fäuste vor wie Profi-Boxer. Im Karneval ist Polizei
besonders gefordert, gewalttätige Auseinandersetzungen unter Kontrolle zu halten. Kommt es
zu größeren Schlägereien, brechen die Sänger sofort die Musik ab, mahnen zu Ruhe und

251
Frieden. Es ist schwer im Nachhinein zu beurteilen, von wem die Aggressionen in der Menge
ausgingen. Auch in dieser Hinsicht ist der Karneval ein Freiraum, ein anarchisches Chaos.
Über eine Stunde hält sich Olodum auf der Castro Alves auf, um dann durch die Rua Carlos
Gomes hinauf zum Campo Grande zu ziehen. Dort trifft die Gruppe gegen vier, fünf Uhr
morgens ein. Nicht mehr alle Karnevalisten sind dann dabei, aber immer genug, die bis zum
letzten Trommelschlag tanzen. Freitagnacht ist vorbei, zwei Umzüge stehen noch bevor.

12.4 “Eu sou Olodum – quem tu és” – Karnevalsteilnehmer

Wer sind die Menschen, die in Olodum-Kostümen drei Tage lang durch Salvador tanzen.
Welche Vorstellungen haben sie von der Gruppe? Warum ausgerechnet dieser Bloco?
Quantitative Interviews, die Daten zur Personenerfassung und einige offene Frageblöcke
enthielten, sollten Aufschluss über diese Frage geben.
Die Zahl der Menschen, die mit Olodum am Karneval teilnehmen, lässt sich nur schätzen.
Dies überrascht auf den ersten Blick, da ja die Kostüme verkauft werden. Eine große Zahl an
Kostümen wird jedoch auch kostenlos verteilt: an die Ehren-Mitglieder, an
Familienangehörige, an Freunde, an Bewohner des Pelourinho, an Persönlichkeiten aus der
Schwarzenbewegung. Kostüme werden außerdem verliehen, verkauft, verschenkt. Nach
Angaben der Gruppe sind rund 2500 Menschen an jedem der drei Tage mit Olodum auf der
Strasse.
Rund 600 Fragebögen wurden während der dreitägigen Ausgabe der Kostüme verteilt. Das
Ausfüllen des Fragebogens war freiwillig und wurde selbstständig vorgenommen. Das
hektische, teilweise chaotisch anmutende Klima kurz vor Karneval erschwerte die Arbeit.
Insgesamt wurden 226 (n=226) Fragebögen ausgefüllt. Das war eigentlich eine gute Quote.
Dennoch zeigte sich, dass die Repräsentativität stark eingeschränkt werden mußte, da ein
grundsätzliches Problem der Fragebogen-Aktion der Bildungsstand der teilnehmenden
Personen war. Diejenigen, die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben hatten, haben den
Fragebogen in der Regel nicht beantwortet. Wie groß der Anteil dieser Menschen war, ist
nicht nachträglich ermittelbar, dürfte aber nicht unbedeutend sein. Die Ergebnisse weisen
dadurch eine Verzerrung auf, insofern als Menschen mit höherem Bildungsniveau
überdurchschnittlich vertreten sind. Da es in Brasilien jedoch eine enge Beziehung zwischen
Bildungsniveau und Hautfarbe gibt, wie in Kapitel 8 gezeigt, dürfte dies auch zu einer relativ
stärkeren Präsenz von weißen Brasilianern geführt haben. Insofern sind die Ergebnisse nur

252
stark eingeschränkt aussagekräftig, dennoch sollen einige Tendenzen vorgestellt werden. Die
entscheidende Erkenntnis dieser am Anfang der Feldforschung gemachten Erfahrung war,
dass für diese Arbeit qualitative Untersuchungsmethoden die angemessenere
Herangehensweise darstellten. Für den Karneval 1994 waren deshalb Interviews mit den
Teilnehmern eingeplant. Leider konnten diese aus persönlichen Gründen nicht durchgeführt
werden106.

Bildungsniveau
Auffallend ist das hohe Bildungsniveau der Karnevalsteilnehmer Olodums: 78% der
Teilnehmer haben ein höheres Bildungsniveau, 38% davon haben sogar Universitätsniveau.
Damit liegt das Bildungsniveau der Teilnehmer nicht nur weit über dem bahianischen,
sondern auch weit über dem brasilianischen Durchschnitt (s. Kapitel 8). Dieses Ergebnis
deutet auf zweierlei hin: Erstens scheint Olodum auf dem Höhepunkt seiner Attraktivität im
Karneval 1993 insbesondere Menschen mit höherem Bildungsniveau angezogen zu haben.
Zweitens offenbart sich hier die bereits beschriebene Schwäche der Fragebogenerhebung

Hautfarbe
Im Fragebogen wurde die Frage nach der Hautfrage als offene Frage gestellt, die dem
Befragten die Freiheit liess, sich selbst zu identifizieren. Zur Selbsteinschätzung wurden
insgesamt zehn Farbkategorien verwendet. Über ein Viertel der Teilnehmer (28%) gaben ihre
Hautfarbe als weiß oder hell(clara) an. In absoluten Zahlen war branca sogar die häufigste
Nennung. 21% der Teilnehmer bezeichneten ihre Hautfarbe als parda, gefolgt von morena
(16%), negra (16%) und preta (9%) und anderen Varianten für die Bezeichnung dunkler
Haut. Insgesamt haben zwei Drittel der befragten Teilnehmer (67%) eine dunkle Hautfarbe.
Im Vergleich zur Zusammensetzung der Bevölkerung Salvadors hat Olodum im Karneval
einen relativ höheren Anteil weißer Mitglieder und einen relativ geringeren Anteil von Afro-
Brasilianern. Dafür kann es mehrere Ursachen geben: a) überdurchschnittlich viele weiße
Soterapolitanos fühlen sich von Olodum angezogen b) viele weiße Touristen kommen zu der
Gruppe c) hier spiegeln sich die Verzerrungen der Fragebogen-Aktion: die Korrelation
zwischen Hautfarbe und Bildungsniveau erklärt auch den relativ höheren Anteil der weißen
Brasilianer.
Im Vergleich zu den in Kapitel 8 dargestellten Erfahrungen bei der Erfassung der Hautfarbe
fällt auf, dass insbesondere die Bezeichnung negra, aber auch preta relativ häufig verwendet
106
Ich mußte meinen Aufenthalt in Brasilian unterbrechen, da meine Mutter verstarb und mein Vater schwer
erkrankte.

253
wurden. Hierin scheint sich ein stärkeres schwarzes Selbstbewusstsein der Teilnehmer
auszudrücken. Im speziellen Klima des Karnevals, im Umfeld Olodums scheint es leichter zu
fallen, die eigene Hautfarbe so zu beschreiben. Mehr noch: die dunkle Hautfarbe gibt in
diesem Umfeld Status: “Auch ich bin negro/a, ich gehöre zu den Schwarzen von Olodum”.
Zu einer der polemischsten Fragen, die Olodum mit zunehmendem Erfolg betrafen, war die
Frage nach der Hautfarbe der Mitglieder. “Olodum embranqueceu” hieß es immer wieder,
Olodum sei weiss geworden. Dies wurde von vielen der Schwarzenbewegung mit Sorge
betrachtet. Es hieß, Olodum könne die Wurzeln verlieren und habe Tür und Tor für die
Okkupierung des Bloco durch die Weißen geöffnet. Der Eindruck Olodum sei weiß
geworden, konnte empirisch nicht bestätigt werden. Die Afro-Brasilianer waren nach der
Fragebogenerhebung im Karneval 1993 in der Mehrheit. Ihr tatsächlicher Anteil lag aus den
eingangs erwähnten Ursachen, aber vermutlich noch weit höher. Auch die persönlichen
Eindrücke während des Umzugs bestätigten dies Im Vergleich jedoch zu einem Bloco Afro
wie Ilê Aiyê, bei dem weiße Brasilianer nicht akzeptiert werden, oder einen Bloco Afro wie
Muzenza, der mit einem starken Stigma als Rasta-Bloco behaftet ist und musikalisch wenig
Erfolg hatte, war der Anteil heller Brasilianer relativ groß.

Wohnort
Die Mehrheit der Teilnehmer Olodums kommen aus Salvador (84%), aber nur 8% der
Teilnehmer Olodums kommen aus dem Pelourinho und den angrenzenden Stadtvierteln. Das
ist ein sehr geringer Anteil von Mitgliedern der ursprünglichen Gemeinschaft Olodums. Dazu
zwei Bemerkungen: a) Die Restaurierung des Centro Histórico ging mit der Vertreibung der
Bewohner des Viertels einher. Es ist also möglich, dass ehemalige Bewohner jetzt aus
anderen Stadtvierteln kommen. b) Mitglieder der comunidade, also die zum Pelourinho-
Viertel gehörenden Einwohner, bekamen in der Regel ein Karnevalskostüm geschenkt. Die
Ausgabe dieser Kostüme fand an einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt statt.
Das wurde leider erst im Nachhinein deutlich.
Aus den Stadtteilen, die Heimat anderer Blocos Afros (Ilê Aiyê, Muzenza) sind, wie
Liberdade und umliegendeViertel kamen nur 4% der Teilnehmer. Das unterstützt die bereits
in Kapitel 9 gemachten Beobachtungen über die starke Verwurzelung der Blocos Afros in
ihren Vierteln. Es sind unterschiedliche Stämme.

Ein Fünftel der Teilnehmer Olodums am Karneval 1993 kam aus den typischen Vierteln der
Mittelklasse, die entlang der Strandstraße liegen.

254
14% der Karnevalsteilnehmer Olodums waren brasilianische Touristen, vor allem aus Rio de
Janeiro und São Paulo. Sogar ausländische Touristen gehörten zu den Kanrevalsteilnehmern
(2%). Die relativ große Beteiligung der Touristen am Karneval kann als Zeichen des
nationalen und internationalen Erfolgs Olodums bewertet werden. Darüberhinaus scheinen
sich diese Teilnehmer intellektuell mit den Zielen der Gruppe verbunden zu fühlen (s.
Antworten, warum Olodum).
Vermutlich gehörte also über ein Drittel (34%) der Teilnehmer am Karneval (Touristen plus
Mittelklasse-Viertel) nicht zum Stammpublikum Olodums und wurden vom momentanen
Erfolg angezogen.

Warum sie mit Olodum am Karneval teilnehmen wollen?


Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer (69%) beantworteten diese Frage mit durchaus
positiven, teils begeisterten, aber oberflächlichen Antworten („aus Liebe“, aus Sympathie“)
die für den Popularitätsgrad der Gruppe sprechen, aber ansonsten wenig Aussagekraft haben.
Nur 8% der Antworten stellten einen direkten Bezug zum ethno-politischen Diskurs der
Gruppe her mit Anworten wie zum Beispiel “weil es ein Raum für Schwarze ist ” oder “ weil
es eine schwarze Ausdrucksform ist”. Bei weiteren 11% der Teilnehmer kann von einem
indirekten Bezug gesprochen werden. Sie nannten als Motive für die Teilnahme am Karneval
mit Olodum zum Beispiel “Identifikation mit der Gruppe”, “wegen der Kultur oder
Tradition”. 12% der Antworten stellen den Bezug zu Musik, Karneval und dem Aussehen des
Bloco her mit Antworten wie „wegen des Rhythmus” bzw. “wegen der Musik“, oder „wegen
des Visuals“.
Für die Mehrheit der Teilnehmer der Fragebogen-Aktion war die Entscheidung für Olodum
im Karneval 1993 nicht durch die soziale oder politische Arbeit der Gruppe begründet,
sondern den momentanen Erfolg und die Popularität.

Was sie über Olodum wissen?


Nur rund ein Viertel (24%) der Befragten stellte bei der Antwort die ethno-politische Arbeit
Olodums in den Vordergrund zum Beispiel: die „schwarze Kulturgruppe“, „die gegen
Rassismus kämpft“ und „ die schwarze Rasse und schwarze Kunst repräsentiert“. Andere
beschrieben Olodum zum Beispiel als „die Institution, die das Rassenbewusstsein der
Bevölkerung fördert“, „ein Bloco ohne Vorurteile, der für bedürftige Kinder arbeitet“ oder
„Organisation, die den Bewohnern des Pelourinho hilft“.

255
70% der Teilnehmer schienen entweder nicht besonders gut über Olodum informiert zu sein
bzw. gaben sehr unspezifische Antworten wie beispielsweise „alles“, „vieles“, „das Nötige“,
“wenig” .

Ist es das erste Mal, dass sie mit Olodum am Karneval teilnehmen?
Mehr als die Hälfte der befragten Teilnehmer (52%) nahmen zum ersten Mal mit Olodum am
Karneval teil. Diejenigen, die schon häufiger mit der Gruppe unterwegs waren, spezifizierten
zum größten Teil nicht (30,5%).
Der ungewöhnlich große Anteil von Debütant(inn)en bei Olodum im Karneval 1993 zeigt,
dass die Gruppe über große Anziehungskraft verfügte. Vermutlich spielte die enorme
Medienpräsenz in Zusammenhang mit der Restaurierung des Pelourinho dabei die
entscheidende Rolle, wie auch die Antworten der folgenden Frage nahelegen.

Mit welchen anderen Gruppen haben sie bereits am Karneval teilgenommen?


Über ein Drittel der Karnevalsteilnehmer (35,5%) hatte noch mit keiner anderen Gruppe am
Karneval teilgenommen.
Fast ein Viertel der Teilnehmer (23,5%) hatte vorher mit Blocos de Trio und Blocos
Alternativos am Karneval teilgenommen. Sie wechselten also die Kategorie von einem
traditionellen Bloco zu einem Bloco Afro, viele von ihnen sogar von den sogenannten Elite-
Blocos (Camaleão, Eva, Crocodilo etc.), denen immer wieder rassische Diskriminierung bei
der Auswahl ihrer Teilnehmer vorgeworfen wird.
Nur etwas mehr als ein Sechstel (17,5%) hat bereits mit anderen, ähnlichen Gruppen wie
Blocos Afros, Afoxés oder Blocos de Indio am Karneval teilgenommen. Die meisten von
ihnen bei dem Afoxé Filhos de Gandhi, gefolgt vom Bloco Afro Ilê Aiyê.

Bezug zum Viertel Pelourinho


Fast die Hälfte der Teilnehmer (47%) gehörten zu den langjährigen (seit mindestens vier
Jahren) Pelourinho-Besuchern.
Knapp ein Fünftel (19,5%) gab an „seit einem, zwei oder drei Jahren“ den Pelourinho zu
besuchen. Das würde bedeuten, seit dem Beginn der 90er Jahre, Zeitpunkt der Ausstrahlung
des Video-Clips Paul Simons mit Bildern aus dem Pelourinho. Weitere 16,5% der Teilnehmer
besuchten den Pelourinho erst seit kurzem, oder erstmalig in der aktuellen Sommersaison.
Diese Frage sollte indirekt Hinweise auf die Verbundenheit mit der Gruppe Olodum bzw. der
Beziehung zum Pelourinho als Ort von besonderer Bedeutung für die schwarze Kultur in

256
Salvador liefern. Überraschend war der große Anteil derer, die behaupteten schon seit langem
das Viertel zu besuchen. Das Ergebnis widerspricht den persönlichen Eindrücken und den
immer wieder in den Gesprächen vermittelten Aussagen, dass erst nachdem Olodum in Mode
gekommen und der Pelourinho durch die Sanierung sicher gemacht wurde, die Besucher
kamen. Es scheint vielmehr so, dass inmitten der Erfolgswelle viele gern ihre Zugehörigkeit
zum Viertel demonstrieren wollten.

Meinung zur Reform


Fast drei Viertel (74%) der Teilnehmer lobten die Reform. Nur 20,5% der Teilnehmer
kritisierten die Reform zum Teil heftig: „stark elitisierend“, “politische Zielsetzung“,
„gefährlich, kann das Ende der kulturellen Produktion bedeuten“, „radikal“, „soziale
Probleme nicht berücksichtigt“, „oberflächlich“. Zwei Bemerkungen dazu: a) Die erste Phase
der Restaurierung war gerade abgeschlosssen. Die ehemals verfallenen Bauten erstrahlten in
leuchtenden Farben. Das zuvor unsichere, marginalisierte Gebiet war jetzt zugänglich. Noch
war nicht klar, dass die einheimischen Bewohner nicht mehr zurück kommen dürften b)
Dieses Bild des Pelourinho wurde in den Medien massiv verbreitet. Die überwiegend positive
Bewertung scheint sich so zu erklären. Vermutlich gingen die Kenntnisse der Kritiker über
das in den Medien verbreitete Bild hinaus, waren sie vertrauter mit den lokalen
Gegebenheiten.

Gibt es Rassismus in Brasilien?


88% der befragten Teilnehmer waren der Meinung, dass es Rassismus in Brasilien gibt. Nur
8% verneinten die Frage. Dieses Ergebnis deckt sich mit den während der Datafolha
Untersuchung gemachten Ergebnissen (s. Kapitel 8).
Es scheint ein Widerspruch zu herrschen mit einer Gruppe, die einen expliziten Anti-
Rassismus-Diskurs führt am Karneval teilzunehmen und selbst Rassismus zu verneinen.
Deshalb soll die Gruppe, die die Existenz von Rassismus verneinte, noch etwas näher
untersucht werden. Fast die Hälfte von ihnen gab als Hautfarbe „moreno“ an, knapp ein
Viertel bezeichnete sich als weiß. Überraschend ist, das höhere Bildungsniveau aller weißen
Verneiner des Rassismus. In Kapitel 8 wurde gesagt, dass die Fähigkeit Vorurteile zu
erkennen, mit dem Bildungsniveau steige. Das kann hier nicht bestätigt werden. Es scheint,
dass sie Olodum in erster Linie als Karnevals- und Musikgruppe wahrnehmen. Fast alle, die
die Existenz des Rassismus verneinen, sind begeisterte Befürworter der Restaurierung

257
„maravilha“, „excelente“ Möglicherweise sind sie nicht weiter an politischen oder sozialen
Fragen in diesem Umfeld interessiert.

Die Auswertung der Fragebögen zeigt (trotz der oben genannten Einschränkungen) deutlich
eine Tendenz: Ein Großteil der Teilnehmer Olodums im Karneval 1993 fühlte sich vor allem
angezogen von der Karnevalsgruppe Olodum. Der ethno-politische Diskurs stand für sie nicht
im Vordergrund. Es scheint also eine Diskrepanz zu geben, zwischen dem, was von den
Machern Olodums immer wieder als Anti-Rassismus-Diskurs und Praxis in den Vordergrund
gestellt wird, und dem, was die meisten Karnevalsteilnehmer suchen. Die große Popularität
Olodums zeigt sich in verschiedenen Antworten.

Ein Aspekt soll hier noch erläutert werden: der große Anteil von Touristen im Karneval 1993
und deren Motivation. Die Gruppe der brasilianischen Touristen teilte sich je zur Hälfte in
weiße (50%) und Afro-Brasilianer. 28% der Touristen bezeichneten sich als negro/a, die
übrigen 22% hatten ebenfalls eine dunkle Hautfarbe (parda, morena, mulata). Auffallend sind
zwei Aspekte: a) der hohe Anteil an afro-brasilianischen Touristen, die sich als negros
bezeichnen und mit Olodum am Karneval teilnehmen wollen und b) der hohe Anteil an
weißen Touristen, die den Wunsch verspüren mit der Erfolgsgruppe Olodum, einem Afro-
Block, am Karneval teilzunehmen.
Alle Touristen, die sich als negro/a bezeichneten, waren Akademiker. Zwei Drittel dieser
Gruppe hatten bereits mit Olodum am Karneval teilgenommen, einige sogar mehrfach. Dies
deutet daraufhin, dass der Teilnahme mit Olodum am Karneval eine besondere Bedeutung
beigemessen wird, denn allein die Reise aus einer der Städte des Südostens ist eine
vergleichsweise teure Angelegenheit. Diejenigen, die bereits mehrfach mit Olodum im
Karneval waren, hatten auch schon bei anderen Gruppen mit ähnlichem schwarzen
Hintergrund mitgemacht, wie Ilê Aiyê, Filhos de Gandhi und Os Negões. Als Motiv gaben
sie an, sich mit Olodum zu identifizieren und betonten den Beitrag Olodums zur
Valorisierung und Verbreitung schwarzer Kultur. Es zeigen sich Parallelen bei der
Beantwortung der anderen Fragen: Die Personen, die sich auf das schwarze Selbstbewusstsein
und Kultur bezogen, hatten in der Regel eine kritische Haltung zu den Reformen am
Pelourinho.Alle schwarzen Touristen (mit einer Ausnahme) besuchten schon seit mehreren
Jahren den Pelourinho.
Alle weißen Touristen sind Akademiker und bestätigen, dass es Rassismus in Brasilien gibt.
Drei Viertel von ihnen nehmen zum ersten Mal mit Olodum am Karneval teil. Neben sehr

258
allgemeinen Aussagen begründen 44% der weißen Touristen ihre Entscheidung für Olodum
mit der Arbeit der Gruppe bzw. mit der Vorliebe für die schwarze Kultur oder beziehen sich
auf die Musik, Swing, Rhythmus.
Es scheint, dass neben der allgemeinen Popularität die afro-brasilianische Wurzel der Arbeit
Olodums über die bahianischen Grenzen hinaus auf einer nationalen Ebene von besonderer
Bedeutung ist. Insbesondere für Afro-Brasilianer, die sich ihrer Identität bewusst sind, scheint
es ein Motiv für die Teilnahme am Karneval zu sein.

259
13. „Die Bildung, die von den Trommeln kommt“ –
Escola Criativa Olodum

“Erziehung kann niemals neutral sein. Entweder ist sie ein Instrument zur Befreiung des
Menschen, oder sie ist ein Instrument seiner Domestizierung, seiner Abrichtung für die
Unterdrückung” (Paulo Freire, 1991, S. 14)

Neben der Konstruktion einer Identität über die Musik und im Karneval spielt die konkrete
pädagogische Arbeit eine wichtige Rolle für die Blocos Afros. Im Bildungsbereich hat die
Diskriminierung von Afro-Brasilianern besonders verheerende Auswirkungen. Es stellt sich
die Frage: Inwieweit ist die Schule darauf vorbereitet, auf den Rassismus einzugehen? Bisher
gibt es erst wenige Studien, die sich mit der rassischen Diskriminierung in den Schulen und
den Unterrichtsmaterialien beschäftigen, z.B. Cavalleira, 2000, Oliveria 1994 und Silva,
1988. Diese Studien, wie beispielsweise die in Kapitel 8 erwähnte Studie Cavalleiros,
dokumentieren, was für viele Afro-Brasilianer zum Alltag gehört: die Diskriminierung ihrer
Kinder und die Nicht-Beachtung der kulturellen Wurzeln im Schulalltag. Sie zeigen die
Notwendigkeit eines pädagogischen Handelns gegen Rassismus, rassische Vorurteile und
rassische Diskriminierung.
Deutlicher Ausdruck dessen ist das Bestreben Olodums, aber auch anderer Blocos Afros, nach
einer anderen Form der Bildungsarbeit mit afro-brasilianischen Inhalten.

13.1“Das Raunen der Trommeln”

Alles begann damit, dass Mestre Neguinho do Samba, der musikalische Leiter des
Karnevalsvereins Olodum, ab 1983 anfing Kinder zum Trommelunterricht einzuladen, die auf
den Straßen des historischen Zentrums herumlungerten, Klebstoff schnüffelten oder Touristen
und Brasilianer beklauten. Wenigstens für ein paar Stunden am Tag sollten diese Kinder
beschäftigt werden. Zunächst waren es Blechdosen und Plastikeimer, manchmal auch eine
eiserne Waschschüssel, auf denen die Kinder die ersten Rhythmen übten. „Die Idee dazu kam
von Kátia, weil die Kinder hier nur auf der Straße rumhingen und klauten. Ich dachte, dass
ich mit diesen Kindern Musik machen müsste, denn Musik ist wie Therapie, entspannt, sorgt
für einen guten astral“ erinnert sich Neguinho do Samba. „Hier, wo jetzt die Casa de Olodum
steht, haben wir altes Holz rausgeholt, um es gegen Brot, Felle und Milch zu tauschen. Elf

260
Kinder... und als er dann unsere Arbeit gesehen hat, hat er die Zinkbleche zur Verfügung
gestellt, aus denen wir die ersten 80 Instrumente gebaut haben.“ (Neguinho do Samba, 1992).
1984 wurde dann offiziell die Banda Mirim Olodum, die Kinder-Musikgruppe Olodums, mit
einigen wenigen Kindern gegründet.

Olodum nannte das Projekt „Rufar dos Tambores“ (ungefähr: Raunen der Trommeln). Ziel
war es, die Kinder von der Strasse des Altstadtviertels zu holen und ihnen nicht nur trommeln,
sondern auch Grundkenntnisse afro-brasilianischer Geschichte und Gegenwart beizubringen.
Neben Gesangsunterricht und Dança Afro, gab es eine Spielzeugfabrik und Puppentheater,
aber auch eine Art alternativer Geschichtsunterricht, in dem engagierte Schwarze den Kindern
der Banda Mirim ihr Wissen über die bis dahin praktisch unbekannten schwarzen
brasilianischen Helden weiter gaben, wie Zumbi dos Palmares, den Aufständigen João de
Deus oder die Mitglieder des Malê-Aufstands. Aus dem provisorischen Unterricht entwickelte
sich allmählich die Idee eine Alternativ-Schule zu gründen, welche die formale Erziehung
ergänzen und die Kinder des PelourinhoViertels zur erfolgreichen Teilnahme an der
Gesellschaft vorbereiten sollte. Es waren die Anfänge der bis heute existierenden „Escola
Criativa Olodum“. (UNICEF, 1992).

Aus den verschiedenen Segmenten der bahianischen Schwarzenbewegung bekam die Gruppe
Unterstützung bei dieser Idee. Über die Notwendigkeit neue Wege zu gehen, war sich die
Schwarzenbewegung schon längst im Klaren: Die Mehrheit der Lehrer an den öffentlichen
Schulen Bahias sind Afro-Brasilianer. Sie unterrichten mit Schulbüchern, in denen Afro-
Brasilianer bisher allenfalls als Hausangestellte, Sportler und Musiker oder Kriminelle
erscheinen, während die weißen Brasilianer Familien haben, in entscheidenden Positionen
stehen und ein modernes, begehrenswertes Leben führen (A.C. Silva 1988).107 Dem
vorzeitigen Verlassen der Schule - sei es durch die Notwendigkeit für den Lebensunterhalt
sorgen zu müssen oder die mangelnde Attraktivität des Unterrichts - kommt im Verlauf des
schwarzen Schullebens besondere Bedeutung zu.
Seit Jahren hatte sich die Schwarzenbewegung in Bahia um die Aufnahme von
Unterrichtsinhalten in den öffentlichen Schulen bemüht, welche die Geschichte und Kultur
der Schwarzen berücksichtigen. Das erste Seminário Experimental de Educação Interétnica
wurde noch während der harten Phase der Militärdiktatur vom Núcleo Cultural Afro-

107
Auch Alexander & Helbig beobachteten einen vergleichbaren Prozess in Südafrika, wo die schwarzen Kinder in den britischen
Missionsschulen dazu erzogen wurden, ihre eigene traditionelle Kultur als minderwertig zu betrachten und ihnen abgefordert wurde, sie zu
überwinden und sich europäischen Standards anzupassen" (Alexander, Neville & Helbig, Ludwig, 1988).

261
Brasileiro 1979 im Goethe-Institut (ICBA) in Salvador organisiert. Die ein Jahr später
gebildete Kommission entwickelte Lehrpläne, die zum ersten Mal in einer Grundschule in
Salvadors Stadtteil Vale das Pedrinhas, angewendet wurde. 1985 gelang es, das Fach
“Introdução aos Estudos Africanos” (Einführung in die afrikanischen Studien) auf Vorschlag
der Schwarzenbewegung in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Afro-Orientalische
Studien (CEAO) vom Landesbildungsrat als Unterrichtsfach in die Lehrpläne der öffentlichen
Schulen Bahias zu integrieren.

Das Projekt der Escola Criativa hatte jedoch noch ehrgeizigere Züge: Eine komplett neue
Pädagogik sollte dort angewendet werden. Pate dafür standen die pädagogischen Ideen Paulo
Freires zur Befreiung der Unterdrückten. Der Pädagoge Manoel de Almeida Cruz entwickelte
ein Konzept interethnischer Pädagogik, das in der ECO umgesetzt werden sollte.

Nach vielen Mühen funktionierte die Escola Criativa Olodum ab 1991 zunächst provisorisch
in einigen winzigen Räumen mit über 200 Kindern (Carvalho 1994). Finanziert wird die
Schule von den Einnahmen Olodums aus Karneval, Musikaufnahmen, Shows etc. und
Spenden. Das Schulgeld für die ECO reduzierte sich auf einen symbolischen Beitrag der
Eltern. Parallel zur Schule existierte weiterhin die Banda Mirim, die Kindergruppe Olodums,
die unabhängig von der Show-Gruppe Olodum auftritt. 1994 nahm Olodum Mirim sogar eine
eigene Platte auf. Auch am Karneval nehmen mehrere hundert Kinder im Bloco Olodum
Mirim jedes Jahr in einer eigenen Gruppe teil.
Im Umfeld Olodums wurde viel über eine andere Erziehung für afro-brasilianische Kinder
nachgedacht. Zu Tanz und Trommeln sollte noch mehr dazu kommen. „Wir waren auf der
Suche nach neuen Wegen, unzufrieden damit, was unsere Kinder in der Schule lernten“
erinnert sich die Direktorin (Cristina, 1993). Von Manoel Almeida Cruz, einem engagierten
afro-brasilianischen Pädagogen aus dem Umfeld Olodums werden die in der Diskussion
stehenden Themen zu einem pädagogischen Konzept komprimiert, das im folgenden
vorgestellt wird.

13.2 "Niemand wird als Rassist geboren" – interethnische Pädagogik

Ziel der interethnischen Pädagogik, so Cruz, sei die Beschäftigung und Erforschung der
rassischen Vorurteile und des Rassismus, die über den Sozialisations- und Erziehungsprozess

262
weitergegeben werden, sowie die Vermittlung der erzieherischen Maßnahmen, um diesen
Prozessen entgegen zu wirken. “Die Vorurteile halten sich nur, wenn sie an die Kinder
weitergegeben werden” (Cruz, 1989, S. 31). Besondere Bedeutung komme dabei den
Lehrplänen und Unterrichtsinhalten zu. So solle das Curriculum auf der Geschichte und
Kultur der Schwarzen und Indianer in der Gesellschaft basieren. Die interethnische Erziehung
sei interdisziplinär angelegt und solle im Dialog zwischen Lehrer und Schüler angewendet
werden.

In seinem Buch “Alternativas ao Combate de Racismo” unterscheidet Cruz fünf


Fragestellungen (er nennt es “strukturelle Aspekte”), die in Zusammenhang mit der
interethnischen Erziehung thematisiert werden sollten:
Der psychologische Aspekt beschäftige sich mit der Problematik des Selbstwertgefühls der
Afro-Brasilianer. Dem Minderwertigkeitskomplex und der Ablehnung der eigenen
Persönlichkeit der Afro-Brasilianer stehe der Überlegenheitskomplex der weißen Brasilianer
gegenüber. Der europäisierte Schwarze hasse jegliche Referenz zu seiner sozialen und
rassischen Herkunft. Er neige dazu, sich als Schwarzer zu verneinen.
Der geschichtliche Aspekt berücksichtige die historischen Ursachen der rassischen Vorurteile
und der unterschiedlichen Entwicklung der ethnischen Gruppen. Besondere Bedeutung habe
dabei die herrschende Geschichtsschreibung und ihre Reproduktion in Lehrbüchern.
Der soziologische Aspekt beschäftige sich mit der sozioökonomischen Stellung der
Schwarzen in der Gesellschaft und den geschichtlich-soziologischen Ursachen der
Marginalisierung. Noch immer funktioniere in Brasilien die Hautfarbe als Anzeichen
"símbolo indicativo" (Cruz, 1989, S.61) der sozialen Stellung in der Gesellschaft, während
gleichzeitig der theoretische Diskurs begründe, dass die Hautfarbe nicht den sozialen Aufstieg
behindere. Die heutige Marginalisierung habe historische Ursachen: Die aus der Sklaverei
entlassenen Schwarzen seien nicht in das neue Wirtschafts- und Gesellschaftssystem integriert
worden , die offizielle Migrationspolitik, die Europäer begünstigte, habe die Integration der
Schwarzen weiter erschwert.
Beim axiomatische Aspekt gehe es um die Frage nach den Werten. Dazu gehöre zum
Beispiel die kritische Auseinandersetzung mit der Dominanz des europäischen
Schönheitsmodells.
Der anthropobiologische Aspekt beschäftige sich mit den Rassentheorien, welche die
Überlegenheit der weißen über die schwarze Rasse wissenschaftlich zu beweisen suchten.

263
Diese fünf Aspekte sollen durch die interethnische Erziehung thematisiert werden. Zunächst
seien dabei die Lehrer angesprochen, die für die interethnische Pädagogik vorbereitet werden
müssen. Sie sollten selbst Forschungen unternehmen, bei denen sie sich mit den Einstellungen
von Individuen beschäftigen. Sie sollten für die Benutzung von Sprache geschult werden, so
dass sie rassische Vorurteile in der Alltagssprache ("coisa preta, dia negro") lokalisieren
lernten. Darüber hinaus sollten sie auch die verdeckte rassistische Ideologie, die in die Kultur
und die Medien projeziert werde, enthüllen lernen. Jede Forschung solle partizipativen
Charakter haben und die "Erforschten" einbeziehen, denn nur so könne die traditionelle
Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt überwunden werden ("die teilnehmende Forschung
ist dem Emanzipationsprozess der unterdrückten Völker verbunden " Cruz, 1989, S. 53).
Vom Verhalten der Lehrer im Klassenzimmer hänge der Erfolg der anti-rassistischen
Erziehung ab. In regelmäßigen Treffen solle zunächst das Bewusstsein der Lehrer geschärft
werden. Zwar könne ihnen die interethnische Pädagogik das Handwerkzeug an die Hand
geben, aber von ihrer eigenen Kreativität in der Schule hänge es ab, den Unterricht bei
vorgegebenen Lehrplänen und traditionellem Unterrichtsmaterial alternativ zu gestalten.
Neben der Schule seien, wie anfangs erwähnt, auch die Eltern ein wichtiger Faktor bei der
Anti-Rassismus- Erziehung. Auch mit den Eltern sollen regelmäßig Treffen abgehalten
werden.
Die interethnische Erziehung sei kritisch und emanzipierend. Es werde eine kreative,
demokratische Dialogform zwischen Lernendem und Lehrendem angestrebt, die das
„Bankiers-Konzept“ (Freire, 1991, S. 57) überwindet. Unterricht und Forschung sollten
partizipativen Charakter haben und auf soziale Veränderung ausgerichtet sein. Lehrer und
Schüler sollten zu kritischem und kreativem Umgang mit dem Wissen stimuliert werden. Zur
Umsetzung empfiehlt Cruz mit Bezug auf Bertold Brecht und Augusto Boal auch Theater als
Lehr- und Lernmethode108, wobei der Dialog zwischen Schauspielern und Publikum wichtig
sei.

Zur Umsetzung der Interethnischen Pädagogik kommt dem Lehrplan, wie bereits gesagt, eine
bedeutende Rolle zu. Als "curriculo oculto" bezeichnet Cruz den in den Lehrplänen
enthaltenen Inhalt, der die in der Gesellschaft herrschenden Werte repräsentiert. Deshalb
müsse ein Lehrplan erarbeitet werden, der die Werte der unterdrückten ethnischen Gruppen
beinhaltet und die Menschenwürde respektiert. Zu den Themen, die in der Schule diskutiert
werden sollten, gehöre der Rassismus und seine Ursachen, das Entstehen der Menschheit, der
108
Das Teatro Experimental do Negro von Abdias do Nascimento hat bereits in den 50er Jahren versucht Rassismus zu
thematisieren.

264
Eurozentrismus und seine Ursachen, moderne Anthropologie zum Konzept Rasse, Kritik der
Rassendoktrinen, Apartheid, sowie eine kritische Revision der Geschichte der Afro-
Brasilianer. Für die Alphabetisierung empfiehlt Cruz, die Inhalte aus der Realität und den
kulturellen Werten der ethnischen Gruppe im Sinne Freires, nach der Schlüsselwort-Methode
(palavras geradoras) abzuleiten, die in diesem Falle zum Beispiel Rassismus, Indio, Neger,
Afrika, Armut, Diskriminierung sein könnten.

Inhalte einer schwarzen Didaktik:


Themen, die im Fach Geschichte oder Sozialwissenschaften diskutiert werden sollten:
Gründe für die Unterentwicklung der unterdrückten ethnischen Gruppen bzw. für die
Entwicklung der anderen, Faktoren für die Abschaffung der Sklaverei, politischer und
kultureller Widerstand der Schwarzen, Betonung schwarzer Helden, Geschichte der großen
Königreiche Afrikas, Afro-Brasilianer im Arbeitsmarkt und in der Politik, soziale und
geschichtliche Faktoren der ästhetischen und ethischen Werte, Psychologie der dominierten
ethnischen Gruppen.
Im Erdkundeunterricht soll der afrikanische Kontinent mit seinen vielen Ländern, Völkern
und Kulturen behandelt werden, aber auch die Lage von Palmares oder anderer Quilombos.
Aufsätze zu folgenden Themen böten sich an für den Portugiesischunterricht: Vorurteile
gegenüber Schwarzen, Schwarze und Bildung, Schwarze und Arbeitsmarkt, Beitrag der
Schwarzen zur kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung Brasiliens, Schwarze in Sport
und Kunst, Bedeutung der afrikanischen Sprachen für das Brasilianisch. Bei der Lektüre
sollten Schwarze in der brasilianischen Literatur besonders berücksichtigt werden - schwarze
Dichter, wie Machado de Asssis, Lima Barreto etc. aber auch zeitgenössische Poeten -, die
Texte der Blocos Afros und die Dramen Abdias de Nascimentos, sowie afrikanische Literatur.
Themenschwerpunkt des Religionsunterrichts sollten afrikanische Religionen in Brasilien
sein: ihre soziale Realität, ihr Widerstandspotenzial, der Islam, der afro-katholische
Synkretismus, die funktionelle Struktur der afro-brasilianischen Religion, die afrikanischen
Religionen in der Stadt und auf dem Land, die Rolle der Afro-Brasilianer im Katholizismus
und bei den Protestanten, Religion und Ethnozentrismus, Symbolik und Götter der
afrikanischen Religionen in Brasilien
In der politischen Erziehung solle die Bedeutung des Lei Afonso Arinos109 oder der UNO
Menschenrechtserklärung diskutiert werden, sowie die juristischen Hintergründe des
Rassismus und der gesetzliche Status der Schwarzen.

109
Das Lei Afonso Arinoso ist ein Gesetz, das Rassismus unter Strafe stellt.

265
In den Fächern Biologie und Chemie sollen die Rassentheorien, aber auch die Herkunft der
Menschheit, oder die Bedeutung des Melanins besprochen werden.
Im Sportunterricht sollten berühmte schwarze Sportler (Cassius Clay bis Mestre Bimba)
sowie die Geschichte der Capoeira vorgestellt und Capoeiraunterricht angeboten werden.
Mit den afrikanischen Wurzeln in der Musik (Congagda, Samba, Maracatu etc.) oder
typischen schwarzen Musikinstrumenten, Tänzen, Volksmusiken, sowie den Lebensläufen
schwarzer Musiker (Donga, Pixinguinha, Caymmi etc.) sollte sich die musikalische
Erziehung befassen, während im Kunstunterricht der Beitrag der Schwarzen in der
Bildenden Kunst (Mestre Didi, Carybé, Rubem Valentim etc.) diskutiert werden sollte.
Im Englischunterricht sollte Literatur der African-Americans aus den USA, im
Französischunterricht Texte schwarzer, französischsprachiger Autoren bevorzugt werden.

In den Überlegungen Cruz´ zur interethnischen Erziehung, einer Erziehung zur Überwindung
des Rassismus und persönlichen Befreiung spiegeln sich deutlich die Gedanken Freires. Bei
Freire ist die Pädagogik der Unterdrückten immer eine Pädagogik von Menschen, die im
Kampf um ihre Befreiung stehen. Auch sie haben „das Bild des Unterdrückers internalisiert
und seine Richtlinien akzeptiert haben" (Freire, 1991, S. 34).
Freire selbst hat sich nicht ausdrücklich mit der Problematik rassischer Diskriminierung in
Brasilien beschäftigt. Für ihn stand die Frage der Marginalität im Mittelpunkt, die Frage von
Unterdrückern und Unterdrückten110. Dies wurde auch von den Mitarbeitern des Freire-
Instituts in São Paulo bestätigt. Der große Verdienst der Arbeit Almeidas liegt darin,
praktische Vorschläge für eine afro-brasilianische Bildung formuliert zu haben.

13.3 Die Escola Criativa Olodum

1994 erhielt die ECO rund 100.000 US$ von der Europäischen Union durch die Vermittlung
des Habitat-Forum Berlin111. Damit wurde es möglich ein Gebäude als Sitz der Schule im
Pelourinho-Viertel zu erwerben, das die staatliche Denkmalsschutzbehörde IPAC restaurierte.

110
In Südafrika hat Neville Alexander ein pädagogisches Konzept der Volkserziehung mit besonderer
Berücksichtigung der schwarzen Kultur entwickelt. Auch das dortige Erziehungswesen charakterisierte sich
durch die Vernachlässigung traditioneller und die Übernahme europäischer Werte.
111
Den gesamten Prozess von der Antragsstellung 1993 bis zur Rechnungslegung habe ich in Salvador begleitet.
Die dabei gemachten praktischen Erfahrungen an der Schnittstelle zwischen zwei Kulturen könnten Thema eines
eigenen Aufsatzes sein. Die Arbeit bei der Umsetzung verschaffte mir eine zuvor nicht in der Form gegebene
Legitimierung gegenüber der Gruppe, stellte aber andererseits einen Balanceakt zwischen den verschiedenen
Ansprüchen und Erwartungen dar.

266
Mit der neuen Struktur gelang der ECO auch die Anerkennung als formale Schule durch das
Bildungsministerium. Das war ein großer Erfolg für Olodum und die Schwarzenbewegung.
Das Konzept Interethnischer Pädagogik wurde erstmals in einem größeren Rahmen in die
Praxis umgesetzt.

Rund 400 Kinder wurden 1994 von 14 Lehrern in der Escola Criativa Olodum unterrichtet.
Die Schule wurde von vier Personen unter Leitung von Manoel de Almeida Cruz koordiniert.
Der Lehrplan wurde nach den Prinzipien der interethnischen Pädagogik gestaltet, mit einer
deutlichen Betonung der künstlerischen und musikalischen Lehrfächer. Es gibt, wie in
anderen brasilianischen Schulen auch, eine Gruppe, die vormittags und eine, die nachmittags
Unterricht hat. In der Unterrichtspause bekommen die Kinder einen kleinen Imbiss. „Das ist
für sie besonders wichtig, denn oft gibt es bei ihnen zuhause nur unregelmäßig etwas zu
Essen“ erzählt eine der Koordinatorinnen (Dora, 1993)

Besuch in der Schule November 1994. Es sieht aus wie in jeder Schule, Lehrer schreiben
etwas an die Tafel, Kinder sitzen zusammen und diskutieren etwas. Dennoch ist es anders:
Die Kinder tragen Schul-T-Shirts, die in den Farben Olodums, den Farben des
Panafrikanismus, bedruckt sind. An den Wänden hängen Poster von den Idolen der
politischen Schwarzenbewegung, Nelson Mandela und Malcolm X. Aus einem Raum tönt
laute Musik, hier wird gerade Afro-Tanz geübt. Auf einer Tafel steht Zumbi und ein junger
Mann erzählt den Kindern seine Geschichte. Es gibt sogar einen Raum, in dem Computer
stehen und eine Lehrerin zeigt, wie man mit so einem Gerät umgehen kann. „Was unsere
Schule unterscheidet, ist das Engagement der Lehrer. Wir alle sind hier, weil wir eine andere
Erziehung wollen“, sagt der pädagogische Leiter (Cruz, Interview, 1994). An zwei
Samstagen im Monat treffen sich die Lehrer der Schule zur Weiterbildung im Umgang mit
der interethnischen Pädagogik. Zu diesen Lehrerfortbildungen kamen schon bald auch
interessierte Lehrer aus anderen öffentlichen und privaten Schulen. „Das ist doch das
Entscheidende, das wir bei uns anfangen“ sagt Gerusa, eine der Lehrerinnen im Gespräch
1994. „Wir sind doch alle damit groß geworden, dass der negro keinen Wert hat“ Im
Versammlungszimmer sitzt eine Gruppe um einen weißhaarigen Mann, der über Candomblé
erzählt. Er ist Ogã in einem der wichtigsten Candomblé-Häuser der Stadt und gehört zum Rat
Olodums. Heute ist er gekommen, um mit einer Gruppe von Lehrerinnen zu diskutieren. „Es
gibt noch immer viel Vorbehalte gegen den Candomblé und religiöse Intoleranz von Seiten

267
der Pfingstkirchen, die immer mehr werden. Einige der Lehrerinnen mussten sich hier zum
ersten mal damit auseinandersetzen“, erzählt Jaime Sodré im Gespräch.

Mindestens einmal im Monat werden die Eltern zu Treffen in der Schule eingeladen, deren
Teilnahme Pflicht war. „Alle zwei Wochen haben wir anfangs Treffen mit den Eltern
gemacht, um mehr über die Kinder zu wissen“, erinnert sich Cristina (Cristina, 1993). „Wir
diskutieren hier über Erziehung und Bildung, Familienleben, Arten der Gewalt. Wir haben
einen Kurs über Sexualität in der Pubertät gemacht, Treffen mit Müttern und Töchtern.“ Die
Treffen mit den Eltern erwiesen sich als problematisch. Teilweise hatten sie wenig
Verständnis für das, was die Schule wollte, wie Aufklärung über Aids oder Diskussion um
Abtreibung. "Wir haben die richtige Sprache noch nicht gefunden", räumt Cruz ein basierend
auf seinen Erfahrungen mit der Escola Criativa Olodum. Anfänglich planten die Schulmacher
auch Erwachsenenbildung anzubieten, aber die Idee wurde bei den auftretenden Problemen
aufgegeben.

An dieser Stelle soll nicht die pädagogische Arbeit Olodums bewertet werden.
Bemerkenswert erscheint, dass das Schulprojekt aus einer empfundenen Notwendigkeit
heraus entstanden ist und eine Antwort auf ein grundsätzliches Problem gesucht wird. Der
Rassismus stellt ein generatives Thema dar, ein Schlüsselproblem der Mitglieder Olodums.
Ohne je vom Situationsansatz gehört zu haben, versuchen sie ein pädagogisches Konzept
umzusetzen, das verschiedene Elemente davon beinhaltet, wie zum Beispiel die Orientierung
an den alltäglichen Erfahrungen der Kinder, das Lernen aus der konkreten Lebenssituation,
die pädagogische Mitwirkung von Eltern, das dialogische Verhältnis, die
gemeinwesenorientierte Arbeit (Zimmer, 1985). Ihnen gelingt es, nicht nur ein eigenes
pädagogisches Konzept zu entwickeln, sondern auch umzusetzen. Darin zeigt sich ihr großes
Geschick und Wille, denn die finanziellen und organisatorischen Hürden sind gewaltig.

13.4Die Grenzen

Der formale Grundschulunterricht in der ECO funktionierte von 1994 bis 1996. Mit dem
Auslaufen der internationalen Zuschüsse kann die Eigenfinanzierung durch die Gruppe nicht
aufrecht erhalten werden. Die Einnahmen aus dem Showgeschäft und Karneval reichen nicht
aus, um in diesem Umfang mit der Bildungsarbeit fortzufahren. Darüber hinaus hat die

268
Restaurierung des historischen Zentrums ab 1992 die Aktivitäten der ECO besonders
betroffen. Einerseits ermöglichen sie die Restaurierung auch des von der Grupo Cultural
Olodum erworbenen Gebäudes, andererseits wohnt ein Großteil der vormals ansässigen
Bevölkerung nicht mehr am Pelourinho. Oft müssen die Kinder jetzt aus den weit entfernt
liegenden Stadtteilen an der Peripherie zum Unterricht kommen. Die Schule ist angesichts der
prekären familiären Situation der Kinder gezwungen, für den Transport aufzukommen -
dennoch verkleinert sich die Schülerzahl. „Wir hatten 540 Kinder in der Schule letztes Jahr.
Vor der Reform des Pelourinho. Jetzt sind es nur noch um die 300. Die kommen jetzt aus dem
ganzen Stadtgebiet. Durch die Reform sind nur noch wenige Anwohner hier. Die, die noch
hier sind, sind noch immer bei uns. Aber die, die weggezogen sind, für die ist es schwierig
hierher zu kommen, die haben kein Geld für den Transport. .. Da gab es in den Familien
Streit, die Kinder, die hier bleiben und die Eltern, die wegziehen wollten“ erzählt eine der
Direktorinnen (Dora, 1994).

Aufgrund der großen Schwierigkeiten bei der Umsetzung und den Veränderungen des
historischen Zentrums werden ab 1997 wieder schulbegleitende Kurse angeboten wie
Musiktheorie, Stimmbildung, Perkussion, Tanz, Englisch, Puppentheater, Fotografie,
Informatik etc. Es gibt einen Kinderchor und einen Chor mit Jugendlichen. Die Kurse sind
kostenlos. Für Olodum ist die Realisierung der Kurse mit immer größerem Aufwand
verbunden, weil sowohl Einnahmen als auch Spendengelder abnehmen. Die Lehrer und die
Angestellten werden komplett von der Grupo Cultural Olodum bezahlt. Die Idee war, dass die
unternehmerische Seite (Boutique und Fabrik, vor allem aber die Banda Show), die sozial-
kulturelle Seite unterhält. Das wurde aber immer schwieriger. Durch die Abkommen mit
anderen Organisationen können die Aktivitäten aufrecht erhalten werden, decken aber selten
die Kosten. So werden alternative Wege der Unterstützung gesucht: Auftritte der Banda
Mirim werden mit didaktischem Material bezahlt, Michael Jackson spendete anlässlich des
Video-Clips mehrere Computer.

Die Finanzierung stellte und stellt bis heute das große Dilemma der Kreativ-Schule dar.
Allein kann Olodum den Betrieb der Schule nicht aufrecht erhalten, schon gar nicht, wenn der
musikalische Erfolg und damit die Einnahmen aus dem Karnevals- und Showgeschäft
zurückgehen. Andererseits ist jedoch die Escola Criativa zunehmend zum wichtigsten
sozialpolitischen Element der Arbeit Olodums geworden. „Weil das eine Sache ist, ... die
meinen Enkeln eine Zukunft gibt. Die Leute, die hier wohnten, gaben den Anstoß zur

269
Gründung. Die Kindergruppe hat schon mehrere Kinder von der Straße gelockt, die heute
Verbrecher sein könnten. Jetzt gibt es sogar schon Straßenkinder, die nach Europa fahren“
sagt einer der Direktoren, der elf Kinder hat (Petu, 1993). Für die meisten Direktoren ist die
Kreativschule wichtigste Referenz, wenn es um das soziale Engagement des Blocos geht und
für einige Teil ihrer Identität und Träume. Aus den Kindern von einst, sind inzwischen
Erwachsene geworden, von denen einige noch immer in die Aktivitäten Olodums
eingebunden sind. „Es freut mich die Entwicklung der Jungen zu sehen wie Memeu, Zoião,
Leo, Andréa, die erst Banda Mirim waren und heute schon Erwachsene sind, Familienväter,
die Verantwortungen haben. Oder hier Paulinho, Roque, Lia, die von der Escola sind und
heute in der Verwaltung arbeiten. Und die, die in der Fábrica sind. Paulinho kann singen,
aber heute oder morgen kann er auch in einem Büro arbeiten (Cristina, 1993) Auch die Cia.
de Dança Olodum ist nahezu komplett aus der Kreativschule hervorgegangen.

Mit den zunehmenden Schwierigkeiten des brasilianischen Alltags aufgrund der


wirtschaftlichen Situation und hausgemachten Problemen wie Unzulänglichkeiten im
Gebäude, Versprechungen, die nicht gehalten werden und dem Auslaufen der formalen
Grundschulbildung wird die Realisierung der pädagogischen Arbeit Olodums immer
schwieriger. Dennoch gibt es die Escola Criativa bis heute und allein dies ist ein großer Erfolg
und zeigt, dass es ein Bedürfnis nach einer spezifisch afrobrasilianischen Erziehung gibt. Der
Versuch der Umsetzung einer afro-brasilianischen Pädagogik, die Cruz als interethnische
Pädagogik bezeichnete, hat bis heute Modellcharakter in Brasilien und ist Anregung für
andere afro-brasilianische Erziehungsmethoden. An der Escola Criativa zeigt sich auch
deutlich, dass für eine langfristige Arbeit auch die strukturellen Voraussetzungen geändert
werden müssen, denn finanziell übersteigt der Unterhalt einer solchen Einrichtung die
Möglichkeiten einer Kulturgruppe. Der Staat muss seine Aufgabe und Verpflichtung einer
angemessenen Bildung für Afro-Brasilianer erkennen. Dann kann er auch das fortschrittliche
Gesetz zum Schutz der Kinder Jugendlichen von 1991 erfüllen, welches „das Recht auf
Freiheit, auf Respekt und Würde als Menschen... und Träger ziviler, menschlicher und
sozialer Rechte, wie sie in der Verfassung und den Gesetzen vorgesehen sind; ... das Recht
auf Bildung...die Gleichheit der Bedingungen für den Zugang und den Aufenthalt in der
Schule...“ garantiert (Estatuto da Criança e do Adolescente, Lei 8069/91).

270
14. Die kultur-politischen Aktivitäten Olodums

„Was mich bei Olodum am meisten angezogen hat, war das Engagement der Leute. Vor
sieben Jahren, Olodum war da noch am Anfang, wir hatten tausend Sachen im Kopf, tausend
Projekte. Was mich angezogen hat, war die política cultural, etwas zu verändern durch die
Kultur... Ich denke, dass die política cultural wichtig ist, erstens um das Selbstbewusstsein zu
stimulieren und zu entwickeln, durch die verschiedenen Künste. .., denn seit der Kolonisation
hatte der negro nie einen Wert, er war immer der Dumme, der Hässliche, der keine Begabung
hatte“ sagte eine Direktorin (Dora, 1993).
Anfang der 90er Jahre hatte Olodum erkannt, dass die kulturelle Arbeit einer der
vielversprechendsten Wege zur Überwindung des Rassismus in Brasilien ist. Olodum machte
Musik, wurde aber auch immer mehr zu einem Kulturproduzenten auf anderen Ebenen. Es
schien, als seien der Kreativität kaum Grenzen gesetzt. Das vielfältige kulturpolitische
Engagement Olodums zeigte sich in einer großen Anzahl von Aktivitäten, von der
Veröffentlichung von Zeitungen und Zeitschriften, über Musikveranstaltungen und
Bilderausstellungen, der Tanz-Gruppe die Companhia de Dança Olodum bis hin zu der
Herausgabe von Publikationen und dem eigenen Verlag Editora Olodum, in dem drei Bücher
veröffentlicht werden112. Jedes Jahr im Januar belebt das Festival de Música e Artes Olodum
(FEMADUM) an drei Tagen den Pelourinho. Während des Festivals werden – eingebettet in
ein umfangreiches Kulturprogramm - die besten Kompositionen für den Karneval prämiert
und die Mulher Olodum gewählt. Parallel zum Femadum findet für die Kinder tagsüber
während des Femadumzinho ein Kulturprogramm mit verschiedenen musikalischen und
künstlerischen Aktivitäten statt. Olodum bemüht sich Persönlichkeiten aus der Politik und
dem Film- und Fernsehbusiness zu diesem Ereignis einzuladen. Das garantiert
Medienpräsenz. Auf kultureller Ebene stellten die Macher Olodums Beziehungen zu anderen
schwarzen Kulturen her und bemerkten dabei, dass die von ihnen gemachte schwarze Kultur
interessant war. „Das Femadum wurde mit dem Ziel organisiert, Olodum mit der Welt zu
verbinden und den verschiedenen kulturellen und künstlerischen Aktivitäten einen Raum zu

112
1994 wird in der Editora Olodum das erste Buch veröffentlicht. „Olodum – de bloco afro a „holding“
cultural“ von Marcelo Dantas. Der Autor prägt für Olodum den Begriff der Kultur-Holding und zeichnet in dem
Buch die Entwicklung Olodums vom Karnevalsverein zu einer komplexen Organisation nach. Das zweite Buch
des Verlags „Trilogia do Pelô“ von Márcio Meirelles und dem Bando de Teatro erscheint ein Jahr später. 1996
erscheint das dritte Buch der „Olodum, Estrada da Paixão“ von João Jorge Rodrigues dos Santos. Hierin zeichnet
der langjährige Präsident den Weg Olodums nach, stellt Interviews und Reden zusammen, sammelt
Erinnerungen und Anekdoten. Die Veröffentlichungen werden von der Jorge-Amado-Stiftung und mehreren
Sponsoren getragen - von staatlichen Chemieunternehmen, über die brasilianische Fluggesellschaft Varig zu
Nicht-Regierungs-Organisationen wie zum Beispiel Christian Aid.

271
bieten“ sagt João Jorge (João Jorge, 1994). Bekannte Künstler wurden dazu eingeladen: Von
Gilberto Gil und Caetano Veloso bis zu den internationalen Musikgruppen wie Jimmy
Cliff113, Lynton Kwesi Johnson, Mutabaruka und Billy Paul. Die Stars des Reggae, deren
Musik und Kultur zum Aufbau eines eigenen neuen schwarzen Selbstbewusstseins der
schwarzen Jugendlichen in Bahia beigetragen haben, sind nach Bahia gekommen. Olodum ist
Teil dieser internationalen Gemeinde geworden, zu der auch Gospel Chor Mount Moriah114
und Alpha Blondy gehören Das Interview Alpha Blondys wurde aus der Casa de Olodum, die
jahrelang einer der wenigen Orte Salvadors war, wo Reggae gehört wurde, auf
Großleinwänden in die engen Straßen des Pelourinho übertragen, in denen sich Tausende
schwarzer Jugendlicher drängten..

Als eine besonders erfolgreiche und über den kleineren Kreis der Gemeinschaft am
Pelourinho und afro-brasilianischer Militanz hinausreichender Aktivitäten, gehörte die
Bildung der Theatergruppe Bando de Teatro Olodum.

14.1 Schwarzes Theater - Bando de Teatro Olodum

Im Oktober 1990 wird die Theatergruppe Olodums gegründet. Die künstlerische Leitung
übernimmt Márcio Meirelles, einer der anerkanntesten Theatermacher aus Bahia, der zuvor
das größte und renommierteste Theater Salvadors geleitet hatte, das Teatro Castro Alves.
Hintergrund der Gründung ist das Fehlen der afro-bahianischen Wurzeln in den lokalen
Theaterproduktionen und das Fehlen des afro-bahianischen Publikums im Zuschauerraum.
Die Idee ist es etwas ganz anderes zu machen: Es werden Schauspieler gesucht, die bereit
sind, sich mit der eigenen schwarzen Identität im Theater auseinanderzusetzen.
Der Ansatz von Meirelles und seinem Team, u.a. der Schauspielerin Chica Carelli, geht
jedoch noch weiter. Sein Theater will einen Beitrag leisten bei der Entwicklung der
marginalisierten Bevölkerung des Pelourinho zu Staatsbürgern. Hintergrund seiner
Vorstellungen ist das Theater der Unterdrückten Augusto Boal´s (Boal, 1985). Gleichzeitig
will sich die Gruppe auf die systematische Suche begeben, nach einer zeitgenössischen
theatralen Sprache ausgehend von den afro-brasilianischen Wurzeln. Darüber hinaus soll die

113
Der Jamaikaner Jimmy Cliff singt mit bei einem Stück auf der 4. LP „Da Atlântida á Bahia“. In Paris spielt
die Gruppe zusammen mit Maxi Priest.
114
Der Erzbischof von Brasília, Dom José Freire Falcão, verbot den Kindern und Jugendlichen der Banda Mirim
Olodum Ende Juni 1995 die Kirche zu betreten und mit dem Gospel Chor Mount Moriah aufzutreten mit dem
Argument, Olodum sei mit dem Candomblé verbunden.

272
Theaterarbeit eine Werkstatt zur Ausbildung von Arbeitskräften in den verschiedenen
Bereichen des Theaters sein, wie beispielweise Dramaturgie, Interpretation, Bühnenbild,
Beleuchtung oder Kostüme. Wie Paulo Freire gewissermaßen Pate der Escola Criativa ist,
übernimmt Augusto Boal die Patenschaft für den Bando de Teatro Olodum. Beide,
inzwischen in die Jahre gekommen, besuchten Olodum Anfang der 90er Jahre.

Schwarzes Theater hatte es zuletzt in den 50er Jahren in Brasilien gegeben, gemacht von
Abdias do Nascimento, der wie Freire und Boal während der Militärzeit Brasilien verlassen
mußte. Das Vakuum war bis Anfang der 90er Jahre in Brasilien nicht gefüllt, engagiertes,
politisches Theater gab es allenfalls im Südosten des Landes. Die afro-brasilianische
Kreativität hatte noch keine Bühne zu ihrer Entfaltung bekommen.
„In der Theaterschule in Bahia gibt es nicht einen Bezug zum schwarzen Theater. Und ich als
militante negro, mich machte das nervös. Damals waren wir drei Schwarze. Nach zwei
Semestern habe ich dort aufgehört... Ich möchte volksnahes Theater machen, das mit der
populären Kultur arbeitet, mit unseren Sachen, unserer Sprache... Dann eines schönen Tages,
schlage ich zu Hause die Zeitung auf und lese, dass Olodum eine Theatergruppe machen will,
populäres Theater auf der Basis der afro-brasilianischen Kultur unter Leitung von Márcio
Meirelles... Da habe ich mich eingeschrieben...“ erzählt einer der Schauspieler (Washington,
1993).

Die Arbeit der Gruppe beginnt mit Improvisationen. Es geht darum, neue Rollen
auszuprobieren, Erfahrungen aus der Realität auf die Bühne zu tragen. „Am Anfang hatte die
Gruppe 30 Mitglieder. Wir haben im Oktober 1990 angefangen. Einen Monat lang haben wir
einen Workshop gemacht, Szenen improvisiert. Alle, die mitmachten, waren Schwarze. Wir
bereiteten ein Krippenspiel vor. Nur, dass die Maria und der Josef dunkle Haut hatten, drei
schwarze Marias und drei schwarze Josefs. Die Szenen entstanden aus der Sichtweise, wie sie
die Menschen vom Pelourinho hatten, das war da, wo wir arbeiteten, da wo die Gemeinschaft
ist, mit der Olodum arbeitet. Da kam also der Marihuana-Dealer vor, der Bar-Besitzer, die
Baiana de Acarajé, der Pastor, eine crente (Pfingstkirchlerin), eine Frau, die aus dem Inland
kam, ihren Mann zu suchen, der Autowäscher, die Straßenjungs, der Müllmann, der die
Strasse kehrt... so haben wir angefangen zu arbeiten. Und Márcio nahm diese Figuren und
machte daraus ein Drehbuch, so ist das Stück „Essa é a Nossa Praia“ entstanden“
(Washington, 1993). Aus dem Krippenspiel entsteht ein Theaterstück mit komplett neuen

273
Identifikationsmustern, ein Stück, das in einem Ambiente angesiedelt ist, das seit Jahrzehnten
marginalisiert wird.

Die drei Stücke „Essa é a nossa praia“ (1991), „Ó paí, ó“ (1992) und „Bye, bye Pelô“ (1994)
erzählen aus unterschiedlicher Perspektive die Geschichte des Pelourinho und seiner
Bewohner in drei Phasen: Vor, während und nach seiner Renovierung. Diese Stücke prägen
das Image der Gruppe. Die spontan wirkenden Inszenierungen, die flotten Sprüche, die
frechen Charaktere sind Ergebnis einer auf Improvisationen basierenden Arbeit. Jeder
Schauspieler arbeitet an seiner Figur, seinen Szenen. Einen festen Text gibt es zunächst nicht,
ebensowenig einen eindeutigen Handlungsverlauf. Erst bei den Proben wird das gesamte
Stück von Meirelles zusammengebaut. „Ich habe angefangen mit den Figuren aus dem
städtischen Umfeld zu arbeiten, ausgehend vom Lebensbereich der Schauspieler, obwohl
viele von ihnen nicht am Pelourinho wohnen...Zum ersten Mal arbeiten wir mit Personen, für
die das Theater keine Schulung der Sprache ist, sondern lebenswichtig und essentiell, um sich
in der Welt zu plazieren. Das ist eine langsame Annäherung“ erzählt Márcio Meirelles (A
Tarde, Caderno 2, S.01, 24.01.1991). Ganz bewusst versteht Meirelles das Theater als Mittel
der Identifikation der marginalisierten Personen.

Essa é a nossa Praia wird zum ersten Mal beim FEMADUM, dem alljährlichen Musik-
Festival Olodums aufgeführt. Fünf Themen stehen im Mittelpunkt: Die Marginalität, die
Prostitution, das Mann-Frau-Verhältnis, die Mutterschaft und die Künstler. Die Zuschauer-
Mengen auf dem steilen Pelourinho-Platz reagierten begeistert. Mit diesen Themen konnten
sie etwas anfangen. Nach Karneval wurde das Stück dann erstmals in einem Theater
vorgestellt, die Presse eingeladen. „Der Unterschied dieser Aufführung zu anderen
konventionellen zeigt sich sofort im Zuschauerraum des Espaço Xis. Bewohner des
Pelourinho mischen sich mit Touristen, Künstlern, Journalisten und anderem Publikum“
schreibt die Tageszeitung O Correio da Bahia, 22.09.1991.
Das Stück des Bando de Teatro Olodum wird ein Riesenerfolg. „Damit explodierte es. Über
ein Jahr haben wir das Stück gespielt, ein Publikumserfolg, von der Kritik, den Finanzen. Wir
haben angefangen, damit Geld zu verdienen. Wir sind an vielen Orten aufgetreten, haben
angefangen durch die Städte im Inland zu reisen. Dann kam die Gelegenheit nach Rio zu
reisen“ erinnert sich ein Schauspieler (Washington, 1993). Das neue schwarze Theater
machte Furore. Nicht nur musikalisch hatte Olodum Erfolg. Jetzt machten sie auch noch
engagiertes Theater.

274
Das zweite Stück der Theatergruppe „Onovomundo“ handelte von den verschiedenen
Legenden über den Ursprung der Welt aus Sicht der vier schwarzen Nationen Keto, Jeje,
Angola und Caboclo, die ihre Glaubensvorstellungen aus Afrika nach Brasilien brachten. „In
der Zwischenzeit machten wir Onovomundo, das über den Candomblé geht. Wir sind in die
Terreiros, haben mit den Mães de Santo geredet, mit Wissenschaftlern der afro-
brasilianischen Religionen. Dabei entstand Onovomundo, das die Geschichte der Erschaffung
der Welt erzählt“ (Washington, Interview, 1993). Bei Kritik und Publikum kam das Stück
nicht an den Anfangserfolg heran.

„Ó pai ó“ ist das dritte Stück innerhalb eines Jahres des Bando de Teatro de Olodum.
„Danach kam O pai, ó, was umgangssprachlich so viel heißt, wie „schau mal da“. Anders als
beim ersten Stück wird hier das Leben am Pelourinho nicht auf der Straße, sondern von innen
gezeigt: in einem Cortiço, einem der typischen Wohnquartiere, einem Geschäft und einer Bar.
„Am Pelourinho schließen die Besitzer ihre Häuser ab und geben sie auf und die, die nichts
haben, wo sie wohnen können, besetzten sie und machen einen cortiço. Aber es sind diese
Menschen, die bisher verhindert haben, dass der Pelourinho total zusammengebrochen ist“
erklärt Márcio Meirelles (A Tarde, 05.02.1999). Durch das gesamte Stück hindurch zieht sich
die quirlige Atmosphäre der Benção, die jeden Dienstag die Straßen des Viertels mit
Menschen füllt. Das Stück greift die Polemiken der Veränderungen auf: Einige profitieren
davon, andere, zur Schwarzenbewegung gehörende Gruppen, kritisieren dies und bedauern
den Verlust eines politischen Raums.

Zunehmend kann das Theater dazu beitragen, über alltägliche Situationen zu reflektieren. Es
gibt eine Interaktion zwischen den Schauspielern und den Zuschauern. Die Figuren auf der
Bühne sind fiktiv, aber einige haben reale Vorbilder. Die Schauspieler kennen den Pelourinho
gut, bewegen sich auch in ihrer Freizeit oft in dem Ambiente, das sie auf der Bühne
darstellen. Aktuelle Ereignisse können in das Geschehen auf der Bühne integriert werden.
Das dritte Stück der Trilogie über den Pelourinho ist „Bye Bye Pelô“. Für die Kritik ist es das
Beste der drei Stücke, vor allem wegen der weiter gestiegenen Abstimmung und Interaktion
der Schauspieler und des Leiters. (A Tarde, 24.11.1994) Als eine anthropologische Leistung
wird die minutiöse Arbeit der Schauspieler bezeichnet, die Verhaltensweisen und
Redewendungen der Menschen aus dem Pelourinho-Viertel aufzunehmen und die gekonnte
Umsetzung der Typen auf der Bühne. Das Stück kritisiert den Ausschluss der lokalen

275
Bevölkerung bei der Restaurierung. Das tragische Ende mit der Erschießung eines Bettlers,
das Ziel war eigentlich ein Musiker Olodums, basiert auf tatsächlichen Ereignissen. Damit
schließt der Bando de Teatro Olodum den Zyklus der Stücke, die direkten Bezug zum
Pelourinho haben. 1995 wurde ein Buch mit den Stücken vom Pelourinho „Trilogia do Pelô“
herausgegeben. Das Vorwort schrieb der brasilianische Musikstar Caetano Veloso.
Erschienen ist es im Verlag Olodum, gesponsert von der staatlichen Chemiefirma Copene.

Die Gruppe bearbeitete auch „klassische“ Theaterstücke, mit Vorliebe deutscher Autoren.
Zunächst „Woyzeck“ von Georg Büchner (1992), anschließend „Medeiamaterial“ von Heiner
Müller (1993) später die „Dreigroschen-Oper“ von Bertold Brecht (1996 und 1998). Dabei
behält der Bando de Teatro Olodum die Charakteristik seiner Arbeit mit Improvisationen und
Adaptionen an die bahianische Realität bei. „Woyzeck, das war so eine Geschichte. Bisher
hatten wir ja unsere eigenen Texte gemacht. Dann kam Márcio mit der Idee Woyzeck zu
machen, ein deutsches Stück von Georg Büchner. Wir haben damit angefangen
Improvisationen über die Situationen im Text zu machen. ... Nach zwei Monaten, die wir so
gearbeitet hatten, kam Márcio, der in Rio den Sommernachtstraum von Shakespeare mit
Werner Herzog gemacht hatte. Er gab uns die Texte und dann ging es los. Aber das haute
nicht hin. Márcio sagte: Wir müssen das aufgrund unserer Erfahrung machen, aufgrund des
Pelourinho, diese Maria gehört dahin, dieser Woyzeck auch, der muss so handeln, als wäre er
am Pelourinho...“ (Washington, 1993). So erkennt der Zuschauer im Woyzeck, der übrigens
Zé heißt, den hilflosen und vom Schicksal gebeutelten Mann, für den das Verbrechen aus
Leidenschaft nicht zu vermeiden ist im Kontext der bahianischen Realität der Straßenfeste,
Trommeln und Rhythmen. Aus der Sicht des künstlerischen Leiters Márcio Meirelles stellte
sich die Arbeit so dar: „Es gab ein Bedürfnis in der Gruppe mit einem fertigen Stück zu
arbeiten, einem Klassiker. Dies ist die erste Tragödie, die die arme Klasse als Protagonisten
einsetzt. Die Tragödie von Woyzeck ist es arm zu sein und das ist der Leitfaden des Stücks“
erklärt Márcio Meirelles (A Tarde, Caderno 2, S. 1, 03.02.1993).

Die Theatergruppe behält die eigenen Charakteristika auch bei den folgenden Produktionen
bei. Mit dem Medeamaterial kommen sie sogar auf die Bühne des wichtigsten städtischen
Theaters. „Eine Tragödie mit deutschem Akzent und afro-bahianischer Seele. Das ist die
mächtige Chemie der Super-Produktion „Medeamaterial“, die auf der großen Bühne des
Teatro Castro Alves Premiere hat“ (A Tarde, Caderno2, S.10, 08.08.1993). Die griechische
Mythologie liefert den Stoff für das Stück Medeamaterial von Heiner Müller. Die Hauptrollen

276
Jasons und Medeas spielen allerdings zwei bekannte Schauspieler des Fernsehsenders O
Globo, während die 28 Schauspieler des Bando de Teatro Olodum das Volk darstellen.

Das Bando de Teatro Olodum hat sich inzwischen als eigenständige Theatergruppe etabliert.
„Ich ärgere mich oft über die Kritiken, die behaupten, die Schauspieler des Bando seien keine
richtigen Schauspieler, weil sie in den Stücken von ihrem Leben erzählten, das sie immer
wieder die gleichen Charaktere darstellen. Die Entwicklung einer Figur ist eine Praxis des
populären Theater, wie sie es bereits in der Comédia Del´Arte war“ erklärt Márcio Meirelles
(A Tarde , Caderno 2, S. 7, 04.10.1996). Die Vorwürfe und Vorurteile aus den ersten Jahren
bei der Gruppe handele es sich nicht um Schauspieler, sondern Individuen, die sich selbst auf
der Bühne darstellten, werden durch die Realität ad absurdum geführt. Der Erfolg einzelner
Mitglieder, insbesondere Lázaro Ramos, der inzwischen in mehreren Spielfilmen und im
Fernsehen zu sehen ist, aber auch Jorge Washington und Cristovão da Silva, die im Fernsehen
Rollen übernahmen. „Der Bando hat mir erlaubt mit vielen verschiedenen Situationen zu
arbeiten. Es war das Improvisieren, das ich dort gelernt habe, was mir heute hilft. ... Ich
repräsentiere Salvador, den Nordosten, schwarze Schauspieler und ich weiß, wie wichtig es
ist, eine starke Person zu sein. Als schwarzer Schauspieler aus dem Nordosten hoffe ich, das
es so weitergeht, die Leute sind überrascht darüber, wie gut wir sind“ (A Tarde, Caderno 2, S.
1, 30.07.2001).

In den Stücken „Zumbi“ (1995) „Erê pra toda vida“ (1996) und „Cabaré da Rrrraça“ (1997)
geht es direkt um Fragen schwarzer Identität und Kultur. Die Lebensgeschichte Zumbis, des
Anführers des Quilombo von Palmares und historischen Heldes der Schwarzenbewegung
wird vom Bando de Teatro Olodum in „Zumbi“ auf der Bühne erzählt. Die Mythen des
Candomblé fließen in das darauf folgende, stark vom Tanz geprägte Stück „Erê115 für´s ganze
Leben“ ein. „Ich möchte volksnahes Theater machen, das mit der populären Kultur arbeitet,
mit unseren Sachen, unserer Sprache. Ich mache Theater innerhalb der afro-brasilianischen
Kultur. Das ist das Theater, welches mich interessiert, bei dem du mit den Charakteren des
Volkes zu tun hast, mit der Musik, die auf der Strasse gemacht wird, dem jogo de cintura, das
du hast... Die Negros haben sich mit unserer Sprache identifiziert“ (Washington, 1993). Mit
diesen Stücken nahm der Bando de Teatro Olodum u.a. auch an einem Theaterfestival in
London 1995 und am Carlton Dance Festival teil.

115
Als erê bezeichnet man die kindlichen Götter des Candomblé.

277
Das bis heute gespielte „Cabaré da Rrrraça“ nimmt in seine szenischen Darstellungen die
aktuellen Polemiken zu Rassismus, schwarzer Identität und afro-brasilianischer Kultur auf.
Das Klima ist locker, erinnert an eine Fernseh-Show, bei der das Publikum mit einbezogen
wird. Die einzelnen Szenen leben vom Dialog mit dem Publikum und bekommen durch die
Interaktion ihre besondere Note. „Wir zeigen die schwarze Kultur, wie sie in den Medien
dargestellt wird, als zu konsumierendes Produkt“ erklärt Márcio Meirelles (A Tarde,
07.01.1998). Das Stück erzählt vom Alltag, den Problemen, der Schönheit und dem Reichtum
der Afro-Brasilianer. Die einzelnen Sketche werden durch Musiken akzentuiert. So heißt es in
einem Rap („Rap do Nego F.“) : „Oh Vagabundo/ Hände hoch/ was machst du denn hier um
diese Zeit/Ruhe bewahren, mein Herr, ich kann es doch erklären/ Ich bin Künstler, arbeite an
einem Stück/ Singe und tanze und spiele Perkussion/ Ich bin vom Bando de Teatro Olodum/
Ich stehe hier und warte auf den Nachtbus/ Nach Cajazeiras116 2001“.
1998 nimmt der Bando de Teatro Olodum die CD Cabaré da Rrrrraça auf. „Wer das Stück
nicht gesehen hat, dem kann diese Platte segregationistisch erscheinen. Es handelt sich um
eine Ode an die schwarze Rasse“ schreibt die lokale Tageszeitung (A Tarde, 29.09.1998).

Den Schauspielern ist bewusst, welche Rolle die Theaterarbeit in ihrem Leben und für ihre
Rolle als Afro-Brasilianer spielt. Viele von ihnen hatten einen Hintergrund in der Kirchen-,
Gewerkschafts- oder politischen Arbeit oder in der Schwarzenbewegung. „Meine politische
Militanz war immer im Movimento Negro. Wir können nur gewinnen, wenn wir die Kultur
und die Bildung nutzen. Weil wenn du jemandem Bildung bringst, dann fängt er an Dinge zu
sehen, sich nicht mehr einwickeln zu lassen, keiner spricht mehr für ihn. Wenn ich meinen
Neffen mitbringe und der sieht die, Buiú, Mabaco [Namen von Kindern, die zur
Theatergruppe gehören], dann will er da auch auf der Bühne stehen, weil er dort ein
schwarzes Kind sieht wie er, ein Stern in der Nacht. Wenn ich meinen Bruder mitnehme,
meinen Nachbarn, dann sehen die mich und das bin ich. Deswegen gibt das Fernsehen den
Schwarzen keinen Raum, weil wenn das passiert, werden Millionen Zuschauer mehr
Selbstbewusstsein bekommen. Nur über die Kultur können wir so etwas vermitteln. Francisco
Santos, Maler, der in Portugal ausgestellt hat, Bauer Sá, Fotograf, der in Los Angeles eine
Ausstellung hatte. Schwarze, die dabei sind, sich für ihre Dinge einsetzen“ (Washington,
1993). Auch für die Sängerin Virgínia Rodrigues wurde das Zusammentreffen mit der
Theatergruppe Olodums zum Sprungbrett ihrer Karriere. Inzwischen hat die ehemalige

116
Cajazeiras ist ein Stadtviertel mit fast ausschließlich sozialem Wohnungsbau.

278
Waschfrau mit der voluminösen Stimme bereits drei CDs aufgenommen und Konzerte in
Europa und den USA gegeben, wo Bill Clinton zu ihren Fans gehören soll.

Für die meisten Mitglieder des Bando de Teatro Olodum war das Theater zunächst eine zwar
wichtige, aber keinesfalls professionelle Beschäftigung. Die meisten Schauspieler kommen
(wie auch die Musiker Olodums) aus einfachen Familien mit vielen Kindern, wohnen in
bevölkerungsreichen Vierteln und arbeiten mit etwas ganz anderem, um ihren Lebensunterhalt
zu verdienen. „Ich konnte die Geschichte unserer Familie überspringen, die typisch für eine
arme schwarze Familie ist, entweder du arbeitest in einer Werkstatt, oder wirst Polizist, kaum
jemand schafft es, bis an die Uni. Mein Vater war gegen das Theater, eine Sache von
Schwulen ... Ich bin öffentlicher Angestellter. Ich arbeite beim ... Gesundheitsamt. Ich arbeite
dort in der Verwaltung. Ich arbeite dort sechs Stunden am Tag ... Theater aber macht mir
Freude, wird mir nie zu viel. ... Ich möchte vom Theater leben, nur Theater machen“
(Washington, 1993).

Zu den Zielen bei Gründung des Bando de Teatro Olodum gehörte es auch, mehr Afro-
Brasilianer ins Theater zu locken. „Das Theater ist kein Raum in dem sich Schwarze
normalerweise aufhalten. Das Theater, was ich hier in Salvador mache, verändert das
allmählich ein bisschen. Zu unserem Publikum gehören auch die Bewohner des
Maciel/Pelourinho, arme Leute, negros, die nicht die Angewohnheit haben, ins Theater zu
gehen, aber gehen, weil wir ein Theater spielen, das sie verstehen, das sie motiviert. Auch
wenn wir in Rio sind, treten wir an anderen Orten auf, in der Mangueira [einer Favela] oder
laden Leute über das CEAP (Centro de Articulação das Populações Marginalizadas) ein. Wir
wollen das Theater zu diesen Menschen bringen“ (Washington, 1993).
In Zusammenhang mit der Aufführung des Cabaré da Rrrrraça, inzwischen in einem festen
Theater des Regisseurs Márcio Meirelles wurden differenzierte Eintrittspreise für schwarze
und weiße Zuschauer festgelegt. Die niedrigeren Preise sollten mehr Afro-Brasilianer ins
Theater locken. In der Öffentlichkeit provozierte die Aktion heftige Polemiken – und erreichte
so das Ziel: die Diskussion über die Präsenz von Afro-Brasilianern im Theater.

Die Theatergruppe Olodum existiert bis heute unter der Regie von Márcio Meirelles und
Chica Carelli. Inzwischen hat sie ein neues Kapitel schwarzen Theaters in Brasilien
geschrieben. Afro-brasilianische Schauspieler spielen afro-brasilianisches Theater. Von ihrer
Realität ausgehend zeigen sie einen Teil ihres Alltags auf der Bühne. Ihre Sicht der Dinge

279
unterscheidet sich von der herrschenden (eurozentrischen) Sichtweise, die lange Jahre das
brasilianische Theater dominierte. Das Theater ist für die Schauspieler ein Stück Befreiung,
ist politische Militanz. Sie sehen deutlich die Möglichkeit, die eigene Geschichte zu
verändern. Sie erkennen auch, dass ihr Handeln, Beispiel für andere sein kann. Der Bezug zu
ihrer Kultur, das Erkennen der spezifischen Fragestellungen, unterscheidet ihr Theater von
anderen. Handelnd, Theater spielend leisten sie ihren Beitrag zu einer anderen Sichtweise der
afro-brasilianischen Bevölkerung als Träger von Kultur. Die Blocos Afros hatten das
kulturelle Umfeld zur Gründung einer schwarzen Theatergruppe geschaffen, von Olodum
gingen die kraftvoll-kreativen Impulse dazu aus. Bisher gibt es keine vergleichbare schwarze
Theatergruppe in Brasilien.

280
15. Olodum als Teil der internationalen Schwarzenbewegung

Olodum versteht sich von Anfang an auch als eine politische Organisation der
Schwarzenbewegung. Sie sind eine Karnevals- und Musikgruppe, aber der Kampf gegen den
Rassismus und die Marginalisierung der afro-brasilianischen Bevölkerung gehört untrennbar
dazu. Das unterscheidet die Gruppe von anderen Blocos Afros, die sich zunächst nur über die
Ästhetik und den Karneval definieren. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, wie Olodum
schon früh lokale politische Aktivitäten mit einer globalen Perspektive verbunden und schon
bald einen Platz in der internationalen Schwarzenbewegung erobert hat.

15.1 Malcolm X und Nelson Mandela – die politischen Idole

Wer in die Casa de Olodum kommt, ein restauriertes Kolonialhaus in der Rua Gregório de
Mattos, der begegnet den Farben und Symbolen der internationalen Schwarzenbewegung. An
den Wänden hängen Poster von Bob Marley und Malcolm X, von Nelson Mandela und die
schwarz, rot, gelb und grüne Fahne der Rastafari-Bewegung mit dem Löwen. Dazwischen die
goldenen und platinen Platten, welche der Gruppe verliehen wurden. Die Restauration des
Gebäudes der heutigen Casa de Olodum begann 1987. Eingeweiht wurde der neue Sitz der
Kulturgruppe zum 12. Geburtstag der Gruppe am 25.04.1991. Die Entwürfe des Baus
stammen von der renommierten Architektin Lina Bobardi, die bereits andere Projekte für die
Stadt Salvador gestaltet hat. Von außen ähnelt das Gebäude den anderen zweistöckigen
Kolonialhäusern in der Strasse, von innen überwiegt eine moderne Betonarchitektur. Im
unteren Bereich gab es lange Zeit eine Bar, inzwischen sind hier Vitrinen mit Stücken aus der
Boutique Olodum aufgestellt. Auf halber Höhe gibt es zwei winzige Büroräume und
Toiletten. Fast den gesamten ersten Stock nimmt ein großer Gemeinschaftsraum ein, das
Auditório Nelson Mandela, an den sich zwei kleine Büroräume anschließen. Olodum war der
erste Bloco Afro, dem es gelang ein richtiges Haus für seine Aktivitäten zu bekommen.
Begünstigt wurden sie dabei von der Lage im Pelourinho-Gebiet, zu verdanken ist es aber vor
allem ihrem geschickten Umgang mit der lokalen Verwaltung und der Beziehung zu Paul
Simon, der sie finanziell dabei unterstützte.
„1986 war ich hier vor der Casa de Olodum, zum Beispiel, um drei Uhr morgens, in einer
Ruine. Ich war in der Ruine, es gab einige Stockwerke aus Holz und um drei haben wir uns
hier getroffen, ich und Euzébio(...) und die Jungen der Banda, und haben hier Holz geholt um

281
den Allegoriewagen zu machen...Und dann plötzlich, ein Jahr später, zwei Jahre später,
hatten wir ein Niveau erreicht, das war verrückt. Plötzlich sind wir international bekannt, ...
die Presse aus der ganzen Welt kam wegen uns hierher, um zu sehen, was wir machen, was es
für eine Arbeit ist, wie wir das machen, das ist Wahnsinn, die Musik, der Gesang ... Und heute
siehst du hier unser eigenes Haus, unser Haus, unser Raum und dann kamen die anderen
Dinge dazu und wir erreichten etwas. Dann siehst du, wie wir überall bekannt wurden, diese
vielen Faxe, die Zeitung, die Presse, die Informationsmaterial von uns möchte. Wir hatten
keine Druckerei, wir waren nicht darauf vorbereitet, verstehst du?“ (Peter Leão, 19.12.1995,
zitiert nach Nunes, 1997, S. 17).

Die Casa de Olodum ist das Hauptquartier, das die Ideen Olodums verbreitet, aber auch
unermüdlich Kontakte knüpft. „Olodum wurde dann zu einer Kulturgruppe, die den Karneval
als eine Kultur verstand, die wir das ganze Jahr über verbreiten wollten. Wir fingen an, die
Postillen zu machen, nicht nur für die Komponisten, auch für die Direktoren, die Freunde.
Wir haben dann nicht mehr nur Karneval gemacht, sondern auch begonnen uns mit der Musik
zu beschäftigen... “ erzählt eine der Direktorinnen (Cristina, 1993).
Seit 1983 hat Olodum immer wieder eigene Flugblätter, Mitteilungen, Zeitungen
herausgebracht. Während es anfänglich nur beidseitig kopierte Din-A-4-Zettel waren, die mit
Infos über die Proben oder Liedtexten erschienen, wurden mit den Jahren daraus mehrseitige
kleine Hefte, in denen es neben den Aktivitäten der Gruppe, viele Informationen zur
nationalen und internationalen Schwarzenbewegung gibt.
Die erste Ausgabe des „Jornal do Olodum“, erscheint zum Geburtstag der Gruppe im April
1993. Auf dem Titel ist die Casa do Olodum und das Peace-Zeichen mit den Olodum-Farben
zu sehen. Die monatlich erscheinende Zeitung in Din-A3-Format erscheint mit einer Auflage
von 5000 Exemplaren, die in der Casa de Olodum und der Escola Criativa ausliegen. Zu den
Themen dieser Ausgabe gehören zum Beispiel: Die Tanzgruppe (Companhia de Dança) hat
am XXV Internationalen Festival in Londrina im Süden Brasiliens teilgenommen; die
Theatergruppe (Bando de Teatro Olodum ) plant die Uraufführung des Stücks Medeamaterial
von Heiner Müller in Belo Horizonte; der Prinz der Elfenbeinküste besucht Olodum; Auszug
aus der Verfassung des Staates Bahia mit dem Kapitel Do Negro, Bericht über Malcom X;
Start der Kampagne 300 Jahre Zumbi dos Palmares; Liedtexte; Programm des Monats;
Portrait eines Mitglieds; Bericht über die Escola Criativa Olodum..
Diese Flugblätter und Zeitungen waren das wichtigste Medium zur Verbreitung der
politischen Ideen. Auch wenn viele Bewohner des Pelourinho-Viertels nicht lesen und

282
schreiben konnten, so konnten sie doch die Symbole erkennen (den Löwen der Rastafari-
Bewegung, die Farben des Panafrikanismus) und die Fotos anschauen von Afro-Brasilianern,
die an Diskussionsrunden teilnehmen, auf Reisen gingen und Kultur machten. Sie sahen ein
anderes Bild, als das in Brasilien weit verbreitete des angeblich apathischen, passiven
Schwarzen. Mit diesen Materialien verbreitete Olodum auch bewusst die von ihnen gemachte
Arbeit, verschickte Flugblätter und Zeitungen an politische Vertreter und Meinungsträger
aller Art. „Wir bemühten uns, Kontakte mit anderen Gruppen herzustellen, im Land und
außerhalb, immer ausnutzend, was die einzelnen für Kenntnisse hatten, so wie JJ und ich, die
schon vom MNU kamen. ...Wir zeigten Videos, machten ein Festival über Zumbi dos
Palmares, über die Revolta dos Buzios, die Malês. Dann begannen die Reisen, erst von
einzelnen Leuten, JJ fuhr nach Afrika, Neguinho fuhr nach Afrika, Katia nach Kuba, Tom
nach Frankreich. Und wer fuhr, sprach von der Gruppe. Wir hatten immer viel Papier dabei,
mit Texten, was wir machten“ erzählt eine der Direktorinnen (Cristina, 1993).
Olodum betreibt aktives networking, sucht den Kontakt zu anderen Nicht-Regierungs-
Organisationen, wie zum Beispiel auch Amnesty International oder SOS Racisme. Als
Amnesty eine große Kampagne gegen die Todesstrafe startet, veranstaltet Olodum eine
Diskussionsrunde zum Thema. Als einer der Direktoren 1990 angeschossen und 1995 ein
Trommler erschossen wird, bekommt Olodum durch Amnesty internationale Unterstützung.

Einer der Höhepunkte für die Mitglieder Olodums ist der Besuch Nelson Mandelas 1991 in
Salvador. Mit einer großen Show auf der Praça Castro Alves wird der meist verehrte Held der
internationalen Schwarzenbewegung gewürdigt. Olodum spielt die Hymne des Afrikanischen
National Kongresses „Nkosi Sikelel I África“ und João Jorge rezitiert das von ihm
geschriebene Gedicht zu Ehren Nelson Mandelas, das 1989 auf der dritten Platte
aufgenommen wurde. „Er ist gefangen/aber er symbolisiert die Freiheit für sein Volk/er darf
nicht sprechen/aber das gesamte Volk hört seine Stimme/er darf nicht fotografiert oder
gefilmt werden/ aber das gesamte Volk spürt seine Gegenwart/er wird die Freiheit gewinnen/
durch den Kampf, die Organisation und die Kraft seines Volkes/ Sein Name, Nelson
Mandela“. Die Sängerin Olodums, Tânia Santana, seit 1991 bei der Gruppe, erinnert sich:
„Der wichtigste Moment meiner Karriere war es, zusammen mit Margareth Menezes vor
mehr als 80.000 Menschen auf der Praça Castro Alves zu singen zu Ehren Nelson Mandelas“
(Santana, 1994). Zwei Jahre zuvor hatte Olodum zusammen mit anderen Gruppen der
Schwarzenbewegung bereits Bischoff Desmond Tutu auf dem Pelourinho empfangen.

283
Wie kein anderer steht Nelson Mandela für den Kampf gegen Rassismus und Apartheid. Die
Situation in Südafrika ist jahrelang eine Referenz für den Protest der Afro-Brasilianer. Die
Identifikation mit einem afrikanischen Land liegt noch näher als mit den Schwarzen in den
USA. Nelson Mandela ist schon zu Lebzeiten zu einem Mythos geworden. Sein Besuch ist
auch für die Afro-Brasilianer ein Zeichen, dass sich die Verhältnisse ändern können.

Neben den kulturellen Aktivitäten betreibt die Grupo Cultural Olodum das ganze Jahr über
Bewusstseinsbildung. In der Casa de Olodum werden Diskussionen und Seminare zu
aktuellen sozialen Fragen, historischen Gegebenheiten oder komplexen Themen wie Religion
veranstaltet. Zum ersten Mal veranstaltete Olodum 1991 ein mehrtägiges Seminar, bei dem
über die verschiedenen Religionen diskutiert wurde. Zu der Veranstaltung „Você sabe a cor
de Deus?“ („Kennst Du die Farbe Gottes?“) wurden Intellektuelle ebenso wie Würdenträger
des Candomblé oder andere Geistliche, als Sprecher eingeladen.
Ein Teil der Direktoren Olodums haben einen Bezug zur Menschenrechts- und
Gewerkschafts-, aber auch zur Frauenbewegung. Die Rolle der Frau ist ein Thema, das
insbesondere die Frauen Olodums beschäftigt. Eine Zeit lang treffen sich die Frauen der
Gruppe regelmäßig, um über ihre Situation als afro-brasilianische Frauen zu diskutieren. Zu
den mehrtägigen Seminaren mit dem Titel „Mãe, Mulher, Maria“ („Mutter, Frau, Maria“)
werden Vertreterinnen der Schwarzenbewegung aus ganz Brasilien eingeladen. Der
internationale Frauentag am 8. März ist fast immer Anlass einer Veranstaltung.
Der Anspruch ein anderes Frauenbild zu fördern, zeigt sich auch bei der Wahl der
Repräsentantin des Bloco im Karneval. Während bei den anderen Blocos Afros die
ästhetischen Aspekte im Vordergrund stehen, geht es bei der Wahl der Frau Olodums, um
etwas anderes. Schon die Bezeichnung „Mulher Olodum“ soll dies zum Ausdruck bringen.
„Wir wollen ein moderner Bloco Afro sein“ sagt der Präsident (JJ 1994 anlässlich der Wahl
Mulher Olodum). „Wir wollen keine Schönheitskönigin. Wir wollen eine moderne Frau, die
denken kann und für ihre Rechte eintritt, aber auch tanzen kann“. Die Kandidatinnen müssen
nicht nur ihre Schönheit und tänzerischen Qualitäten auf der Bühne präsentieren, sondern im
Vorfeld auch einen Fragebogen ausfüllen, in dem sie ihr Wissen über Olodum und die
Schwarzenbewegung unter Beweis stellen müssen. Darin werden sie nach ihrem sozialen und
politischen Engagement gefragt und ihren Ideen zur Rolle der Frau und Rassismus. Darüber
hinaus müssen sie zu komplexeren Fragen Stellung nehmen, wie zum Beispiel der politischen
Situation Brasiliens oder der Agrarreform, und sich zu Themen äußern, mit denen sich

284
Olodum beschäftigt, wie zum Beispiel Abtreibung oder der Todesstrafe. Die Fragebögen sind
für die Vorauswahl der Kandidatinnen innerhalb Olodums von Bedeutung.

Diese Vorgehensweise zeigt deutlich den Anspruch Olodums Bewusstseinsbildung zu


machen. Das sich dieses Anliegen nicht unbedingt mit den Vorstellungen der Kandidatinnen
deckt, zeigte sich in den Antworten. Fast zwei Drittel der 41 Kandidatinnen (64%) zur Mulher
Olodum 1994 bewarben sich, weil ihnen die Gruppe wegen ihrer Musik und dem Tanz gefiel,
nur 31% der Kandidatinnen erwähnten außerdem das Fehlen rassischer Diskriminierung bei
Olodum bzw. das Engagement der Gruppe im Kampf gegen den Rassismus als Motiv der
Teilnahme am Wettbewerb. Die sich hier andeutenden unterschiedlichen Sichtweisen
Olodums sind vermutlich typisch für eine derart komplexe Gruppe, die kulturelles mit
politischem Engagement verbindet. Weder werden im Umkreis Olodums alle Musiker, Tänzer
etc. politisches Bewusstsein haben, noch alle politisch interessierten Mitglieder auch singen,
trommeln oder tanzen.
Den Anspruch politisches Bewusstsein zu vermitteln, haben bei Olodum vor allem ein Teil
der Direktoren, insbesondere der langjährige Präsident und seine Schwester, aber auch die
Leute in der Escola Criativa. Sie gehören zu einer anderen Generation (geboren Ende der
50er/Anfang der 60er Jahre), wie zum Beispiel die Kandidatinnen und die meisten Trommler,
die um die 20 Jahre alt sind.
Die 41 Kandidatinnen wurden auch nach Persönlichkeiten der Schwarzenbewegung gefragt.
Die Persönlichkeit, zu der die Kandidatinnen des Wettbewerbs den größten Bezug hatten, war
Nelson Mandela. 73% der Kandidatinnen gaben eine zumindest ungefähr zutreffende
Antwort, wie „politischer Aktivist“ oder „Schwarzenführer“. Die Mehrheit von ihnen aber
beschrieb ihn als „Mann, der gegen die Apartheid kämpft“ oder „schwarzen Revolutionär aus
Südafrika“. Immerhin fast ein Drittel der Kandidatinnen kannte auch Benedita da Silva
(32%), Spike Lee (32%) und Desmond Tutu (27%). Der Bekanntheitsgrad Mandelas zeigt
deutlich, die Bedeutung dieser Person für die Menschen im Umfeld Olodums und der
brasilianischen Schwarzenbewegung.

Olodum bemüht sich um Einflussnahme in der Politik, ohne dabei parteipolitisch festgelegt zu
sein. Deutlich ist das Engagement zugunsten der linksorientierten Parteien, insbesondere der
Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) , die in der Person Luiz Alberto dos Santos
einen der schwarzen Militanz verpflichteten Kandidaten haben. Olodum betont die
Opposition zur mächtigen konservativen Partei PFL (Partido da Frente Liberal), die 1992 an

285
die Regierung des Bundesstaates kommt. Zwar macht die Gruppe als Aushängeschild des
Pelourinho Werbung für die restaurierte Altstadt und Bahia als Tourismusziel, Werbe-
Kampagnen für die konservative Partei machen sie jedoch nicht. Darin unterscheidet sich
Olodum von anderen Blocos Afros wie Ilê Aiyê oder Malê Debalê, die im Wahlkampf direkt
für die konservative Partei werben. Das Wohlverhalten wurde von der konservativen
Regierung mit der Finanzierung der jeweiligen Vereinssitze in Curuzu und an der Abaeté-
Lagune belohnt.

Nicht immer wird diese politische Linie von allen Mitgliedern und Direktoren gleich befolgt.
Ein Zwischenfall dokumentiert dies: Im September 1992 präsentierte sich die Banda Olodum
bei einer Wahlkampf-Veranstaltung des konservativen Kandidaten Paulo Maluf (PDS) in São
Paulo. Als der Präsident und andere Direktoren davon erfuhren, kam es zum Krach. Eine
Woche später gab Olodum die Gage von 10.000 US$ zurück und entschuldigte sich öffentlich
(Veja Bahia, 30.09.1992). In den Kreisen der Schwarzenbewegung hatte die Show Olodums
für den konservativen Kandidaten Maluf zu starken Protesten geführt. Die Glaubwürdigkeit
Olodums als politische Gruppe war durch die Show in Frage gestellt worden. Die Episode
zeigt aber auch noch etwas anderes: Es handelt sich bei den damals 27 Direktoren Olodums
nicht um eine homogene Gruppe, sondern um viele verschiedene Meinungen.

Durch ihr politisches Engagement wird Olodum mehr und mehr zu einem ernst zu nehmenden
Vertreter der Schwarzenbewegung. Mitglieder Olodums äußern sich auf
Diskussionsveranstaltungen oder nehmen zusammen mit anderen Vertretern der
Schwarzenbewegung an Anhörungen in den politischen Gremien teil, auf lokaler Ebene in der
Abgeordneten-Versammlung Salvadors, aber auch auf nationaler Ebene in Brasília. Als
Präsident Fernando Henrique Cardoso die Interministerielle Kommission für die Rechte von
Schwarzen in Brasília einrichtet, ist eines der Mitglieder ein Vertreter Olodums. Das ist nicht
nur ein Erfolg für Olodum, sondern auch für die kulturelle Bewegung aus Bahia, die im
nationalen Kontext lange mit dem Stigma des Nordostens behaftet war. Ein früherer Direktor
Olodums arbeitet in der Stiftung Palmares. Zusammen mit der UNEGRO (União de Negros
pela Igualdade) und der Vereinigung der Lehrer gehörte Olodum zur Gruppe, die eine
entscheidende Rolle bei der Verabschiedung der Aufnahme eines Kapitels über „O Negro“
117
in die Verfassung des Bundesstaates Bahia 1989 spielt.

117
In den fünf Artikeln des Kapitel XXIII wird der Rassismus unter Strafe gestellt, die diplomatischen
Beziehungen zu Ländern, in denen rassische Diskriminierung offiziell praktiziert wird, untersagt, die Aufnahme
der Rolle der Afro-Brasilianer in der Gesellschaft in die Unterrichtsinhalte des öffentlichen Bildungswesen,

286
Mit dem zunehmenden Erfolg Olodums wird die Presse- und Öffentlichkeits-Arbeit der
Gruppe immer wichtiger. In- und ausländische Journalisten gehen in der Casa de Olodum ein
und aus, in den verschiedensten Medien erscheinen Interviews und Berichte über Olodum,
über Ziele und Veranstaltungen der Gruppe. Zu den Höhepunkten in Brasilien zählt das
Interview mit João Jorge Rodrigues auf den gelben Seiten der Zeitschrift Veja 09.06.1993 und
das Gespräch mit Jô Soares in der abendlichen Talk-Show. Das fast eine gesamte Seite
einnehmende Interview mit João Jorge in der New York Times vom 12.04.1993 hängt bis
heute gerahmt im Büro des Präsidenten der Gruppe.

Inzwischen ist Olodum so bekannt, dass sich der Gruppe neue Möglichkeiten der Verbreitung
ihrer Arbeit bieten. Politische Vertreter werden in die Casa de Olodum eingeladen und
möchten die Arbeit der Gruppe kennen lernen. Botschafter verschiedener Länder werden hier
empfangen, vieler Länder Afrikas, aber auch Repräsentanten Kubas und Chinas. Auch
Führungspersönlichkeiten der Industrienationen der westlichen Welt wie Hillary Clinton 1994
oder sogar der Königsfamilien wie Königin Sofia von Spanien besuchen die Grupo Cultural
Olodum.
Kaum ein Seminar zu Fragen der Rassenbeziehungen, findet ohne einen Repräsentanten
Olodums statt. Auch auf internationalem Niveau wird die Kulturarbeit ausgeweitet. João
Jorge, der zusammen mit anderen afro-brasilianischen Persönlichkeiten auf Einladung der
Ford-Foundation118 die USA besucht, wird 1991 Ehrenbürger Atlantas, das von einem
schwarzen Bürgermeister regiert wird. João Jorge hält Vorträge an amerikanischen
Universitäten oder im Berliner Haus der Kulturen. Er nimmt 1993 am Seminar „Brasil,
Culture and Race“ der Universität von Florida in Gainsville teil. Auch 1994 wird er wieder in
die USA eingeladen, um Kontakte mit Universitäten, Menschenrechtsgruppen und
Organisationen der African-Americans zu machen.
In den USA treffen die Ereignisse in Bahia auf großes Interesse. Dort hat die Affirmative
Action eine schwarze Mittelschicht hervorgebracht, die auch auf der Suche nach ihren
Wurzeln und kulturellen Neuigkeiten ist.

sowie die Aufnahme von Afro-Brasilianern in die staatliche Werbung verankert und der 20. November als Dia
da Consciência Negra festgelegt.
118
Die Ford-Foundation fördert bis heute Personen und Institute, die sich mit den Rassenbeziehungen in
Brasilien beschäftigen.

287
Abschließend soll ein Ereignis geschildert werden, das von ganz besonderer Bedeutung für
die Beziehungen zwischen den schwarzen Kulturen Bahias und der USA ist.

15. 2 „They don´t care about us“ - Video Clip mit Michael Jackson

Einer der Höhepunkte der Geschichte Olodums ist das Zusammentreffen mit Michael Jackson
und Spike Lee auf dem Pelourinho. Michael Jackson hatte den schwarzen Filmemacher Spike
Lee zur Produktion seines neuesten Video-Clips engagiert. Am Pelourinho war Spike Lee
durch seine Filme, insbesondere Malcom X, zu einem Idol der jungen Afro-Brasilianer
geworden. Der Vorschlag am Pelourinho zu filmen kam von Spike Lee, der über Paul Simon
bereits sechs Jahre zuvor Kontakt zu Olodum hatte. „Es war schwierig für uns Spike Lee
kennen zu lernen. Wir hatten immer nur von ihm gehört. João Jorge war ganz aufgeregt,
erfreut, als er erzählte, dass er mit Spike Lee ein Treffen ausgemacht habe. Das war super“
(Neguinho do Samba, 1994).

Aufnahmen für das Musikvideo „They don’t care about us“ werden auf dem Pelourinho in
Salvador und der Favela Dona Marta in Rio de Janeiro gemacht - zwei symbolische Orte
schwarzen Selbstbewusstseins in Brasilien. Ein bedeutsamer Moment für die brasilianische
Schwarzenbewegung: „Für meine Generation in Salvador, die gelernt hatte in den Jackson
Five eine Referenz zu sehen, schwarze Jungs mit Black-Power-Haarschnitt und feinen
Gesten, ... wird es eine Überraschung sein ihn jetzt in der Hauptstadt der negritude brasileira
zu treffen, embranquecido und jedes Mal mehr angebetet. Und wie durch eine Ironie des
Schicksals kommt Michael Jackson begleitet von Spike Lee, dem erfolgreichsten und
polemischsten schwarzen Filmdirektor des amerikanischen Kinos“ sagt João Jorge im
Interview (JJ in FdSP, 9.2.1996).

Salvador erliegt zwei Tage lang dem Michael Jackson Fieber. Die Casa de Olodum wird zum
Hauptquartier des Filmteams. Hier gibt Spike Lee eine Pressekonferenz zu der mit Senatorin
Benedita da Silva und dem Abgeordneten Antônio Pitanga aus Rio de Janeiro auch bekannte
Vertreter der brasilianischen Schwarzenbewegung angereist sind. In Rio waren die
Dreharbeiten von der Stadtverwaltung zunächst mit dem Argument verboten worden, dass das

288
Szenarium einer brasilianischen Favela als Hintergrund einer Musik, in der es um
Polizeigewalt und Unterdrückten ginge, die Rechte der Favelabewohner verletze.119
Die Dreharbeiten auf dem Pelourinho mit Michael Jackson und 200 Trommlern Olodums
verlaufen unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen und mit einem großen Polizeiaufgebot.
Noch wochenlang werden in der Tagespresse die Dreharbeiten interpretiert. Selbst die Folha
de São Paulo schickt eine Reporterin und lässt die Einzigartigkeit des Moments schildern – in
der auch rassistische Untertöne nicht fehlen: „Salvador erlebt eine festa negra. Die offizielle
Begrüßung ist der amerikanische ‘brother’ oder der bahianische ‘irmão’. Das Team von Lee -
erdrückend schwarz und männlich - trägt eine ostentative Präferenz für Mulattinnen und
negras zur Schau. Die Weißen bleiben im zweiten Glied, aber das ist nichts Neues in Bahia,
wo es negros gibt wie Kokospalmen, wie Palmöl, natürliche Gaben der Erde“(FdSP,
10.02.1996).

Die delikate Frage nach der schwarzen Identität Michael Jacksons wird von Olodum ebenso
wenig thematisiert, wie seine vermeintlich päderastischen Tendenzen. Es überwiegt der Glanz
des Weltstars. Inzwischen ist der Video-Clip fertig. Das Kuriosum: Es gibt zwei Versionen -
beide gemacht von Spike Lee. In der einen Version Bilder aus US-Gefängnissen, Gewalt,
Referenz an Führer der Schwarzenbewegung, ein gestylter Michael. In der ‘brasilianischen’
Version die Trommler von Olodum, Sobrados, ein verschwitzter Michael Jackson, der die
Polizisten als Kulisse nutzt, begeisterte Fans auf Faveladächern. Der eine Clip ist dramatisch,
in hartem schwarz-weiß-blauem Licht, aufwendig zusammengeschnitten aus einer Vielzahl
verschiedensten Filmmaterials, der andere ist natürlich, leicht, tänzerisch, im hellen warmen
Sonnenlicht gedreht und technisch relativ einfach, mit Olodum im Vordergrund.

Einige Tage nach den Aufnahme wurde im Fantástico, dem wichtigsten Reportageplatz des
mächtigen Fernsehsenders Globo die brasilianische Version des Clips gezeigt, angereichert
mit Filmaufnahmen aus Salvador und Rio de Janeiro. Der Tanz Biras, des Trommlers aus der
Banda Show und das Interview mit ihm, in dem er sagt „Ich danke Gott, ich danke Olodum
für diesen Moment in meinem Leben.....“Dazu wird ein Interview mit Spike Lee ausgestrahlt.
Wenige Tage später kommt Olodum in der Video Show wieder in die Primetime des
Fernsehsenders Globo. In dem Beitrag wird nicht nur die Banda, sondern auch die Boutique,
die Fábrica und die Escola Criativa gezeigt. Kurz darauf zeigt Xuxa die Banda Mirim den
kleinen Brasilianern.
119
Auch der farbige Sport-Minister, Pelé, fürchtet negative Auswirkungen des Clips bei der Kandidatur Rio de
Janeiros für die Ausrichtung der olympischen Spiele im Jahr 2004.

289
Für Olodum haben sich die Dreharbeiten mit Michael Jackson gelohnt.
a) Finanziell: Olodum hat nach offiziellen Angaben rund 40.000 US-Dollar, sowie sechs
Computer für ECO bekommen. Die Trommler erhielten für die Aufnahmen 175 Reais.
Nach der Ausstrahlung der brasilianischen Variante des Videoclips im Fantástico explodieren
die Verkaufszahlen der T-Shirts der Fábrica de Olodum, die Michael Jackson bei den
Dreharbeiten in Salvador und Rio getragen hat (A Tarde, 31.3.1996).120 Innerhalb kürzester
Zeit sind die drei verschiedenen Modelle und die Weste die Michael Jackson trug,
ausverkauft. Auch Spike Lee hatte 100 T-Shirts gekauft. Die Fábrica de Carnaval konnten
keine Hemden nachliefern, so gingen die Touristen gingen leer aus (Fagundes, 1997, S.116).
b) Popularitätssteigernd: Olodum, nach den mageren musikalischen Erfolgen der letzten zwei
Platten fast gänzlich aus den Medien verschwunden, wurde in den besten Sendezeiten und den
wichtigsten Programmen (Fantástico) gesehen. Dazu João Jorge: „Es war nötig, dass Michael
Jackson seine Anwesenheit während der Aufnahmen bestätig, damit die Leute unsere Arbeit
kennen lernen“(FdSP, 08.02.1996).
c) Der ideelle Wert: Der Weltstar Michael Jackson tanzt mit den Trommlern Olodums auf
dem Pelourinho. Individuell ein bewegendes Erlebnis121, aber auch für die schwarze
Bewegung ein Symbol: „Die Solidarität und Bruderschaft der afrikanisch-amerikanischen
Gemeinschaft hatte ebenfalls ihren feierlichen Moment. Der Ort, wo der Pelourinho war, der
Schandpfahl, wurde eingenommen von den Trommeln Olodums... Er (Michael) tanzte und
inszenierte und begleitete den Trommler und seine Trommel preisend im Herzen des Pelo“
kommentiert der Kenner afro-brasilianischer Kultur Marco Aurélio Luz (A Tarde, 16.3.1996).

„Die schwarze internationale Gemeinschaft ist nach Olodum, Spike Lee und Michael Jackson
nicht mehr dieselbe. Olodum, Spike Lee und Michael Jackson haben die Kraft der Schwarzen
Panther, Malcolm X’, Martin Luther Kings, des Movimento Negro Unificado und der
Sektoren, die uns in unserem Kampf gegen die rassische Diskriminierung in den Vereinigten
Staaten und Brasilien vorausgegangen sind, geerbt“ kommentiert der ehemalige Präsident
Olodums in der Folha (FdSP, 09.02.1996). Dieses Zitat ( und der Ort, wo es steht)
konzentriert wie bereits erwähnt die wichtigsten Elemente für den Aufstieg Olodums vom
lokalen Bloco Afro zur international bekannten Musikgruppe und Repräsentanten der
Schwarzenbewegung: die Identifizierung mit der internationalen Schwarzenbewegung, der

120
Werbewirksam spendet Olodum 800 Hemden, wie sie Michael getragen hat, einer Creche (A Tarde, 7.4.96).
121
Bira, der im Mittelpunkt stehende Trommler, dankt im Beitrag des Fantástico „Gott und
Olodum“ für diesen Moment .
290
Bezug zu den schwarzen, importierten Idolen, die Gleichsetzung mit ihnen und die
Selbstüberschätzung. Der Name Olodum wird nicht nur in einem Atemzug mit dem Namen
des Megastars Michael Jacksons genannt, sondern diesem vorangestellt. Und: Das Zitat
erscheint in der renommiertesten Tageszeitung Brasiliens. Selbstüberschätzung oder nicht,
João Jorge bringt zum Ausdruck, welche Bedeutung die Aufnahme für Olodum hatte. Da ist
zunächst die Symbolik des Aktes: Michael Jackson trägt die Farben Olodums. Da ist aber
auch das zunehmende Prestige der Gruppe in der schwarzen Welt-Gemeinde. Dabei ist diese
„Comunidade negra mundial“ im Sinne Andersons zu verstehen „als eine imaginäre politische
Gemeinschaft, deren Mitglieder sich ebenso wenig kennen wie in der kleinsten Nation die
Menschen die Mehrheit ihrer Mitbürger kennen, aber in deren Köpfen jedes einzelnen es das
Bild dieser Gemeinschaft gibt“ (Anderson, 1983, S.23). Die Grupo Cultural Olodum hatte
einen Platz in dieser schwarzen Gemeinschaft erobert. Damit wurden auf einem
internationalen Niveau auch die Rassenbeziehungen in Brasilien sichtbar.

291
16. Olodum – ein schwarzes Kulturunternehmen

Mit dem musikalischen Durchbruch entwickelte sich die Grupo Cultural Olodum zunehmend
zu einer „holding cultural“ (Dantas 1994), einem diversifiziertem Kulturunternehmen. Mit der
Diversifizierung des Angebots unter dem eigenen Dach - zunächst mit der Boutique und der
Karnevalsfabrik - geht der Karnevalsverein neue Wege. Der Samba-Reggae und der Karneval
werden Produkte. Es wird versucht das Etikett Olodum zu vermarkten - egal, ob es sich um T-
Shirts, Shampoo, Schlüsselanhänger oder Aschenbecher handelt. Zusätzlich zu den
Einnahmen aus dem Musik- und Karnevalsgeschäft sollen dadurch die sozialen und
politischen Projekte Olodums finanziert werden, aber auch Arbeitsplätze und Einkommen für
die im Pelourinho-Viertel ansässige Bevölkerung geschaffen werden. Die sozialpolitische
Komponente Olodums spielt auch bei der unternehmerischen Tätigkeit eine wichtige Rolle.
Die wichtigsten Einrichtungen sind die Boutique Olodum 1991 und die Eröffnung der
Fábrica de Carneval 1994, aber auch der Vertrag mit der Bradesco-Bank, die 1994 die
Kreditkarte Olodum lancieren, und das Franchising.

Das Kapitel 16 beschäftigt sich mit Olodum als „schwarzem“ Unternehmen. Einfallsreichtum
und unternehmerisches Geschick stehen in einem Spannungsverhältnis zum schnellen
Wachsen der Aktivitäten und der Intransparenz der Entscheidungsstrukturen. Die
Veränderungen durch die Restaurierung des Viertels und die Dynamik des Marktes
beeinträchtigen die Arbeit Olodums. Dennoch: Olodum ist tatsächlich eines der wenigen
schwarzen Unternehmen Brasiliens.

16.1. Das Kultur-Unternehmen

Olodum ist einer der ersten Blocos Afros, der versucht sich über den Karneval hinaus als
Marktteilnehmer zu agieren. Sie versuchen damit den Kreislauf zu durchbrechen, der bei den
Blocos zwar die Meriten für die kulturelle Arbeit sieht, deren finanzielle Beteiligung an der
Kulturproduktion jedoch gering bleibt. „Die Musik und die Tänze werden von den Menschen
der Blocos Afros gemacht, finanziell bleibt uns jedoch wenig davon. Wer mit den Rhythmen
verdient, sind die Musikgruppen der Trios, die Tanzlehrer der Fitness-Studios der
Strandviertel und einige wenige andere“ (Vovô, Interview 1992).

292
16.1.1 Die Boutique Olodum

„Die Idee der Boutique, die kam von João Jorge, eine Idee, die er von Malcolm X und
anderen schwarzen amerikanischen Organisationen übernommen hatte, die ...ihre Arbeit
sozialisierten, indem sie T-Shirts, Gegenstände nutzten und die Kultur über die Marke
verbreiteten“ (Peter Leão, 19.12.1995 zitiert nach Nunes, 1997 S. 101).
Am Pelourinho-Platz, dort wo früher die Gruppe ihren Sitz hatte, war seit 1991 die Boutique
Olodum untergebracht. Sie lag im ersten Stock eines historischen Sobrado-Hauses.122 Von
den Balkonen hatte man einen privilegierten Blick über den ganzen Pelourinho-Platz. In der
Boutique wurden die verschiedensten Artikel der Marke Olodum verkauft: CDs , aber auch T-
Shirts, Baseball-Mützen, Shorts, Schlüsselanhänger - alles mit dem Logo Olodums. Dazu gab
es noch eine kleine Auswahl an Büchern und Postern zu Themen afro-brasilianischer Kultur.
Die Boutique wurde hauptsächlich von Touristen besucht, die ein Andenken aus dem Urlaub
in Bahia mit nach Hause nehmen wollten. Die beste Werbung für die Produkte Olodum
machte die Show-Gruppe. Jedes Mitglied der Banda Show trägt bei den Auftritten in der
Afrikan Bar und auf den Tourneen Kleider in den Farben Olodums. Früher war die Kleidung
der Trommler stärker vereinheitlicht, heute ist ihnen das Styling freigestellt. Einige Trommler
lassen sich extra Hemden und Hosen für die Shows entwerfen. Die Touristen sehen diese bei
den Auftritten und kommen in die Boutique, um sie zu kaufen. Besondere Wirkung hatte, wie
bereits erwähnt, der Auftritt Michael Jacksons in drei verschiedenen Olodum T-Shirts und
Weste, die innerhalb weniger Tage ausverkauft waren.
Anfang der 90er Jahre war die Boutique der einzige Ort in Salvador, wo Olodum-Artikel zu
kaufen waren. „Aus der Sicht Olodums als Unternehmen ist dies der Raum, der am besten die
Beziehung zwischen schwarzer Bewegung und Konsum darstellt. Es ist nicht nur ein Ort, an
dem eine Marke kommerzialisiert wird, sondern wo das ethnische, die schwarze Kultur, eine
Identität verbreitet wird“ (Nunes, 1997).

Der britische Soziologe Mike Featherstone, der sich mit der Logik des Konsums in den
modernen Gesellschaften beschäftigt, lenkt die Aufmerksamkeit auf das Angebot
symbolischer Güter in den modernen Gesellschaften, die sich auch auf die Beziehungen
zwischen Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft auswirken. Die symbolischen Assoziationen,
die mit dem Konsum von Gütern verbunden sind, drücken auch unterschiedliche Lebensstile
aus (Bourdieu, 1995 S.35). Die Verbreitung und Kommerzialisierung der Marke Olodum ist
122
Heute funktioniert die Boutique im Erdgeschoss der Fábrica de Carnaval. Vitrinen gibt es auch im
Erdgeschoss der Casa de Olodum.

293
ein gutes Beispiel für ein „symbolisches Gut“. Die Käufer eines Olodum-Hemdes erwerben
nicht nur ein T-Shirt, sie demonstrieren damit auch eine gewisse Haltung, einen Lebensstil.
Da es sich bei vielen der Käufer um Touristen handelt, wird ihnen das Olodum-T-Shirt bei der
Rückkehr nach Rio oder São Paulo außerdem einen gewissen Status einbringen und u.U.
Sehnsüchte bei anderen nach dem exotischen Ort hervorrufen.

Mit dem Erfolg Olodums wurden die Olodum-Artikel (vor allem T-Shirts) nicht nur in der
Boutique, sondern auch an anderen Stellen der Stadt verkauft, wie zum Beispiel im Mercado
Modelo, einigen Hotels oder in der Hochsaison an Ständen und in den Shopping Centers.
Darüber hinaus vergrößerte sich das Sortiment. Die Konsumenten erkannten die Produkte
Olodums vor allem an den Farben der Gruppe und an bestimmten Symbolen wie dem Peace-
Zeichen. Nicht alles, was mit der Marke Olodum zum Angebot gehörte, wurde jedoch von der
Gruppe produziert. Einige Produkte wurden von lokalen Fabrikanten hergestellt, wie das
Parfüm Olodum oder der Modeschmuck, andere Produkte kamen aus anderen Regionen
Brasiliens. Die Mützen beispielsweise kamen aus dem südbrasilianischen Bundesstaat Paraná,
die Keramik-Andenken (Tassen, Aschenbecher etc.) genau wie die Schlüsselanhänger aus São
Paulo. (Nunes 1997).
Der Boom der Marke Olodum geht mit zwei Entwicklungen einher: a) Im Bestreben das
Angebot zu vergrößern, tritt Olodum zunehmend in den Markt ein, geht
Geschäftsbeziehungen mit anderen Unternehmen ein, die eine Reihe Verpflichtungen und
Abhängigkeiten mit sich bringen. Kapital aus dem Geschäft mit der Marke Olodum fließt aus
Bahia ab in andere Regionen Brasiliens. b) Mittlerweile werden die meisten Olodum-
Produkte gefälscht und billiger in den unzähligen Geschäften des Pelourinho-Viertels
angeboten. Hier wurde die Gruppe von der Dynamik des Marktes überholt.

16.1.2 Die Fábrica de Carnaval Olodum

Durch den Erfolg mit den Produkten der Marke Olodum nahm die langehegte Idee, eine
eigene Produktionsstätte dieser Artikel zu haben, konkretere Formen an. Eine Fabrik sollte
eingerichtet werden, in der die Anwohner des Viertels beschäftigt werden, und deren
Einnahmen auch in die sozialen Projekte Olodums fließen sollten. Die Popularität der Gruppe
stärkte ihre Position gegenüber der Landesregierung, unter deren Federführung die
Restaurierung des Pelourinho-Viertel stand. Olodum wurde ein Gebäude im historischen

294
Zentrum überlassen, in dem am 25.04.1994 die Fábrica de Carnaval Olodum eingeweiht
wurde. Das Gebäude liegt in derselben Strasse wie die Escola Criativa, fünf Minuten zu Fuß
von der Casa de Olodum entfernt. In dem dreistöckigen Altbau123 sollte die gesamte textile
Produktion der Kulturgruppe hergestellt werden, vor allem die T-Shirts und die
Karnevalskostüme. „Der Raum der Fábrica de Carnaval ist die größte Bestätigung des
Olodum-Unternehmens, des modernen Olodum; es ist der Beweis, dass sich in der
Kulturgruppe Olodum, das Fest und die Musikalität mit der produktiven Arbeit verbinden.“
(Nunes, 1997 S.53).

Zum Zeitpunkt meiner Forschungen war die Fábrica erst mit wenigen Beschäftigten am
Laufen. Es wurde vieles ausprobiert, Kurse gemacht, sowohl von den Angestellten, sowie von
denen, die im Direktorium für die Verwaltung verantwortlich waren.
Es herrschte eine gewisse Aufbruchstimmung, aber auch eine Verkennung der realen
Bedingungen. Die Dimensionen des Fabrik-Vorhabens, angestrebt wurde die Beschäftigung
von 300 Menschen aus dem Pelourinho/Maciel, entsprachen nicht den realen
organisatorischen und technischen Kapazitäten der Kulturgruppe. Weder waren die
Direktoren, die die Leitung übernahmen darauf vorbereitet, noch wurde eine realistische
Einschätzung der betriebswirtschaftlichen Möglichkeiten vorgenommen.
Hinzu kam, dass sich die Ausgangssituation verändert hatte. Als die Fábrica ihre Aktivitäten
begann, hatte sich die gesamte Struktur des Pelourinho-Viertels durch die Restaurierung
bereits komplett verändert. „Die Idee dieser Fabrik war es, den Bewohnern des
Maciel/Pelourinho, als es die noch gab, eine Arbeit anzubieten. Aber jetzt sind nur noch die
Hälfte, die hier arbeiten, Bewohner des Viertels oder der Nachbarviertel Carmo, Santo
Antônio, Saúde....“ (Euzébio Cardoso, 01.03.1996 zitiert nach Nunes, 1997 S.124). Das schuf
grundsätzlich andere Bedingungen für die Arbeit, die sich auch in den Beziehungen zwischen
Angestellten und Organisatoren niederschlug, was zu einem späteren Zeitpunkt gezeigt
werden soll.

123
Im ersten Erdgeschoss wurde der Zuschnitt gemacht, im zweiten Stockwerk standen die
Nähmaschinen und lag die Verwaltung, im dritten Stock wurde der Siebdruck gemacht.

295
16.1.3 Die Marke Olodum – unverkennbar und leicht identifizierbar

Die bereits erwähnte symbolische Bedeutung des Namens Olodums bleibt auch den
Marketingstrategen anderer Produkte nicht verborgen. Mit der zunehmenden Popularität
wollten immer mehr Anbieter ihre Produkte oder Dienstleistungen in Verbindung mit dem
Namen Olodum anbieten. Mitte der 90er Jahre gehört Olodum untrennbar zum Bild Bahias:
Fast jeder Brasilianer im Südosten des Landes kennt die Farben des Pan-Afrikanismus und
der Rastafari-Bewegung als die Farben Olodums oder identifiziert den typischen Olodum-
Trommelwirbel. Fotos von Mitgliedern Olodums sind auf den Reiseprospekten, den Foldern
der Tourismusbehörde, den verschiedensten Werbeträger zu sehen. Kein touristischer Artikel,
kein Fernsehbeitrag, der in einem Bericht über Bahia, Olodum unerwähnt lässt. Eine der
ersten internationalen Firmen, die Aufnahmen mit den Trommlern auf dem Pelourinho
machte, war die Modemarke Sisley 1993. Trommler und Tänzer Olodums werben für
verschiedene nationale Anbieter von Dienstleistungen und Produkten wie Banken und
Krankenhäusern. Eine der größten Werbe-Kampagnen machte der skandinavische Handy-
Hersteller Nokia, der die Trommler vom Pelourinho nicht nur in Zeitungen und Zeitschriften
und auf Outdoors plazierte, sondern auch ins Fernsehen brachte. Nokia wollte zu dem
Zeitpunkt über die Verbindung mit Olodum in den brasilianischen Mobil-Telefon-Markt
kommen. Nicht nur visuell konnte mit der Gruppe geworben werden, sondern auch akustisch:
Schon der typische Trommelwirbel reichte aus, die Assoziation mit den Trommlern vom
Pelourinho heraufzubeschwören. Die Einnahmen aus den Werbeaufnahmen kommen je nach
Vereinbarung entweder der Gruppe oder den einzelnen Mitgliedern zu. In der Handhabung
herrscht eine gewisse Willkürlichkeit, die auch zur Verärgerung derer führt, die weniger gut
abschneiden als andere. Die Entscheidungen trifft das Direktorium, die dies auch als
individuelle Belohnung bzw. bewusste Unterstützung einzelner Trommler sieht.

1994 gelingt Olodum der Abschluss einer bis dahin einmaligen Aktion. Die größte private
Bank Brasiliens, die Bradesco-Bank, gibt personalisierte Kreditkarten heraus mit dem Logo
und den Farben Olodums. Zwei Ausführungen gibt es von der Karte, die Bradesco zusammen
mit dem Kreditkartenunternehmen VISA herausgibt, eine Olodum Bradesco VISA Karte für
den nationalen Einsatz und eine Olodum WORLD CARD, die weltweit gültig ist. Die
Einnahmen aus den Umsätzen mit der personalisierten Kreditkarte sollen der Escola Criativa
zugute kommen. Stolz wird im Jornal Olodum das neue Projekt vorgestellt und ausführlich
erläutert, wie eine Kreditkarte funktioniert (Jornal Olodum, Ano II, Nr. 5, 1994). Die

296
Verbindung zwischen Wirtschaft und Kultur scheint zu funktionieren. Die Bradesco-Olodum-
Karte hat nicht nur finanzielle Bedeutung, sondern stellt auf einer symbolischen Ebene die
Verbindung zweier Welten her: Die der marginalisierten Afro-Brasilianer des Pelourinho-
Viertels, von denen die meisten vermutlich kein Konto, geschweige denn eine Kreditkarte
besitzen, mit der Welt des modernen, überwiegend weißen Brasiliens. Banken, daran sei noch
einmal erinnert, sind einer der Bereiche, in denen Afro-Brasilianer besonders häufig
rassischer Diskriminierung ausgesetzt sind (s. dazu Kapitel 8). Die Marke Olodum vermag es
auch gegensätzliche soziale Kräfte zusammen zu bringen.

Die Kommerzialisierung der Marke Olodum hatte ihren vorläufigen Höhepunkt im


Franchising „Planeta Olodum“ erreicht, bei dem in einem ersten Schritt Lizenzen für 40
Boutiquen in ganz Brasilien und zehn im Mercosur, Europa und den USA vergeben werden
sollten. 124 Olodum nahm 1995 als Aussteller auf der alljährlichen Bahia-Messe teil, einer
Verkaufsmesse, bei der bahianische Unternehmen sich präsentieren. Zur Vergabe von
Franchising-Lizenzen ist es nicht gekommen. Der Versuch zeigte jedoch zweierlei: a) ein
enormes Selbstbewusstsein, wie es bisher von schwarzen Kulturgruppen noch nicht gezeigt
wurde; b) die starken unternehmerischen Motive, die sich auch in der vorerst letzten Aktion
zeigen.
Im Jahr 2000 stellt die Spielzeugfirma Estrela die erste Susi-Puppe (eine Art brasilianische
Barbie-Puppe) mit dem Styling Olodums her. Die Puppe hat eine zimtfarbene und glatte
dunkle Haare. Sie trägt ein Röckchen in den Farben des Pan-Africanismo und ein Top in
denselben Farben mit dem Peace-Zeichen Olodums. Zur Ausstattung gehören auch die
„Fitinhas do Senhor do Bonfim“, farbige Bänder, die von Bahianern und Touristen, um die
Handgelenke geschlungen werden und Glück bringen sollen (für jeden der drei Knoten darf
man sich etwas wünschen). Die Firma Estrela, die seit 1997 die Susi-Puppe auf dem
brasilianischen Markt lanciert hatte, setzte damit ihre Strategie fort, Puppen in Bezug zu
brasilianischen Themen zu lancieren. Olodum bekommt 5% des Verkaufspreises für die
Nutzung des Olodum-Stylings. Zunächst wurde ein Ein-Jahres-Vertrag abgeschlossen. „Die
Marke mit Produkten von Dritten in Verbindung zu bringen, begründet sich aus der
Notwendigkeit, sich selbst zu unterhalten und erlaubt uns, unsere sozialen Programme
fortzusetzen, wie die Escola Criativa, das Forschungszentrum, die Kurse, die Seminare und
die sonntäglichen Proben auf dem Pelourinho“ sagt João Jorge (A Tarde, 27.01.2000).

124
Beim Franchising erwirbt der Franchising-Nehmer das Recht auf Benutzung eines Firmenamens, sowie
Herstellung und Vertrieb eines Markenartikels und/oder Dienstleistungen.

297
Die Grupo Cultural Olodum versuchte sich zunehmend unternehmerisch zu organisieren. Es
ist keine Forderung, die von außen an die Gruppe herangetragen wurde, sondern entsprang
ihren eigenen Wünschen. Sie hatten den Anspruch modern zu sein, flexibel, agil. Olodum
verfügte nicht nur über kreative Ideen im künstlerischen Bereich, sondern auch
Einfallsreichtum in unternehmerischer Hinsicht. Das selbstbewusste Auftreten, mit dem sie
soziale Grenzen überwanden, ist als ein großer Erfolg zu werten. Der Erfolg des
unternehmerischen Handelns wurde, abgesehen von den äußeren Faktoren, allerdings
eingeschränkt durch Fehleinschätzungen und mangelnde Transparenz der Entscheidungen.

16.2 Ein „schwarzes“ Unternehmen

Einer der entscheidenden Faktoren für die mangelnde Transparenz liegt in der Größe und
Struktur Olodums. Die Grupo Cultural Olodum ist auf dem Höhepunkt des Erfolgs 1994 ein
äußerst komplexes und vielschichtiges Unternehmen. Die Zahl der aktiv Beteiligten an der
Arbeit Olodums läßt sich nur schätzen. Nach eigenen Angaben gehörten 1993 zur Gruppe 475
Mitglieder: 200 Kinder in der Banda Mirim, 150 Jugendliche und Erwachsene aus der Banda
Adulto, neun Sänger, 55 Teilnehmer der Schauspielgruppe (Bando de Teatro), sowie 35
Teilnehmer in der Tanzgruppe (Cia. De Dança), 26 Personen in der Diretoria und 09
Angestellte (Olodum 1993)125. Das stellte hohe Anforderungen an die Organisation.

16.2.1 Die Direktoren-Runde - Organisations-Struktur

Olodum versuchte bei der Organisation ihrer Gruppe neue Wege zu gehen, als die bei anderen
Blocos Afros üblichen. Statt familiär geprägter Hierarchie- und Entscheidungsstrukturen,
wollten sie eine „demokratischere“ Organisationsform. So entwickelten sie eine eigene
Organisationsstruktur mit zwei Direktorats-Ebenen, an deren Spitze ein(e) Präsident(in) stand.
Der Präsident wurde alle zwei Jahre von den Direktoren der Gruppe gewählt. Er konnte nur
für zwei Amtsperioden hintereinander gewählt werden. Der Präsident kann nur aus dem Kreis
der sieben „Exekutiv-Direktoren“126 kommen, zu denen die Gründungsmitglieder Olodums
gehören. Sie hatten 1983 das Statut für die Gruppe entwickelt und unterzeichnet. Die

125
Nicht aufgeführt sind die 18 Mitarbeiter der Escola Criativa, die zu dem Zeitpunkt auf Honorarbasis bezahlt
werden.
126
Diese Bezeichnungen wurden von der Gruppe verwendet.

298
Exekutiv-Direktoren waren das Gremium, das die Entscheidungen Olodums traf, wobei der
Präsident die größte Autorität hatte. Die 16 „Administrativ-Direktoren“, waren für bestimmte
Aufgabenbereiche zuständig und wurden von den Exekutiv-Direktoren ernannt.

Exekutiv-Direktoren (7):
João Jorge, Petú, Lazinho, Cristina, Nêgo, Tom und Euzébio

Administrativ-Direktoren (16):
3 Kultur-Direktoren: Zulú, Marcelo Gentil, Tita Lopes
2 Direktoren für Soziales: Billy, Wilson
2 Direktoren für Patrimônio: Joel, Paraná
2 Künstlerische Direktoren: Alberto Pita, Peter Leão
Bildungs-Direktorin: Dora Dias
Musik-Direktor: Neguinho de Samba
Finanz-Direktorin: Rita Castro
Direktor für Infrastruktur: Renato
Ton-Direktor: Ratinho
Foto- und Film Direktor: Jorge Fernandes
Finanz-Direktor: Marinelson (Brasília)
(05.05.1994)

Nie zuvor gab es so viele Direktoren bei Olodum wie 1994. Einerseits wurden mit dem Erfolg
mehr Menschen für die Organisation der Kulturgruppe gebraucht, andererseits wurde eine
Tätigkeit bei der Gruppe immer attraktiver – finanziell und ideell. Zum Direktor wurde
ernannt, wer sich um die Gruppe verdient gemacht hatte. Zu dieser Zeit brachte ein
Direktorenposten gesellschaftliches Ansehen und öffnete auch im Alltag viele Türen, zum
Beispiel bei der Eröffnung von Bankkonten, beim Ratenkauf eines Autos oder bei alltäglichen
Streitigkeiten. Mit dem Namen Olodum im Rücken war vieles einfacher. 1994 wurde dann
ein Ernennungsstopp für Direktoren erlassen. In den folgenden Jahren ging die Zahl dann
wieder zurück.

Jeweils zum 25. des Monats legten die Direktoren einen Bericht über ihre Arbeit vor
(relatório). Am Ende jeden Monats wurde gemeinsam eine Einschätzung der Leistungen der
einzelnen Mitarbeiter vorgenommen (avaliação). Die sieben Exekutiv-Direktoren berieten

299
und entschieden über die Leistungen und Zahlungen an die 16 Administrativ-Direktoren. Die
sieben Exekutiv-Direktoren entschieden zusammen über die eigenen Leistungen und
Zahlungen. Die sieben Exekutiv-Direktoren berieten und entschieden über die Leistungen und
Zahlungen an den Präsidenten.

Die Organisationsstruktur, wie sie sich 1994 präsentierte, kennzeichnet sich durch die
Dominanz der „Exekutiv-Direktoren“, der Gründungsmitglieder Olodums. Alle kommen aus
dem Pelourinho-Viertel, nur zwei von ihnen verfügen über einen weiterführenden
Schulabschluss. Die Exekutiv-Direktoren sichern sich den größten Einfluss in der Gruppe, nur
aus ihrem Kreis kann der Präsident kommen. Das zeigt sich daran, dass sie nicht nur das
Recht zur Ernennung der „Administrativ-Direktoren“ haben, sondern auch über deren
Zahlungen entscheiden. Die Machtposition des Präsidenten ist durch die „Exekutiv-
Direktoren“ begrenzt, die auch über seine Zahlungen entscheiden. Mit einem anderen Mantel
reproduzieren sie so, was sie eigentlich vermeiden wollten: Hierarchische Strukturen. Auch
die vermeintlich leistungsorientierte Bezahlung pro Monat erscheint stark willkürlich und
abhängig von einer Reihe subjektiver Faktoren.
Über die Bezahlung des Direktoriums kursierten eine Menge Gerüchte, konkrete
Informationen konnte ich dazu nie bekommen. Sichtbar wurden die finanziell besseren
Verhältnisse der Direktoren vor allem an einem Konsumartikel, dem Auto, dem vielleicht
wichtigsten Statussymbol Brasiliens. Mitte der 90er Jahre parkten einige von ihnen die
neuesten Modelle typischer Mittelklassewagen auf dem Terreiro de Jesus, da wo sie teilweise
als Jugendliche selbst Autos gewaschen hatten. Hier interessiert weder, ob dies politisch
korrektes Verhalten war, oder ob alle Autos tatsächlich 100% abbezahlt wurden – die Autos
zeigen deutlich den sozialen Aufstieg und erweckten den Eindruck, dass mit Olodum viel
Geld zu verdienen ist. Sie provozierten Neid und Missgunst und stellten die Glaubwürdigkeit
der Gruppe in Frage. Die Intransparenz von Entscheidungen und Finanzen wirken bei einer
Organisation mit sozialer und politischer Zielsetzung noch schwerwiegender als bei einem
normalen Unternehmen.

16.2.2 Die Dimensionen des Kulturunternehmens

Vom Erfolg Olodums profitierte allerdings nicht nur ein kleiner Kreis von Direktoren,
sondern mehrere Hundert Personen im direkten Umkreis. Wichtigstes Produkt der Kultur-

300
Holding ist die Musik, insbesondere die Organisation der Auftritte der Banda Show. Die
Musikgruppen Olodums wurden von einem Team um Rita de Castro und Cristina Rodrigues
organisiert, die Büroräume in der Nähe des Pelourinho in der Rua Chile angemietet hatten.127
Hier wurden die Auftritte aller Musiker, die sich auf die drei Gruppen (Banda Show, Banda
Juvenil, Banda Mirim) verteilen, gemanagt. Olodum verfügte über eine Struktur, die es
ermöglichte, in verschiedenen Teilen der Welt gleichzeitig zu sein. Zur Banda Show gehören
jeweils zwölf Personen und zwei bis drei Sänger. Musiker und Sänger werden pro Auftritt
honoriert. Die Honorare lagen zwischen 50 und 150 US$ pro Abend, je nachdem, wo sie
stattfanden. Zum engeren Kreis der Banda Show gehören ca. 40-50 Musiker. Über den
Einsatz der Trommler entscheiden die Direktoren. Feste monatliche Zahlungen bekommen
der Trommelmeister (Neguinho de Samba) und fünf der langjährigen Trommler der Banda-
Show (Gilmário, Memeu, Ivan, Pacote, Coroa). Eine feste Einkommensquelle ist auch die
wöchentliche Veranstaltung der Afrikan Bar. Rund 45 Menschen, darunter die Sänger und
Trommler, aber auch die mit der Organisation, dem Kartenverkauf, dem Aufbau und der
Sicherheit beschäftigten Personen.

Nach eigenen Angaben Olodums gab es Ende 1994 45 fest angestellte Mitarbeiter und 23
vorübergehend beschäftigte Mitarbeiter im Bereich der Kulturgruppe Olodum. Sie verteilten
sich wie folgt: In der Fábrica de Carnaval gibt es 25 fest angestellte Mitarbeiterinnen, die
durchschnittlich 2,5 - 3 Mindestlöhne erhalten. Sie arbeiten in der Produktion von T-Shirts
und anderen Artikeln der Olodum Konfektion. Darüber hinaus werden noch 13
vorübergehende Arbeitskräfte beschäftigt. In der Escola Criativa Olodum gibt es 15 feste
Mitarbeiter, die durchschnittlich knapp 3,5 Mindestlöhne verdienen. Es sind Lehrkräfte,
Verwaltungspersonal, sowie Reinigungs- und Sicherheitskräfte. Darüber hinaus gibt es noch
10 Mitarbeiter, die auf Honorarbasis bezahlt werden. In der Boutique Olodum sind drei
Verkäufer/Innen beschäftigt, in der Bar der Casa Olodum gibt es zwei feste Mitarbeiter.
Durchschnittlich verdienen sie 1,8 Mindestlöhne.
Damit bewegt sich das Lohnniveau auf dem landestypischen Niveau, liegt teilweise sogar
etwas darüber. Die meisten Angestellten Olodums sind über eine Drittfirma, bei Olodum
angestellt. So soll verhindert werden, dass der Name Olodum, bei den für die brasilianische
Arbeitswelt typischen Arbeitsgerichtsprozessen erscheint. Ein Teil der Finanzabteilung ist in
einem Büro im Pituba Parque Center im Stadtviertel Itaigara untergebracht.

127
Informationen von Cristina Rodrigues.

301
Schätzungsweise rund 180 Menschen erhielten nach diesen Angaben von Olodum mehr oder
weniger regelmäßig Einnahmen aus ihrer Tätigkeit bei der Kulturgruppe Olodum. Damit
dürfte die Gruppe das größte Unternehmen und der wichtigste Arbeitgeber im Pelourinho-
Gebiet sein. Die sich stellende Frage war: Handelte es sich dabei um ein „schwarzes“
Unternehmen?

Gegen Ende des Jahres 1994 wurde über die Finanz-Direktorin ein Fragebogen unter den
Angestellten mit Daten zur persönlichen Erfassung und fünf Fragen zum Bezug zu Olodum
verteilt. 50 Personen haben den Fragebogen zu ihrer Arbeit bei der Gruppe Olodum ausgefüllt
(n=50). Sie stehen in einem festen Anstellungsverhältnis und arbeiten entweder in der
Produktion der Gruppe, der Fábrica de Carnaval oder der Escola Criativa. Sie sind nicht
repräsentativ für alle zur Gruppe Olodum gehörenden Mitglieder, wohl aber für die
Angestellten.

Nach der Erhebung sind 80% der Angestellten Olodums Afro-Brasilianer. Über ein Drittel
(36%) der Angestellten bezeichnet sich als negro. Weitere 44% beschreiben ihre Hautfarbe als
dunkel („parda“, „preta“, „morena“, „morena clara“, „escura“, „mulata“). 14% der Befragten
haben die Frage nach der Hautfarbe nicht beantwortet. Unter den 50 Angestellten gibt es nur
drei (6%), die sich als weiß bzw. hell bezeichnen.
Nach den vorliegenden Angaben lässt sich Olodum zweifellos als schwarzes Unternehmen
bezeichnen. Die weißen Brasilianer sind eine deutliche Minderheit unter den Angestellten.
Insofern nimmt Olodum sicherlich eine Pionierrolle als schwarzes Unternehmen in diesen
Dimensionen in Brasilien ein.

Der Fragebogen zeigte noch eine weitere interessante Komponente:


Die Hälfte der Angestellten verfügt über ein gehobenes Bildungsniveau (ab 2° grau
completo), während 22% keinen, bzw. 24% gerade den Hauptschulabschluss (1° grau)
erreichten.
Es zeigte sich, dass die Angestellten der Kulturgruppe vor allem zwei Gruppen zugeordnet
werden können: Die Gruppe derer, die schon länger dabei sind, über ein höheres
Bildungsniveau verfügen und eine starke Identifikation mit den Zielen der Kulturgruppe
zeigen, definieren sich als negros. Zu dieser Gruppe gehören viele Frauen, die im Umfeld der
Direktorin Cristina arbeiten und alle sehr engagiert sind. Auch die Jugendlichen, die über die

302
Banda oder aus irgendeiner kulturellen Aktivität Olodums hervorgegangen sind, definieren
sich als negros und geben die soziale und kulturelle Identifikation als Motiv der Arbeit an.
Die zweite Gruppe sind die, welche ein niedrigeres Bildungsniveau haben und erst seit
kurzem für die Kulturgruppe arbeiten, für sie ist Olodum eine der Möglichkeiten zum
Überleben. Die zu dieser Gruppe gehörigen bezeichnen sich fast nie als negros, benutzen die
Bezeichnungen mulato, moreno etc.. Sie kommen zu Olodum über jemanden aus der Banda,
oder jemanden, der bereits zu Olodum gehört. Für sie scheint die soziale und kulturelle
Identifikation nicht wichtig zu sein, wird zumindest nicht als Motiv für die Arbeit genannt.
Sich als negro zu bezeichnen, scheint auch unter den Angestellten abhängig von individuellen
Bewusstseinsprozessen zu sein. Bei stärkerer Identifikation mit der kulturellen und sozialen
Arbeit Olodums, scheint es auch ein ausgeprägteres „schwarzes“ Selbstbewusstsein zu geben.

Die Anthropologin Margareth Fagundes Nunes, die sich 1997 in ihrer Mestrado-Arbeit mit
dem Funktionieren der Fábrica Olodum beschäftigte kommt zu dem Schluss, dass es eine
große Distanz zwischen Angestellten und Direktorium Olodums gebe. Die Angestellten
kritisieren die starke Trennung bei der Arbeit zwischen Angestellten und Chefs und die
verspäteten Lohnzahlungen. Umgekehrt klagen die Direktoren über Unzuverlässigkeit,
Verspätungen, Fehlen am Arbeitsplatz. „Hier haben die Leute das Schneidern gelernt. Wir
haben Lehrer bezahlt, um den Leuten beizubringen, wie man näht, den Schnitt macht, eine
Maschine benutzt. Die müssten heute eine andere Vorstellung hiervon haben. Sie müssten
verstehen, dass dies hier Teil ihres Lebens ist, nicht meins, nicht der Direktoren von Olodum,
es ist von ihnen....Nur, dies hier alles zu unterhalten, ist eine professionelle Verpflichtung,
keine soziale. Weil das Soziale haben wir schon gemacht, das war die Kurse, die Möglichkeit
zum Arbeiten zu geben“ (Euzébio Cardoso, 01.03.1996 zitiert nach Fagundes, 1997 S.124).
Darüber hinaus stellt sie eine Distanzierung der Arbeiter, insbesondere der Fabrik, von den
politischen Zielen Olodums fest. Diese fühlten sich nicht der Sache Olodums verpflichtet, es
sei denn in speziellen Momenten, wo dies für die Konstruktion eines Bildes gefragt sei, wie
bei Filmarbeiten oder Besuchen (Fagundes, 1997 S. 125-6).

Zusammenfassend lässt sich Olodum als ein mittelgroßes Unternehmen bezeichnen, in dem
fast ausschließlich Afro-Brasilianer beschäftigt sind, das sowohl in seinen Ausmaßen, seiner
Lokalisierung und seiner Zusammensetzung einzigartig ist.
Die Marke Olodum beschränkt sich nicht nur auf das Logo und die von der Gruppe
vermarkteten Produkte. Dazu gehört auch der Rhythmus, der Tanz, die Farben. Olodum

303
investiert in die Konstruktion eines Bildes schwarzer bahianischer Jugendkultur. Sie
transformieren dies in ein Produkt, das inner- und außerhalb Bahias konsumiert wird. Die
Ästhetik Olodums zieht die verschiedensten ethnischen Gruppen an, in Salvador und Brasilien
genauso wie bei den Auftritten in Europa, Asien oder Amerika. Die Auftritte der Banda
Olodum sind perfekte Inszenierungen des Show-Business geworden. Die Bilder und Symbole
der negritude werden als touristisches Marketing genutzt. Die Farben Olodums auf T-Shirts
und Andenkenartikeln, die Moden, bis hin zu Haarschnitten, wie sie die Trommler tragen oder
Rastazöpfen, der Cravinho (Nelkenschnaps) – alles kann man in der einen oder anderen Form
im Pelourinho-Viertel erwerben, der nach der Sanierung zur Vitrine des bahianischen
Tourismus geworden ist.
Olodum ist Mitte der 90er Jahre eine stark heterogene Gruppe mit unterschiedlichen
Interessen und Entscheidungsebenen. Die unterschiedlichen Integrationsniveaus sind
sicherlich nicht komplett zu vermeiden, könnten vermutlich aber durch mehr Transparenz
und stärkere Mitbestimmung verbessert werden. Die zu Beginn angestrebte Demokratisierung
blieb in den Ansätzen stecken, neue hierarchische Strukturen entwickelten sich, die viel
Spielraum für paternalistische Handlungen boten. Die Ziele Olodums mögen teilweise zu weit
gesteckt gewesen sein, zeugen aber von einem extrem kreativen und unternehmerischen Geist.
Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung lagen an internen aber auch externen Faktoren, wie
den veränderten Verhältnissen im Pelourinho-Viertel. Darüber hinaus gab es große
Unterschiede hinsichtlich der persönlichen Fähigkeiten und Vorstellungen zur Umsetzung der
gemeinsamen Ziele Olodums.

304
17. Vom Karneval zur Quoten-Diskussion

In dieser Arbeit wurden die Rassenbeziehungen in Brasilien und die Bedeutung der
kulturellen Bewegung der Blocos Afros für die brasilianische Gesellschaft analysiert. Es ging
darum zu zeigen, wie kulturelle Manifestationen zur Veränderung gesellschaftlicher
Verhältnisse beitragen können.
Als 1974 zum ersten Mal ein Bloco Afro im Karneval von Salvador mit einer neuen
schwarzen Ästhetik teilnahm, war eine Diskussion des Thema Rassismus durch die
Militärregierung verboten. Wenn heute, 2003, auf politischer Ebene – trotz aller rechtlichen
Probleme und großen Widerspruchs in Teilen der Bevölkerung - die Einführung von Quoten
für Afro-Brasilianer durchgesetzt wird, dann zeigt das, wie sehr sich die gesellschaftlichen
Bedingungen in den letzten 30 Jahren verändert haben. Der Mythos der konfliktfreien
Rassendemokratie Brasilien ist am Zerbröckeln. Rassismus wird zunehmend als ein Problem
der brasilianischen Gesellschaft erkannt. Die Diskussion darüber beschränkt sich nicht mehr
nur auf den kleinen Kreis militanter Afro-Brasilianer, sondern ist Thema in den Medien, den
Universitäten, der Justiz. Auf politischer Ebene hat die Regierung unter Präsident Fernando
Henrique Cardoso (1995-2002) entscheidend zur Umsetzung der in der Verfassung von 1988
garantierten gleichen Rechte für Afro-Brasilianer beigetragen. Durch die Einrichtung
verschiedener Arbeitsgruppen auf ministerieller Ebene, die Anerkennung der Landrechte der
ehemaligen Sklavenfluchtburgen, der Quilombos, und die Einrichtung von Quoten in den
Ministerien für Landwirtschaft, Justiz und Kultur, sowie in der Diplomaten-Ausbildung.
Die schwarzen Karnevalsgruppen aus Salvador da Bahia haben entscheidend zu einer
Veränderung der Rassismus-Diskussion in Brasilien beigetragen. Ihr kulturelles und soziales
Engagement schufen die Vorrausetzungen für die politische Umsetzung von Maßnahmen zur
Integration der Afro-Brasilianer. In diesem abschließenden Kapitel sollen die Gründe für die
herausragende Bedeutung der Blocos Afros und deren Auswirkung auf die aktuelle Politik
zusammenfassend dargestellt werden.

17.1 Afro-brasilianische Kultur im Zeichen des Black Atlantic

Der politische Protest der Afro-Brasilianer, der sich in den kulturellen Manifestationen der
Blocos Afros ausdrückt, ist Antwort auf die besonderen brasilianischen Rassenbeziehungen:
Die Afro-Brasilianer sind keine ethnische Minderheit, sondern eine Mehrheit der

305
Bevölkerung. Die Frage nach der Rassenzugehörigkeit in Brasilien ist allein schon aufgrund
der starken Durchmischung der Gesellschaft keine biologische Kategorie, sondern eine
soziale. Die rassischen Ungleichheiten sind eingebettet in einen Kontext großer sozialer
Differenzen zwischen den wenigen „weißen“ Reichen und der Masse der „schwarzen“
Armen. Sie werden zugedeckt mit einer sehr subtilen, an den Zwischentönen orientierte Form
des Rassismus, der treffend auch als „höflicher Rassismus“ bezeichnet wird.
Der Karneval, einer der wichtigsten Momente gesellschaftlichen Lebens in Brasilien, stellt
einen besonderen Bereich für die Aktionen der Afro-Brasilianer dar. Während er einerseits
einen Freiraum bietet, der die vorübergehende Überschreitung von Grenzen zulässt, ist er
andererseits auch Schauplatz gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Ort der Aushandlung
kultureller Repräsentation.

Die Blocos Afros betraten die Bühne des gesellschaftlichen Leben Brasiliens zu einem
Zeitpunkt, an dem die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen neue
Rahmenbedingungen geschaffen hatten. Das industrielle Wachstum Bahias in den 60er und
70er Jahren hatte eine afro-brasilianische Arbeiterschaft hervorgebracht, die nicht mehr mit
den ihnen von der traditionellen Elite zugedachten gesellschaftlichen Positionen zufrieden
war. Die politische Öffnung gegen Ende der Militärdiktatur tolerierte die politische
Konnotation der Rassenproteste der schwarzen Karnevalsgruppen.
Die Entdeckung der Volkskultur für den Tourismus und insbesondere die Restaurierung des
historischen Zentrums Salvadors ab Anfang der 90er Jahre machte das ehemalige schwarze
Ghetto zur Postkarte der Stadt. Gleichzeitig intensivierte die zunehmende Globalisierung den
Austausch schwarzer Musik und Symbole unter den Jugendlichen der schwarzen Diaspora.
Parallel dazu war der internationale Musikmarkt Anfang der 90er Jahre offen für Neues. Dies
ermöglichte die Legitimierung schwarzer Kultur über die Musik und den Karneval.

Die zunehmende Globalisierung der Welt wird nicht nur von einem
Homogenisierungsprozess begleitet, sondern ermöglicht auch den Austausch mit anderen
Kulturen. Gilroy prägte den Begriff des „Black Atlantic“, der für die Dynamik des
interkontinentalen Austausches schwarzer Kulturen steht (Gilroy, 1993). Die in dieser Arbeit
beschriebenen lokalen Prozesse sind Teil globaler Entwicklungen, charakterisieren sich
jedoch durch einige Besonderheiten, die ihnen eine spezifische Bedeutung zukommen lassen.
Die Blocos Afros sind nicht der einzige Weg afro-brasilianischer Jugendlicher bei der
Identitätsfindung. In Rio de Janeiro ist es der Funk und in São Paulo die HipHop-Bewegung,

306
die diese Funktionen für die jetzige Generation schwarzer Jugendlicher übernommen hat
(Herschmann, 2000). Die „neuen“ schwarzen Identitäten in Brasilien sind stark beeinflusst
durch lokale ethnische Traditionen. Die HipHop-Bewegung und die Rap-Kultur São Paulos
haben mit den Blocos Afros in Salvador den Anti-Rassismus-Diskurs gemeinsam,
unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der kulturellen Wurzeln und der lokalen
gesellschaftlichen Muster. Bei der Musik der schwarzen Karnevalsgruppen in Bahia handelt
es sich nicht um Protestlieder, die zu Rassenunruhen aufrufen, im Vordergrund steht die
Aufwertung der schwarzen Kultur. Darin unterscheiden sie sich vom Rap aus São Paulo, der
sich in Konfrontation zur herrschenden, mehrheitlich weißen Bevölkerung präsentiert, oder
dem Funk aus Rio de Janeiro. Es ist bezeichnend, dass diese Bewegung in Bahia entstanden
ist, wo die große Mehrheit der Bevölkerung Afro-Brasilianer sind. In Bahia ist die afro-
brasilianische Kultur besonders ausgeprägt, ist der Candomblé traditionell die Wurzel des
kulturellen und religiösen Lebens.

Die Bewegung der Blocos Afros unterscheidet sich aber auch von schwarzen Jugendkulturen
in anderen Ländern der Diaspora: Es ist etwas Eigenes, genuin Brasilianisches entstanden.
Damit haben die kulturellen Ereignisse der letzten 30 Jahre langfristig eine wichtige Funktion
zum Aufbau einer neuen schwarzen brasilianischen Identität.

Die Blocos Afros packen das Problem des brasilianischen Rassismus an der Wurzel: der
Überwindung des weißen Ideals als gesellschaftliches Vorbild. Dagegen setzen sie den
Aufbau einer neuen schwarzen Identität. Der Verinnerlichung des negativen Selbstbildes und
der Stigmatisierung der Schwarzen setzen sie neue, positive Sichtweisen schwarzer Identität
entgegen. So gelingt es ihnen, die Sprachlosigkeit zu überwunden und den Mythos der
Rassendemokratie zu entlarven. Die Blocos Afros agieren gleichzeitig auf mehreren Ebenen.
Sie bieten neue Identitäten an (ästhetisch, musikalisch, kulturell), sind aber auch sozial und
pädagogisch aktiv. Der Schlüsselbereich, in dem der Rassismus zu überwinden ist, ist die
Bildung. Deshalb kommt den unterschiedlichsten formellen und informellen
Bildungsprojekten mit einer explizit afro-brasilianischen Ausrichtung so große Bedeutung zu.
Das haben alle Blocos Afros erkannt. Im Sinne Paulo Freires verstehen sie Bildung als Weg
der Befreiung (Freire 1991). Sie entwickeln pädagogische Modelle, deren entscheidendes
Merkmal das Lernen aus der gesellschaftlichen Situation heraus, vergleichbar mit dem
Situationsansatz (Zimmer, 1985). Darüber hinaus versuchen die Blocos Afros die von ihnen

307
produzierte Kultur selbstständig zu vermarkten und unternehmerisch tätig zu sein. Sie agieren
sozusagen als intuitive „productive community schools“.

17.2 Olodums Weg zum Erfolg

Mitte der 90er Jahre ist Olodum der national und international erfolgreichste Bloco Afro –
bekannt für seine Musik und seine kulruellen und sozialen Projekte. Sie versuchen in den
unterschiedlichsten Bereichen eigene Strategien zu entwickeln, die ihnen Erfolg versprechen.
Als Nicht-Regierungsorganisation versuchen sie ihre Projekte mit Hilfe von anderen Nicht-
Regierungsorganisationen oder staatlichen Entwicklungsgeldern zu realisieren. Gleichzeitig
versuchen sie unternehmerisch zu handeln, ihr Produkt Olodum zu verkaufen. Es sind eine
ganze Reihe unterschiedlicher Faktoren, die für den Erfolg Olodums verantwortlich sind. Die
Grupo Cultural Olodum geht von Anfang an in ihrer Arbeit über den
Identitätsfindungsprozess in der Musik und der Ästhetik hinaus. Sie hatten eine politische
Perspektive und praktizierten sozial-politisches Handeln. Ihre Führung versucht eine
komplette Neukreation schwarzen Lebens in einem lange Zeit von der Gesellschaft
marginalisierten Ghetto, ansetzend bei den zwei Grundbedürfnissen Bildung und Arbeit. Die
Escola Criativa Olodum stellt ein kühnes Modell einer afro-brasilianischen Pädagogik dar.
Selbst wenn sie heute nicht mehr als formal anerkannte Schule funktioniert, sondern als
„Kreativ-Schule“, hatte sie Beispielcharakter für andere Schulen in ganz Brasilien.
Ausgehend von den Erfolgen auf dem Musikmarkt versucht Olodum den Aufbau eines
schwarzen Kultur-Unternehmens, wobei ihnen die zunehmende Bedeutung symbolischer
Güter im Zeitalter der Globalisierung (Featherstone, 1995) zugute kommt. Bis heute gibt es in
geringeren Dimensionen die Fábrica de Carnaval und die Boutique.

Olodum gelang es, eine Vielzahl von engagierten jungen Afro-Brasilianern zu vereinen: durch
einen weit vorausdenkenden Präsidenten João Jorge Rodrigues128, der viele Gleichgesinnte
zur Mitarbeit hat motivieren können, sowie einen charismatischen Musikmeister, Neguinho
do Samba, der unverkennbare Rhythmen erfunden hat und eine große Gruppe junger
Trommler um sich scharte. Das große Engagement der Führungspersönlichkeiten, aber auch
aller anderen Mitglieder Olodums, machten die Gruppe während der 90er Jahre zu einem
Modell afro-brasilianischer Kreativität und Widerstands.

128
João Jorge macht inzwischen sein Jura-Mestrado-Studium in Brasília.

308
Der politische Anspruch der Gruppe zeigt sich unter anderem in der Vielzahl der publizierten
Texte vom Aufstand der Malês bis zu Schriften über Panafrikanismus, den ideologischen
Referenzen wie Malcom X und Nelson Mandela, den veranstalteten Seminaren zur Rolle der
Frauen oder Religion, aber auch in der Identifizierung mit dem Roots-Reggae Bob Marleys.
In diesen Aktivitäten, die vorwiegend von der Direktorats-Ebene getragen wurden, zeigt sich
der edukative Ansatz der Gruppe, das Bemühen um Aufklärung, Austausch und
Bewusstseinsbildung. Olodum hat die Rolle der schwarzen Militanz für sich eingenommen,
dabei aber immer wieder die Musik in den Vordergrund gestellt, als Mittel kulturellen
Widerstands.
Mit ihrem geschickten Identitätsmanagement fiel der Gruppe das internationale Agieren
leicht. Olodum gelang es eine Reihe von internationalen Kontakten zu knüpfen, die sich
positiv für die Arbeit der Gruppe auswirkten. Gezielt hatte Olodum auch Beziehungen
aufgenommen zu einer Reihe von politisch bzw. sozial orientierten internationalen Nicht-
Regierungsorganisationen wie Amnesty International oder dem Habitat Forum Berlin, die
sich für die Gruppe engagierten.

Das Lied „Faraó“ war 1987 der Beginn des Eintritts in die globale Medienszene, nicht nur
Olodums, sondern auch der anderen Blocos Afros. Die schwarzen Karnevalsgruppen lieferten
die rhythmischen Vorlagen für die Axé Music, die in den 90er Jahren weltweit Erfolge
verbuchen konnte. Zu dem bedeutendsten Faktor für den musikalischen Erfolg Olodums
wirkte sich die Zusammenarbeit mit internationalen Popstars aus.
Dies wurde begünstigt dadurch, dass es in der internationalen Musikszene ein Bedürfnis nach
Authentizität, nach Neuem gab.129 In den USA sehen 1992 über 750.000 Menschen Olodum
bei der Show mit Paul Simon im Central Park. Kein brasilianischer Musiker hat bisher im
Ausland vor so einem großen Publikum gespielt, wie es der Gruppe durch die Teilnahme an
einem Lied des internationalen Stars gelang. Im selben Jahr produziert die Gruppe in
Großbritannien die erste auf den internationalen Markt ausgerichtet Platte „The Revolution
Emotion“. Der Video-Clip mit Michael Jackson unter der Regie von Spike Lee 1996 war
durch das clevere Agieren der Führung Olodums zustande gekommen.

In Folge der verschiedenen Co-Produktionen gelang es Olodum und anderen Blocos Afros
sich eigenständig auf dem internationalen Musikmarkt zu etablieren und Tourneen nach
129
Für die Aufnahmen mit Paul Simon verlangt die Gruppe kein Geld, sondern dessen Unterstützung bei
weiteren internationalen Kontakten.

309
Europa, in die USA und Japan zu machen. Das starke internationale Interesse an lokalen
Musikkulturen und ihre Vermarktung durch die Musikindustrie unter dem Namen World
Music begünstigte die neue bahianische Musik. Zugute kam der Gruppe, dass sie auch in
ihrem Äußerem genau dem Zeitgeist entsprach, der in der Mode unter dem Label Ethno
verkauft wurde.

Olodum bemühte sich den Anforderungen der globalisierten Gesellschaft gerecht zu werden.
Sie präsentierten sich nicht mehr als folkloristische, traditionelle Gruppe von Schwarzen, die
den Karnevalsumzug organisieren, sondern sie verstanden sich als moderne schwarze
Unternehmer und Politiker und suchten Partner aus anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Wie keine andere vergleichbare Gruppe in Bahia hat Olodum schon früh die durch die
technische Entwicklung hervorgebrachten neuen Kommunikationskanäle (Computer, Fax,
Internet) genutzt. Besonderes Geschick bewies Olodum im Umgang mit den Medien. Ihnen
gelang es Räume der Meinungsäußerung zu erobern, die bislang keiner anderen Gruppe der
Schwarzenbewegung zur Verfügung standen130 und die internationale Popularität gezielt zu
nutzen. Der Erfolg Olodums als Musikgruppe in Brasilien liegt auch an den internationalen
Kontakten, über deren Bedeutung sich der damalige Präsident im klaren ist: „Da wir noch
immer ein kolonialisiertes Land sind, gibt es viele Leute hier, die den Wert der eigenen Dinge
erst erkennen, wenn diesen außerhalb Brasiliens applaudiert wird. Also, in dem Maße wie
Olodum im Ausland auf Tournee ist, Shows macht und an Veranstaltungen teilnimmt und
dies beachtet wird, beginnen die Menschen in Brasilien sich für Olodum zu interessieren,
möchten wissen, um was es dabei geht.. Dies gilt insbesondere für São Paulo und Rio“ (João
Jorge, 1992).

Die Einrichtung der Karnevalsfabrik schien der Gruppe als weiter Schritt, um ihre eigene
Produktion zu verwalten. Olodum wurde zu einem der größten Arbeitgeber und
bedeutendstem wirtschaftlichen Faktor im Pelourinho-Viertel. Zeitgleich zur Entwicklung
Olodums von einer Karnevalsgruppe zum Kulturunternehmen, verlief die Restaurierung und
Umwandlung des Pelourinho vom schwarzen Ghetto zum Touristenviertel. Die bahianische
Landesregierung nutzte die kulturellen Äußerungen der Afro-Bahianer immer häufiger als
Aushängeschild Bahias im Südosten des Landes und im Ausland, besonders jedoch den

130
Auch hierbei spielt der internationale Faktor die Hauptrolle. Zwei Monate nach dem Interview des Ex-
Präsidenten in der New York Times, erscheint auch auf den renommierten gelben Seiten des Wochenmagazins
Veja ein Interview (Veja 09.06.1993) und die Folha de São Paulo veröffentlicht erstmalig anlässlich des Michael
Jackson-Besuchs einen Kommentar des Präsidenten João Jorge.

310
mehrtägigen Karneval. „Seit 1992 kam Bahia dank des Erfolgs der Axé-Music in Brasilien
wieder in Mode. Die Bahiatursa erkannte die Bedeutung der Musik für die Entwicklung des
Tourismus in Bahia...“ (Loureiro in: A Tarde 19.07.1995). Die Bahiatursa warb mit Fotos von
Mitgliedern Olodums im von der konservativen Landesregierung restaurierten Pelourinho.
Die Assoziation Olodum - Pelourinho – Bahia als Symbol afrobrasilianischer Kultur war nicht
mehr aufzuhalten. Olodum wurde zum Aushängeschild staatlicher und privater Propaganda.
Der Pelourinho, der wie kein anderer Ort Brasiliens das afro-brasilianische Erbe repräsentiert,
wurde zur Stätte der Begegnung von Persönlichkeiten des internationalen schwarzen
Universums: von Musikstars wie Michael Jackson und Alpha Blondy, bis hin zu politischen
Ikonen der internationalen Schwarzenbewegung wie Nelson Mandela, Desmond Tutu oder
Rev. Jesse Jackson.

Keiner der Blocos Afros hat so geschickt die Ansprüche und Möglichkeiten der modernen
Gesellschaft genutzt und über die regionalen Grenzen Bahias hinaus agiert wie Olodum. Von
Anfang an hat Olodum eine globale Perspektive im Auge: als Musikgruppe als Erben des
Reggae und Repräsentanten schwarzer Musik aus der Dritten Welt und als Teil der
internationalen Schwarzenbewegung. „Nach dem Tod Bob Marleys, Peter Tosh’s, Jacob
Millers wurde die schwarze Welt, diese Dritte Welt, Waisenkind und in diesem Moment
erscheint der Jugendliche Olodum, der sich als legitimer Nachfolger der Tradition der
Kämpfe in den Amerikas präsentiert... Olodum hat mehrere Theorien vereint, Olodum ist der
natürliche Erbe der Ideen phantastischer Personen dieses Jahrhunderts, wie Malcom X,
Martin Luther King, Bob Marley, Haile Selassie“ (JJ 1992).

17.3 Brasilien – Land einer besseren Zukunft für Afro-Brasilianer?

„In Bahia sind die Blocos Afros vor allem Modelle. Modelle einer Ästhetik, der Kraft, des
Mutes, der Anmut und Schönheit, der Fähigkeit und Kreativität, des Vertrauens und der
Einheit“ schreibt Hélio Santos, einer der führenden schwarzen Intellektuellen Brasiliens, der
in São Paulo lebt (H. Santos, 2001 S. 259). Aber nicht nur das: Diese lokalen kulturellen
Äußerungen wurden auch Wegbereiter politischer Veränderungen. Insofern stellen sie eine
Besonderheit im Vergleich mit anderen schwarzen kulturellen Äußerungen dar.
Die Bewegung der Blocos Afros war in den letzten dreißig Jahren nicht nur musikalisch
innovativ, sondern an einem erfolgreichen, gesellschaftlichen Bewusstseinsprozess beteiligt.

311
Die Blocos Afros sind ein Versuch der Afro-Brasilianer, Kontrolle über ihr eigenes Leben als
schwarze, marginalisierte, arme Jugendliche zu bekommen. Sie haben die schwarze Identität
einerseits aufgebaut durch eine angenommene Kontinuität schwarzen Widerstands in den
beiden Amerikas, der Karibik und zurückreichend bis Afrika, andererseits in Beziehung zu
den globalen Repräsentationen modernen Schwarzseins, die durch Konsumverhalten, Moden
und politische Ansprüche formuliert wurden. Die soziale Praxis der Afro-Brasilianer wurde
symbolisch und ästhetisch neu organisiert. „They lived culture as a way of life in a unified
way... on the other, they were constantly involved with producing representations of their
culture as an object, a set of symbols of their lives… Black culture and identity were
paramount for them, although they focussed on general social problems (poverty, education,
violence, drugs) as these affected their barrio. The problem of racism was central and not
reducible to a problem of class” schreibt der Anthropologe Peter Wade über seine
Forschungen einer afro-kolumbianischen Rap-Gruppe (Wade, 1999 S. 457). Das gilt auch für
Brasilien.

Das Phänomen, dass Musikgruppen eine weit über die Musik hinausgehende Bedeutung für
das Leben schwarzer Jugendlicher haben, ist nicht auf Brasilien beschränkt. Das passiert in
vielen schwarzen Gemeinschaften, die sich im Austausch mit anderen der schwarzen
Kulturen, hauptsächlich Nordamerikas, befinden. Was die Bewegung der Blocos Afros von
vergleichbaren Gruppen unterscheidet – das wurde bereits gesagt – ist, dass sie musikalisch
etwas genuin Eigenes produzieren. Auch im ästhetischen Bereich schaffen sie eine eigene
Form der Repräsentation als Afro-Bahianer, selbst wenn sie teilweise im Styling andere
Elemente anderer schwarzer Kulturen mit aufnehmen. Zunehmend wird dieses Potential von
Schwarzen anderer Kulturkreise erkannt, die nach Bahia kommen, um die lokalen kulturellen
Manifestationen, insbesondere die Feste in den Candomblés kennen zulernen. So produzieren
die Blocos Afros neue „Anhaltspunkte in dem System von Zeichen auf, die ... jeder
menschliche Körper an sich hat: Kleidung, Aussprache, Haltung, Gang, Umgangsformen“ so
wie es Bourdieu beschrieb (Bourdieu, 1982 S. 374) und geben ihnen eine neue Bewertung.
Sie verbreiten neue Normen für das, was als Geschmack gilt. Gesellschaftliche Macht wird,
so Bourdieu, durch die Zustimmung zu Geschmack und Symbolen ausgeübt. Durch die
kulturelle Bewegung sind diese in den letzten Jahren in einem Prozess der Veränderung
begriffen.

312
Seit etwa einem Jahr wird in Brasilien auch in der breiteren Öffentlichkeit über die
Einrichtung von Quoten für Afro-Brasilianer diskutiert. Insbesondere im Umfeld der III.
Konferenz der Vereinten Nationen gegen Rassismus in Durban/Südafrika im September 2001
wurde die gesamte Rassismus-Problematik in Brasilien neu aufgerollt.
Von der brasilianischen Schwarzenbewegung werden die Quoten als Teil der
Reparationsforderungen für die Folgen der Sklaverei gesehen, da es bis heute keine speziellen
Integrationsmaßnahmen für Afro-Brasilianer gegeben hat. Die sozialen Diskrepanzen, so
argumentieren sie, sind auch Resultat der Art und Weise wie die Sklaverei abgeschafft wurde.
Die sozialen Ungleichheiten perpetuierten darüber hinaus das Bild des unfähigen Afro-
Brasilianers.
Quoten sollen an den Universitäten eingeführt werden, bei der Besetzung politischer Organe
und im Medienbereich. Zu einer der ersten Organisationen, das Quoten einrichten will, gehört
das Instituto Rio Branco, das die brasilianischen Diplomaten ausbildet. Im Jahr 2002 sollen
zum ersten Mal 20 schwarze Kandidaten ein Stipendium bekommen, um sich auf die
Aufnahmeprüfung dieser Eliteschule vorzubereiten. Damit sollen in Zukunft die afro-
brasilianische Bevölkerung auch im diplomatischen Dienst besser repräsentiert sein. Eine
Untersuchung unter Diplomaten-Anwärtern im Jahr 2001 hatte ergeben, dass von den 30
Studenten des ersten Jahres 27 weiße Brasilianer waren. Kein einziger bezeichnete sich als
negro. In Zukunft soll also in der traditionsreichen Diplomatenschmiede (die zweitälteste der
Welt nach Wien) die heterogene Bevölkerungszusammensetzung Brasiliens sichtbar werden
(Gazeta Mercantil, 09.01.2002 und 11.01.2002).
Im Jahr 2002 wurden im Justiz-Ministerium, im Landwirtschafts-Ministerium und im
Wissenschafts- und Technologie-Ministerium Quoten für negros beschlossen. Ziel ist es,
20% der Stellen mit negros, 20% mit Frauen und 5% mit Behinderten zu besetzen.
Auch ein Gesetz, dass die Beteiligung schwarzer Künstler in Film und Fernsehen
obligatorisch macht, soll in diesen Tagen verabschiedet werden. Nach dem Gesetzesentwurf
sollen Afro-Brasilianer 25% der Sendezeit in Fernsehprogrammen, in der Werbung sogar
einen Anteil von 40% der ausgestrahlten Sendezeit einnehmen. Initiator dieses Gesetzes ist
der Abgeordnete Paulo Paim131, einer der wenigen schwarzen Abgeordneten in Brasília (A
Tarde, 03.01.2002).
An verschiedenen Universitäten sind in 2003 erstmals Quoten für Afro-Brasilianer
eingerichtet worden. Die Landesuniversität von Bahia (UNEB) hat eine Quote von 40%
beschlossen bei der Belegung der neuen Studienplätze für das kommende Semester. Die

131
. Er gehört der Arbeiter-Partei (PT) an und kommt aus dem südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul

313
Direktorin der UNEB ist eine der wenigen Afro-Brasilianerinnen in einer solchen Position.
Ähnliche Quotenregelungen gibt es an den Landesuniversitäten in Rio de Janeiro. (Folha de
São Paulo, 22.10.2001, Especial2)

Die angestrebten Quotenregelungen in den Universitäten sorgen für heftige Diskussionen in


Brasilien. Die Kritiker befürchten, dass sich das Niveau an den Universitäten verschlechtere.
Darüber hinaus seien Quoten nicht demokratisch und bekräftigten den Rassismus (Valor,
28.06.2002). Die Befürworter der Quoten sehen in ihnen eine erste
Widergutmachungsmaßnahme zugunsten der Afro-Brasilianer, 115 Jahre nach dem Verbot
der Sklaverei, und eine Chance, auf lange Sicht die rassische Diskriminierung zu reduzieren.
Sie beziehen sich dabei auch auf die Erfahrungen aus den USA, wo es nach Einführung der
Quotenregelungen in den letzten 20 Jahren zur Verdoppelung der afro-amerikanischen
Mittelschicht gekommen sei.
Unabhängig von Pro und Contra der Einführung von Quoten ist die gesamte Quoten-
Diskussion - das sei noch einmal wiederholt - als großer Erfolg auf dem Weg zur Integration
der Afro-Brasilianer zu bewerten.

Dass rassische Diskriminierung nicht das Problem einer Minderheit in Brasilien ist, wurde
bereits mehrfach erwähnt. Insofern sind die Quoten auch Ausdruck der sich weiter
konsolidierenden demokratischen Prozesse in Brasilien. 46% der Bevölkerung sind Afro-
Brasilianer, ein großes Wählerpotential, auch wenn schwarze Politiker bisher eher schlechte
Chancen hatten. Im vergangenen Wahlkampf 2002 war die Rassenfrage erstmals Thema in
der Fernsehdiskussion zwischen den Präsidentschaftskandidaten. Der neue Präsident Luis
Inácio Lula da Silva sprach sich für die Einrichtung von Quoten für Afro-Brasilianer aus. Auf
Ministeriumsebene richtete er nach Interventionen der Schwarzenbewegung im März 2003
die Secretaria Especial de Políticas de Promoção da Igualdade Racial ein, ein Sonder-
Sekretariat zur Förderung der Rassengleichheit (A Tarde, 22.03.2003). Drei seiner Minister
sind Afro-Brasilianer(innen): Benedita da Silva (Soziales), Mariana da Silva (Umwelt),
Gilberto Gil (Kultur) 132. Anfang Mai 2003 hat Lula den ersten Afro-Brasilianer für den
Obersten Gerichtshof benannt. Zum ersten Mal gibt es mehrere Afro-Brasilianer in
gesellschaftlichen Schlüsselpositionen133. Ohne die Bewegung der Blocos Afros wäre dies

132
Von Gil wird eine Kulturpolitik erwartet, welche die Volkskultur stärkt und die Dominanz des städtischen
Südostens überwindet.
133
Die Bahianer sind in der neuen Regierung nicht nur mit Gilberto Gil als Kulturminister, sondern auch
Ubiratan Castro als neuem Präsidenten der Fundação Cultural Palmares relativ gut vertreten.

314
nicht denkbar gewesen und dafür steht symbolhaft der schwarze Kulturminister Gilberto Gil,
ein distinguierter Herr, 60 Jahre alt, mit Rastahaaren.

Gil ist in erster Linie Sänger, Musiker, Kulturschaffender, seine Ausflüge in die Politik waren
bisher nur relativ kurz. Gil war es, der nach dem Exil in Europa, entscheidend zum Entstehen
der kulturellen Bewegung der Blocos Afros beitrug. Aus Europa brachte er Anfang der 80er
Jahre zusammen mit Caetano Veloso den Reggae mit. In Bahia produzierte Gil die erste Platte
eines Blocos Afros und half dem in Vergessenheit geratenen Afoxé Filhos de Gandhi wieder
auf die Beine, mit dem er noch heute am Karneval teilnimmt. Gil ist der bahianischen Kultur
in besonderer Weise verbunden und Würdenträger in einem der traditionellsten Candomblé-
Häuser Bahias. Gil ist aber auch einer der größten brasilianischen Musikstars, quer durch alle
sozialen Schichten hindurch, und gleichzeitig Teil der internationalen schwarzen
Gemeinschaft. Geradezu symbolhaft vereint er in seiner Person die kulturelle schwarze Kraft
und die Möglichkeit der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse.

„Dieses Zentralproblem, das sich jeder Generation und somit auch der unseren aufzwingt, ist
die Beantwortung der allereinfachsten und doch notwendigsten Frage: wie ist auf unserer
Erde ein friedliches Zusammenleben der Menschen trotz aller disparaten Rassen, Klassen,
Farben, Religionen und Überzeugungen zu erreichen? ... Keinem Land hat es sich durch eine
besonders komplizierte Konstellation gefährlicher gestellt als Brasilien, und keines hat es –
und dies dankbar zu bezeugen, schreibe ich dieses Buch – in so glücklicher und vorbildlicher
Weise gelöst wie Brasilien“ (Zweig 1984:12).
Als Stefan Zweig 1941 aus den USA nach Brasilien übersiedelte, zerfleischte sich Europa in
Rassenwahn und Krieg. Geradezu paradiesisch muss ihm das Land vorgekommen sein, das er
in seinem Buch „Brasilien, Land der Zukunft“ beschreibt. Sicherlich erlag er den ersten
positiven Eindrücken, idealisierte vieles, entging ihm der „höfliche Rassismus“. Dennoch:
„Das Letzte was stirbt, ist die Hoffnung“ sagt man in Brasilien. Vielleicht kann dadurch, dass
die marginalisierten schwarzen Brasilianer zu einer neuen Identität als Afro-Brasilianer
finden, Brasilien das Land der Zukunft eines friedlichen und toleranten Miteinanders von
Menschen verschiedensten Herkunft und Aussehens mit gleichen Chancen für alle werden.

315
19. Discographie

Jahr Name der Platte Karnevalsthema

1987 Egito / Madagascar Egito dos Faraos

1988 Nubia / Axum Etiopia Madagascar

1989 Do Deserto do Saara Nubia Axum Etiopia


ao Nordeste Brasileiro

1990 Da Atlandida a Bahia - Do Deserto do Saara ao Nordeste


o mar e o camino Brasileiro

1991 The Best of Olodum Da Atlandida a Bahia – o mar


e o camino

1992 A Musica do Olodum India – os caminhos da Fé

1993 O Movimento Tropicalismo – o movimento

1994 Os Filhos do Sol Os Tesouros de Tutacamon

1995 Ao vivo Montreux Suica Os Filhos do Sol


Olodum Dose Dupla

1996 Roma Negra Os Filhos do Mar

1997 Liberdade 200 Anos da Revolta dos Buzios

Ausland Name der Platte Land

1991 Do Deserto do Saara USA


ao Nordeste do Brasil

1992 Revolution Emotion England/Europa

1993 The Best of Olodum Japan


1994 The Best of Olodum Japan

333
18. LITERATURVERZEICHNIS

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Zeitungen und Zeitschriften

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22.03.2003

06.12.2002
05.08.2002
31.07.2002
09.05.2002
30.01.2002
03.01.2002

21.11.2001
30.07.2001
08.07.2001

27.01.2000

05.02.1999

29.09.1998
07.01.1998

04.10.1996
07.04.1996
31.03.1996
16.03.1996

19.07.1995

24.11.1994

23.11.1993
08.08.1993
03.02.1993

24.01.1991

12.11.1975

Der Spiegel

2002, Nr.21

329
Folha de São Paulo

19.10.2002
18.08.2002
28.07.2002
24.01.2002
06.01.2002

22.10.2001 (Especial)

15.05.2000

06.06.1999 (Interview Nobels)


07.03.1999 (Revista da Folha)
20.02.1999

17.05.1998

02.11.1997
06.04.1997
30.03.1997
23.03.1997 (Revista da Folha)

10.02.1996
09.02.1996
08.02.1996
14.01.1996
06.01.1996

27.08.1995
14.05.1995
10.02.1995

10.12.1994

Gazeta Mercantil

06.12.2002
14.08.2002
11.01.2002
09.01.2002

09.08.1999
03.08.1999

Handelsblatt

28.02.1995

330
Isto è

N° 1310, 09.11.1994
17.02.1993

Jornal do Brasil

27.08.2001

04.06.1995

Jornal Olodum

No. 5, 1994

New York Times

12.04.1993

O Correio da Bahia

22.09.1991

die tageszeitung

27.12.94

Valor

28.06.2002

20.11.2001
03.09.2001

331
Veja

19.07.2002

21.03.2001

Nr. 33, 1999

01.01.1998

15.05.1996

09.06.1993
24.02.1993

30.09.1992
11.03.1992

332
20. Anhang

20.1 Verzeichnis der Interviews und Fragebögen

Blocos Afros

Ara Ketu, Vera Lacerda 20.04.1992

Ilê Aiyê, Vovô 09.03.1992

Malê Debalê, Jocélio 28.04.1992

Muzenza, Geraldão, Garí 21.03.1992

Olodum

Billy 27.01.1994

Bira 20.07.1994

Carranca 10.01.1994

Cristina 31.01.1994
16.09.1993

Dora Dias 23.09.1993

João Jorge 02.05.1994


16.03.1992

Joel 23.09.1993

Lazinho 02.05.1994

Marquinhos 18.05.1994

Negão 08.04.1994

Negô 29.08.1994

Neguinho do Samba 19.01.1994

Nil 18.05.1994

Petu 01.10.1993

Tom 26.07.1994

Vera 11.05.1994

334
Wilson 24.08.1993

Zulu 25.08.1993

Bando de Teatro Olodum

Jorge Washington 20.09.1993

Márcio Meirelles 1992

Escola Criativa Olodum

Manuel Almeida 05.12.1995

Informelle Gespräche bei Olodum

Nelson
Rita
Renato
França

Memeu
Gilmário
Grande
Ivan
Andréia
Coroa

Tânia Santana
Reny Veneno

Internationale Schwarzenbewegung

Presse-Interviews

Jesse Jackson 1997

Spike Lee 1996

Alpha Blondy 1995

Linton Kwesi Johnson 1994

Jimmy Cliff 1992

335
São Paulo

Fernando Conceição 20.09.1994

Hélio Santos 10.12.2002

336
Questionário

Nome (se quiser dar):

Endereço:

Bairro: Cidade:

Idade:

Sexo:

Cor:

Escolaridade:

Estado civil:

Profissão:

„É a primeira vez que você vai sair no Olodum?“

“Porque você vai sair no Olodum?”

“Em que outros blocos você já saiu?”

“O que voce sabe sobre o Olodum?”

“Na sua opinão: Tem racismo no Brasil?”

“Há quanto tempo você está frequentando o Pelourinho? Quais lugares?”

“Qual a sua opinão sobre a reforma do Pelourinho?”

337
Questionário Mulher Olodum ‘94

Tropicalismo o Movimento

1. O que levou você a candidatur-se Mulher Olodum?

2. Qual a sua disponibilidade de tempo para com o Olodum durante este Período de um
ano?

3. Qual a sua atuacão a nível de conscientização e reconhecimento da mulher na


Sociedade?

4. Na sua opinão esiste racismo no Brasil?

5. Você partecipa de algum movimento femminista?


Qual a sua opinão sobre ele?

6. O que você sabe sobre o trabalho desenvolvido pelo Olodum?

7. Você partecipa ou já participou do Movimento Negro? Por que?

8. Qual dos trabalhos do Olodum que você mais se identifica ?

9. O que você sabe sobre o tema do Olodum para o carnaval de 94?

10. Como você analisa a situação politica do Brasil?

11. Qual a sua opinão sobre a reforma do Pelourinho?

12. Você acha que um Bloco Afro pode fazer um trabalho de conscientização racial?
Como?

13.Você gosta de ler? Qual o último livro que leu?

14.Quem e?
Ministro da Previdência Social?
Spike Lee?
Nelson Mandela?
Desmond Tutu?
Benedita da Silva?

15. Você è afavor ou contra o aborto? Por que?

16. Como você vê a disputa de mercado de trabalho da mulher comparada com o homen?

17. O que você entende por privatização?

18. Você é afavor ou contra a pena de morte. Justifique.

19. O que è Reforma Agrária?

338
20. Quais os líderes do Tropicalismo?

21. Escolha um dos temas abaixo e fale sobre ele:


Fome ou Educação.

339
Questionário

Nome (se quiser dar):

Endereço:

Bairro: Cidade:

Idade:

Sexo:

Cor:

Escolaridade:

Estado civil:

Profissão:

„É a primeira vez que você vai sair no Olodum?“

“Porque você vai sair no Olodum?”

“Em que outros blocos você já saiu?”

“O que voce sabe sobre o Olodum?”

“Na sua opinão: Tem racismo no Brasil?”

“Há quanto tempo você está frequentando o Pelourinho? Quais lugares?”

“Qual a sua opinão sobre a reforma do Pelourinho?”

340
20.2 Auswahl wichtiger Gesetze und offizieller Feierlichkeiten

1951 Das Lei Afonso Arinos verbietet erstmalig in der brasilianischen Geschichte die
Diskriminierung von Rasse, Hautfarbe und Religion.

19.01.1969 Verkündung der Konvention 111 der Internationalen Organisation für Arbeit über
die Diskriminierung am Arbeitsplatz durch die Militärregierung

1969 AI 5 Rassismus ist tabu.

1978 Der Todestag Zumbis wird von der Brasilianischen Schwarzenbewegung (MNU) zum
„Tag des Schwarzen Bewußtseins“ (Dia da Consciência Negra) ausgerufen

1982 wird die Casa Branca, als Ilê Axé Iam Nasso Oka, als erste Candomblé-Stätte Salvadors
von der Stadtverwaltung unter Schutz gestellt.

1983 wird in São Paulo wird der erste Conselho de Participação e Desenvolvimento da
Comunidade Negra do Estado gegründet, der bis heute auf Landesebene São Paulo auf die
Politik einzuwirken versucht

12.01.1988 Neue Verfassung


Titel II, Kapitel I, Artikel 6, Paragraph 3
Todos são iguais perante a lei, sem distinção de qualquer natureza. A Constituição assegura
aos brasileiros e aos estrangeiros residentes no país a inviolabilidade dos direitos
concernantes à vida, à liberdade, à segurança e à propriedade, nos termos seguintes:
§3 A lei punirá qualquer discriminação atentatória dos diretos e liberdades fundamentais.
§ A prática do racismo constitui crime inafiançável e imprescritível, sujeito a pena de
reclusão nos termos de lei

In der neuen Verfassung wird auch verankert, dass die Nachfahren der Quilombos ein
Anrecht auf den angestammten Grund und Boden haben. Die Systematisierung der Quilombo-
Gebiete übernimmt die Fundação Palmares.

13.05.1988 100 Jahrfeier des Lei Auréa-Gesetzes unter Regie des Kultur-Ministeriums. Die
Schwarzenbewegung feiert jedoch erst am 20.11.1988.

22.08.1988Gesetz 7.668 zur Gründung der Fundação Palmares wird verabschiedet. Sie soll
die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Werte durch die schwarzen Einflüsse in der
sozialen Formation der brasilianischen Gesellschaft erhalten.

341
05.01.1989 Das Gesetz Nr. 7.716 definiert, was als Verbrechen aufgrund von Rassismus gilt
und welche Strafen für dieses Vergehen gelten.

Art. 3 Zugang zu Verwaltung und Öffentlichem Dienst (zwei bis fünf Jahre)
Art. 4 Anstellung in privatem Unternehmen
Art. 5 Zugang zu Geschäftshaus, Verweigerung der Dienstleistung (ein bis drei Jahre)
Art. 6 Zugang zu Schulen (drei bis fünf Jahre)
Art. 7 Unterkunft in Hotel
Art. 8 Zugang zu Restaurants, Bars, Cafés (ein bis drei Jahre)
Art. 9 Zugang zu Sport- und Sozialclubs
Art. 10 Zugang zu Friseuren, Saunen etc.
Art 11 Zugang zu Acessos Sociais in Hochhäusern etc
Art. 12 Zugang zu öffentlichen Transportmitteln
Art. 13 Eintritt ins Militär (zwei bis vier Jahre)
Art. 14 Heirat, familiäres Zusammenleben
Art. 20 rassische Diskriminierung über Kommunikationsmittel
Rassismus ist jemanden zu hindern, etwas zu tun aufgrund der Farbe seiner Haut

1989 Bahia ist der einzige Bundesstaat Brasiliens, in dessen Verfassung ein Kapitel über die
Rechte der Afro-Brasilianer aufgenommen wird. Der öffentliche Druck für diese Initiative
ging von verschiedenen Gruppen der Schwarzenbewegung aus, insbesondere hatten sich
Vertreter Olodums, der UNEGRO und der APLB in der Assembleia Legislativa für die
Aufnahme eines speziellen Kapitels eingesetzt. Am 5. Oktober wird die neue Verfassung mit
dem Kapitel über die Rechte der Afro-Brasilianer angenommen.

Kapitel XXIII
Do Negro
Art .286
Rassismus wird unter Strafe gestellt
Art. 287
Mit Ländern, die Rassismus praktizieren, darf der Staat Bahia keine Beziehungen unterhalten
Art. 288
Im öffentlichen Bildungswesen muss die Beteiligung der Afro-Brasilianer an der Gesellschaft
berücksichtigt werden
Art. 289
Wann immer öffentliche Werbung mit mehr als zwei Personen gemacht wird, müssen Afro-
Brasilianer eingeschlossen werden
Art. 290
Der 20. November wird im offiziellen Kalender als Dia da Consciência Negra vermerkt.

1992 Gründung der Coodernaria Especial de Negro in São Paulo. Zur Stadtverwaltung
gehörende Organisation, die auf die öffentliche Politik zugunsten der Afro-
Brasilianer Einfluss nehmen soll.

13.04.1995 Gesetz 9.029 verbietet diskriminierende Praktiken

20.11.1995 Per Dekret wird die Grupo de Trabalho Interministerial (GTI) de Valorização da
População Negra installiert
300. Todestag von Zumbí

342
Legalisierung der ersten Quilombos Brasiliens

20.03.1996 Per Dekret wird im Ministério de Trabalho eine Arbeitsgruppe zur Eliminierung
der Diskriminierung am Arbeitsplatz eingerichtet

13.05.1996 Per Dekret wird das Programma Nacional de Direitos Humanos installiert

20.11.1995 Gesetz.9.315 sieht dieEintragung des Namens Zumbi in das Buch der Helden des
Vaterlandes (Livro dos Heróis da Pátria) – eine Initiative, die von der damaligen afro-
brasilianischen Senatorin Benedita da Silva ausging.

04.09.2001 Portaria 202 sieht die Einrichtung von Quoten für Afro-Brasilianer im Agrar-
Ministerium vor

110.09.2001 Dekret legt die Richtlinien für die Identifikation von Quilombos fest

04.10.2001 Conselho Nacional de Combate à Discriminação

20.12.2001 Portaria 1.156 sieht die Einrichtung von Quoten für Afro-Brasilianer im Justiz-
Ministerium vor

21.03.2002 Die Ministerien für Wissenschaft und Technik, Justiz und Ausländische
Beziehungen verständigen sich über Richtlinien für die Vergabe von Stipendien an Afro-
Brasilianer zur Vorbereitung auf den diplomatischen Dienst

13.05.2002 Per Dekret wird die Übernahme des Nationalen Programmes zur Ação
Affirmativa in der öffentlichen Verwaltung auf Bundesebene beschlossen

22.08.2002 Portaria 484 sieht die Einrichtung von Quoten für Afro-Brasilianer im Kultur-
Ministerium vor

343
20.3 Lebenslauf

Name und Vorname : Schaeber, Petra

Geburtsdatum : 16.01.1962

Geburtstort : Hamburg

Eltern : Schaeber, Helmut


Schaeber, Hildegard, geb. Lange

Familienstand : verheiratet
2 Kinder: Luan Max (6 Jahre), Moritz Pablo (4 Jahre)

Schulbildung : 1968-1972 Grundschule


Horneburg
1972-1981 Vincent-Lübeck-Schule
Gymnasium zu Stade

Universitätsbildung : 1983-1990 Studium der Volkswirtschaft, sozialwiss. Richtung


Universität Köln, Abschluss Diplom-Volkswirtin

Diplom-Arbeit: Die Favelas der Metropolitanen Region Rio de


Janeiros und die Wohnungssituation in Brasilien

1987–1988 Studium an der Pontifícia Universidade Católica


(PUC) Rio de Janeiro (insbes. Wirtschaft, Geschichte,
Geografie, Soziologie und Film Brasiliens)

1991-1995 Doktorandin an der Universität Bielefeld,


Fachbereich Soziologie
1993-1994 Stipendium des Deutschen Akademischen
Austausch-Dienstes (DAAD) und des Centro de
Aperfeiçoamento de Pessoal de Nível Superior (CAPES) für
Feldforschung in Brasilien

Seit 1995 Doktorandin an der Freien Universität Berlin,


Fachbereich Erziehungswissenschaften

344
Berufsausbildung : 1982-1984 Journalisten-Ausbildung an der Kölner Schule –
Institut für Publizistik

Berufstätigkeit seit 1984 Tätigkeit als freie Journalistin für Printmedien,


Rundfunk und Fernsehen

Auslandstätigkeit 1982 Buenos Aires


1985 Buenos Aires
1986 Mexiko
1988 Rio de Janeiro

Wissenschaftliche Beiträge
und Artikel :Publikation von Artikeln in Tageszeitungen, Wochenzeitungen
und Fachzeitschriften
Beiträge zur Fachliteratur in Brasilien

Buchveröffentlichungen 1992 Anders Reisen Brasilien, Rowohlt Taschenbuch Verlag


1993 Reise-Taschenbuch Bahia, Dumont Verlag
1996 2. überarb. Auflage, Reise-Taschenbuch Bahia, Dumont
Verlag
1996 Brasilianisch in letzter MinuteRowohlt Taschenbuch
Verlag
2001 Reise-Taschenbuch Bahia, Salvador, Brasiliens Osten,
Dumont Verlag

Sprachen Portugiesisch
Englisch
Spanisch
Französisch
Italienisch

Berlin, im Mai 2003

345
20.4 Verzeichnis der Abbildungen

Koloniales Leben
Sklaven-Bestrafung
(Quelle für beide: DEBRET, Jean Baptiste 1989: Viagem pitoresca e história ao Brasil.São
Paulo, Ed. Universidade de São Paulo(Original 1834)

Batuque und Bahianerin


(Quelle: Spix, J.B. & Martius, F.P.: Batuque in São Paulo, ca. 1817 und Lindemann, K.:
Creoula in Bahia, ca. 1900. In: CARNEIRO, Maria Luiza Tucci u KOSSOY, Boris 1994: O
Olhar Europeu. O negro na iconografia brasileira do século XIX. São Paulo, EDUSP)

Fotos Karneval Ilê Aiyê


Fotos Karneval Filhos de Gandhi
Fotos Pelourinho und Schlange für Karnevalskostüm
Fotos Karneval Olodum und Polizei
Fotos vom Clip mit Michael Jackson

Poster Nelson Mandela


Jornal Olodum Zumbi
Jornal Olodum
Boletin Olodum
Jornal Banto Nago, Programm Seminar Mulher und Werbung für PT
Poster Frau Olodum
Bucherveröffentlichungen Olodum
Prospekte Femadum, Seminar zu Erziehung
Werbung Bradesco/Sisley
Prospekt Tourneen
New York Times (12.04.1993)

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